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Der Werdegang einer Verbrecherin
Anfang August 1908
1885 bis Februar 1906 – Gretens Kindheit. Ihre ersten leichtsinnigen Streiche. Tanzstunde und Liebschaft mit Hans Merker.
Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren stand vor den Berliner Richtern ein kleines blondes Schulmädchen, zwölf Jahre alt, nicht häßlich, nicht hübsch, von gewöhnlichem Aussehen, – ein Kind, wie man deren in den von den Minderbemittelten bewohnten Vierteln der Großstadt auf Schritt und Tritt zu Dutzenden begegnet: Marie Schneider war ihr Name. Sie hatte, wie gesagt, nichts Auffälliges: Größe und Entwicklung ihrem Alter entsprechend, Gesichtsausdruck nichtssagend.
Diese Marie Schneider hatte ein ihr nicht näher bekanntes kleines Kind, das sie auf dem Hofe spielen sah, an sich gelockt, auf den Arm genommen, war zwei Treppen mit ihm hinaufgestiegen, hatte ihm die Ohrringe ausgehakt, das Flurfenster zum Hofe geöffnet, das Kind auf die Fensterbank gesetzt und ihm einen »Schubs« gegeben. Sie hörte die Kleine auf die Steine des Hofes aufschlagen – »es klatschte«. – Das Kind blieb auf dem Flecke tot liegen, wahrscheinlich ohne noch einen Laut von sich zu geben. Marie hat wenigstens nichts mehr gehört. Für die Ohrringe bekam sie von einem Trödler in der Nachbarschaft eine Kleinigkeit; ich glaube, fünfzig Pfennige. Dafür kaufte sie sich »Kaiserkuchen«, den sie mit gutem Appetit verzehrte. Um die Kleine hatte sie sich nicht weiter gekümmert.
Sie hatte nicht die geringste Vorsicht gebraucht, um die Tat zu vollbringen, und wurde denn auch ohne Schwierigkeit sehr bald als Täterin entdeckt. Als sie am andern Morgen im Schauhause der Kindesleiche gegenübergestellt wurde, traten ihr die Tränen in die Augen, und auf dem Rücktransport nach dem Gefängnis weinte sie heftiger.
»Tut es dir leid?« fragte der sie begleitende Kommissar.
– Keine Antwort.
»Weshalb weinst du denn?«
»Wir haben so schlechten Kaffee gekriegt,« erwiderte sie schluchzend. »Ich habe solchen Hunger!«
Während der Untersuchungshaft zeigte sie nicht das geringste Verständnis für das, was sie getan hatte, nicht einen Schimmer von Reue; aber auch keine Verstocktheit, keine Frechheit. Sie ließ sich keinen Verstoß gegen die Hausordnung zuschulden kommen. Ihren Mitgefangenen gegenüber, mit denen sie die Zelle zu teilen hatte, benahm sie sich zurückhaltend und ruhig.
Auch in der öffentlichen Verhandlung machte sie den Eindruck eines bescheidenen, ja artigen Kindes, – eines Kindes von nicht gewöhnlicher Intelligenz, das den Sinn aller an sie gerichteten Fragen sofort erfaßte und mit vollkommener Wahrhaftigkeit darauf antwortete, ohne den Versuch der Beschönigung, der Entstellung und ohne alle persönliche Erregung – etwa wie eine Schülerin, die gut gelernt hat, auf die Fragen des Lehrers Bescheid gibt. Mit einem Scharfsinn, der bei einem zwölfjährigen Mädchen aus der Gemeindeschule das Staunen des Gerichtshofes erregte, unterschied sie vollkommen richtig zwischen einfachem und schwerem Diebstahl, zwischen Totschlag im Affekt und überlegtem Mord.
Auf die Frage des Vorsitzenden, weshalb sie es nicht bei dem Raube der Ohrringe habe bewenden lassen, weshalb sie die Kleine gemordet habe? antwortete sie ruhig: »Das Kind sollte mich nicht verraten.«
»Aber es konnte ja kaum sprechen?«
»Mit den Fingern konnte es doch auf mich zeigen …«
Auf die durch den Vorsitzenden des Gerichtes an sie gestellte Frage, ob sie die Tat bereue, fand sie wieder keine Antwort. Sie sah den Vorsitzenden ruhig an. Fragen, die das Empfindungsleben betrafen, gingen anscheinend über ihren Horizont.
Die kindliche, kaltblütige, reuelose Mörderin, bei deren Anblick man das Ungeheuerliche ihrer Tat zu vergessen, die Möglichkeit ihres Verbrechens überhaupt nicht zu fassen vermochte, erregte Schaudern.
Marie Schneider wurde zu langjährigem Gefängnis verurteilt – wenn ich nicht irre, ungefähr zum Maximum der gesetzlich zulässigen Strafe.
Der Prediger der Anstalt, in der sie ihre Strafe verbüßte, teilte mir, als ich mich einige Jahre später nach der Entwicklung dieses seltsamen Geschöpfes erkundigte, mit, daß Marie Schneider in einer gewissen Periode ihres Heranreifens schlechte, vielleicht auch durch Mitgefangene genährte Instinkte bekundet, sich dann aber freundlichen, väterlichen Ermahnungen zugänglich gezeigt und nach Überwindung der Krisis wie zuvor lobenswert geführt habe. Es mache auch den Eindruck, als ob mit der körperlichen Reife allmählich das Verständnis ihrer Tat ihr aufgedämmert sei. Von tiefer Reue aber, geschweige denn von Zerknirschung könne füglich nicht die Rede sein.
Nach langen Jahren – Marie Schneider mußte nun wohl die Mitte der Zwanzig schon überschritten haben – hörte ich zufällig noch einmal von ihr. Sie war im Gefängnis nicht so geworden, wie man befürchten durfte, nicht die Brunnenvergifterin und Massenmörderin, zu der sie nach ihrem furchtbaren Verbrechen der Kindheit entarten konnte. Ein Beamter der Sittenpolizei erzählte gelegentlich, daß sie jetzt zu regelmäßigen Besuchen im Polizeipräsidium verpflichtet und in vorgerückten Stunden in der Friedrichstraße und im Café National zu treffen sei.
Die öffentlichen Organe hatten sich zur Zeit mit der Verurteilung des zwölfjährigen Schulmädchens viel beschäftigt. Übereinstimmend bemerkten scharfsinnige Moralisten, namentlich aus der Provinz, daß ein solches Verbrechertum in der Hülle dieser Kindlichkeit nur unter den Bedingungen großstädtischer Verkommenheit denkbar sei; nur aus dem durchseuchten Schlamm des Morastes in der Weltstadt könne eine solche giftige Sumpfpflanze herauswachsen.
*
An diese Marie Schneider hat mich die Bürgermeisterstochter von Brand, Grete Beier, die, von anderen schweren Bestrafungen abgesehen, wegen Ermordung ihres Bräutigams, des Oberingenieurs Kurt Preßler, von den Geschwornen zu Freiberg in Sachsen zum Tode verurteilt und am 23. Juli hingerichtet worden ist, lebhaft erinnert.
Trotz aller fundamentalen Verschiedenheiten bestehen zwischen den beiden, sogar im wesentlichen, starke Gemeinsamkeiten. Kaltblütig, leidenschaftslos, ohne wirkliche Bosheit und ohne Gewissensqualen begehen beide das Grauenhafte. Für die Mittel zu ihrem verbrecherischen Zweck fehlt ihnen jeder Maßstab. Wenn zweckdienlich, erscheint ihnen das größte aller Verbrechen: der Mord, gerade so selbstverständlich wie irgend etwas anderes, wie etwa eine kleine Schwindelei zum Erringen eines winzigen Vorteils, wie eine Ausrede, eine Notlüge, ein leichtfertiges Versprechen und dergleichen.
Eine Übereinstimmung zwischen den beiden besteht auch in der rätselhaften, den Abscheu entwaffnenden Wirkung ihrer Persönlichkeit: hier die Anmut des jungen Mädchens, dort das Versöhnliche der Kindheit. Bei beiden, sogar in der Darstellung des Grausigen, völlige Wahrhaftigkeit und Objektivität. Mit dem Entsetzen über die Tat liegt in uns die aufsässige Regung einer ungewollten Sympathie für die Täterin in hartem Kampfe. Es sind » bêtes humaines«, die man nicht bemitleidet, aber auch nicht haßt. Eine schöne Tigerkatze haßt man ja auch nicht. Man begnügt sich damit, sie unschädlich zu machen; man sperrt sie in den Käfig oder schlägt sie tot; aber man ist ihr nicht böse.
Ungleich stärker indessen als diese Übereinstimmungen sind die Abweichungen der beiden voneinander, und wenn wir uns jetzt mit Grete Beier eingehender beschäftigen, schweift unsere Betrachtung nur ganz gelegentlich zu Marie Schneider hinüber.
Gleich in den Pflanzstätten dieser verbrecherischen Kulturen zeigt sich die völlige Verschiedenheit der beiden voneinander: Bei Grete Beier wird man von der sittenlosen Großstadt als Krankheitsträger nicht sprechen dürfen. (Erbliche Belastung ist weder hüben noch drüben nachweisbar.) Ist bei Marie Schneider, der Tochter einer armen Näherin, die von früh bis spät hinter der klappernden Maschine sitzt, um für ihr Kind und sich das liebe Brot zu verdienen, und sich also um die Erziehung nicht besonders kümmern kann – ist bei dem ungenügend gebildeten und mangelhaft ernährten Proletarierkinde, das sich unbewacht auf Höfen und Gassen mit allerlei zweifelhaften Spielkameraden herumtreibt, das Kontagium, ohne gerade nachgewiesen zu sein, doch gewiß nicht als unwahrscheinlich zu bezeichnen, so ist die Gefahr der sittlichen Ansteckung in der Kindheit und frühen Jugend bei Grete Beier geradezu ausgeschlossen.
