Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Hauptmann von Köpenick

»So herzlich hat Berlin, so hat die Welt lange nicht gelacht,« als in den schönen Herbsttagen des Jahres 1906, als dem verehrten Publico ein Blick hinter die Kulissen der tollsten, unwahrscheinlichsten Militärburleske gegönnt wurde, die je ersonnen worden ist, und die sich in Wirklichkeit in der nächsten Nachbarschaft der »Metropole der Intelligenz« abgespielt hatte.

Personen:

Der Bürgermeister, Offizier der Reserve,

Der städtische Rendant, später Gefangene eines unbekannten Hauptmanns in mangelhafter Uniform.

Andere städtische Polizeibeamte, Zuschauer.

Einige richtige Gardisten in richtiger Uniform, mit Gewehr, Seitengewehr, gerolltem Mantel, Pickelhaube.

Ein Gefreiter.

Wilhelm Voigt, ein kleiner schwächlicher Schuster, der im Gefängnis und 25 Jahr im Zuchthause gesessen hat, im Besitze eines alten, verschlissenen, vom Trödler erstandenen Waffenrocks mit Hauptmanns-Abzeichen und einiger andrer völlig ungeeigneter Uniformstücke, die in idealer Vereinigung auf den klapperigen, schlotternden Gliedmaßen des alten Mannes, der nie gedient hat, nicht einmal als Karikatur eines deutschen Offiziers brauchbar erscheinen; Befehlshaber der bewaffneten Macht, Inhaber der Polizeigewalt, Diktator.

Chor der erstaunten Welt, die sich vor Lachen schüttelt.

Ort der Handlung: Rathaus zu Köpenick bei Berlin und Neue Wache in Berlin.

Zeit der Handlung: Oktober 1906.

Handlung:

Undenkbar, aber wahr …

Vergeblich habe ich versucht, für die Nacherzählung aus der Erinnerung mir die kuriose Geschichte zu rekonstruieren. Auf Schritt und Tritt stieß ich auf Unglaublichkeiten, Ungeheuerlichkeiten, Unmöglichkeiten, so daß ich mir beständig sagen mußte: So kann's nicht gewesen sein! Das ist zu täppisch und läppisch! … Und ich schlug nach und überführte mich: es war wirklich doch so! Das Unbeschreibliche, hier war es getan!

Ein alter, kränklich wirkender Mann, anscheinend im Alter eines Generals, hatte als Hauptmann in unglaublicher Equipierung, in schofler, schäbiger Uniform und in einer Zusammenstellung, die jedes Soldatenauge beleidigen mußte, eine Abteilung strammer Gardisten angehalten; die Mannschaft hatte dem Befehle dieses wunderlichen Vorgesetzten, dessen fragwürdiger Faschingsaufzug den blonden Hünen als genügender Ausweis des hohen Ranges erschien, blindlings Folge geleistet. Und so war denn Schuster Voigt an der Spitze seiner strammen, wohlbewaffneten Jungen aus Pommern und der Mark nach Köpenick gefahren, hatte für sie ein einfaches Frühstück auftragen lassen und alsdann, wortkarg und würdig, unter Umständen mit angemessenen Anschnauzern, zu allgemeiner schreckhafter Verwunderung das Rathaus besetzt. Er hatte den Bürgermeister widerstandlos gefangen genommen, dem, da an der Echtheit der soldatischen Begleitung nicht zu zweifeln war, all die Eigentümlichkeiten ihres Führers nicht auffielen: weder das Alter des Hauptmanns, noch die liederliche, inkorrekte Uniform. Er hatte den Bürgermeister, der sich auch mit dem gänzlichen Mangel an Vollmacht eines gemessenen militärischen Befehls befreundet haben muß, in einem requirierten Fuhrwerk, von dem man nie hat erfahren können, wer die unfreiwillige Vergnügungsfahrt des städtischen Oberhauptes eigentlich bezahlt hat, per Schub nach der Neuen Wache zu Berlin befördert, wo natürlich kein Mensch eine Ahnung hatte, was man mit dem unerwarteten Herrn Gefangenen eigentlich anfangen sollte. Inzwischen hatte der Eroberer den Rendanten zu sich beordert, den Kassenbestand revidiert, das bare Geld beschlagnahmt und der Einfachheit halber gleich in die Tasche gesteckt, nachdem er vorschriftsmäßig – Ordnung muß sein! – über den Empfang quittiert und die Quittung mit einem schwer leserlichen Namen unterzeichnet hatte, der in der Rang- und Quartierliste bis jetzt nicht hat aufgefunden werden können. Auch der Rendant wurde dingfest gemacht.

Nun war die Sache aus. Alle warteten. Die sich ihrer Unschuld bewußten städtischen Beamten, Bürgermeister und Rendant warteten, bis ihnen die Stunde der Freiheit schlagen würde. Die Mannschaften, die, verstärkt durch die städtische Polizeigewalt, das Rathaus besetzt hielten, warteten auf Ablösung. In der Kaserne wartete man auf die Soldaten, die diesmal ungebührlich lange Zeit zu ihrer gründlichen Säuberung brauchten. Wo mochten die Kerle nur stecken? Der Fuhrherr wartete auf Zahlung seiner Rechnung für den Gefangenentransport von Köpenick nach Berlin. Alle warteten.

Bloß der Herr Hauptmann wartete nicht. Dem war die Sache, wie man zu sagen pflegt, zu dumm geworden. Der war gekommen und gegangen – wie Lohengrin mit einem Retourbillett: niemand wußte, woher er kam, niemand konnte sagen, wohin die Fahrt nun gegangen war. Er war nicht mehr da! Das war das einzige, was man wußte. Und das Geld, das er beschlagnahmt hatte, war auch nicht mehr da. Und alle sahen sich kopfschüttelnd an … »Nun sag' mir eins, man soll kein Wunder glauben!«

*

Komisch war ja die Sache, furchtbar komisch, aber sie hatte auch, wie jede gute Komödie, etwas furchtbar Ernstes! Dem ungestümen Lachen folgte die ernstere Betrachtung auf der Ferse. In dieser Stimmung schrieb ich den nachstehenden Aufsatz, der gleich nach Schluß der Komödie im »Berliner Tageblatt« erschien, und an dem ich jetzt nichts ändern möchte, weil er sich mit der allgemeineren Auffassung von damals wohl so ziemlich deckte. Die geringfügigen Ungenauigkeiten, die erst im Laufe der nächsten Wochen richtiggestellt wurden, wird der Leser, ohne daß er darauf besonders aufmerksam gemacht zu werden brauchte, selbst verbessern.

