Rudolf Lindau
Liebesheiraten
Rudolf Lindau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Tage schlichen dahin. Bald darauf empfand ich es wie eine Erlösung, wenn die von mir gehaßte Frau v. Wehrenberg des Abends zu uns kam. Ich konnte dann Johanna mit ihrer Mutter allein lassen und begab mich unter irgendeinem Vorwand in mein kleines Zimmer, das am äußersten Ende der Wohnung gelegen war. Dort streckte ich mich am offenen Fenster auf einen Sessel aus und blickte trübsinnig in die dunkle Nacht. Ich war noch jung, ein langes Leben lag vor mir. War ich dazu verurteilt, es bis zum Ende in derselben Weise zu führen, wie seit einigen Wochen? Der Gedanke war mir unerträglich. Der Tod war besser als ein solches Leben. Ich sann und sann, was ich tun könnte, um mein Los zu verbessern. Ich sah keine Rettung. Mein Schicksal war an das einer schönen, tugendhaften Frau gekettet, die ich nicht liebte, und der ich nichts war als der Ehegatte, in einem recht engen Sinne des Wortes.

Eines Tages, als ich auf dem Ministerium saß, wurde ich dort von meinem alten Diener aufgesucht.

»Nun, was führt dich hierher?« fragte ich etwas verwundert.

Der Mann hatte sich sorgfältig auf das vorbereitet, was er mir sagen wollte, und erzählte es in der kurzen, klaren Weise gut geschulter Diener. Er bat um seine Entlassung. Es überraschte mich nicht. Johannas unausgesetzte Klagen über ihn hatten mich darauf vorbereitet, daß er und seine Frau, die meinem verstorbenen Vater und mir so viele Jahre gut und treu gedient hatten, über kurz oder lang aus unserem Hause verschwinden würden.

»Und weshalb willst du gehen?« fragte ich.

»Ich kann es der gnädigen Frau nicht zu Danke machen«, antwortete er. »Und ich kann mich in meinen alten Tagen nicht mehr an Tadel gewöhnen. Meine Frau und ich haben eine kleine Pension von Ihrem seligen Herrn Vater, auch besitzen wir ein paar Taler, die wir uns während unserer langen Dienstjahre gespart haben, schlimmsten Falls würden unsere Kinder, die gut aufgehoben sind, für uns sorgen; aber es wird nicht nötig werden. Wir wollen uns nach Nortorf zurückziehen und dort das Ende unserer Tage abwarten.«

Ich fragte nicht weiter. Was ich von dem alten Manne hätte erfahren können, würde meiner Erbitterung gegen Johanna nur neue Nahrung gegeben haben. Ich mußte mich davor in acht nehmen. Aber ich konnte es nicht übers Herz bringen, den Diener, den ich wie ein Erbstück aus dem Nachlaß meines Vaters übernommen habe, ohne weiteres gehen zu lassen.

»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann«, sagte ich.

»Nein,« antwortete der Mann bestimmt und schüttelte den Kopf, »ich kann nicht bleiben.«

»Du sollst auch gar nicht bleiben, alter Eigensinn! Aber du wirst mir doch Zeit geben, einen anderen Diener zu suchen.«

»Wie Sie befehlen«, antwortete er beruhigt.

»Und während der Zeit will ich nach Nortorf schreiben«, fuhr ich fort. »In dem großen Hause ist ja viel zu tun. Vielleicht könnten mein Bruder oder meine Schwester euch beide beschäftigen.«

Da traten dem Manne die Tränen in die Augen. »Das wäre das größte Glück für mich und meine Frau«, sagte er.

Nach Tisch erzählte ich Johanna, Franz habe mir gekündigt.

»Das trifft sich ja vorzüglich«, antwortete sie. »Ich wollte dich schon bitten, ihn zu entlassen.«

»Der Mann hat vierzig Jahre lang meinem Vater und mir gedient.«

»Das merkt man. Er ist eben zu alt geworden, um noch ordentlich arbeiten zu können.«

»Ich bin immer ganz zufrieden mit ihm gewesen.«

»Junggesellen haben stets ausgezeichnete Diener. Das ist bekannt. Sie bekümmern sich einfach nicht um die Dienerschaft, und diese ist Herr im Hause. Franz, mit dem du so zufrieden warst, befriedigt mich durchaus nicht. Wenn er deine Kleider gebürstet und dein Zimmer ausgefegt hat, so möchte er Feierabend machen. Und dann ist er sehr teuer.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun, daß er sehr teuer ist . . .«

Das Blut stieg mir ins Gesicht: »Du willst doch nicht die bewährte Ehrlichkeit des alten Mannes angreifen?« fragte ich entrüstet.

Sie erkannte wohl, daß ich Franz besser verteidigen würde, als ich für mich selbst einzutreten pflegte.

»Gott! Wie du dich immer gleich aufregen kannst!« sagte sie kühl und überlegen. »Die Ehrlichkeit des Mannes geht mich gar nichts an. Ich weiß schon dafür zu sorgen, daß ich nicht bestohlen werde. Ich sprach nur von dem teuren Lohn, den ich ihm und seiner Frau aus dem Wirtschaftsgelde auszuzahlen habe. Wir könnten dafür drei gute Diener haben, und ein halbwegs gewandtes Mädchen würde genügen, um alles zu tun, was ich von Franz und seiner Frau erwarte, und was die beiden alten Leute nicht zu Wege bringen.«

Die Anspielung auf die großen Ausgaben aus dem Wirtschaftsgelde, ihrem Gelde, war mir peinlich, aber sie machte mich gleichzeitig verstummen. Einem Wortwechsel über diesen Punkt fühlte ich mich nicht gewachsen.

Einige Wochen später trat ein neues Mädchen, das, wie ich zufällig erfuhr, von Frau v. Wehrenberg gemietet worden war, in unseren Dienst. Meine Schwester Elise hatte sich sofort erboten, Franz und seine Frau zu sich zu nehmen. »Sie werden nicht viel bei mir zu tun haben«, schrieb sie mir; »aber das ist ja desto besser für die alten Leute. Natürlich durften wir sie nicht einfach auf die Straße setzen. Es freut mich, für sie sorgen zu können. Sie sollen es nicht schlecht bei mir haben.«

Ich konnte mich zunächst gar nicht daran gewöhnen, keine männliche Bedienung mehr zu haben. Zwanzigmal des Tages vermißte ich Franz, und dabei dachte ich stets mit Erbitterung daran, daß »das Glück«, Johanna mein nennen zu dürfen, es war, welches mir die Entbehrung der gewohnten Dienstleistungen auferlegte.