Ihre Tage der Kindheit sind von sorgender Zärtlichkeit gehütet und von der innigen Liebe einer guten alten Frau sonnig durchwärmt. Lily Braun sagt in einem kürzlich von ihr veröffentlichten interessanten Werke »Im Schatten der Titanen«: »Wer keine Großmutter hat, der weiß nichts vom schönsten Märchenhimmel des Kindheitsparadieses, der ist um das kostbarste Erbe der Vergangenheit betrogen worden … Die Großmutter, jene gütige, verstehende, auf der Höhe der Lebenserfahrung milde gewordene Frau, die unsere Schmerzen besser mitempfindet als die Mutter … die für sich selbst nichts mehr will und darum Zeit hat für uns; der wir alles sagen dürfen, weil sie alles versteht.« Der kleinen Grete Beier war dieses Glück beschieden. Die Küsse und Umarmungen der guten Großmama erstickten im Keime alle häßlichen Triebe, die sich in Gretl regen mochten, und die damals wohl nur als verzeihliche Unarten eines übermütigen Kindes sich schüchtern meldeten, in ihrer verhängnisvollen Bedeutung den schwachen Augen der liebenden Alten aber gewiß kaum wahrnehmbar waren. Solange die Großmutter lebte, war Grete ein frohes, glückliches, kluges und liebes Kind.
Zu ihrem Unglück sollte sie die Großmutter bald verlieren. Nun fühlte sie sich im Hause von Vater und Mutter wie eine Waise. Was gut in ihr war, fand keine Pflege mehr und entwickelte sich nicht weiter, das Ungute in ihr wurde in seiner verborgenen Fortbildung nicht mehr gehemmt.
Als einzige Tochter des Bürgermeisters von Brand gehörte sie freilich zur ersten Familie des kleinen Nestes. Aber die erste brauchte nicht die beste zu sein. Die Äußerungen über die Familie in den zahlreichen Beier-Prozessen lauten nicht gerade günstig – in den fünf Monaten vom 29. Januar bis 30. Juni dieses Jahres sind in Freiberg nicht weniger als sechs solche Prozesse verhandelt worden, die allesamt mit den Verurteilungen den verschiedenen Angeklagten geendet haben. Der Vater, der verstorbene Bürgermeister Ernst Theodor Beier, soll nur durch vorzeitigen Tod einer peinlichen Auseinandersetzung mit den Richtern entgangen sein. Mag ihn auch berechtigter Tadel treffen, mag er sich um seine Tochter nicht genug gekümmert und die unheilvollen Triebe in ihr, zu denen doch unzweifelhaft gewisse Ansätze dem Auge des Vaters erkenntlich sein mußten, nicht energisch genug unterdrückt haben – die Liebe, die Grete für ihn fühlt, die Zärtlichkeit, mit der sie an ihm hängt (diese innige Liebe zu ihrem Vater ist die einzige menschlich gute und reine Empfindung, die Grete äußert), wirft doch auf ihn einen versöhnlichen Schimmer; und selbst wenn er schwer gefehlt, hat der Unglückliche viel gesühnt. Dem Auge des Sterbenden hat sich noch das furchtbare Bild dargeboten: die tiefste Schändung seiner Familie. Am 27. Juni 1907 war Grete als der Fälschung und des schweren Diebstahls dringend verdächtig verhaftet worden – in der Krönerschen Sache. Ihr schwerstes Verbrechen, die Ermordung Preßlers, war freilich noch nicht entdeckt; aber der Alte mochte doch wohl ahnen, daß mit diesem plötzlichen Tode des Bräutigams und der Einsetzung Gretens als Universalerbin auch nicht alles ganz richtig war. In der Gewißheit, daß seine Tochter eine schwere Verbrecherin war, und in banger Ungewißheit, daß sie vielleicht sogar mit dem schwersten Verbrechen ihr Gewissen belastet habe, starb er am 20. August.
In noch weniger erfreulichem und in bestimmterem Lichte erscheint uns die Mutter: Ida, geborene Clausnitzer. Grete erhebt bittere Klage darüber, daß es ihr nie gelungen sei, zu ihrer Mutter in ein innigeres Verhältnis zu treten, daß ihre Liebkosungen rauh abgewiesen worden seien. Aus allem, was sie in den Verhandlungen vor den Richtern über ihre Mutter sagt, klingt vernehmlich der bittere Vorwurf hervor, daß sie ganz anders geworden wäre, wenn ihre kindliche Zärtlichkeit von ihrer Mutter erwidert worden wäre. Die Mutter aber hatte anscheinend kein anderes Bestreben, als die herangewachsene Tochter gut, das heißt mit einem wohlhabenden Manne zu verheiraten. Grete war, wenn auch keine Schönheit, doch mädchenhaft hübsch, dabei klug und liebenswürdig. Sie kleidete sich geschmackvoll und sah auch in einfachsten Kleidern sehr elegant aus. Und sie war die Tochter des Bürgermeisters! Für ein solches Mädel mußte sich doch eine gute Partie finden lassen! Auf diese Hauptsache steuerte die Mutter los. Alles übrige galt ihr als nebensächlich. Und sie war ihrer Tochter gegenüber von unbegreiflicher Duldsamkeit. Sie drückte mehr als vonnöten zu gelegener Zeit ein Auge zu. Denn daß sie von den tollen Ungehörigkeiten ihrer herangewachsenen Tochter keine Ahnung gehabt habe, ist schwer anzunehmen. Daß sie zum mindesten bei einem der Verbrechen Gretens ihre Hand im Spiele gehabt hat, ist vom Freiberger Schwurgericht als bewiesen erkannt worden. Sie ist wegen Verleitung zum Meineid mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft worden.
An ihren Eltern fand Grete also keinen Halt, keine Stütze; weder in Zärtlichkeit, noch in Strenge eine Korrektur ihrer bedenklichen Neigungen, die unbeachtet im Verborgenen fortwucherten, bis sie zu gräßlicher Reife gediehen. Im Sittlichen hat Grete offenbar seit dem Tode der Großmutter überhaupt keine Erziehung mehr gehabt. Sie ist eben wild aufgewachsen, und die Keime zu ihrem originären Verbrechertum haben sich im Schatten des indolenten Elternhauses frei und ungestört entfalten können.
Wäre es sonst möglich gewesen, daß man einem jungen Mädchen aus der ersten Familie der kleinen Stadt den Umgang mit den bedenklichsten Weibern, mit der Hebamme Therese Kunze und der Ida Kammlodt, der gefälligen Vermieterin eines sturmfreien Nachtquartiers, gestattet hätte? Wäre es möglich gewesen, daß Grete in ihrem Zimmer im Elternhause mit ihrem Liebsten Schäferstunden hätte verbringen, sich ungezählte Male nächtlings aus dem Hause hätte schleichen, stundenlang mit ihrem Geliebten bei einer Kupplerin hätte zusammenbleiben und erst beim Morgengrauen in die elterliche Wohnung hätte huschen können? Daß sie unbeaufsichtigt, mit und ohne Wissen der Ihrigen, nach den Nachbarstädten Freiberg und Chemnitz und mit dem Bräutigam zwei, drei Tage nach Leipzig hätte reisen können?
Bei einer solchen Erziehung erscheint es verwunderlich genug, daß ein leichtsinnig veranlagtes junges Mädchen die kritische Periode des Heranreifens ungefährdet und unbeschädigt überwunden hat.
Sie mochte wohl achtzehn Jahre alt sein, – also in einem Alter, in dem sich bei heißblütigen Naturen, deren Temperament nicht straff gezügelt wird, der Leichtsinn oft schon in verbotenen Taten manifestiert – ohne daß in ihrem Verhalten irgend etwas Anstößiges zu rügen gewesen wäre. Sie galt auch nicht als besonders gefallsüchtig, kokett, übermütig, führte keine unpassenden Gespräche. Sie war in der anständigsten Gesellschaft ihres Heimatsstädtchens und der Nachbarschaft wohlgelitten, wegen ihrer klugen Liebenswürdigkeit und musikalischen Begabung sehr beliebt.
Da kam die Tanzstunde! Die bewußte Tanzstunde, die im vorliegenden Falle nicht besser war als ihr Ruf. Ein zunächst noch harmloser Flirt mit einem jungen Mann, der nur als Episode in diesem Vorspiel auftaucht, und dann – er kann von Glück sagen – spurlos verschwindet. »Es war ein schönes, rein ideales Verhältnis,« sagte Grete. Er bewarb sich um Gretens Hand. Die Mutter wies ihn ab. Die Tochter nicht.
Das »schöne« Verhältnis blieb nun nicht »rein ideal«; und es war nicht von Dauer. Die jungen Leute zankten sich und gingen auseinander. Daß Grete ihrem Tanzstundenherrn schließlich nichts hatte abschlagen können und ihr Kränzlein im Staube lag, scheint keinen Eindruck auf sie gemacht zu haben.
*
Das eigentliche Drama beginnt am 25. Februar 1905 auf dem Maskenball des Kaufmännischen Vereins in Freiberg, an dem die damals noch nicht zwanzigjährige Grete Beier (geboren 15. September 1885) teilnimmt. Sie lernt da einen jungen vierundzwanzigjährigen Handlungsreisenden kennen und fängt sofort Feuer. Hans Merker heißt der Herr.
Was das geistig unendlich höher stehende Mädchen zu diesem Menschen von äußerst anfechtbaren Qualitäten hingezogen haben mag, ist schwer zu sagen. Das Motiv, das Grete angibt: »Der arme Mensch stand so allein in der Welt … Ich empfand Mitleid mit ihm,« erscheint recht wenig überzeugend; und ihre Bemerkung: »Er wußte so schön zu erzählen« übermäßig wohlwollend.