» Der Schuldige« überschrieb ich meine Aufzeichnung, die also lautete:

Die Nachricht, daß der geheimnisvolle Hauptmann am 26. Oktober 1906 gefaßt worden ist, der an der Spitze einer kleinen Abteilung richtig gehender preußischer Gardisten den Bürgermeister und den städtischen Rendanten von Köpenick als Gefangene nach der Neuen Wache in Berlin abgeschoben und die städtische Kasse im Rathause beschlagnahmt hat, – diese Nachricht hat außer dem frivolen Gefühle befriedigter Neugier mehr Bedauern als befreiende Genugtuung hervorgerufen. Spricht diese Tatsache, die nur von der Heuchelei, von Schwerhörigkeit oder Kurzsichtigkeit in Abrede gestellt werden kann, für eine beklagenswerte Trübung unseres Rechtsgefühls? Erleben wir eine Wiederauferstehung der lächerlichen und krankhaften Räuberromantik, die gerade vor hundert Jahren die Köpfe unserer Vorfahren verdrehte? Mir will es scheinen, daß die sympathische Teilnahme, die man dem alten Zuchthäusler Wilhelm Voigt entgegenbringt, von einer solchen krankhaften Verzerrung des Rechtsgefühls sehr weit entfernt ist.

Die Tat selbst hat schon wegen der genialen Kühnheit in Anlage und Durchführung, wegen ihres völligen Gelingens und des geringen Schadens, den sie angerichtet hat, versöhnlich gewirkt. Versöhnlich vor allem durch ihre unwiderstehliche Komik. In der übermütigen Phantasie der Offenbachschen Operettendichter ist nie etwas so Burleskes aufgekeimt wie diese Besetzung eines städtischen Rathauses, diese Gefangennahme des höchsten städtischen Beamten, diese Beschlagnahme der städtischen Hauptkasse durch eine vom Trödler erstandene, höchst mangelhafte Uniform.

Die jämmerliche Füllung dieser Uniform war damals noch nicht einmal bekannt! Kein Mensch zweifelte zunächst daran, daß sie einigermaßen stattlich und glaubhaft sei. Daß ein armes Hascherl in ihr stak, ein gebrechlicher, alter Schuster, dessen Gliedmaßen durch die langen Jahre seiner Zwangsarbeit vertrackt, dessen Gesichtsfarbe durch die endlose Entbehrung von Licht und Sonne gegraut, dessen Hände von der unausgesetzten schweren Arbeit gebreitet, gehärtet, gesprungen, dessen Füße in den zu engen Schuhen grausam gemartert waren, – daß ein Mensch, der nicht einmal gedient hat, einer eingedrillten Mannschaft, uniformierten Polizeibeamten, einem Reserveleutnant und unzweifelhaft noch vielen anderen früheren Soldaten, ohne irgendwelche andere Legitimation als eben die schäbige Uniform, am hellen Tage stundenlang einen militärisch korrekten Hauptmann vorgaukeln konnte, – das ahnte man nicht.

Aber ohne daß man des Pudels Kern kannte, machte der Kasus schon lachen. Und wie! So herzlich hat Berlin, Deutschland, hat die ganze Welt lange nicht gelacht. Und jedem Freudenspender ist die Menschheit dankbar, – auch dem unbekannten. Das war ein Meisterstück, Octavio!

Jetzt, da man die Wahrheit kennt, wird das Gefühl des Erstaunens über den Urheber des Köpenicker Streiches eher verstärkt als abgeschwächt. Also ein Autodidakt in des Wortes weitester Bedeutung! Ein Mann, der keine anderen Mitarbeiter hat – ich möchte das Wort Komplicen in diesem Falle nicht gebrauchen – als seine Intelligenz, seine Beobachtung, seine Menschenkenntnis, seine Kühnheit.

Sein scharfer Blick für menschliche Schwächen und Unvollkommenheiten ist durch die dicken Mauern des Zuchthauses gedrungen, und in der Einsamkeit der Zelle hat er sich ein Soldatenspiel zurecht gemacht, wie es geistvoller wohl nie ersonnen worden ist. Mit welcher menschenverachtenden Überlegenheit hat dieser grausamste Satiriker sein Stücklein, das den Titel führen könnte » L'habit fait le moine« nach allen Regeln aristotelischer Kunst aufgebaut und durchgeführt!

*

Flaubert erzählt in seinem punischen Roman »Salammbo«, wie sich der Libyer Matho den Weg zum unnahbaren Schlafgemach, in dem seine Geliebte mit den anderen Priesterinnen des Tanit ruht, dadurch bahnt, daß er einen heiligen Schleier, der alle Karthager mit abergläubischem Schauder erfüllt, den »Zaïmph« raubt und um seine Schulter schlägt. Da springen die Wachen entsetzt zurück, die Tempelhüter verkriechen sich; er schreitet ungehindert an die Lagerstätte der Geliebten und entführt sie. Das lose Gewebe macht ihn zum Herrn der starken Stadt …

Wir kennen auch die Geschichte vom Bajazzo, der den Herrscher tötet und sich durch den Hermelin, in den er seine Schäbigkeit hüllt, Ehrfurcht, Gehorsam, Herrschaft erzwingt. Aber was ist jener »Zaïmph«, was ist dieser Hermelin im Vergleich zu der zusammengestückelten plunderigen Hauptmannsuniform, mit der unser Künstler sein ans Wunderbare streifende Abenteuer vollführt hat!