Um diese Zeit empfing mein »Glück« einen neuen, empfindlichen Stoß. – Eines Abends, als Frau v. Wehrenberg meiner Frau Gesellschaft leistete und es mir dadurch gestattet war, mich in mein kleines Zimmer zu flüchten, fiel mein erster Blick, als ich an den Tisch trat, auf einen Brief, der dort für mich lag. Ich erkannte Johannas schöne englische Handschrift und zuckte heftig zusammen. Sie hatte mir noch niemals geschrieben, seitdem wir verheiratet waren. Ich hatte mit ihr gegessen, und wir hatten uns soeben verlassen. Was konnte sie mir zu schreiben haben? War auch ihr unser gemeinsames Leben unerträglich geworden, suchte sie eine Verständigung . . . einen Bruch? Ich zerriß den Umschlag und entfaltete demselben ein sorgfältig geschriebenes, langes Schriftstück. – »Lieber Hermann«, begann es, »les bons comptes font les bons amis – und da mir sehr daran liegt, daß wir gute Freunde bleiben, so wirst Du es in der Ordnung finden, wenn ich Dir heute eine kleine Rechnung übersende.«

Ich las weiter. – Nein, ich kann nicht beschreiben, welche Gefühle mein Herz füllten. Johanna dachte gar nicht daran, über unser Leben zu klagen, sie verlangte weder eine Veränderung, noch drohte sie mit einem Bruch. Sie wollte nur eine klare »Abrechnung« mit mir: das war alles – »les bons comptes font les bons amis!« Sie erinnerte mich in ihrem Briefe daran, daß sie sich anheischig gemacht habe, aus dem Gelde., welches ihr zur Verfügung stand, gewisse, ganz bestimmte Ausgaben zu bestreiten; nun käme es in letzter Zeit häufig vor, daß darüber hinaus noch Anforderungen an ihre Börse gestellt würden. Wenn ich dies billige, so wolle sie kein Wort weiter darüber verlieren und versuchen, sich so einzurichten, daß ihr in jedem Monat noch eine kleine Summe für derartige unerwartete Ausgaben übrig bliebe; wolle ich aber an dem ursprünglichen Übereinkommen festhalten, so bäte sie mich, »nachstehende Rechnung zu prüfen und, wie es im Geschäftsstil heißt, nach Richtigbefund durch Zahlung gefälligst auszugleichen«.

Die Mischung von fader Schöngeisterei und durchsichtigem Geiz, die den ganzen Brief kennzeichnete, empörte mich geradezu. Ich warf einen Blick auf »die Rechnung«. Johanna hatte hier und da ein paar Groschen für mich ausgegeben: für einen Dienstmann, eine Droschke, Briefporto und Ähnliches. Die ganze Geschichte belief sich auf zehn oder fünfzehn Taler und so und so viel Groschen und Pfennige! Darum der lange, geistreiche Brief! Ich zerriß ihn in kleine Stücke und warf ihn in den Papierkorb.

Ich kann mich, wie ich bereits erzählt habe, unwillkürlich so zu sagen, in gewisse Stimmungen hineindenken und schreiben. Und so versetzte ich mich jetzt in stetig wachsende Verbitterung gegen Johanna. Davon legte ich mir aber zunächst nur in meinen einsamen Stunden Rechenschaft ab. Wenn ich in Gesellschaft meiner Frau war, beherrschte mich noch häufig ihre große Schönheit; auch war ich oftmals gern bemüht, sie zu zerstreuen, und es gelang mir auf diese Weise manchmal, mich selbst ganz gut zu unterhalten. Von Haß und Verbitterung gegen sie war dann nicht die Rede, so lange sie mich nicht durch Bemerkungen reizte, die mir die Trockenheit und Kleinheit ihres Herzens zeigten. Aber sobald ich allein war, drangen die Gefühle der Erbitterung gegen sie, gleich einer steigenden Flut, gewaltig, unwiderstehlich auf mich ein und brachten mich der Verzweiflung nahe. Dann warf ich mir auch die unverzeihliche Schwäche vor, mit der ich mich ihr noch oftmals näherte oder ihr zärtliches Entgegenkommen, durch das sie mich gelegentlich überraschte, erwiderte. Häufig nahm ich mir vor, sie kalt und zurückhaltend zu behandeln: sie sollte erkennen, daß ich aufgehört hatte, sie zu lieben, daß sie mir mißfiel. Aber diese Vorsätze kamen nicht zur Ausführung. Wenn sie mich liebevoll, Glück verheißend anblickte, wenn ihre weiche Hand mich zärtlich berührte, dann vergaß ich meinen Groll und sank in ihre Arme. Doch nagte auch in solchen Augenblicken verzehrenden Glückes der Gedanke an mir, daß ich sie und daß sie mich nicht liebte.

Die Tage wurden kürzer, der Sommer neigte seinem Ende zu, es wurde Herbst, schöner, milder Herbst, nach dem freudelosen, rauhen Sommer. Er war dahin gegangen, ohne daß ich auf das Fortschreiten der Jahreszeit geachtet hatte. Traurige Stunden sind langsam, freudenleere, einförmige Monate fliegen dahin.

Eines Morgens erhielt ich einen Brief aus Nortorf von meinem Bruder Karl. Er lud mich zur Jagd ein: ich sollte Johanna mitbringen, Marie und ihr Mann würden täglich erwartet, wenn ich nun mit meiner Frau ebenfalls kommen wollte, so sei die ganze Familie, bis auf Lothar, der eine Urlaubsverlängerung erhalten habe und noch in England sei, einmal wieder vollzählig in dem alten Hause versammelt.

Ich war sogleich geneigt, die Einladung anzunehmen, ich sehnte mich darnach, wieder liebe Verwandte und Geschwister zu sehen. Aber als ich Johanna den Brief meines Bruders zu lesen gab, der die Einladung für sie und mich erhielt, sagte sie trocken:

»Ich mag nicht gehen.«

»Warum nicht?«

»Ich verspreche mir kein Vergnügen von der Reise. Ich kenne deine Geschwister nur wenig, ich jage nicht, ich verstehe nichts von Landwirtschaft. Was soll ich in Nortorf? Ich befinde mich hier wohl und habe manches zu tun.«

»Aber wäre es nicht gerade eine Gelegenheit, mit deinen neuen Verwandten besser bekannt zu werden?«

»Es sind ihrer zu viele auf einmal. Ich besitze keine gesellschaftlichen Talente. Mit einem Bruder oder einer Schwester würde ich schon fertig werden – aber die ganze Familie! Es schüchtert mich ein. Laß mich hier! Geh allein! Du wirst dich auch ohne mich gut unterhalten, und ich gönne dir jedes Vergnügen.«