Nach dem, was wir in den zahlreichen Prozessen, an denen Hans Merker als Mitangeklagter oder als Zeuge beteiligt ist, aus seinem Munde hören, flößt uns seine Erzählungskunst durchaus kein Vertrauen ein. Wir sehen in ihm nur einen herzlich unbedeutenden Menschen mit erstaunlichem Defizit an vornehmer Gesinnung. Die Verbrechen, wegen deren er bestraft wird, – fortgesetzte Unterschlagung und Hehlerei – erscheinen sogar als die geringeren seiner Verfehlungen. In dem häßlichen Drama spielt er vielleicht die wenigst schöne Rolle. Er wird denn auch von allen Seiten, von den Zeugen, Sachverständigen, Verteidigern mit einer Verächtlichkeit behandelt, für die, nach seinem unbefangenen Auftreten zu urteilen, ihm allein das rechte Verständnis abzugehen scheint. Alles, was er sagt, ist gewöhnlich, platt, nichtssagend, nicht einmal besonders schlau. Daß ein hübsches, kluges, viel umworbenes Mädchen einem solchen Vogelsteller ins Garn hat gehen können, kann kein Mensch begreifen. Man traut ihm allenfalls zu, daß er es verstanden haben mag, harmlose Philister am Stammtisch der Schenken zu belustigen und zu verblüffen, Champagnerpfropfen zwischen den Handflächen verschwinden zu lassen, die Ouvertüre zu »Wilhelm Tell« auf den aufgeblähten Backen zu trommeln, Mikosch-Anekdoten zu erzählen, Vexierrätsel aufzugeben und dergleichen; daß er aber durch geistige Vorzüge ein gebildetes Mädchen wie Grete Beier hätte fesseln können, glauben wir nimmermehr.
Für diese plötzliche und starke Hinneigung des Mädchens aus viel feinerem Stoffe zu diesem minderwertigen Gesellen finden wir keine andere Erklärung, als den »einen Punkt«, aus dem »der Weiber ewig Weh und Ach zu kurieren« ist – und nicht bloß das Weh zu kurieren, auch das Wohl zu erzeugen – den vielleicht unbewußten, darum aber nicht weniger mächtigen Sexualtrieb.
Wir berühren hier den Punkt, der – soweit die veröffentlichten Berichte ein Urteil gestatten – in den Verhandlungen nur vorübergehend, wie etwas Unwesentliches, gestreift worden ist. Eigentlich spricht nur Merker davon. Merker! Er sagt: er glaube den Schlüssel zu allen Handlungen Gretens gefunden zu haben; es sei » ihre kolossale Sinnlichkeit«. Er sagt das in seiner Weise, und seine Weise ist nicht schön. Mit der Psychologie eines solchen Commis voyageurs wird der wissenschaftliche Sachverständige, wenn sie ihm nicht einleuchtet, schnell fertig. Vom Sachverständigen Dr. Nerrlich, der Grete aufmerksam beobachtet hat, wird Merkers Psychologie denn auch mit einer geringschätzigen Bemerkung unter zustimmender Heiterkeit des Auditoriums gründlich abgetan. Dr. Nerrlich erzählt uns, die Schwestern im Zuchthause zu Waldheim hätten der Observandin das denkbar günstigste Zeugnis ausgestellt: niemals habe sie unsittliche oder schlüpfrige Reden geführt; ihr Benehmen sei absolut anständig gewesen.
Das soll ja auch gar nicht bestritten werden. Sinnlichkeit braucht doch nicht unkeusch und unanständig zu sein. Und namentlich bei einem intelligenten und gebildeten jungen Mädchen erscheint eine latente starke Sinnlichkeit mit Wahrung der gesitteten Formen der guten Gesellschaft sehr wohl vereinbar. Mag man Merkers Geistesgaben auch noch so gering einschätzen, in diesem Punkte kann die Aussage des praktisch erfahrenen Empirikers sachverständiger sein, als alle spekulative Theorie des wissenschaftlichen Sachverständigen.
Nach den von den Zeitungen gebrachten Berichten macht es den Eindruck, als ob Dr. Nerrlich in seinem Gutachten dem Sexualen in Grete Beier nur geringe Bedeutung beigelegt habe – im vollen Gegensätze zur Auslassung des berühmten Psychiaters Professors Forel in Genf, der nach meiner Auffassung in einer gewissen radikalen Einseitigkeit seines wissenschaftlichen Systems in dieser Beziehung wohl zu weit geht.
Er hält Grete Beier für eine »erblich absolut defekte, hysterisch moralische Idiotin, die stark messalinisch veranlagt sei.« Damit wäre freilich alles erklärt. Indessen, Forels große Autorität in Ehren – dies Bild, das sich der hervorragende Gelehrte doch nur mittelbar, nach den notgedrungen unvollkommenen Zeitungsberichten hat machen können, deckt sich doch ganz und gar nicht mit der Anschauung, welche die Sachverständigen Oberarzt Dr. Nerrlich und Medizinalrat Dr. Nippold aus der unmittelbaren Beobachtung des Lebens gewonnen haben. Von einer moralischen Idiotin kann ganz gewiß nicht die Rede sein; ebensowenig wie von einer »messalinisch Veranlagten«.
Darunter wäre nach dem allgemeinen Sprachgebrauch doch wohl eine mehr oder minder nicht wählerische Buhlerin zu verstehen. Das stimmt auf Grete Beier aber ganz und gar nicht. Sie hat vielmehr ihrem ordinären und vulgären Merker die Treue gewahrt. »Das Wunderbare im Geschlechtsleben der Grete Beier,« schreibt mir Dr. Nerrlich, »ist der Umstand, daß sie, während sie mit Merker verkehrte, mit keinem andern Manne sich abgegeben hat.« Nur dieser Hans war für diese Grete der » mâle«, nach dem ihre Sinne verlangten. Sie erträgt die Marter, die sie durch ihn erduldet, mit Freudigkeit, setzt sich über alles hinweg, was sie abstoßen sollte, schließt gewaltsam die Augen, um sich von der schamlosen Ausbeutung, die sie sich von ihm gefallen läßt, nicht anekeln zu lassen, wird seinethalben zur Diebin, Fälscherin, Mörderin, ohne sich von dem Grauenhaften ihres Treibens auch nur Rechenschaft abzulegen.
Merker sucht nach keiner beschönigenden Lüge zur Erklärung seines Verhältnisses mit Grete Beier … Ihre Jugend, Frische, Munterkeit, Nettigkeit und Klugheit kommen für ihn – um das juristische Wort zu gebrauchen – nur als »adminikulierende Momente« in Betracht. Mit ehrlichem Zynismus enthüllt er uns das Geheimnis seiner Werbung um Gretens Gunst: sie ist eine gute Partie, eine »Kronleuchterpartie«, wie er sich in seinem häßlichen Jargon ausdrückt. Was er von ihr will, ist: Geld – nichts weiter! Er hat leichtsinnig gewirtschaftet, hat Schulden gemacht, anvertraute Gelder unterschlagen; er braucht Geld, und wenn sie's nicht hat – die Tochter des Bürgermeisters von Brand wird's ihm schon verschaffen …
Und er braucht's nötig! Und es handelt sich um eine Summe, die für einen untergeordneten Kommis mit einem Jahresgehalt von 1200 Mark und für ein junges Mädchen, das auf ihr bescheidenes Taschengeld angewiesen, keine Kleinigkeit ist – um mehr als 2000 Mark, die er im letzten halben Jahre seiner leichtsinnigen Streiche seinem Prinzipal unterschlagen hat. Er kann also nichts Gescheiteres tun, als sich schleunigst mit Greten zu verloben, wenn auch zunächst erst im geheimen. Und das geschieht denn auch bereits zwölf Tage nach ihrer ersten Begegnung, am 9. März. Als heimlicher Bräutigam fühlt er den Mut, an den Bürgermeister Beier mit der Forderung heranzutreten, ihm diese größere Summe zu »leihen«. Nur eine Gewährung dieses Darlehens würde ihn vor Schande und einer entehrenden Strafe retten können.
Nach einigem Sträuben ließ sich der alte Beier denn auch dazu herbei, dem jungen Manne, der vor ihm flennend auf den Knien lag, und zu dem seine Grete so große Zuneigung gefaßt hatte, 1200 Mark zu geben. Damit war die dringendste Gefahr für den Augenblick abgewandt.
Nun Merker das Geld weg hatte, ließ er sich nicht lumpen und machte Abzahlungen in Liebkosungen an Grete. Bis dahin waren auch diese Beziehungen »schön und rein ideal« gewesen. Das hörte nun auch auf. Und von Stund an geriet die Bürgermeisterstochter zu ihrem Liebsten in ein Verhältnis wahrhaft unheimlicher Hörigkeit, welches in der Folge durch besondere Begebenheiten noch derart verstärkt wurde, daß die kluge Grete der Klarheit und Überlegung, der Freiheit des Willens und der Handlungen und aller und jeder sittlichen Erkenntnis des Guten und Bösen völlig beraubt und nur von dem einen und einzigen Gedanken beherrscht wurde: wie schaffst du Geld, viel Geld für Merker, der Geld, immer wieder Geld und viel Geld braucht?
Nachdem für Merker mit der Bezahlung von 1200 Mark die erste akute Geldnot vorüber war, erlitt der heimliche Verkehr zwischen ihm und Greten zunächst keine Störung. Und sie machten es sich nun bequem. Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein erbärmliches Nest im Sachsenlande verbotene heimliche Liebe so ungestört bettet, wie es in Brand mit seinen 4000 und einigen Einwohnern tatsächlich der Fall gewesen ist. Und dabei war es so billig!
In Brand lebte eine frühere Hebamme, die sich Therese Kunze nennt, und mit der die Tochter des Bürgermeisters – der Himmel weiß, wie – vertraut bekannt geworden war. Dieser erfahrenen, 63 jährigen Frau Kunze – »ein Weib, wie auserlesen …« –, einer Gelegenheitsmacherin der schlimmsten Art, erzählte Grete ihre Liebschaft mit Merker und klagte ihr wohl auch ihr Leid über die Schwierigkeit ungestörten Zusammenseins mit ihm; denn in ihrem Stübchen im Elternhause, wo sie Merker öfter heimlich empfangen hatte, war die Sache doch immer ein bißchen gefährlich. Die gute Frau Kunze wußte Rat. Sie mietete für das Pärchen eine Stube bei ihrer Freundin, Frau Ida Kammlodt, wo die Liebesleute ganz ungeniert zusammentreffen konnten – zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. Dafür wurde der Kammlodt eine Monatsmiete von sieben Mark versprochen, etwa 25 Pfennig täglich. Und selbst dieser doch recht mäßige Preis ist der Kammlodt nicht einmal voll bezahlt worden! Sie hat nur einen Teil der vereinbarten Mietssumme erhalten.