Ja, ein Künstler! Es hat für uns beinahe etwas Verletzendes, wenn wir lesen, wie in den Zeitungen von ihm wie von einem Gauner gesprochen wird. Zum Gauner gehört doch wohl die niedrige Gesinnung, und davon ist in den Handlungen, die wir von Wilhelm Voigt seit seiner letzten Entlassung aus dem Zuchthause kennen, keine Spur wahrzunehmen. Eher das Gegenteil. Es liegt kein Grund vor, seiner Versicherung, daß es ihm nie einfallen würde, von einem einzelnen unrechtmäßig auch nur einen Pfennig zu nehmen, den Glauben zu versagen. Wenn das als »naiv« verhöhnt wird, so scheint mir dieser lieblose Hohn für ein recht schwaches Unterscheidungsvermögen zu sprechen. So großartig sind wir denn doch nicht, daß wir bei einer Handlung nur die Ursache ins Auge fassen und die Wirkung als etwas Nebensächliches betrachten. Das Mädchen, das einen Teller von Sevresporzellan zerbricht, begeht keine schlimmere Handlung, als wenn der Teller aus Steingut wäre. Aber die geschädigte Hausfrau fühlt denn doch den erheblichen Unterschied. Ein Lump, der eine arme Frau um fünfzig Pfennig bestiehlt, erscheint uns viel gemeiner und verächtlicher als der falsche Hauptmann, der einer städtischen Kasse ein paar Tausend Mark widerrechtlich entzieht. Man muß sich erst erkundigen, um auf die natürliche Frage, wer denn da eigentlich Schaden erlitten hat, die richtige Antwort zu erhalten. Wie soll man Mitleid mit Geschädigten haben, die man nicht kennt, die es wohl selbst nicht empfinden, daß sie geschädigt sind?

Und das ist hier kein bloßer Zufall, es ist Methode. Voigt hat mit ruhiger Überlegung sich einen vermögensrechtlichen Vorteil verschaffen wollen, ohne dem Nächsten fühlbaren Schaden anzutun.

*

Aber das alles ist es nicht, das unsern berechtigten Haß gegen unbefugte Aneigner fremden Eigentums in diesem besonderen Falle herabdämpft, das die so voll verdiente Anerkennung der diesmal ausgezeichneten Leistung unserer Kriminalpolizei weniger unbefangen freudig stimmt, als es wohl richtig wäre.

Um das gleich hier zu bemerken: Mit dieser Ermittelung hat unsere Kriminalpolizei, der man manchmal den Vorwurf gemacht hat, daß sie sich durch volle Worte im runden Munde mehr als durch den Griff mit sicherer Hand hervorgetan habe, sehr viel gut gemacht. Der Scharfsinn, die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges, der durch kaum durchdringliches Dunkel zur Klarheit und zum Ziele geführt hat, verdienen uneingeschränktes Lob. Nur schade, daß sich diese seltene Tüchtigkeit gerade an diesem Wilhelm Voigt bewähren sollte, und daß ungezählte Unholde, schwerste Einbrecher, wüste Lüstlinge, Räuber und Mörder frei umherlaufen – wirkliche Verbrecher, die die Ruhe und Ordnung unserer Gesellschaft aufs äußerste bedrohen.

Ein solcher Verbrecher war dereinst auch Wilhelm Voigt; wenn nicht alles trügt, ist er es nicht mehr.

Und da berühren wir den Punkt, der uns am tiefsten erregt.

Wenn es für einen Verstoß gegen das Gesetz überhaupt mildernde Umstände gibt, – wenn sie hier nicht vorliegen, wo dann? Den Staatsanwalt beneide ich nicht um seine Aufgabe, der nachzuweisen hat, daß Voigt gegen unsere ehrsame Gesellschaft ein ruchloses Verbrechen begangen hat, für das jahrelanges Zuchthaus die gerechte Sühne wäre.

Vielleicht ließe sich sogar mit einigem Rechte der Satz verteidigen: Nicht Wilhelm Voigt, unsere Gesellschaft gehört auf die Anklagebank als Hauptangeklagte: als mitleidlose Anstifterin!

*

Das Vorleben Voigts ist schrecklich; 25 Jahre Zuchthaus, 2 Jahre Gefängnis. Daran ist nichts zu beschönigen. Er war ein Verbrecher.

Er war's. Ist er es noch?

Wenn sich je die Strafe in ihrer idealen Bedeutung, als bessernde Kraft gezeigt hat, hier scheint mir ein leuchtendes Beispiel gegeben zu sein.

Seit dreiviertel Jahren lebt er in Freiheit. Er hat sich nicht das geringste zuschulden kommen lassen. Er hat sich sein Leben und seine Freiheit verdient mit allen Tugenden des guten Arbeiters, in Fleiß und Sparsamkeit. Kein Mensch hat das Recht, diesem Manne zu bestreiten, daß er den Abend seines elenden Daseins in Ehren hat beschließen wollen.

Er hat gearbeitet von früh bis spät, nüchtern, anspruchslos. Er hat die schlechte Gesellschaft gemieden, haushälterisch die Groschen seiner Zuchthausersparnisse zusammengehalten, von seinem Verdienste zwei Drittel beiseite gelegt und sich mit einem Drittel zur Bestreitung seiner Existenz begnügt. Als aufgebrauchter Greis – 25 Jahre Zuchthaus zerreiben die stärkste Konstitution – mit der drückenden Last der Vergangenheit auf dem Rücken, tritt er mutig wie ein junger, rüstiger Mensch in die ihm feindliche Gesellschaft, denkt an eine ehrliche Zukunft, an die Begründung einer selbständigen Stellung, an die Begründung eines eigenen Hausstandes. Und er findet einen guten Meister, der ihm Vertrauen schenkt, findet eine Frau, deren Zuneigung er durch liebevolle Behandlung ihres Kindes gewinnt. Es scheint sich wirklich zum Guten zu wenden.

Da werden die »Spürhunde der Gerechtigkeit« losgelassen. Er wird davongejagt, nicht weil er das Unrechte tut, sondern weil er gebüßtes Unrecht getan hat. Der Staat, die Gesellschaft verbieten ihm, ein anständiger Mensch zu werden. Mit Peitschenhieben wird er ins Verbrechen geradezu hineingehetzt.

Also gut, vous l'avez voulu! Auf ehrliche Weise geht's nicht, darf es nicht gehen! Dann also, wenn ihr's durchaus nicht anders haben wollt, anders!

Und so ist der aus Wismar Verjagte, in Rixdorf sich und seine ehrliche Arbeit scheu Versteckende, in hauptmännischem Mummenschanz gen Köpenick gezogen.