Ich drang noch länger in sie; aber es nützte nichts. Sie wiederholte, sie zöge vor, zu Hause zu bleiben. Schließlich wurde sie ungeduldig:

»Wenn du es befiehlst, so gehe ich mit dir; aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, so laß mich hier.«

Darauf wußte ich nichts mehr zu erwidern, und so reiste ich gegen Ende September allein nach Nortorf ab. Johanna würde mich nicht entbehren. Darüber brauchte ich mich nicht zu beunruhigen. Sie würde von morgens früh bis abends spät mit ihrer Mutter zusammen sein. Ich beglückwünschte mich, nicht zwischen den beiden zu sitzen. Johanna und ihre Mutter waren mir in dem Augenblicke gleich verhaßt. Es war mir, als hörte ich sie, kalt, ohne Zorn, ohne Liebe, herzlos über uns alle sprechen, am unfreundlichsten wohl über mich selbst. Nun freute ich mich, daß Johanna zu Hause geblieben war. Ich sehnte mich nach Freiheit, nach einem Feiertage.

 

In Nortorf wurde ich am Bahnhofe von meinen Schwestern empfangen. Zum ersten Male in meinem Leben bemerkte ich, wie schön sie eigentlich beide waren, wie sehr Vornehmheit der Gesinnungen, Güte des Herzens das Äußere veredeln. Ach, wenn Johannas kaltes, schönes Antlitz auch nur etwas von der selbstlosen Sorge um mich gehabt hätte, die aus den reinen, tiefen Augen Elisens und Mariens sprach! – Sie warfen sich einen kurzen, stummen Blick zu. Ich verstand ihn, als ob sie laut gesprochen hätten: »Wie traurig unser armer Bruder aussieht!« Aber sie sagten nichts darüber, nur war ihr Willkommengruß zärtlicher als gewöhnlich. Heuchlerinnen waren sie nicht. Sie brachten es nicht über die Lippen, ein Wort des Bedauerns über Johannas Nichterscheinen zu äußern. Franz, den Johanna und ihre Mutter aus meinem Hause getrieben hatten, und der die beiden Frauen dafür haßte, mochte sich, nach Art alter Diener, mit jener eigentümlichen Zurückhaltung, die mehr zu verstehen gibt, als sie klar ausspricht, über mein eheliches Leben geäußert haben, und Elisens kurzer Aufenthalt in Berlin hatte wohl genügt, um das freudenlose Bild zu vervollständigen, das die Schwestern sich davon machten. Es war mir, als hörte ich sie den alten Mann ausfragen, und als vernähme ich seine kurzen, klaren Antworten. Er hatte uns als Kinder auf den Armen getragen, und es bestand zwischen dem treuen Hausgenossen und uns jene altdeutsche Vertraulichkeit zwischen Herr und Diener, die man auch heute noch in einigen Familien findet.

»Wie geht es Hermann?«

»Nicht vom Besten, glaube ich.«

»Was fehlt ihm?«

»Wie kann Unsereins das wissen. Herr Hermann ist ein stiller Herr – seit seiner Verheiratung wenigstens.«

»Ist seine Frau gut für ihn?«

»Vor den Leuten hört man sie nie ein Wort lauter als das andere sprechen. Sie ist eine ordentliche Hausfrau. Sehr sparsam.«

»Ich will wissen, Franz, ob Hermann glücklich ist.«

»Das kann ich nicht sagen, das weiß ich nicht. Er sieht nicht so aus.«

»Wie lebt er?«

»Bis gegen fünf Uhr sieht man wenig von ihm. Dann kommt er nach Hause und bleibt eine Stunde in seinem Zimmer, wo er nicht gestört sein will. Um sechs Uhr wird gegessen, am Abend geht er mit der gnädigen Frau oder allein eine Stunde spazieren.«

»Ist er heiter?«

»Ich habe ihn seit seiner Verheiratung nie lachen hören. Die gnädige Frau auch nicht. Es ist ein stilles Haus.«

»Und Frau v. Wehrenberg?«

»Die ist wohl an allem Unglück schuld. Sobald der Herr den Rücken gekehrt hat, erscheint sie, und sie verschwindet erst wieder, wenn er zurückkommt.«

»Aber was können die beiden Frauen gegen Hermann haben? Er ist doch gewiß nicht schlecht und hart.«

»Er ist zu gut für die beiden anderen. Sie passen nicht zu ihm.«

Was Marie und Elise zu solchen oder ähnlichen Reden denken mochten, war mir ganz klar. Sie mußten mich tief beklagen und schmerzliches Mitleid mit mir empfinden, und ihre Herzen waren sicherlich voller Bitterkeit für Johanna und deren Mutter.

Ich verbrachte acht ruhige Tage in Nortorf. Meine Schwestern taten mir zu Liebe, was sie mir an den Augen absehen konnten. Ich kam mir vor wie ein Kranker, dem man jede Laune nachsieht, für den man zu jedem Opfer bereit ist, um ihm Freude zu machen, und diese Behandlung, so wohltuend sie auch war, füllte mein Herz mit unbeschreiblicher Wehmut. Sie war mir ein neuer Maßstab für die Größe meines Unglücks. – Karl war brüderlich herzlich wie immer, doch ging dies nicht so weit, daß er nicht auf den Jagden, die er veranstaltete, den besten Stand für sich selbst bewahrt hätte, erkundigte sich auf dem Heimwege darnach, wie ich mit meinem Gelde auskäme, schien etwas besorgt, als ich ihm sagte, ich müßte mich einschränken, beruhigte sich aber wieder, nachdem er von mir gehört hatte, daß ich keine Schulden habe.

»Nun, und wenn Kinder kommen?« fragte er nach einer kleinen Pause.

»Vorläufig ist dazu noch keine Aussicht.«

»Hm, –«

Von meiner Niedergeschlagenheit bemerkte er nichts oder wollte nichts bemerken. Er sagte sich wahrscheinlich, ich hätte keinen Grund unglücklich zu sein, da ich eine Liebesheirat gemacht habe und mit meiner Frau leben könne, ohne Schulden zu machen. Auch Ellen machte sich meinetwegen sicherlich keine Sorge, und das war mir recht. Von meinen Schwestern konnte ich Mitleiden ohne Beschämung annehmen; von anderen hätte es mich verletzt.