Die gute Frau Kunze tat alles Menschenmögliche, um es ihrer jungen Freundin Grete leicht zu machen. Sie besorgte die brieflichen Verabredungen mit Merker; sie sorgte dafür, daß die Stube an den Tagen, da Merker kam, gut geheizt wurde. Wenn es regnete, brachte sie der Grete die Gummischuhe und den Schirm aus dem Hause der Eltern, und sie weckte die glücklich Liebenden, damit Grete die Zeit nicht verschlafe und ihren Rückzug unbemerkt antreten könne, um rechtzeitig daheim zu sein. Irgendwie nennenswerte finanzielle Vorteile scheint die gefällige Person dabei nicht gehabt zu haben. Ihre Dienstfertigkeit war wohl mehr ein Ausfluß des mephistophelischen »Hab' ich doch meine Freude dran!« Auf die Frage des Vorsitzenden, was sie zu dieser kupplerischen Begünstigung veranlaßt habe, antwortete sie treuherzig: »Man ist eben zu gut und zu dumm!«
Daß es in diesen idyllischen Nokturnen nicht immer ganz gemütlich zugegangen ist, ist leicht verständlich. Merker empfand für Greten nicht einmal die animalische Liebe, die in ihr geheim lodern mochte. Für ihn war sie einfach die Geldgeberin, und wenn sie nichts hatte, war sie ihm zum mindesten gleichgültig, wenn nicht geradezu lästig. Er mochte aber das Verhältnis nicht lösen, weil er sich sagen durfte, daß es zwischen ihnen beiden doch wohl noch zu einer Heirat kommen würde. Und dann würde, wenn auch die »Kronleuchterpartie« nicht so glänzend war, wie er anfänglich wohl vorausgesetzt, der Bürgermeister mit dem Gelde, das er gewiß hinter sich gebracht hatte, schon herausrücken.
So vergingen Monate in Freud und Leid. Die Alten schliefen zu Hause. Grete und Hans zankten und versöhnten sich und schliefen bei Frau Kammlodt. Frau Kunze wachte.
Februar 1906 bis 12. Mai 1907. – Gretens Verlobung mit Kurt Preßler. Unter dem Drucke der Merkerschen Drohungen begeht sie ihre ersten Verbrechen: Fälschung und schweren Diebstahl (die Krönersche Sache). Vorbereitungen zur Ermordung Preßlers: Revolver, Cyankali, Fälschung der Veroni-Briese und des Preßlerschen Testaments.
Gegen Ende des Karnevals 1906 besuchte Grete wieder einmal einen Ball, und dieser Ball der Ingenieure in Chemnitz sollte für sie noch verhängnisvoller werden als der kaufmännische Maskenball des Vorjahres.
Grete hatte als Tischherrn einen jungen Oberingenieur, Kurt Preßler, der sich auf das lebhafteste für sie interessierte. Sie hatte sich gerade wieder einmal mit ihrem Merker gezankt und war in einer Stimmung, die sie für die Huldigungen Preßlers empfänglich machte. Außerdem mußte sie, wenn sie unwillkürlich Vergleiche anstellte, sich sagen, daß Herr Preßler denn doch aus ganz anderm Holze geschnitzt war als der öde Freiberger Handlungsgehilfe. Preßler wirkte, so wie er war, als ein durch und durch anständiger Mensch in angesehener Stellung, als tüchtig und gebildet. Sein Wesen hatte zwar etwas Verschlossenes und war für junge Mädchen vielleicht nicht sehr reizvoll. Aber er war doch eben von ganz anderm Kaliber als ihr Herzensfreund, der das Geld seines Prinzipals leichtsinnig verjubelte und seine Unterschlagungen mit Zwangsanleihen bei seiner Geliebten zu decken suchte. Alles das trat dämmernd vor Gretens Seele. Auch das Gefühl, sich dem Willen eines untergeordneten und unwürdigen Individuums völlig zu unterwerfen, mochte sie zeitweilig anwidern. Jetzt bot ihr ein Ehrenmann, der in uneigennütziger, herzlicher, ja leidenschaftlicher Zuneigung ihr zugetan war, die Hand zu einem ehrenhaften Bunde fürs Leben. Sie schlug ein.
Als Merker, der sein Verhältnis zu Greten als eine unkündbare Lebensstellung aufgefaßt hatte, die Verlobungsanzeige seiner heimlichen Braut mit dem Oberingenieur Kurt Preßler las, geriet er außer sich. Sollte sich Grete, deren er so sicher zu sein glaubte, wirklich von ihm frei machen können und wollen? … Er zweifelte, trat beiseite, wartete, schwieg. Und seine Taktik war richtig.
Grete, die sich ihrem ersten Liebhaber in der Tanzstunde und ihrem zweiten vom kaufmännischen Maskenball ohne ernsteres Widerstreben hingegeben hatte, versagte sich standhaft der leidenschaftlichen Bewerbung ihres offiziellen Bräutigams. Er war ihr sogar unangenehm. Selbst die unter Brautleuten allgemein statthaften Vertraulichkeiten: der Kuß auf Stirn und Wange bei der Begrüßung und beim Abschiede widerstrebten ihr. Mit Behagen und Verlangen schwelgte sie in der Erinnerung an das ärmliche Stübchen bei der Kammlodt, das die gute Frau Kunze an den Festtagen, da Merker aus Freiberg heimlich herüberkam, immer so hübsch geheizt hatte.
Dem feinfühligen Preßler konnten bei aller Verliebtheit die Unfreundlichkeiten der spröden Braut nicht entgehen. Und auch zwischen dem Brautpaar kam es oft zu recht unliebsamen und garstigen Auftritten.
Grete hatte übrigens alle Veranlassung, an den verlassenen Schatz Tag und Nacht zu denken; denn sie durfte nun nicht mehr daran zweifeln, daß die nächtlichen Begegnungen mit Merker bei der Kammlodt nicht ohne Folgen geblieben waren. Und als sie wieder einmal durch ihr unwirsches Benehmen eine häßliche Szene mit Preßler provoziert und er sich erzürnt von ihr abgewandt hatte, kehrte sie reuig und verliebter denn je zu ihrem Merker zurück und warf sich dem Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trug, schluchzend und jubelnd in die Arme.
Merker wußte, daß er nun gewonnenes Spiel hatte. Nun brauchte er bloß damit zu drohen, daß er mit Herrn Preßler noch ein Wörtchen im Vertrauen zu reden habe, um Greten zu allem gefügig zu machen. Und wohl nicht bloß Greten allein, auch die Eltern. Einstweilen tat er so, als ob er auf Gretens Hand ältere Ansprüche habe und sie zwingen wolle, ihre Verlobung mit Preßler aufzuheben.
In ihrer Seelenangst entschloß sich Grete der argwöhnisch gewordenen Mutter gegenüber zu einem Geständnis ihrer schrecklichen Lage. (Ob der Vater etwas davon erfahren hat, ist in den der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Angaben noch dunkel geblieben.) Die Mutter, die von einer Aufhebung der Verlobung mit Preßler nichts wissen wollte und die Verbindung mit dem Habenichts und dem der Unterschlagung geständigen Merker aufs entschiedenste zurückwies, glaubte doch einen Ausweg aus dem furchtbaren Wirrsal finden zu können. Wenn Grete ihre physische Abneigung gegen den Mann, den sie ja doch heiraten werde, schon vor der Einsegnung der Ehe überwinden und die Vorbedingungen schaffen würde, die Preßler zu dem Wahne verleiten könnten, daß er sich vorzeitig Vaterfreuden gesichert habe? Das mütterliche Ansinnen einer solchen Diskontierung der legitimen Ehefreuden empörte indessen Greten aufs äußerste. »Lieber spränge ich ins Wasser!« erklärte sie mit einer Entschiedenheit, an der jedes »vernünftige« Zureden zerschellte.
Es geschah etwas anderes. Die gute Frau Kunze schaffte Rat. Der früheren Hebamme durfte man ja zutrauen, daß sie Bescheid wisse. Wenn auch starke Verdachtsgründe vorliegen, erwiesen ist es nicht, daß die Mutter um diese geheimen Treibereien gewußt hat. (Das Freiberger Gericht, das mit diesen Beier-Prozessen wirklich mehr als hinlänglich befaßt worden war, hat es dabei bewenden lassen, später – im Juni 1908 – Grete Beier und die Kunze wegen eines Verbrechens gegen das keimende Leben [§ 218 StGB.] zu je einem Jahre Gefängnis zu verurteilen.)
Merker ist jedenfalls dem verbrecherischen Treiben fern geblieben. Aus gutem Grunde. Hatte schon das Mitwissen der bevorstehenden Mutterschaft Gretens seine Position den Beiers gegenüber erheblich gefestigt, so besaß er jetzt, da ihm das Geheimnis der Beseitigung dieser Mutterschaft offenbart ward, eine Waffe in der Hand, die er tödlich auf die Familie niedersausen lassen konnte; an der er nur zu rasseln brauchte, um Vater, Mutter und Tochter Beier in schlotternden Schrecken zu versetzen. Jetzt war er Mitwisser eines Verbrechens, das in der Familie Beier begangen war! Ein Wort von ihm, und die ganze Bürgermeisterei flog in die Luft …
Er konnte aber auch schweigen. Und Schweigen ist Gold. »Ich habe sein Schweigen stets erkaufen müssen,« erklärte Grete im fünften Beier-Prozeß am 5. Juni 1908.
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Zwischen den offiziellen Brautleuten Preßler und Grete war ein Waffenstillstand, sogar eine Art von Friede und Versöhnung zu stande gekommen, ohne daß der geheime Verkehr zwischen Grete und Merker deswegen aufgehört hätte.