Und nun, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, »wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn.«

*

Im zweiten Jahrhundert nach Christus schrieb der Philosoph Claudius Aelianus lehrreiche Erzählungen, an denen unser Lessing so großes Behagen fand, daß er einige übersetzte. So die »Geschichte des alten Wolfs, in sieben Fabeln«.

In der ersten wird erzählt, wie der Wolf zu Jahren gekommen, den Entschluß faßt, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuße zu leben. »Schütze mich nur vor dem Hunger, und du sollst mit mir wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.«

»Wenn du satt bist? Aber wann bist du denn satt? Gehe deinen Weg!«

Der abgewiesene Wolf ging zu einem zweiten Schäfer, zu einem dritten und vierten, überall dieselbe Ablehnung. Den alten Sünder, der Schafe gestohlen und erwürgt hat, wollte keiner ins Haus nehmen. Gerade so übel erging's ihm beim fünften und sechsten Schäfer.

Den sechsten wollte er rühren: »Sieh Schäfer, ich bin alt und werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz.«

Da griff dieser sechste Schäfer nach seiner Keule, um ihn zu erschlagen, und der Wolf floh.

»O, die Unbarmherzigen!« schrie der Wolf und geriet in die äußerste Wut. »So will ich auch als ihr Feind sterben, eh' mich der Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!«

Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.

Da sprach der weiseste von ihnen: »Wir taten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber auf das äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen.« – –

Es gibt hier einen »Fürsorgeverein für entlassene Gefangene«, einen »Verein zur Besserung der Strafgefangenen« unter dem Protektorate des Kaisers, und dessen Präsident Oberstaatsanwalt Wachler ist, einen »Verein für die Pflege entlassener Strafgefangener« – Berliner Stadtmission; es gibt noch andere derartige Vereine mit konfessioneller Färbung.

Wie werden sich denn diese Vereine zum Falle Voigt stellen? Wer wird den Mut haben, mit dem weisesten Schäfer des Aelianus einzugestehen, daß wir den alten Räuber »auf das äußerste gebracht« haben und daß wir gut daran tun werden, bei unserer Fürsorge um die Besserung entlassener Strafgefangener mit der Besserung unserer Einrichtungen, der Beseitigung der Grausamkeiten gegen entlassene Sträflinge den Anfang zu machen? –

*

Ob die Vereine, die ich hier am Schlusse meiner ersten Veröffentlichung anrief, sich die Sache des Helden von Köpenick haben angelegen sein lassen, weiß ich nicht. Die Teilnahme der Privaten aber war stark, ernst und werktätig. Von allen Seiten liefen Liebesspenden ein, die dazu bestimmt waren, die Lage des Gefangenen, soweit es gesetzlich irgend zulässig war, zu erleichtern und ihm die Sorge für seine alten Tage, die er hoffentlich in Freiheit verbringen würde, abzunehmen.

Besser als während seiner relativ kurzen, nur wenige Wochen währenden Untersuchungshaft hat es Wilhelm Voigt gewiß sein Lebtag nicht gehabt.

Schon am ersten Dezembertage (1906) fand die öffentliche Verhandlung statt, deren Ergebnis das Bild, das man sich von dem alten Zuchthäusler nach seinen schweren Vorstrafen, ohne nähere Kenntnis des Sachlichen hatte machen müssen, in wesentlichen Punkten stark veränderte. Durchweg zugunsten des Vielbestraften.

Dem Vielbestraften war böse, böse mitgespielt worden!

» Ein verpfuschtes Leben!« Das war die Überschrift des Aufsatzes, den ich unmittelbar nach Schluß der Verhandlungen für die »N. Fr. Presse« schrieb, unter dem tiefen Eindruck, den die in ihrer Schlichtheit erschütternde Darlegung Voigts auf uns alle gemacht hatte.

Auch diese Momentaufnahme mag ohne Retouche hier wiedergegeben werden:

*

1. Dezember 1906.

Die Zuhörerschaft im kleinen Schwurgerichtssaale des neuen Gerichtsgebäudes in Moabit macht einen in Berlin ungewohnt eleganten Eindruck. Auffällig viel Damen, die, nach ihrer Toilette zu schließen, offenbar unseren ersten Gesellschaftskreisen angehören, Offiziere aller Chargen, zahlreiche Juristen, darunter die Träger der bekanntesten Namen, Künstler und Schriftsteller, mit einem Wort, alle Elemente, die dem Publikum den großstädtischen Charakter geben, füllen den Raum bis auf den letzten Platz.

Wenige Minuten nach halb 10 Uhr wird die Sitzung vom Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Dietz, eröffnet und gleich darauf unter atemloser Stille der Angeklagte vorgeführt. Wilhelm Voigt verbeugt sich gegen den Gerichtshof und stellt sich vor seinen Stuhl in die vordere Ecke hinter der Schranke in der gewohnheitsmäßigen gleichgültigen Unterwürfigkeit, die drei Jahrzehnte erzwungenen blinden und willenlosen Gehorsams seiner Haltung gegeben haben. Von der ihm vom Vorsitzenden erteilten Erlaubnis, während der voraussichtlich langen Dauer des Verhörs sich zu setzen, macht er spärlichen Gebrauch.

Die Vorstellung, die wir uns nach den viel verbreiteten Bildern vom »Hauptmann von Köpenick« gemacht haben, deckt sich nicht mit der Wirklichkeit der Erscheinung. Voigt ist keineswegs die verbrecherische Vogelscheuche mit dem typischen Ausdruck des alten Zuchthäuslers. Die kühne Entschlossenheit, wie sie sich in seinem schwerst bestraften Verbrechen, dem bewaffneten Einbruch in die Gerichtskasse zu Wongrowitz, in tragischer Bedrohlichkeit zu bekunden scheint und im burlesken »Brumaire« von Köpenick in unwiderstehlicher Komik tatsächlich bekundet hat, sieht man ihm nicht an. Sein glänzender runder, wohlgeformter Schädel, den ein schmaler weißer Kranz abschließt, ist von Haaren entblößt. Auch der zottig herabhängende starke Schnurrbart ist weiß.