Mein Schwager, der Regierungspräsident, war durch Marie, die ihm eine treue, liebende Gattin war, in meine Gemütsverfassung eingeweiht worden. Er versuchte es, mir Lehren zu geben, die sicherlich gut gemeint, aber wertlos waren. Ich konnte es auch ohne seine Ratschläge fertig bekommen, mit Johanna in äußerem Frieden zu leben. Das war bei ihrer Ruhe nicht einmal schwierig. Das innere Glück, das ich im Zusammenleben mit einer geliebten Frau geträumt hatte, konnte mir der gute Regierungspräsident nicht geben. Das war überhaupt nicht mehr zu erreichen, seitdem ich mir von Johannas Kleinlichkeit und Herzlosigkeit Rechenschaft abgelegt hatte.

Am Abend vor meiner Abreise von Nortorf suchte Elise eine Unterhaltung mit mir.

»Du gehst nun wieder fort,« sagte sie, »und ich bleibe in Sorgen um dich zurück.«

»Laß das nur: du kannst an meiner Lage nichts ändern.«

Doch damit wollte sie sich nicht beruhigen.

»Wenn es sich um etwas Vorübergehendes handelte,« fuhr sie fort, »so würde ich eine Anregung von dir abgewartet haben, um über deine Angelegenheiten zu sprechen; aber ich finde dich in einem Zustande andauernder Unbehaglichkeit, der mit jedem Tage schwerer, zuletzt unerträglich werden kann.«

»Ich werde mich schon daran gewöhnen.«

»Nein – du sollst dich nicht daran gewöhnen, unglücklich zu sein. Ich will dich glücklich sehen. Das ist auch zu meinem Glücke nötig.«

»Du bist eine gute Schwester! Aber es läßt sich eben in der Sache nichts tun. Menschen müssen verbraucht werden, wie sie einmal sind. Ich kann Johanna nicht anders machen, als sie ist. Übrigens habe ich ihr keinen Vorwurf zu machen.«

»Sie liebt dich nicht – sonst würdest du nicht unglücklich sein.«

»Es gibt Millionen, die unglücklicher sind als ich.«

»Das tröstet mich nicht. Ich will dich überhaupt nicht unglücklich wissen.«

»Ja, das möchte ich auch ganz gern – zu deiner und meiner Beruhigung – aber ich weiß nicht, wie das zu machen wäre.«

»Hast du jemals darüber nachgedacht?«

»Nein.«

»Das ist so recht Männerart: Glauben stark und mutig zu sein, wenn sie ohne zu klagen dulden.«

»Würdest du es besser finden, wenn ich die Welt zum Vertrauten meiner Lage machte?«

»Das tust du ja doch – ohne es zu wollen. Wissen Marie und ich nicht genau, was dir fehlt?«

Ich antwortete nicht. Nach einer längeren Pause fuhr Elise leiser fort: »Glaubst du, daß Johanna dich lieb hat?«

»Wozu die Frage?«

»Beantworte sie zuerst, dann will ich sie dir erklären.«

»Ich glaube überhaupt nicht, daß Johanna irgend jemand lieb haben kann. Sie hat ein kleines Herz. Sie ist eine gute Tochter; aber das beruht wohl mehr auf Erziehung als auf Gefühl.«

»Sie würde dich wenig vermissen, wenn sie dich verlöre.«

»Was willst du sagen?«

Etwas wie zornige Erregung blitzte aus Elisens Augen. »Seitdem Franz mir von eurem Leben in Berlin erzählt hat, kann ich an nichts anderes mehr denken«, stieß sie hervor. »Ich habe mit Marie darüber gesprochen, und sie ist, seitdem sie dich hier gesehen hat, meiner Meinung. Du hast noch, so Gott nicht anders bestimmt, ein langes Leben vor dir. Ist es nötig, kann irgend jemand mit Recht von dir erwarten, daß du dich jetzt schon dem Unglück weihst.« – Sie sprach mit sichtbarer Befangenheit weiter: »Ich habe immer einen starken Widerwillen gegen geschiedene Männer und Frauen gehabt. Ich sage nicht leichtfertig, laß dich von Johanna scheiden. Der Gedanke war mir zunächst im höchsten Grade peinlich; aber, da ich klar eingesehen habe, daß du nur dadurch gerettet werden kannst, so habe ich versucht, mich damit vertraut zu machen – und es ist mir gelungen. Hätte Johanna dich lieb, so würde ich dir sagen, selbst wenn sie schlechter wäre, als sie ist: du mußt es mit ihr aushalten – bis zum Ende, du hast nicht das Recht, nachdem du sie aus eigenstem Antriebe, gegen unsere Wünsche, ja anscheinend gegen die ihrer Mutter, an dich für das Leben gebunden hast, ihr den Schmerz einer Trennung zuzufügen. Aber Johanna liebt dich nicht. Ich weiß es bestimmt; auch du täuschest dich nicht darüber. Sie wird dich kaum vermissen, wenn du gegangen bist, und sich in kurzer Frist über dein Verschwinden trösten. Du aber wirst als freier Mann noch glücklich werden können. Jedenfalls entrinnst du einem sicheren Unglück, indem du dich von Johanna trennst. Tu es, Hermann!«

Ich war in hohem Grade überrascht. Der Gedanke, ich könne noch einmal ein neues Leben anfangen, nachdem ich mich an Johanna gebunden hatte, war mir seit meiner Verheiratung ebensowenig gekommen wie während meiner Verlobung, nachdem ich damals erkannt hatte, ich würde mit Johanna nicht glücklich werden. Ich hatte mich durch meine Ehre, ebenso wie durch die heilige Handlung der Trauung an Johanna gefesselt betrachtet. Und nun kam meine Schwester, ein frommes, zartfühlendes Wesen, dem alles Unehrenhafte ein Greuel war, und sprach von Scheidung! Ich wußte zuerst nicht, was ich davon denken sollte. Nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, sagte ich:

»Ich will über das, was ich von dir gehört habe, nachdenken. Vergessen werde ich es sicher nicht; aber ich darf keinen schnellen Entschluß fassen. Wenn eine Scheidung zwischen Johanna und mir stattfinden kann, so darf dies nur geschehen, nicht allein wenn sie ihre Zustimmung dazu gibt, sondern wenn sie selbst den Wunsch einer Trennung hegt. Daran glaube ich aber nicht, wenn sie auch anscheinend keinen großen Wert auf das Zusammensein mit mir legt. Sie hat einen kleinen Gesichtskreis und sie hält darauf, daß innerhalb desselben alles in bester Ordnung ist. Sie wird es nicht ›in Ordnung‹ finden, sich von ihrem Manne scheiden zu lassen. Ich glaube dessen sicher zu sein. Gegen ihren Willen aber darf ich sie nicht verlassen. Ich darf nicht einmal versuchen, diesen Willen zu ändern. Ihn zu beugen – davon kann nicht die Rede sein.«

»Du sprichst genau so, wie ich es erwartet hatte«, antwortete Elise. »Gott verhüte, daß ich je von dir verlangen sollte, etwas zu tun, was du nicht vor deinem Gewissen rechtfertigen könntest. Aber ich kann mir nicht denken, daß nicht auch Johanna, mit der Zeit, ihre Freiheit dem freudlosen Zusammensein mit dir vorziehen sollte. An dir ist es, den Augenblick, wenn er gekommen sein wird, zu deinem und ihrem Wohle zu benutzen. Das ist alles, was ich sagen wollte.«

»Dann verstehen wir uns«, sagte ich nachdenklich, und damit endete die Unterhaltung.