Für Grete setzte jetzt die schlimmste Krisis ein. Daß sie in diesem schauderhaften Doppelspiel den Verstand nicht verloren und gerade jetzt Beweise eines ungewöhnlichen Scharfsinns, einer raffinierten Erfindungsgabe, um die ein jeder Verfertiger von Sensations- und Hintertreppenromanen sie beneiden müßte, an den Tag gelegt hat, läßt auf eine geistige Kraft schließen, die geradezu Staunen erregt.
Von unwiderstehlichem Sexualtriebe dem Manne in die Arme geworfen, den sie verachtet, der sie bedroht und ängstigt, dem sie den Mund mit Banknoten stopfen muß; physisch abgestoßen von dem anständigen Manne, den sie achten muß, aber trotzdem grund- und sinnlos verleumdet, um dem Verächtlichen sich gefällig zu zeigen, – so pendelt sie hin und her in einem Chaos von Lügen und Verstellungen, in unausgesetzter Überspannung der erregten Nerven, von früh bis spät darauf bedacht, eine zufällige Begegnung der beiden Rivalen zu vermeiden, eine Aussprache zu hintertreiben, damit nur ja nicht herauskomme, wie sie geschwindelt hat! Wenn sie sich aus Preßler auch gar nichts macht und ihn am liebsten wieder los wäre, sie muß die Verlobung bestehen lassen, nicht bloß weil die Eltern es wollen: Preßler hat Geld, und sie braucht sein Geld. Nicht für sich – für Merker, der seine alten Schulden nicht voll bezahlt, beträchtlich neue dazu gemacht hat, dem das Messer an der Kehle sitzt, der über sie alles weiß, was niemand wissen darf, der versteckt und offen droht, und dessen Schweigen bezahlt werden muß.
Preßler hat Geld, Merker braucht Geld. Das sind die beiden Faktoren, mit denen Grete beständig rechnet. Und aus diesem steten Hinlenken aller ihrer Gedanken auf diese beiden feststehenden Tatsachen keimt der verbrecherische Vorsatz zuerst auf.
So plump stellt es Merker nicht an, daß er wie der erste beste Erpresser schlankweg Schweigegelder verlangt; er findet eine andere Formel, um seine Drohung für Greten verständlich zu machen. Er stellt jetzt die kategorische Forderung, daß sie das Verhältnis mit Preßler lösen solle. Er weiß ganz gut, daß sich das nicht so ohne weiteres machen läßt: er hat ja ganz genaue Kenntnis davon, wie ernst die Vorbereitungen zur demnächst bevorstehenden Hochzeit von Preßler betrieben werden. Indessen genügt es ihm schon, wenn er Grete ununterbrochen in größter Erregung erhält und ihr begreiflich macht, daß er beschwichtigt werden muß.
Grete versucht es zunächst mit einer Finte.
Sie ersinnt eine ziemlich unwahrscheinliche, höchst romanhafte Geschichte und will Merker glauben machen, daß ihre Verheiratung mit Preßler überhaupt eine Unmöglichkeit, da Preßler bereits verheiratet sei! Sie zeigt Merker zwei – von ihr verfertigte – Briefe einer heißblütigen Italienerin, aus denen hervorgehen soll, daß Preßler, als er Italien bereiste, ein junges Mädchen verführt, das die Schändung ihrer Ehre in den Tod getrieben habe. Die Schwester der Selbstmörderin – die angebliche Briefschreiberin – habe nun das Werk übernommen, die Entehrte an dem elenden Verführer zu rächen. Zu dem Behufe habe sie sich von ihm heiraten lassen, um ihn beständig in der Hand zu haben. Sie, Preßlers rechtmäßige Gattin, Leonore, geborene Veroni, habe nun erfahren, daß Preßler nach seiner Rückkehr einen neuen Schurkenstreich begangen und sich mit einer jungen Deutschen – eben Grete Beier – verlobt habe. Jetzt schlage also die Stunde der Vergeltung. Sie sei eigens nach Chemnitz gekommen, um einen öffentlichen Skandal zu machen, um die unglückliche Braut vor Schmach und Schande zu bewahren.
Das etwa scheint der Inhalt der ersten nicht veröffentlichten Veroni-Briefe gewesen zu sein, die im Februar 1907 auftauchen und vor allem bezwecken, Merker hinzuhalten und zu beruhigen. Vielleicht mag sich aber auch damals schon der Gedanke in Greten geregt haben, mit dem Gelde des getöteten Preßler Merker zu befriedigen, Preßlers Tod aber als Selbstmord eines Schuldigen wirken zu lassen und dazu die Enthüllungen der vorgeblichen Veroni zu verwerten.
Merker aber traute dem Veroni-Schwindel nicht recht. Er fuhr am 19. März nach Chemnitz und stellte nach der geheimnisvollen Urheberin der angedrohten Vendetta Erkundigungen an, die natürlich resultatlos blieben.
Nicht minder eindringlich als Merker auf Lösung, bestand Preßler auf Verbindung. Fast am selben Tage, an dem Merker in Chemnitz nach der unfindbaren Leonore Veroni fahndete, fuhr Preßler mit seiner Braut nach Leipzig, um dort das Silberzeug zur Ausstattung zu kaufen. Da ermittelte sie denn auch in unauffälliger Weise alles, was sie über Preßlers Vermögensverhältnisse erfahren wollte. Er besaß ein Barvermögen von 15 000 Mark, eine anständige Einrichtung und hatte eine gut dotierte Stellung, die ihm die Begründung des eigenen Herdes gestattete.
Auf die Frage des Vorsitzenden, ob denn schon zu jener Zeit, während sie die Einkäufe für ihre Ehe mit Preßler machte, der Gedanke in ihr aufgetaucht sei, ihren Bräutigam zu ermorden, seine Hinterlassenschaft an sich zu bringen, um Merker damit zu bezahlen, antwortete sie ruhig und bestimmt: »Ja!«
Am Palmsonntag, 24. März, kehrte sie von Leipzig nach Brand zurück.
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Von nun an trifft Grete Beier mit einer kaltblütigen Umsicht und nüchternen Klarheit sondergleichen alle erforderlichen Vorbereitungen zu dem geplanten Verbrechen, das erst sieben Wochen später zur Ausführung gelangen wird.
Während der Karwoche schleicht sie in das Bureau ihres Vaters, das zu betreten den Mitgliedern der Familie untersagt ist. Aus dem Kasten des Schreibtisches stiehlt sie einen Revolver, den der Vater als Bürgermeister und oberster Polizeichef nach einem Selbstmorde beschlagnahmt hat. Am dritten Ostertage (1. April) besucht sie ihren Bräutigam in Chemnitz. Um einen Schlüssel herauszunehmen, mit dem er eine Spieldose aufziehen will, öffnet er die Schublade. Da fällt ihr Späherblick auf ein verdächtiges Fläschchen, das hinten verborgen ist. Ihr verbrecherischer Instinkt treibt sie dazu, es sich anzueignen. Zu Hause angekommen, ersieht sie aus der Aufschrift des Etikettes, daß es Zyankali enthält (Preßler war Amateurphotograph). Erst durch das Konversationslexikon wird sie darüber belehrt, daß sie sich in den Besitz eines der stärksten Gifte gesetzt hat. Nun ist sie beruhigt, glückselig. Nun hat sie, was sie für alle Fälle braucht. Im Gefühle überströmender Freude schreibt sie an Merker: »Nun winkt uns der süße Friede, und der Traum vom lang ersehnten Glück naht sich seiner Erfüllung.«
»Der süße Friede sollte natürlich mit der Ermordung Preßlers eintreten?« fragte der Vorsitzende.
Antwort: »Ja.«
Grete hatte inzwischen erkennen müssen, daß sich Merker nicht mehr aufs Unbestimmte hin hinhalten lassen würde. Er hatte allmählich die Geduld verloren und kurz und bündig das Ultimatum gestellt: zu Pfingsten (19. Mai) entweder Aufhebung der Verlobung mit Preßler, oder ich erzähle der Stadt eine Geschichte von den Streichen der Familie eines Bürgermeisters!
Und immer die alte Geschichte: Merker braucht Geld, viel Geld, schnell Geld! Grete verlangt von ihm also eine genaue Aufstellung seiner Schulden. Nun wird sie Rat schaffen … Preßler hat Geld … der süße Friede winkt!
Da ereignet sich ein Zwischenfall, der Greten der Notwendigkeit enthebt, ihren Bräutigam sofort zu ermorden.
Ihr Onkel, der Armenhausverwalter Kröner, stirbt plötzlich. Dieser Mortimer starb Greten sehr gelegen – so gelegen, daß man auch diesen Todesfall mit Greten in Zusammenhang hat bringen wollen. Zu einer förmlichen Untersuchung scheint es indessen nicht gekommen zu sein. Grete Beier wurde als des schweren Diebstahls und der Fälschung dringend verdächtig am 27. Juni in Haft gebracht; und viel später, erst im Oktober, lenkte sich auf sie der Verdacht, den Mord an ihrem Bräutigam begangen zu haben. Ein Beweis dafür, daß auch ihr Onkel mit Zyankali vergiftet worden sei, würde sich aus dem Befunde der exhumierten Leiche damals nicht mehr ergeben haben.
Der Verdacht, daß Grete die Mörderin ihres Onkels Kröner gewesen sei, stützt sich auf die Zusammenstellung der folgenden Daten:
1. April: Grete stiehlt in Chemnitz das Zyankali.
Wenige Tage darauf: Merker stellt sein Ultimatum: Aufhebung der Verlobung mit Preßler bis Pfingsten, 19. Mai.
Ende April: Kröner stirbt.
2. Mai: Grete bestiehlt die Hinterlassenschaft und händigt das gestohlene Geld an Merker aus, der nun auf Innehaltung des Ultimatums nicht mehr besteht.
Kröners Hinterlassenschaft, die im wesentlichen aus einem Sparkassenbuch mit einer Einlage von über 4000 Mark, einigem Bargeld und verschiedenen Schmucksachen bestand, lag mit dem Testamente des Verstorbenen wohlverwahrt in einer Kassette, zu der Kröners Schwester, die verwitwete Frau Schlegel, den Schlüssel besaß, und die dem angesehensten Familienmitgliede, dem Bürgermeister Beier, anvertraut wurde.