Der vorherrschende Ausdruck seines Gesichts von welker, fahler Zuchthausfärbung und wächserner Unveränderlichkeit ist harmlose Traurigkeit.

Ob er über sein jammervolles Leben Schmerzliches zu berichten, ob er sich über günstige Leumundszeugnisse zu erfreuen hat, während des Verhörs, der Zeugenaussagen, der Verkündigung des Urteils zuckt keine Fiber in diesem Bilde langen Leidens ohne Leidenschaft.

Er ist mittelgroß, ziemlich schmalbrüstig, mit herabfallenden Schultern, mit großen, knochigen, in steter Übung hart und breit gearbeiteten Händen. Von militärischer Strammheit ist in seinem Auftreten nichts wahrzunehmen. Seine Kleidung ist ziemlich ärmlich, aber sauber und ordentlich. Um den schneeweißen Kragen ist eine bunte Krawatte gebunden.

Auch in seinem Vortrage kommen die Gefühle, die unter der Asche glimmen, kaum wahrnehmbar zum Ausdruck. Es macht nicht den Eindruck, als ob er der besonderen Selbstbeherrschung bedürfe, um in gleichmäßiger Ruhe, ohne die Stimme zu heben oder zu senken, ohne das Tempo zu beschleunigen oder zu verlangsamen, mit unheimlicher Selbstverständlichkeit über Dinge zu sprechen, bei denen den Hörer Grauen und Schaudern befällt – die erschütternde Wirklichkeitstragödie eines verpfuschten Menschenlebens, wie sie in dieser qualvollen Nüchternheit keines Dichters Phantasie ersinnen könnte.

Und was für ein Redner ist dieser Unglückliche, der von rhetorischen Effekten nichts weiß und dem die verborgene Empfindung schlichte Worte auf die Zunge legt, die uns ins Tiefste eindringen! Wie müssen die gelehrten Zeugen, die vor hochansehnlichen Versammlungen ihre Anträge zum Besten der Stadt berufsmäßig mit ihren beredten Worten zu verteidigen haben, vor diesem Autodidakten erblassen, der seine Rhetorik nur im Monologe der engen Zelle hat üben können! Man fragt sich, von wannen ist dem Manne diese Wissenschaft gekommen? Wie hat er es ermöglichen können, die Absperrung hinter dicken Mauern zu durchbrechen, Fühlung mit der Gesellschaft, die ihn von sich gestoßen hat, zu gewinnen, sich in harter Gefangenschaft von der Luft der Freiheit anwehen zu lassen, gebunden und gefesselt an die paar Quadratmeter seiner Internierung, mit denen da draußen in gleichem Schritte fortzuschreiten?

Er hat viel gelesen, aufmerksam und fleißig gelesen, und gute Bücher. Aber das erklärt das Phänomen noch nicht, wie der Sohn eines kleinen Handwerkers, dessen für seine Herkunft ganz respektable Schulbildung etwa bis zu den Mittelklassen einer Realschule reicht, der, kaum erwachsen, in die Lehre kommt, die schönste, ergiebigste Zeit des Menschenlebens, vom 18. bis zum 29. Jahre, und die Zeit der vollen Entwicklung und des Ausreifens, vom 41. bis zum 56. Lebensjahre, im Zuchthause verbringen muß, ohne Anregung, in der abstumpfenden Monotonie grober Handarbeit, eingesperrt und bewacht, allein oder in aufgenötigter Gemeinsamkeit mit den widerwärtigsten Kreaturen, ohne Sonne, ohne Freude, mit dem tief erbitternden Gefühle, schweres Unrecht zu leiden – daß dies unselige Menschenkind mit einer Knappheit, Klarheit, Klugheit und Korrektheit zu uns spricht, die wir nur als das Zeugnis wahrer und ernster Bildung verstehen können? Das ist nur zu begreifen, wenn wir bei dem alten, ergrauten Zuchthäusler eine ganz ungewöhnliche Intelligenz voraussetzen, die ans Wunderbare streift, – eine Intelligenz, die in ungehemmter normaler Entwicklung für unsere Gesellschaft von segensreicher Bedeutung hätte werden können.

Was muß das für eine geistige Kraft gewesen sein, die 27 Jahre Zuchthaus nicht gebrochen, nicht gelähmt, nicht einmal abgestumpft haben!

*

Siebenundzwanzig Jahre Zuchthaus! Unter den allerschlimmsten der lebenden Verbrecher dürfte es kaum einen geben, der das überhaupt überdauert hätte, gibt es aber ganz gewiß nicht einen einzigen, der nach diesen Seelenqualen und körperlichen Entbehrungen mit hellem, ungetrübtem Verstande in die Freiheit zurückgetreten wäre.

Und nicht bloß mit ungetrübtem Verstande, auch mit unangetasteter seelischer Kraft: trotz des Gefühls, des berechtigten Gefühls, daß man sich schwer an ihm versündigt hat, ohne Groll, ohne Erbitterung, ausgesöhnt mit seinem harten Schicksal, im Jungbrunnen der Freiheit ein gesundeter neuer Mensch. Erfüllt vom redlichen Bestreben, ein guter Mensch zu sein, ein guter Bürger, ein guter Familienvater zu werden.

Nicht aus seelischer Faulheit und apathischer Lässigkeit, – aus dem sittlichen Erkennen, zu dem er sich erst nach hartem Kampfe durchgerungen, hat er mit seinem erbitterten Feinde, mit der Gesellschaft, Frieden schließen wollen.

Das harte Urteil von Gnesen hatte sein Blut mit tödlichem Haß vergiftet. Er hatte gegen seine Vergewaltiger finstere Rachepläne geschmiedet, die auch vor dem Äußersten, vor dem Morde nicht zurückschreckten. Als aber die Zeit seiner letzten und schwersten Strafe um war, als er nach fünfzehnjähriger Gefangenschaft im Zuchthause auf freien Fuß gesetzt und ihm beim Abschiede vom Hausvater das Aktenbündel mit den Beurkundungen der wider ihn verübten Grausamkeiten ausgehändigt wurde, warf er diese Schuldscheine ins Feuer! Er wollte sich losreißen von allem Haß und aller Todfeindschaft: »Und ich fühlte mich wie befreit!« sagte er uns.