Am nächsten Nachmittage langte ich wieder in Berlin an. Johanna erwartete mich am Bahnhofe. Sie war tadellos in der Erfüllung derartiger kleiner Pflichten. Überhaupt welch berechtigten Vorwurf hätte ich ihr machen können? – Aber weder ihre Schönheit noch die Freundlichkeit, mit der sie mich begrüßte, berührten mich angenehm. Schön war sie für alle, die sie ansahen, und streng, unfreundlich nur Untergebenen gegenüber. Sonst hatte sie für jedermann, mit dem sie sprach, dieselbe ruhige Freundlichkeit, mit der sie mich willkommen hieß. Herzlichkeit, Liebe konnte sie nicht geben – die besaß sie nicht.

Ich händigte einem Dienstmann mein Gepäck aus und begab mich mit Johanna nach unserer nahe gelegenen Wohnung. An der Ecke der Bellevue-Straße, wo der lebhafte Verkehr uns nötigte, einige Augenblicke still zu stehen, fuhr ein offener Wagen an uns vorüber, in dem zwei Damen saßen: Frau Ellrichs und Natalie. Ich erkannte sie erst etwas spät und grüßte hastig.

»Wen grüßt du?« fragte Johanna.

»Frau Ellrichs und ihre Tochter.«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht getan haben«, bemerkte Johanna trocken.

»Ich sollte Frau Ellrichs, in deren Hause ich verkehrt habe, nicht grüßen?« fragte ich etwas gereizt.

»Du hast in dem Hause verkehrt – aber du betrittst es nicht mehr und wirst es schwerlich je wieder betreten. Du befindest dich Frau Ellrichs gegenüber in einer Ausnahmestellung. Nach meinem Gefühl setzt dein Gruß sie in Verlegenheit. Sie muß ihn erwidern, um nicht unhöflich zu sein, aber es kann ihr unmöglich Freude machen, dadurch an ihre ehemaligen Beziehungen zu dir und deinem Bruder erinnert zu werden.«

»Das ist ihre Sache«, antwortete ich mürrisch. »Meine Pflicht ist es, nicht unhöflich zu sein.«

»Da bin ich nicht deiner Ansicht.«

»Wir sind über verschiedene Punkte verschiedener Ansicht.«

»Wie gereizt du bist! So habe ich dich noch nie gesehen.«

»Aber übertreibe doch nicht, liebe Johanna! Ich habe keinen Grund, gereizt zu sein, und ich bin es auch nicht.«

»Doch; du bist es – und es sollte mich auch eigentlich nicht überraschen.«

»Ich verstehe dich nicht. Was willst du sagen?«

»Deine Beziehungen zur Familie Ellrichs sind von jeher der Grund von Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gewesen. Dein Haß gegen meine arme Mama rührt in erster Linie daher, daß sie nicht darein willigen wollte, mit den Leuten in freundschaftlichen Verkehr zu treten.«

Wenn Frauen in dieser Weise zu streiten anfangen, so ist es immer am besten, den Wortwechsel nicht fortzusetzen. Ich wußte dies aus kurzer, bitterer Erfahrung – und schwieg.

»Du siehst jetzt selber ein, daß ich recht habe«, sagte Johanna nach einer kleinen Pause.

Auch darauf antwortete ich nicht, und wir erreichten unsere Wohnung, stumm und unfreundlich, getrennt nebeneinander herschreitend. – Und so wollte ich den noch langen Weg durchs Leben gehen!

Wenige Tage später traf Lothar unerwartet in Berlin ein. Er suchte mich auf dem Ministerium auf, was sich dadurch erklärte, daß er mich dort während des Tages am sichersten zu finden wußte. Er war wettergebräunt und sah wohl und munter aus; aber es war in seinem Wesen etwas Befremdliches, was ich sofort empfand, ohne mir erklären zu können, worin es eigentlich bestand. Er erkundigte sich nach dem Befinden der Geschwister und meiner Frau, und antwortete mir auf meine Frage, daß er nunmehr, nach Beendigung seines langen Urlaubs, am nächsten Tage seinen Dienst wieder antreten werde. Darauf betrachtete er mich etwas aufmerksam und sagte in gleichgültigem Tone:

»Ich finde, du siehst nicht sehr vergnügt aus. Wie bekommt dir die Ehe?«

Ich fühlte mich nicht veranlaßt, mit vertraulichen Eröffnungen zu antworten, und erwiderte einfach, es ginge mir ganz gut. Darauf fragte ich ihn, ob er am Abend oder am nächsten Tage bei mir essen wollte.

»Wenn du Wert darauf legst, so komme ich natürlich; sonst lieber nicht.«

»Warum?« fragte ich unangenehm überrascht.

»Ich habe das Gefühl, daß ich weder deiner Frau, noch deiner Schwiegermutter sonderlich sympathisch bin. Was wir beide uns zu sagen haben, können wir uns ebensogut bei mir oder an einem dritten Orte sagen.«

»Ich würde es sehr bedauern, wenn du mein Haus meiden wolltest.«

»Das liegt auch keineswegs in meiner Absicht. Ich werde deiner Frau noch heute meinen Antrittsbesuch machen; aber du weißt, sie hat sich mir gegenüber nicht freundlich benommen. Wir würden uns zu dreien steif und gelangweilt gegenübersitzen. Das hat doch eigentlich keinen Zweck.«

»Nun, komm wenigstens einmal, in den ersten Tagen! Wir können dann eine längere Pause eintreten lassen.«

»Wie du wünschst. Wenn es dir recht ist, werde ich aber die Einladung deiner Frau abwarten.«

Dagegen konnte ich nichts einwenden. Als er gegangen war, wurde es mir peinlich klar, daß mir mein Bruder gewissermaßen fremd geworden war. Ich hatte ihm nicht ein Wort von dem gesagt, was mein Denken am meisten beschäftigte, und er hatte mir von sich selbst so gut wie nichts erzählt. Ich wußte aus seinem Munde, daß ihm das Leben in England gefallen und daß er dort mehrere angenehme Bekanntschaften gemacht habe – das war alles.