Durch Vermittlung ihrer guten Freundin in aller Bedrängnis, durch die Hebamme Kunze, läßt Grete vom Schlossermeister Schuhmann einen Nachschlüssel anfertigen, entnimmt der Kassette das Sparkassenbuch und einige hundert Mark und vertauscht das Krönersche Testament durch ein gefälschtes, in dem sie mit einem größeren Legate bedacht ist. (Diese Fälschung hat Grete ursprünglich bestritten und durch ihr beharrliches Leugnen eine solche Verwirrung angerichtet, daß die Richter in diesem Falle – am 6. Juni 1908 – zu einem freisprechenden Urteil gelangten, obwohl sie, wie in der Urteilsbegründung besonders hervorgehoben wurde, zum mindesten der Mittäterschaft als überaus verdächtig erschien. Einige Wochen später, am 30. Juni, hat Grete auch diese Fälschung ruhig eingestanden.)
Nachdem sie auf die gefälschte Unterschrift der Tochter des Erblassers, Erna Vogt, geb. Kröner, den Betrag der Spareinlage (ganz oder zum großen Teile) erhoben (2. Mai 1907), übergibt sie diese Summe mit dem gestohlenen Bargelde im Gesamtbetrage von 4300 Mark dem Merker, vor dem sie nun wenigstens auf einige Zeit Ruhe hat. Daran aber, daß ihr nun wirklich der heiß ersehnte »süße Friede« winkt, wagt sie nicht zu glauben. Sie weiß ganz genau, daß ihre Arbeit nicht nur noch nicht getan ist, daß vielmehr neben mancherlei Wichtigem sogar das Hauptsächliche noch geschehen muß.
Sie hat zunächst dafür Sorge zu tragen, daß die Spuren, die auf sie als die Urheberin des Diebstahls aus der Kassette führen, verwischt und auf eine andere, auf Kröners Schwester, Frau Schlegel, gelenkt werden. Auch dabei leistet ihr wiederum das Faktotum bei allen ihren Missetaten, die Kunze, den erbetenen Liebesdienst: die Kunze muß den Nachschlüssel in der Wohnung der Frau Schlegel unter einem Schranke so verstecken, daß er bei einer Hausdurchsuchung eventuell gefunden wird.
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Das aber ist nicht das Hauptsächliche. Die viertausend und einige hundert Mark, die sie der Krönerschen Hinterlassenschaft durch schweren Diebstahl entzogen und ihrem Geliebten zugewandt hat, können für den begehrlichen Merker doch nur als ein Aufgeld in Betracht kommen. Um ihn, wie sie es sich vorgenommen hat, »zu einem ordentlichen Menschen zu machen«, braucht sie mehr.
Sie kommt also nach der kurzen Abschweifung von ihrem Raubzuge gegen die Krönerschen Erben auf den Gedanken, an ihrem Bräutigam Preßler einen ergiebigeren Raubmord zu begehen, sogleich wieder zurück, da für sie die beiden verhängnisvollen Tage nun unmittelbar bevorstehen: ihr Vermählungstag mit Preßler, der auf Mitte Mai angesetzt ist, und Pfingsten, der 19. Mai, an dem Merker ihr mit Beihilfe der Kunze begangenes Verbrechen zu offenbaren droht, wenn sie bis dahin mit Preßler nicht definitiv gebrochen hat. Sie bereitet nun also die Ausführung des Kapitalverbrechens systematisch und mit unermüdlichem Eifer vor.
Zunächst hat sie sich (natürlich unter einem falschen Namen) bei der Redaktion des »Freiberger Anzeiger« genau nach der Rechtsfrage erkundigt: »In welcher Weise muß ein Testament abgefaßt sein, das dem Bräutigam gestattet, im Todesfälle sein ganzes Vermögen seiner Braut zu hinterlassen, unter möglichst weitgehender Ausscheidung der Verwandten (Eltern und Geschwister)?« Auf diese Frage erhält sie im Briefkasten des »Freiberger Anzeiger« in klarer, leicht faßlicher Form die erbetene Belehrung.
Auf Grund dieser Angaben redigiert sie nun ein in der Form durchaus korrektes Testament, in dem »Heinrich Moritz Kurt Preßler, Oberingenieur, Fräulein Grete Beier, des Bürgermeisters Beier zu Brand Tochter«, zur Universalerbin einsetzt.
Als unerläßliche Vorbedingung für den Erfolg dieser Erbschaftsfälschung mußte der Glaube erweckt werden, Preßler sei freiwillig aus dem Leben geschieden. Die einfache Konstatierung des Selbstmordes im Testament genügt noch nicht. Auch die Motive, die den ruhigen, ernsten, tüchtigen Mann, der im Begriffe stand, mit einem von ihm heiß geliebten Wesen einen eigenen Hausstand zu begründen – die Motive, die Preßler in diesem Augenblicke zu einem so verzweifelten Schritt gedrängt hatten, mußten glaubhaft gemacht werden. Zu diesem Zwecke wurde das romanhafte Phantasiegeschöpf, die Leonore Veroni, die schon vor einigen Monaten zur Beruhigung des ungeduldigen Merker auf den Schauplatz des furchtbaren Schwindels gestellt war, wieder herangezogen.
Als »Leonore Veroni« schrieb Grete also zwei lange Briefe – nicht besser und nicht schlechter, als sie ein Verfasser von gangbaren Kolportage- und Kriminalromanen schreiben würde.
Den einen adressierte sie an Preßler (Chemnitz, 7. Mai 1907). Sie zeigte ihrem »Gatten« an, daß sie wieder in Chemnitz eingetroffen sei und seiner »armen Braut« alles geschrieben habe, da sie den Betrug nicht länger mit ansehen könne:
»Du bist doch ein ganz erbärmlicher, feiger Schuft. Wenn Du nicht nach Brand fährst, dann fahre ich hin und erzähle all deine Schlechtigkeiten … Ich habe gehört, daß Deine Braut ein Engel voller Liebe und Güte ist … Ich habe Dich von Anfang an beobachtet und nur bis zur Hochzeit gewartet.«
(Gezeichnet:) »Deine Ehegattin Leonore Preßler, geborene Veroni.«
Den anderen Veroni-Brief richtete Grete Beier an sich selbst nach Brand.
Sie stellte sich als die »rechtmäßige Gattin Preßlers« vor, erzählte die Schwindelgeschichte von der Verführung ihrer Schwester durch Preßler und vom Selbstmorde der Entehrten, die man eines Morgens » mit durchschossenem Munde und Kopfe« am Ufer des Gardasees aufgefunden habe. Die rächende Schwester zwang Preßler, mit ihr nach katholischem Ritus eine (also unlösbare) Ehe einzugehen, die übrigens nie zu ehelicher Gemeinschaft geführt habe. Er sollte eben nur an sie gebunden sein. Sie habe alljährlich von ihm Geld bezogen gegen das Versprechen, nicht nach Chemnitz zu kommen. Durch einen Detektiv habe sie ihn aber beobachten lassen und nun erfahren, daß er sich des Verbrechens der Bigamie schuldig zu machen und Fräulein Grete Beier zu heiraten im Begriffe stehe. Das habe ihren Entschluß zur Reife gebracht, den Menschen, dem das Zuchthaus ohnehin sicher ist, zu strafen:
»Er weiß jetzt, daß ich in Chemnitz bin, und ist daher der Verzweiflung nahe. Nur ein Weg bleibt ihm: denselben Tod zu suchen, den meine arme Schwester gefunden … Sie werden mich nicht mehr sehen, denn wenn diese Zeilen in Ihre Hände gelangen, bin ich wieder im Auslande. Meine Mission in Deutschland ist erfüllt …«
(Gezeichnet:) »Leonore Preßler.«
Mit der nicht mühelosen Herstellung aller dieser gefälschten Schriftstücke füllte Grete Beier den Sonntag, 12. Mai, aus.
Wir müssen die quantitativ und qualitativ gleichermaßen erstaunliche Fälschungsarbeit dieses Mädchens einmal überschauen:
30. April 1907: Anfrage an die Redaktion des »Freiberger Anzeiger«: erbetene Rechtsbelehrung über die Fassung des Testaments. Verstellte Handschrift, unterzeichnet: Alexander Hermsdorf.
Anfang Mai: Fälschung des Testaments des Armenhausverwalters Kröner, ihres Onkels.
Zur selben Zeit: Erhebung der Sparkasseneinlage auf gefälschte Quittung, unterschrieben: Erna Vogt, geborene Kröner.
Während der nächsten Tage: zahlreiche Abschriften der Briefe von Preßler an sie. Die Originale werden verbrannt. Schreibübungen, um eine der Preßlerschen Handschrift möglichst ähnliche sich anzueignen.
12. Mai: Fälschung des Testaments in dieser der Preßlerschen ähnlichen Handschrift, unterzeichnet: Heinrich Moritz Kurt Preßler.
Brief der vorgeblichen Leonore Veroni an Preßler und Brief derselben Veroni an Grete Beier, gezeichnet Leonore Preßler, geborene Veroni.
Von dem indifferenten Alexander Hermsdorf und der bloßen Unterschrift der Krönerschen Tochter Erna, verehelichten Vogt, abgesehen, hat Grete Beier umfangreiche Schriftstücke in fremder Handschrift hergestellt, wie das Testament Kröners, die langen Briefe der Veroni und endlich das wichtige Testament Preßlers. Auf das letztere hat sie besondere Sorgfalt verwandt. Sie hat sich förmlich darauf eingeschrieben, um eine Übereinstimmung in den Schriftzügen ihrer Briefe von Preßler und des Testaments, das von ihm herrühren sollte, zu erzielen, viele Preßlersche Briefe höchst genau kopiert und in dieser erlernten Nachahmung das Testament aufgesetzt. Diese Fälschung ist so virtuos und ihr so vollkommen gelungen, daß sie Preßlers Mutter und Bruder, einen jungen Juristen, hat täuschen können, die an der Authentizität des Schriftstückes keinen Zweifel gehegt, nicht aus den Schriftzügen, sondern aus einer frivolen Wendung, die sie mit dem Wesen des Toten nicht in Einklang bringen konnten, den ersten Verdacht geschöpft haben.