Der wegen Verbrechens Verurteilte hatte den verurteilenden Richter begnadigt, mehr als das: er hatte ihm »Amnestie« gewährt, Vergeben und Vergessen.

Ist es vermessen, in diesem symbolischen Akte der Vernichtung des Schuldbuches eine gewisse Großartigkeit des Entschließens zu erkennen, deren ein Mensch von gewöhnlicher seelischer Struktur kaum fähig sein dürfte?

Eine Schuld, die sich auf viele vernichtete Lebensjahre beläuft, streicht man doch nicht leichten Herzens aus dem Buche …

Und welche Untaten hatte Wilhelm Voigt begangen, um zu so ungeheuren Strafen verurteilt zu werden?

*

Als achtzehnjähriger Mensch hatte er drei Postanweisungen gefälscht. Auf drei Postanweisungen, auf die er je einen Taler eingezahlt hatte, hat er durch Vorsetzung einer Zwei vor die Eins sich dreimal je 21 Taler auszahlen lassen, also die Post um 60 Taler geschädigt. Er beschönigt die Fälschung als unüberlegten Dummen-Jungen-Streich eines eiteln Bengels, der nicht genug Geld hat, um sich anständig oder hübsch anzuziehen. Die Ausrede wollen wir nicht gelten lassen. Wir wollen vielmehr ohne weiteres zugeben: es soll eine Fälschung ohne mildernde Umstände gewesen sein. Aber bei der relativen Geringfügigkeit des zugefügten Schadens und bei der Jugend des Fälschers – ist da nicht eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren geradezu unwahrscheinlich streng?!

Und das genügt unserer Justiz noch nicht einmal. Der der Fälschung Überführte wird auch noch zu einer Geldstrafe von 1500 Talern verurteilt, im Unvermögensfalle mit noch zwei Jahren Zuchthaus. 1500 Taler! Jeder Bankdirektor, der die Staatsanwaltschaft interessiert und sich nicht ganz sicher fühlt, zahlt seinem Verteidiger den zehnfachen Betrag und mehr. Sternberg hat für seine Privatdetektives, wie allgemein erzählt wurde, etwa den hundertfachen Betrag bezahlt. Und hier steht ein armer Teufel, dem zehn Jahre Zuchthaus aufgehalst werden, und der, weil er ein armer Teufel ist, aus keinem anderen Grunde, noch zwei Jahre Zuchthaus hinzubekommt!

Regt dieser jedes anständige Gefühl empörende Fall nicht zu ernstesten Betrachtungen über die Frage an: ob die Tatsache, daß ein Vergehen, das von einem reichen Manne mit Geld gesühnt werden kann, einen armen Menschen unter den denkbar schwersten Bedingungen auf Jahre der Freiheit beraubt, sittlich überhaupt zu rechtfertigen ist? Kein rechtlich fühlender Mensch, dem rechtswissenschaftliches Spintisieren nicht Kopf und Herz verrückt hat, wird begreifen können, daß ein Geldbetrag, der nach der Schätzung der Begüterten eine Lappalie ist, als gleichwertig mit jahrelanger Zuchthausstrafe vom Gesetze angesehen werden kann.

Da wären also schon zwei Jahre Zuchthausstrafe dem unglücklichen Voigt zu hoch angerechnet. Und von. den zehn Jahren, zu denen er verurteilt worden ist, könnten nach der Meinung von sehr ernsten und strengen Richtern zum mindesten noch fünf Jahre, vielleicht noch mehr in Abzug gebracht werden …

*

Aber noch viel schlimmer steht es um die Bestrafung in Gnesen. Von einem bestraften Verbrecher wird Voigt zu einem Einbruche in die Gerichtskasse zu Wongrowitz überredet. Der Anstifter, ein gewisser Kallenberg – wir haben die Jammergestalt als Zeugen gesehen – verschafft das erforderliche Handwerkszeug: Brecheisen, Bohrer usw. und versieht sich und seinen Freund mit geladenen Schußwaffen. Die beiden sind auf dem Kallenberg bekannten Wege in die Kasse gedrungen. Sie erbrechen einen Schrank; ehe sie aber einen Pfennig haben nehmen können, hören sie Lärm. Voigt ruft seinem Mitschuldigen zu: »Nur nicht schießen!« Die beiden werden überrascht und dingfest gemacht. Sie werden untersucht. Man findet bei ihnen die Waffen, aber keinen Pfennig Geld. In der Kasse fehlen jedoch 400 Mark. Die beiden Verbrecher haben sie nachweislich nicht genommen. Im Verzeichnis der Voigt abgenommenen Gegenstände vermißt er seine goldene Uhr. Sie wird nach langem Herumsuchen schließlich in dem nur von den Beamten benützten Klosett vorgefunden. Voigt behauptet, daß die 400 Mark, wenn sie in der Gerichtskasse wirklich fehlen, nur von demselben diebischen Beamten gestohlen sein können. Für die öffentliche Gerichtsverhandlung beantragt er die Ladung von verschiedenen Zeugen. Die öffentliche Verhandlung findet in Gnesen am 12. Februar 1891 statt. Keiner der Zeugen wird vernommen!! Wer der gewissenlose Offizialverteidiger gewesen ist, der diese unerhörte Beugung des Rechts zugelassen hat, ist leider nicht bekanntgegeben. Ebensowenig kennt man die Namen der eigentümlichen Richter. Die ganze Verhandlung währte eine halbe Stunde und endigte damit, daß die beiden Einbrecher zu je fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurden …

Fünfzehn Jahre Zuchthaus, ohne daß die Schuldigen einen Pfennig sich angeeignet, geschweige denn von den Waffen Gebrauch gemacht hätten! – nach der Todes- und lebenslänglichen Strafe die höchste, die das Gesetz kennt!

Es ist dieselbe Strafe, zu der Berger verurteilt worden ist, der die zwölfjährige Lucie Berlin geschändet, getötet und in Stücke geschnitten hatte! …

Selbstverständlich will sich Voigt bei diesem unmenschlichen Urteile nicht beruhigen und beantragt Wiederaufnahme des Verfahrens. Nach neun Tagen kommt der Gerichtsschreiber in seine Zelle, um ihm anzuzeigen, daß das Urteil nicht durch Wiederaufnahme des Verfahrens abzuändern sei; es müßte Revision eingelegt werden. Und als Voigt darauf erklärt, daß er also Revision anmelde, wird ihm der Bescheid, Revision müsse innerhalb sieben Tagen angemeldet werden; die Frist sei seit zwei Tagen verstrichen.