Als ich am Abend nach Hause kam, sagte mir Johanna, Lothar habe ihr einen Besuch gemacht; er sei nur wenige Minuten geblieben.

»Hast du ihn zum Essen eingeladen?« fragte ich.

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Nun, so schreibe ihm, bitte, und sage ihm, er möge selbst den Tag bestimmen, an dem er kommen wolle.«

»Wenn du es wünschest, so werde ich es tun.«

»Natürlich wünsche ich, meinen Bruder bei mir zu sehen.«

Eine Pause trat ein. Johanna war nicht leichtfertig in ihren Reden: sie überlegte sich, was sie sagen wollte, besonders wenn es etwas Verletzendes war oder sein sollte.

»Es ist dir noch nie eingefallen, Mama zum Essen einzuladen!«

»Deine Mutter sitzt den ganzen Tag hier, und du kannst sie täglich zu Tisch haben, wenn es dir Spaß macht; übrigens habe ich verschiedene Male, wenn ich sie hier antraf, gefragt, ob sie nicht zum Essen bleiben wollte.«

»Das ist keine Einladung, wie Mama das Recht hat, sie zu erwarten.«

»Nun, dann sende ihr eine gedruckte Karte: ›Herr und Frau v. Nortorf bitten Frau v. Wehrenberg, ihnen die Ehre zu erweisen, morgen oder übermorgen, oder nächste Woche, oder in vierzehn Tagen bei ihnen zu speisen.‹ Das ist dann hoffentlich förmlich genug.«

»Du willst mich kränken. Weshalb? Was habe ich dir getan? Warum willst du nicht meiner Mutter freundlich schreiben, wie ich deinem Bruder schreiben soll?«

»Ich sehe, es gefällt dir nicht, Lothar einzuladen; aber ich kann dich zu meinem Bedauern nicht davon entbinden.«

»Könnten wir nicht Mama bitten, ebenfalls zu kommen?«

»Meinetwegen lade auch sie ein!«

»Willst du es nicht tun? Eine kleine Aufmerksamkeit von dir würde Mama erfreuen.«

»Deine Mutter hat niemals zu erkennen gegeben, daß ihr Aufmerksamkeiten von mir Freude machten; aber um der Sache ein Ende zu machen, werde ich ihr schreiben.«

Das Mittagsmahl, das ich nach dieser Unterredung einnahm, mundete mir schlecht. Nichts mundete mir mehr in meinem Hause. Ich fühlte mich dort weniger heimisch als unter fremden Leuten. Ich atmete auf, wenn ich die Schwelle überschritten hatte und auf der Straße war.

Einige Tage später aßen Frau v. Wehrenberg und Lothar bei uns. Wir saßen uns zu vieren stocksteif und einsilbig gegenüber. Meine wiederholten Versuche, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen, scheiterten an dem eisigen Schweigen der beiden Frauen. – Meine Schwiegermutter konnte das Tabakrauchen nicht vertragen. Sie wäre nicht so vollkommen in ihrer Art gewesen, wie sie es war, wenn sie es geduldet hätte. Ihre Abneigung gegen das Rauchen bot mir einen erwünschten Vorwand, mich nach dem Essen mit Lothar in mein Zimmer zurückzuziehen.

Als die Tür sich dort hinter uns geschlossen hatte, ließ sich Lothar auf einen Sessel fallen wie jemand, der recht müde ist; dann, nachdem er eine Zigarre in Brand gesteckt hatte, rieb er sich langsam die Hände und sah mich lächelnd an.

»Eine sehr anregende Dame – die Frau Schwiegermama«, sagte er. »Ich kenne sie ja schon lange, aber so ausgelassen hatte ich sie mir kaum gedacht. – Ist sie immer so heiter?«

Er erkannte wohl an meinem Schweigen, daß sein Scherzen mich verletzte; aber das war vielleicht sogar seine Absicht gewesen, denn er sprach gleich darauf in gleichgültigem Tone von anderen Dingen. – Ja, etwas Entfremdendes stand zwischen ihm und mir! Das war mein Bruder Lothar, der Freund und Vertraute meiner Vergangenheit, nicht mehr. Aber was hatte ihn mir entfremdet? – Ich dachte an meinen Abschied von Natalie. Was hatte es bedeuten sollen, als sie mir zugeraunt, ich sollte den Mut haben, nicht unglücklich – vielleicht noch sehr glücklich – zu werden? Ich fühlte mich sehr unglücklich. Ein brüderliches Wort Lothars würde genügt haben, um mich zu ihm zu ziehen, um ihm mein Herz öffnen. Aber er saß teilnahmslos vor mir, und nichts verriet, daß seine Gedanken mit etwas anderem beschäftigt waren als mit den nichtigen Sachen, die den Gegenstand seiner Unterhaltung bildeten.

Lothar kehrte nach diesem ersten verunglückten Versuch, gesellschaftliche Beziehungen mit ihm anzuknüpfen, nicht wieder nach meinem Hause zurück. Ich konnte ihm nicht verdenken, daß er fortblieb, und wagte nicht, ihn wieder einzuladen. Er besuchte mich in längeren Zwischenräumen auf dem Ministerium, und ich gewöhnte mich daran, gelegentlich einen Abend mit ihm, sei es in seiner Wohnung, sei es in dem Klub, dem wir beide angehörten, zu verbringen; aber zu vertraulichen Unterhaltungen kam es niemals zwischen uns. Er vermied es sogar, so schien es mir, von meiner Frau und meinem häuslichen Leben zu sprechen, und er gestattete mir keinen Einblick in seine inneren Angelegenheiten. Unsere Unterhaltung drehte sich um die Verwandten in Nortorf, um Pferde, Jagd, Theater. Wir standen uns wie gute Bekannte, nicht wie Freunde oder nahe Blutsverwandte gegenüber, und ich empfand dies schmerzlich. Trotzdem zog es mich immer wieder zu ihm: jedes Zusammensein mit anderen war mir wie eine Oasis in der trostlosen Öde meines häuslichen Lebens.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, in der Gesellschaft meiner früheren Bekannten Zerstreuung zu suchen. Zunächst tat ich dies jedoch nur selten. Es war anfangs nie ohne Befangenheit, daß ich mich nach dem Essen von Johanna verabschiedete: Ich glaubte mich gewissermaßen entschuldigen zu müssen, sie allein zu lassen, indem ich sagte, ich wolle meinen Bruder aufsuchen, oder ich habe mit diesem oder jenem irgend etwas zu besprechen. Sie sagte dazu nie ein Wort, auch fragte sie nicht, wann ich wieder nach Hause käme, doch ließ sie mir keineswegs unbeschränkte Freiheit, sondern wußte dafür zu sorgen, daß ich außerhalb des Hauses fortwährend an die Fesseln erinnert würde, die mich an sie banden. – Ich mochte nach Hause kommen, wann ich wollte, ob früh oder spät, Johanna wartete auf mich. Sie machte mir nie in Worten einen Vorwurf darüber, sie stundenlang sich selbst überlassen zu haben, aber die stumme Anklage blickte aus ihren schlaftrunkenen, strengen Augen. Ich bat sie wiederholt, sie möchte doch, wenn sie müde sei, zu Bette gehen, ohne meine Rückkehr abzuwarten. Sie antwortete mir darauf nur einmal: »Mama hatte auch die Gewohnheit, auf Papa zu warten.« Natürlich! – Mit der Zeit wurde ich verstockt. Ich wollte Johannas Müdigkeit nicht mehr sehen, die kalte Anklage ihres Blickes nicht mehr verstehen. Gegen das Ende des Winters hatte ich die regelmäßige Gewohnheit angenommen, jeden Abend auszugehen, und nur in seltenen Fällen kam ich vor Mitternacht wieder nach Hause. Noch einmal kam es darüber zwischen Johanna und mir zu einer Aussprache. Sie fragte mich eines Morgens, ehe ich mich auf das Ministerium begab, ob ich am Abend ausgehen würde.