13. Mai 1907 bis 23. Juli 1908. – Die Ermordung Preßlers, Gretens Verhalten nach der Tat. Ungelegenheiten wegen der Krönerschen Sache, die zur Verhaftung führen. Merker denunziert sie. Auf Grund des von ihm ausgehändigten Kassibers wird Grete des Mordes angeklagt, gesteht, wird verurteilt und in Freiberg hingerichtet.
Der entscheidende Tag, der 13. Mai.
Grete verläßt im Laufe des Vormittags das elterliche Haus, wohlgerüstet zum Werke, das sie bedächtig, klar und kühl-überlegen vorbereitet hat. Sie hat den Revolver des Selbstmörders, den sie aus dem Bureau ihres Vaters genommen hatte, zu sich gesteckt (vielleicht war es aber auch der andere, den sie vor einiger Zeit für sechs Mark gekauft); ebenso das Zyankali, das sie heimlich aus Preßlers Tischkasten entwendet hatte; endlich die gefälschten Schriftstücke: das Testament, durch das sie als Preßlers Universalerbin eingesetzt wird, und die beiden Veroni-Briefe, den einen ohne Umschlag an Preßler, den andern verschlossen mit einer Adresse: Fräulein Grete Beier in Brand.
Sie fährt zunächst nach Freiberg. Dort macht sie für ihre Mutter eine Besorgung bei der Putzmacherin. Dann kauft sie Patronen. Ihr Mutter glaubt, daß sie bei einer befreundeten Familie zu Besuche ist. Der Kunze, von der sie sich das Geld zur Reise geben läßt, redet sie vor, sie müsse einen Arzt konsultieren.
Mittags fährt sie nach Chemnitz. Preßler, der von ihrem Kommen unterrichtet ist, holt sie von der Bahn ab. Als die beiden in das Haus treten wollen, begegnet ihnen eine Nachbarin, eine Frau Moeser. Preßler grüßt höflich, Grete, der die Begegnung unangenehm sein mag, nicht. Preßler geht noch einmal aus, um Sahne zum Kaffee zu holen – vielleicht auf Gretens Veranlassung, damit er in der kritischen Stunde auch ohne sie gesehen werde. Währenddem hat Grete den Kaffee bereitet, und in gemütlichster Stimmung wird er getrunken.
Preßler sitzt auf der Chaiselongue. Er wird »außergewöhnlich zärtlich« und zieht Greten an sich. Heute sträubt sie sich weniger als sonst. Er drückt seine Braut fester an sich. Sie setzt sich zur Wehr, nur wenig.
»Ein Gläschen Eiercognac?« – »Ich danke, ich trinke nicht.« – »Dann gieß mir wenigstens ein!« – »Gern.«
Sie füllt das Glas, ihm abgewandt. Unbemerkt schüttet sie das Gift hinein. Lächelnd tritt sie wieder an ihn heran. Mit verlangendem Blick erneut er seine liebende Bewerbung. Es flammt auf seinen Wangen, es zuckt um seine Lippen. Er zieht sie leidenschaftlicher an sich. »Grete, wir werden ja doch bald Mann und Frau sein … Grete, seien wir glücklich! …«
»Hier trink'!« flüstert sie, als wolle sie ihn beruhigen, und sie reicht ihm das Glas. In Ekstase ergreift er es, führt es an seine Lippen, leert es …
Ein kurzer Todeskampf. Die Finger krampfen zusammen. Er sinkt aufs Kissen zurück. Die Augen verdrehen sich, die Lider fallen zu. Aus dem weit geöffneten Munde kommt ein schnarchendes Röcheln, kaum hörbar – der letzte Laut des entfliehenden Lebens … Nun ist alles still.
Das Mädchen steht unbeweglich vor dem grausigen Anblick.
Ist er tot?
Sie beugt sich über ihn, bedeckt die Augen mit einer Serviette, als ob sie fürchte, daß ein entsetzlicher Blick strafend durch die fest geschlossenen Lider auf sie dringe. Dann ergreift sie den Revolver, schiebt ihn tief, tief in den Mund des Regungslosen hinein und drückt ab …
Die laute Detonation wird weithin gehört. Klirrend öffnen sich Fenster der Nachbarhäuser. Die Leute blicken auf die Straße herunter. Wer hat denn da geschossen? Auch Frau Moeser hört den Knall und fährt erschrocken zusammen … Es wird wohl auf der Straße gewesen sein … Dabei beruhigt sie sich, gerade wie die andern Nachbarsleute.
Grete hat nicht die geringste Vorsicht gebraucht. An die Gefahr der Entdeckung denkt sie gar nicht. Sie hat auch an anderes zu denken.
Unbekümmert um den Toten, dessen Blut Kissen und Kleider besudelt, vollzieht sie den schaurigen Dekorationswechsel vom Morde zum Selbstmorde mit der nüchternen Sachlichkeit eines Regisseurs im Zwischenakte. Das Testament mit der Adresse: »Fräulein Grete Beier, Brand in Sachsen« legt sie an sichtbarer Stelle auf den Schreibtisch; auf denselben Tisch, weniger auffällig, den Veroni-Brief vom 7. Mai, in dem sie als Leonore Preßler, geborene Veroni, als Preßlers vorgeblich erste Gattin, ihm ankündigt, daß sie nach Chemnitz zurückgekehrt sei, um seine italienischen Schandtaten zu offenbaren und ihn ins Zuchthaus oder ins Grab zu bringen.
Sie schafft also eine doppelte Beurkundung der Motive zum Selbstmorde.
Nun ist alles erledigt. Sie lauscht. Im Hause und auf der Straße ist alles ruhig. Sie schleicht unbemerkt davon. Auf dem Wege zur Bahn vergißt sie nicht, den zweiten Veroni-Brief, den sie an sich selbst gerichtet hat, und der ihr, der »armen Braut«, die Schurkenstreiche Preßlers kund tun soll, in den Kasten zu werfen. Den wird sie also morgen zum Frühstückskaffee in Brand erhalten.
Mit dem nächsten Zuge fährt sie nun nach Freiberg, wo sie um 7 Uhr eintrifft. Bei ihrer Freundin Fräulein Gertrud Gersten findet sie eine lustige Gesellschaft von jungen Leuten. Grete ist heiter und guter Dinge wie immer. Sie zeigt keine Spur von Erregung und amüsiert sich so gut, daß sie nach Hause telephoniert: es sei so nett bei Gerstens; sie würde erst mit dem letzten Zuge nach Brand kommen. Das Mädchen solle sie an der Bahn abholen.
Das geschieht.
»Haben sich das gnädige Fräulein gut unterhalten?« fragt das Mädchen auf dem Heimwege.
»Ja, ich danke. Es war sehr hübsch …«
Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück, entkleidet sich, legt sich nieder. Zunächst kann sie nicht einschlafen. Jetzt fühlt sie die Abspannung. Aber bald überfällt sie bleischwerer Schlaf. Von irgendwelcher Regung der Reue, von irgendwelchem Schauder der Erkenntnis, von irgendwelchen Schreckbildern der Phantasie, die durch die Erinnerung an das Vollbrachte und Erblickte oder durch die Furcht vor dem, was nun kommen mag, hervorgerufen wären, hat sie uns nichts zu sagen. Sie schläft fest.
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Am andern Morgen trifft richtig der Veroni-Brief ein, den sie in Chemnitz aufgegeben hat. Sie zeigt den Brief ihrer Mutter, die Gretens tiefe Empörung über die verbrecherische Schurkerei des Bräutigams teilt und sie veranlaßt, dem Elenden sofort einen geharnischten Brief zu schreiben.
Grete tut, was von ihr verlangt wird.
Die Mörderin überschüttet den Ermordeten mit entrüsteten Vorwürfen über seine namenlose Schlechtigkeit und speit obendrein noch der Leiche des Unglücklichen, der wehrlos noch auf demselben Polster liegt, auf das sie den von Liebesgirren Umnebelten gestreckt hat, die wüstesten Verleumdungen ins blutende und verstümmelte Antlitz.
Von all den Ungeheuerlichkeiten dieser Tage, zu denen sich Grete Beier ohne besondere Erregung bekennt, erscheint mir dieser Brief als der unmenschlichsten eine.
Träge schleicht dieser 14. Mai für Greten dahin. Die Nachricht von Preßlers Tode, auf die sie stündlich wartet, bleibt aus. Erst am Nachmittag wird die Leiche gefunden, und erst am 15. früh trifft in Brand die Kunde ein, daß Preßler freiwillig aus dem Leben geschieden sei.
In Begleitung ihrer Mutter fährt sie mit dem nächsten Zuge nach Chemnitz. Sie weiß, daß sie dort im Sterbezimmer an der Leiche des Unglücklichen Mutter und Bruder finden wird. Auch vor dieser Begegnung schreckt sie nicht zurück. Sie sieht den Verwandten ihres Opfers ruhig ins Auge. Sie scheut auch nicht die prüfenden Blicke, die Preßlers nächste Verwandte auf das von ihr gefälschte Testament werfen, das in Form und Inhalt doch wohl geeignet ist, Mißtrauen zu wecken. Sie spielt den Hinterbliebenen keine Komödie erheuchelter Trauer und Rührung vor. Sie zuckt nicht mit der Wimper, und nicht eine Träne rollt über ihre Wangen. Sie begnügt sich, durch diskrete Zustimmung die Behauptung ihrer Mutter zu unterstützen, daß Preßler gelegentlich den Wunsch geäußert habe, nach seinem Tode verbrannt zu werden.