Es ist doch nur eine Frage der Schattierung, die einen solchen Fall vom Justizmorde unterscheidet.

Der Präsident, Landgerichtsdirektor Dietz, der die Verhandlung mit ebensoviel Umsicht wie Unparteilichkeit leitete, den Angeschuldigten durch keine Zwischenfrage verwirrte, ihm vielmehr die vollste Freiheit gewährte, seine Auffassung darzulegen, ließ in diskreter, aber unverkennbarer Weise erkennen, daß auch ihm das Verständnis des Gnesener Verfahrens verschlossen blieb.

Voigt mußte also seine Strafe antreten und hat die fünfzehn Jahre abgesessen. Er hat kein Geheimnis daraus gemacht, wie ihn dies Lebendigbegrabenwerden körperlich und seelisch zerrüttet, wie tief sich in ihm der Gedanke, an seinen Peinigern blutige Rache zu nehmen, eingewurzelt hatte. Erst nach langen, langen Jahren hat sein besseres Ich in ihm obgesiegt, und aus dem heißen Ringen ist er geläutert hervorgegangen.

Nun also frei! Nach fünfzehn unendlich langen Jahren wieder frei!

*

In Wahrheit war er nichts weniger als frei. Unter dem unverfänglichen Namen der Polizeiaufsicht hatte sich der vorsorgliche Staat, dem die Sicherheit seiner guten Bürger am Herzen liegt, das Recht vorbehalten, den unglücklichen entlassenen Sträfling noch weitere fünf Jahre ruhelos umherzuhetzen. Um dieser Polizeiaufsicht, die sich wie das furchtbare Geschlecht der Nacht an die Sohlen des Bestraften heftet, zu entrinnen, erbat er sich von allen irgendwie zuständigen Behörden einen Paß fürs Ausland. Überall wurde sein Gesuch ohne Angabe von Gründen abschlägig beschieden. Er mußte in der teuren Heimat bleiben … Wenn nur die Behörde die Menschlichkeit besessen hätte, ihm zu sagen, wo er bleiben durfte!

Durch die Vorzüglichkeit seiner Führung und sein sittliches Verhalten »ohne Heuchelei und Kopfhängertum«, wie es der Zuchthausprediger Brenner, der ihn zehn Jahre lang beobachtet hat, ausdrücklich bezeugte, hatte er sich das Wohlwollen dieses frei und vornehm denkenden Christen in hohem Maße erworben. Auf seine Befürwortung fand Voigt eine Stelle bei einem braven, tüchtigen Manne, dem Hofschuhmacher Hilbrecht in Wismar. Hilbrecht wußte ganz genau, woher sein neuer Geselle kam. Aber er behandelte ihn menschlich, vertrauensvoll, und Voigt zeigte sich des ihm geschenkten Vertrauens in höchstem Maße wert. Nie ist einem Arbeiter von seinem Meister ein günstigeres Zeugnis ausgestellt worden als Voigt von Hilbrecht. Voigt war der tüchtigste Arbeiter. Hilbrecht nahm ihn in seine Familie auf. Und wenn am Feierabend in dem gemütlichen Stübchen des mecklenburgischen Hofschusters der liebe Mensch, der so hübsch erzählen konnte und so hübsch vorlas, einmal fehlte, fehlte auch die rechte Gemütlichkeit. »Wo bleibt Voigt?« fragten Vater, Mutter und Sohn. Es kam der Tag, an dem er fehlen und nicht wiederkehren sollte. Voigt, der sich nicht das geringste hatte zuschulden kommen lassen, der im Gegenteil sich in jeder Beziehung als vortrefflicher Mensch bewährte, wurde aus seinem freundlichen Wirkungskreise mit brutaler Hand herausgegriffen …

Ausgewiesen und über die Grenze geworfen. Er war vorbestraft; das genügte.

Er ging nach Berlin. Er nahm die erste beste Beschäftigung, die sich ihm darbot. Er wurde Kohlenträger. Wenn man den armen, hinfälligen, entkräfteten Menschen nur mit einem Blicke streift, begreift man, daß er zu dieser Arbeit untauglich war. Er schleppte sich den Rücken wund und mußte nach wenigen Tagen die Stelle aufgeben …

Er wurde wieder aus dem Polizeibezirk Berlin ausgewiesen.

Da suchte er seine Schwester in Rixdorf auf, die ihn freundlich aufnahm und ihn mit einer älteren Witwe, der Mutter eines etwa neunjährigen Knaben, bekannt machte; und das, was dem elenden Voigt als das höchste Glück seines Lebens traumhaft vorgeschwebt hatte, die Verbindung mit einer braven, tüchtigen Frau schien sich verwirklichen zu sollen. Sie verlobten sich.

Er wurde aus Rixdorf ausgewiesen.

Er zog nach Berlin unangemeldet. Er fand lohnende Arbeit, aber die Ausweisung war auch da für ihn nur eine Frage der Zeit.

*

Als er sich von dieser entsetzlichen Wahrheit durchdrungen hatte, reifte wohl in ihm der Plan, sich mit einem Schlage eine größere Summe zu verschaffen, gleichviel auf welche Weise, vorausgesetzt nur, daß der einzelne davon nicht geschädigt werde. Blieb er da unentdeckt, so würde er die Mittel besitzen, nach einiger Zeit unauffällig mit seiner Frau und seinem Stiefkinde irgendwohin in die Weite zu flüchten, wo ihm das Recht, in ehrlicher Arbeit ein anständiger Mensch zu sein, polizeilich nicht verboten würde …

» Vous ma'avez fait méchant!
Oh douleur! Est-ce vivre?
«

Darf nicht der unselige Voigt in diesen Schmerzensschrei des tragischen Hofnarren im Viktor Hugoschen Drama einstimmen? Ist der Mann für seine Vergehen nicht viel zu hart bestraft worden? Hat man ihn nicht, als er redlich sein Brot verdienen und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden wollte, wie einen tollen Hund gehetzt, bis er niederbrach?