»Warum fragst du mich?«

»Weil ich, wenn du ausgehen solltest, Mama besuchen würde.«

»Ich verhindere dich nicht, zu deiner Mutter zu gehen.«

Sie antwortete mit überlegener Zurechtweisung: »Du mußt die Sache nicht verdrehen, lieber Hermann. Ich beabsichtige nicht, dich zum Ausgehen zu veranlassen, um Mama besuchen zu können. Wenn du zufällig einmal zu Hause bleiben solltest, so würde ich dir mit Vergnügen Gesellschaft leisten. Du wirst es aber vielleicht natürlich finden, wenn du darüber überhaupt nachdenken willst, daß ich der Einsamkeit der langen Abende zu entrinnen wünsche. Darum allein fragte ich, ob du heute abend ausgehen würdest.«

»Das weiß ich in diesem Augenblicke noch nicht.«

»Kannst du es mir nicht bestimmt sagen? Ich möchte Mama benachrichtigen, ob sie mich erwarten soll oder nicht.«

»Benachrichtige deine Mutter jedenfalls, daß du kommen wirst!«

Eine kleine Pause.

»Es wäre mir lieb, wenn du mir jeden Morgen sagen wolltest, ob du am Abend ausgehen wirst oder nicht.«

»Das wäre eine lästige Pflicht, die ich mir auferlegte«, antwortete ich. »Ich weiß sehr häufig des Morgens noch nicht, was ich am Abend tun werde.«

»Nun, du gehst doch jeden Abend aus.«

»Dann brauche ich dir überhaupt nicht zu sagen, daß ich ausgehe. Ich werde dir jedesmal mitteilen, wenn ich bestimmt zu Hause bleiben will. Genügt dir das?«

Es war wohl nicht genau, was sie gewollt hatte: sie hätte gewünscht, täglich wie eine Art Schuldbekenntnis von mir zu hören, ich beabsichtige, sie am Abend zu verlassen. Ich hatte mich dem aber nicht fügen wollen und die Frage so erledigt, wie es mir am bequemsten war. Es war ein kleiner Sieg, den ich errungen hatte, und sie wußte den Ärger über den vereitelten Triumph nur schlecht zu verbergen.

»Dann darf ich mich nun also jeden Abend als frei betrachten?« fragte sie bitter.

»Jeden Abend«, antwortete ich freundlich.

Wir waren noch nicht ein Jahr verheiratet, und die Entfremdung zwischen uns war nun eine beinahe vollständige geworden. Wir sahen uns ganz regelmäßig dreimal am Tage: des Morgens beim ersten Frühstück, um sechs Uhr bei Tisch und des Abends, wenn ich nach Hause kam. Wir sprachen nur noch selten miteinander und niemals weder herzlich noch unfreundlich. Gesellschaft empfingen und besuchten wir nicht. Sie war in dieser Beziehung anspruchslos. Meine Freunde und Verwandten gefielen ihr nicht, und ihr Kreis, in dem ich mit Frau v. Wehrenberg hätte zusammentreffen müssen, war mir verhaßt. Von Zeit zu Zeit ging ich mit ihr in ein Theater oder Konzert. Das wurde dann immer des Morgens feierlich angezeigt.

»Hättest du Lust, heute abend mit mir in die Oper zu gehen?«

»Ich werde mich sehr freuen, mit dir in die Oper zu gehen.«

»Dann wollen wir etwas früher essen, wenn es dir recht ist.«

»Natürlich ist es mir recht . . . Wann kannst du frei sein?«

»Sagen wir um ein halb sechs Uhr.«

»Schön. Um halb sechs Uhr also!«

Sie war tadellos und schrecklich! Ich faßte ihr gegenüber eine Abneigung, die mit jedem Tage wuchs, der selbst ihre guten Eigenschaften, ihre Pünktlichkeit, Ordnung, ja sogar ihre Schönheit fortwährend neue Nahrung gaben. Sie konnte nun tun, was sie wollte – es ärgerte mich. Aber ich hätte vergeblich nach einer Veranlassung gesucht, dies zu zeigen. – Doch kam es eines Abends ganz unerwartet zu einem Auftritt zwischen uns.

Wir waren in ein Theater gegangen und dort, wie gewöhnlich, vor Aufzug des Vorhanges angekommen. Gegen Ende des ersten Aktes traten Frau Ellrichs und Natalie in eine Loge, der unserigen gegenüber. Die Sache ging möglichst geräuschlos vor sich und verursachte nur eine ganz geringfügige Störung: zwei oder drei Zuschauer hoben die Köpfe nach den Neuangekommenen – das war alles. Die beiden Damen nahmen gelassen Platz und unterzogen das Haus der üblichen kurzen Musterung. Ich hätte ihren Blicken nicht ausweichen können, ohne daß sie die Absicht bemerkt haben müßten, und ich grüßte höflich und ernst, als unsere Augen sich begegneten. Sie dankten in derselben Weise und wandten sich bald darauf dem Schauspiel zu. Johanna hatte sich nicht gerührt.

Als der Vorhang gefallen war, wandte ich mich zu ihr und sagte leise:

»Frau Ellrichs und ihre Tochter sitzen uns gerade gegenüber.«

»Ich habe es wohl bemerkt. – Du hast sie ja sogleich begrüßt.«

»Und sollte ich das etwa nicht tun?«

»Ich habe dir meine Ansicht darüber bereits einmal gesagt. Ich an deiner Stelle würde es nicht tun.«

»Es ist hier nicht der Ort, darüber zu streiten. Wir können es heute abend, zu Hause tun, wenn es dir Vergnügen macht.«

»Du besitzt ein großes Talent in der Kunst, Fragen zu verschieben . . . Als ob ich angefangen hätte, von Frau und Fräulein Ellrichs zu sprechen. Die Leute interessieren mich ganz und gar nicht. Ich kenne sie nicht und mag sie nicht kennen lernen. Du warst es, der meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte; und nun stellst du die Sache hin, als ob ich das Gespräch über sie angefangen hätte.«

»Du scheinst heute wieder sehr heiterer Laune.«

»Ich antworte dir in dem Tone, den du angeschlagen hast.«

Johanna wollte immer das letzte Wort haben. Ich hatte mich daran gewöhnt und schwieg.

Frau Ellrichs und Natalie verließen das Theater vor dem Schluß des Stückes, ohne daß ich Gelegenheit gehabt hätte, einen zweiten Gruß mit ihnen zu wechseln. Doch hatte ich Natalie, unbeachtet von ihr und ohne die Aufmerksamkeit ihrer Mutter oder Johannas zu erregen, beobachtet. Ich hatte sie immer ernst und still gekannt, und sie erschien mir in ihrem Aussehen und Wesen unverändert, seitdem ich ihr, am Vorabend meiner Abreise nach Nortorf, zum letzten Male die Hand gedrückt hatte. Es war mir, als hörte ich ihre Stimme wieder, ihre weiche, warme Stimme, so verschieden von dem harten, hellen Klang der Johannas. Der Gedanke daran verließ mich nicht auf der Fahrt nach Hause. Ich wechselte während derselben nur einige gleichgültige Worte mit Johanna. Nach einer längeren Pause, wenige Minuten ehe wir unsere Wohnung erreicht hatten, sagte Johanna plötzlich:

»Ich erlasse dir, mich zukünftig wieder in ein Theater zu führen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Es soll bedeuten, daß ich dir nicht ferner das Opfer auferlegen will, dich, ohne mir eine Freude zu bereiten, in meiner Gesellschaft zu langweilen.«

Wir waren vor der Türe unseres Hauses angelangt.

»Darüber können wir oben weiter sprechen.«

»Ja. Wir können dann ebenfalls noch über Fräulein Ellrichs sprechen. Das war ja auch noch ein Vergnügen, das mir für heute abend vorbehalten bleiben sollte.«

Ich stieg aus, bezahlte den Kutscher und folgte Johanna, die mir schnell vorausgegangen war. Ich hatte mir vorgenommen, den Abend ohne weitere unangenehme Auseinandersetzungen zu beschließen; aber das paßte Johanna nicht. Kaum hatten wir uns zum Tee niedergesetzt, als sie die vor der Türe abgebrochene Unterredung in leisem Tone, der aber von innerer, tiefer Erregung zeugte, wieder aufnahm. Es drängte sich mir sofort die Überzeugung auf, daß das, was sie sagte, reiflich vorbedacht, wahrscheinlich mit der Mutter verabredet worden war. Sie sprach in harten, bitteren Worten von dem freudelosen Leben, das meine Vernachlässigung ihr bereitete, sie zählte ihre häuslichen Tugenden auf: hatte ich über irgend etwas zu klagen? Vernachlässigte sie auch nur die kleinste ihrer Pflichten? Welchen Vorwurf konnte ich ihr machen? – Und was war ihr Lohn? Ich suchte Freuden außerhalb des Hauses, die sie nicht teilen konnte, von denen sie nichts wissen wollte, und während der wenigen Stunden unvermeidlichen Zusammenseins mit ihr war ich mürrisch, so empfindlich und gereizt, daß sie kaum noch wagte, ein Wort zu sagen, aus Furcht, einen Zornausbruch bei mir hervorzurufen. Jeder Vorwand zu einer Unfreundlichkeit sei mir erwünscht. Sie müsse fortwährend Vorwürfe über ihre Beziehungen zu ihrer Mutter hören, ich verdenke es ihr, daß sie nicht mit fremden Leuten, die ihr antipathisch seien, in Verbindung treten wolle. Sie sei nicht so kurzsichtig und verblendet, wie ich annehme, sie wisse wohl, daß mein heutiger Verdruß daher rühre, daß sie sich nicht beeilt habe, Frau und Fräulein Ellrichs zu begrüßen; – aber das werde sie niemals tun. Sie wisse mehr von meinen Beziehungen zu der ehemaligen Braut meines Bruders, als ich zu glauben schiene . . . .

Da unterbrach ich sie: »Was sollen diese törichten Unterstellungen bedeuten? Ich verstehe sie nicht.«

»Du verstehst sie sehr wohl.«

»Ich gebe dir die Versicherung, daß ich sie ganz und gar nicht verstehe, und ich muß dich um Aufklärung bitten.«

»Du willst nur einen neuen Vorwand haben, mir Unannehmlichkeiten zu sagen. Ich werde dir einen solchen Vorwand nicht geben.«

Ich biß die Zähne zusammen und hielt einen Zornausbruch zurück; aber es kochte in mir. Ich wußte, daß es mir unmöglich sein würde, die klare Antwort von Johanna zu bekommen, die ich hören wollte; ich machte auch in dieser Beziehung keine Versuche, die ich im voraus vergeblich wußte, aber ich wollte mich nun auch einmal »aussprechen«. Der seit einem Jahre zurückgehaltene Zorn brach hervor: nicht laut, nicht lichterloh, aber doch ingrimmig und gewaltsam. Ich sprach so leise, wie sie gesprochen hatte: in unterdrücktem Flüsterton machte ich meinem gepreßten Herzen Luft. Ich hatte mich keineswegs darauf vorbereitet, und ich weiß nicht mehr, was ich sagte. Ich erinnere mich nur, daß ich schnell sprach, beredt, und daß meine Worte bitter, rücksichtslos waren, beleidigend für Johanna und ihre Mutter. – Johanna erschien zunächst überrascht, dann malte sich Bestürzung, ja Schrecken auf ihren Zügen. Ohne daß ich es bemerkt, hatte sie sich der Tür genähert, und plötzlich riß sie die selbe auf und war aus dem Zimmer verschwunden. Ich vernahm ihren eilenden Schritt, hörte wie eine Stubentür geöffnet und schnell und laut wieder geschlossen wurde – und dann wurde es ganz still. Mein Zorn war plötzlich geschwunden, eine Art ruhiger Befriedigung kam über mich, und ich sagte leise vor mich hin: »Es ist vollbracht!«


 << zurück weiter >>