Und wenn er sich in seiner Verzweiflung noch einmal aufrafft und um sich beißt, trifft ihn die Schuld? Sind es nicht vielmehr die Hetzer, die ihn toll gemacht haben?

Das Gefühl des Bedauerns, daß man in ihm den »Hauptmann von Köpenick« gefaßt hat, ist keine Rührseligkeit und hat mit der sensationellen Komik des Falles nichts zu tun. Die Gesellschaft hat eben das richtige Gefühl, daß in diesem Wilhelm Voigt kein schädliches Mitglied, das ihre Ruhe und Sicherheit bedroht, unschädlich gemacht, sondern daß ihr vielmehr ein Mitglied entzogen worden ist, das ihr sogar hätte nützlich werden können.

Eine Art von mittelalterlicher Tortur, die langsame Einmauerung eines Lebendigen, hat man an diesem Unglücklichen vollzogen. Und nun ist er noch einmal auf vier Jahre in seiner Gemeingefährlichkeit lahmgelegt!

Wir dürfen aufatmen: wir haben wieder einmal vier Jahre Ruhe vor dem Unholde, vielleicht noch länger, viel länger! Denn wenn hier die Gnade die Strafe nicht mildert, ist es mehr als zweifelhaft, ob Voigt die Mauern des Gefängnisses lebend verlassen wird.

Weshalb diese vier Jahre? Weshalb dies Urteil, von einem Gerichtshof gefällt, der offenbar menschlich und ruhig, und sogar mit einer gewissen Sympathie für den Angeschuldigten seines Amtes gewaltet hat, unter dem Vorsitze eines humanen, freundlichen, klugen Mannes?

Ja, viel weniger konnte man ihm ja kaum geben. Die schweren Vorbestrafungen! Man denke doch: Siebenundzwanzig Jahre Zuchthaus!

So gebiert die böse Tat fortzeugend Böses. Weil der Mann früher zu hart bestraft ist, muß er jetzt auch hart bestraft werden. So reiht sich in dieser verhängnisvollen Kette eine Schmerzlichkeit an die andere …

Voigt wurde von Dr. Schwindt und Rechtsanwalt Bahn glänzend verteidigt. Was nützt es ihm? Dem Manne kann nicht geholfen werden.

*

So der gottlob! allzu pessimistische Schluß meines Stimmungsberichtes über die letzte Verhandlung wider Voigt. Dem Manne ist doch geholfen worden. Die Vollziehungsbeamten, mit denen er zu tun hatte, haben das volle Verständnis für die ihnen gestellte Aufgabe besessen und es im Einverständnis mit aller Welt als ein nobile officium betrachtet, an dem in der Vergangenheit so übergrausam Gestraften die letzte Strafe in der Gegenwart in der denkbar gelindesten Weise zu vollstrecken. Als alter, kränkelnder, schwacher Mann ist Voigt im Gefängnis zu Tegel mit menschenfreundlicher Schonung behandelt worden. Und durch Kaiserlichen Gnadenakt ist ihm Mitte August 1908 die größere Hälfte der ihm zuerkannten Strafe erlassen worden.

Leider ist die Freude, die wir alle über die glückliche Wendung im Leben des köstlichen Hauptmanns empfunden haben, nicht ungetrübt geblieben. Wilhelm Voigt, so standhaft und aufrecht im Unglück, in der Ächtung – im Glück ist er getaumelt, die Höhenluft der Anerkennung hat er nicht vertragen können. Schon in den letzten Monaten seiner Gefangenschaft hat er eine Albernheit begangen, die einen fatalen Reklameduft ausströmte. Um die Sympathien für den wieder Verurteilten zu stärken und zu mehren, hatte eines unserer angesehensten Blätter die von Voigt in der Untersuchungshaft verfaßte Selbstbiographie veröffentlicht, die der Angeklagte wohl zur Verlesung in der öffentlichen Sitzung bestimmt und der Verteidigung zur Verfügung gestellt hatte. Davon konnte indessen Abstand genommen werden. Die Haltung des Gerichtshofs stellte außer aller Frage, daß Voigt es diesmal mit weisen und gerechten Richtern zu tun hatte. Aber gerade, weil auch diese ihn verurteilen mußten, konnte eine nachträgliche Veröffentlichung des rührenden Elaborats, das die öffentliche Meinung nur noch mehr für den Verurteilten einzunehmen geeignet, von Nutzen sein.

Superflua non nocent.

Was tat nun Voigt? Anstatt sich für diesen Beweis freundlichster und wohlwollendster Gesinnung erkenntlich zu zeigen, machte er sich durch die kindische Drohung lächerlich, daß er, sobald er auf freiem Fuße wäre, die Redaktion wegen unbefugten Nachdrucks belangen werde! …

Nach wiedererlangter Freiheit aber trieb ihn der in ihm aufgekeimte und nun üppig wuchernde Größenwahn zu einer Geschmacklosigkeit nach der andern. Er wollte sich – so in einer Art von Barnumschem » show«, oder Hagenbeckscher Raubtierschau – von Leuten, die »um das Rhinozeros zu sehen« keine Ausgaben scheuen, für Geld und gute Worte in Tingeltangels besehen lassen. Hat's vielleicht auch getan. Aber das unwürdige Handwerk ist ihm, wenn ich mich recht erinnere, wohl gelegt worden; oder es hat ihn aufgegeben. Ich weiß nicht genau. Er hat, glaube ich, mit seinen Postkarten gehandelt, gelegentlich durch seinen »Sekretär« die Zeitungen mit Berichtigungen gelangweilt und andere Torheiten der Art begangen. Der Mann hat mich in dieser Phase seiner Entwicklung nicht mehr interessiert. Wäre er doch der herrliche Hauptmann von Köpenick geblieben! … Nun, solange es Menschen gibt, die für urkräftige Komik Sinn haben, wird er es bleiben. Das unsinnige Nachspiel wird man vergessen und nur eine unbestimmte Erinnerung daran bewahren, daß die zunächst erschütternde menschliche Tragödie nach ihrem komischen Höhepunkt einen zwar matten, aber doch versöhnlichen Schluß gehabt hat.


 << zurück