Die völlige, restlose und schnelle Vernichtung des Leichnams mußte ihr ja für alle Fälle als wünschenswert erscheinen. Unter den Berufenen, vielleicht auch unter den Unberufenen, die den toten Preßler vor der Bestattung sahen, hätte sich doch der eine oder andere besonders Neugierige oder skeptisch Veranlagte finden können, dem der Selbstmord trotz seiner hohen Wahrscheinlichkeit noch nicht als erwiesene Tatsache galt, der den Toten etwas gründlicher betrachtet und sich im Zimmer etwas genauer umgesehen hätte. Dann hätte sich am Ende doch die eine oder andere Erscheinung gezeigt, die sich durch die Wirkung einer Schußwaffe nicht recht erklären ließ. Man hätte sich dann vielleicht auch um die Überreste der Getränke in den noch nicht aufgewaschenen Tassen und Gläsern, die auf dem Tische standen, gekümmert und würde dann, wenn man zur Untersuchung der Leiche geschritten wäre, die deutlichen Spuren des tödlichen Giftes damals noch mit absoluter Sicherheit haben feststellen können. Die Gefahr der Leichenuntersuchung war aber für Greten in dem Augenblick, da der Leib den Flammen übergeben wurde – also wenige Stunden nach Auffindung der Leiche – beseitigt. An der Feuerbestattung, die von der Mutter angeregt war, hatte Grete demnach ein starkes Interesse. Aber so neugierige Leute waren nicht zur Stelle. Wenn das Verschwinden des Zyankali wohl auch nicht gleich bemerkt werden konnte, – verwunderlich erscheint es doch, daß die Frage, ob Preßler überhaupt einen Revolver besessen hat, und woher der bei der Leiche gefundene stammte, nicht aufgeworfen worden ist.
Daß die Fälschung des schon durch seinen Inhalt so auffälligen Testaments weder von der Mutter noch vom Bruder sogleich erkannt worden ist, bleibt ein undurchdringliches Rätsel.
Wie die erste Gefahr – die Ergreifung der Mörderin in flagranti, unmittelbar nach Verübung der Tat, so war auch die zweite, nicht minder große: die Anzweifelung des Selbstmordes und in deren Folge die Bemängelung des Testaments, sowie Gretens Selbstverrat angesichts des Toten bei ihrer ersten Begegnung mit den Hinterbliebenen glücklich vorübergegangen. Als unangefochtene Universalerbin suchte Grete unter tätiger Beihilfe ihrer Mutter den Raub möglichst schnell zu bergen. Und von dem unangezweifelten Selbstmörder war bald nur noch ein Häufchen Asche übrig.
Man muß annehmen, daß in Greten durch die äußersten Erregungen dieser entscheidungsschweren Tage alles menschliche Empfinden, wenn überhaupt je vorhanden, völlig paralysiert gewesen ist. Ihr Verstand bleibt hell, rege, betriebsam. In den bedenklichsten Situationen bewahrt sie ihre Unbefangenheit und überlegene Ruhe. Sie bedarf dazu nicht einmal einer besonderen Energie, nicht einmal der Selbstbeherrschung. Es ist eben gar nichts in ihr, das sich gegen das Böse widerspenstig auflehnt, das zu beherrschen wäre. Ihr Verstand ist gesund, ihre Seele gleichsam blind und taubstumm. Das Schauderhafte flößt ihr keinen Schauder ein. Keine innere Stimme warnt sie, gebietet ihr Halt, klagt sie an. Von der blutenden Leiche ihres Opfers geht sie in eine lustig harmlose Gesellschaft, lächelt und tändelt froh mit Frohen. Auf Geheiß ihrer Mutter schreibt sie an den von ihr Ermordeten wie an einen Lebenden und beschimpft den Toten auf Grund von Verleumdungen, die sie selbst ausgeheckt hat. Gelassen tritt sie neben die alte Frau Preßler, die an der Leiche ihres unglücklichen Sohnes weint, sieht ihr ins Auge, ohne durch einen Blick, einen Laut ihre Schuld zu verraten. Sie sieht das von ihr gefälschte Testament in den zitternden Händen der von ihr Beraubten, ohne daß eine Fiber in ihr zuckt.
Das ist kein menschliches Wesen mehr, auch nicht ein reißendes Tier in menschlicher Hülle, das ist etwas Unverständliches, gewissermaßen eine ungeheuerliche Mißbildung von Organischem und Anorganischem: im intelligenzbegabten menschlichen Wesen eine Maschine, die empfindungslos aus nichtmenschlichem Stoffe in ihren rein mechanischen Verrichtungen alle hemmenden seelischen Regungen unterdrückt.
In dieser Verfassung leiblichen Wohlbefindens und seelischer Paralyse verharrt Grete Beier. Am 16. Mai wohnt sie der Feuerbestattung bei, und am selben Tage bringt sie es über sich, an Merker zu schreiben: »Nun bin ich endlich frei, mein Schatz, aber nicht durch eine Entlobung. Gott hat selbst gerichtet.«
Der von ihr begangene Raubmord eine Strafe Gottes!
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Es vergehen Wochen. Von Preßler wird nicht mehr gesprochen. Von der Seite hat Grete also nichts mehr zu befürchten. »Die Sonne bringt es an den Tag?« – ein Ammenmärchen wie viele andere! Und wie viele andere Verbrechen wird auch der Mord, den sie zwar begangen, aber nicht auf dem Gewissen hat, unentdeckt und ungesühnt bleiben.
Wegen dieses großen Verbrechens bleibt sie unbehelligt. Die kleineren aber: der Diebstahl an der Hinterlassenschaft Kröners, die Fälschung der Unterschrift im Sparkassenbuch und endlich die Fälschung des Krönerschen Testaments, sollen ihr verhängnisvoll werden.
Diesmal will es ihr nicht gelingen, sich durch Frechheit herauszulügen. Die Schuldbeweise häufen sich gegen sie. In die Enge getrieben, weiß sie schließlich nicht ein und aus. Sie greift zu den extremsten Mitteln. Sie will die Schwester des verstorbenen Kröner, also ihre Tante, Frau Schlegel, bewegen, den Diebstahl auf sich zu nehmen. Für die Schwester des Erblassers könne die Sache ja nicht bedenklich werden.
Frau Schlegel will sich darauf aber nicht einlassen. Nun zieht Grete andere Saiten auf. Sie bedroht die alte Frau; sie, Frau Schlegel, sei ja doch in Wahrheit die Diebin, und sie werde, wenn sie vor den höchsten Richter trete, es nie verantworten können, daß sie um ihrer Sünde willen eine Unschuldige – nämlich Grete Beier – leiden lasse! Sie versucht auch, die Polizei auf Frau Schlegel zu hetzen: man möge nur einmal Hausdurchsuchung bei der Tante halten; dann würde man schon Beweise ihrer Schuld finden. Grete hatte, wie man sich erinnern wird, durch die Kunze den Nachschlüssel zur Krönerschen Kassette unter einen Schrank bei Frau Schlegel verbergen lassen, wo er also als corpus delicti entdeckt werden sollte. Frau Schlegel wurde durch die Bedrohung schwer beunruhigt, aber nicht eingeschüchtert.
Nun wollte die Mutter Beier der Tochter zu Hilfe kommen und machte den Versuch, eine alte Frau zu einem Meineide zu verleiten, durch den Grete entlastet werden würde. Auch dieses letzte Mittel versagte. Am 27. Juni wurde Grete Beier als des schweren Diebstahls und der Urkundenfälschung dringend verdächtig verhaftet.
Wäre sie im Untersuchungsgefängnis passiv geblieben – einer mehrjährigen Zuchthausstrafe wäre sie freilich nicht entgangen, aber ihr Leben hätte sie nicht verwirkt. Optimisten können sogar zu der Auffassung hinneigen, daß sie vielleicht, durch die harte Strafe gewandelt, in kräftigstem Lebensalter, bei ihren großen Anlagen den Weg zur Gesellschaft, aus der sie hatte ausgestoßen werden müssen, wiedergefunden hätte.
Die erfolgreiche Durchführung ihres größten Verbrechens aber hatte ihre Tollkühnheit, das Vertrauen zu ihrer Unangreifbarkeit ins Maßlose gesteigert. Wie ihr das Schwerste gelungen war, so, meinte sie, müsse ihr das Leichtere gelingen. Und die Überschätzung ihres verbrecherischen Vermögens, der feste Glaube an ihre alles besiegende Schlauheit verleiteten sie zur unwahrscheinlichsten aller Dummheiten.
Bei dem wahnwitzigen Versuche, sich gewaltsam aus der Schlinge zu ziehen, zog sie die Schlinge so fest, daß sie sich selbst erdrosselte. Sie wurde zur Selbstverräterin und offenbarte ihre größte Schandtat, von der die Welt noch nichts ahnte, wie etwas Selbstverständliches.
Da Frau Schlegel die von Greten an den Krönerschen Erben begangene Schuld nicht gutwillig auf sich nahm und die Wahrheit sagen wollte, mußte sie zum Schweigen gezwungen, sie mußte getötet werden.
Und das schrieb Grete vom Gefängnis aus in einem in ihre Bluse eingenähten Kassiber, den sie durch ihre Mutter befördern ließ, an Merker. Ja, Merker mußte Frau Schlegel töten! Sie gab ihm genaue Verhaltungsmaßregeln. Mit gefärbtem Haar, entstellt, unkenntlich müsse er sich an Frau Schlegel heranmachen, sie dann durch Chloroform oder etwas Ähnliches betäuben und in der Narkose erschießen. Sie gab diese Anweisungen zum Morde knapp und nüchtern, als ob es sich um eine ganz einfache Sache handle, die unbedenklich und ohne Schwierigkeit sich ausführen lasse. Und Merker durfte ihr den Liebesdienst nicht abschlagen …
Motiv: sie habe ihn ja auch »von Preßler befreit!«
Nun war inzwischen aber auch Merker wegen seiner fortgesetzten Unterschlagungen in Untersuchungshaft genommen und, da herausgekommen war, daß ihm Grete das aus der Krönerschen Erbschaft gestohlene Geld, die 4300 Mark, gegeben hatte, in dieser Krönerschen Sache wegen Hehlerei auch angeklagt. »Jeder ist sich selbst der Nächste«, hatte ihm Grete in dem berüchtigten Kassiber geschrieben. Das ließ Merker sich gesagt sein.
Von Grete Beier, die fest saß und das Gefängnis voraussichtlich vor langen Jahren nicht verlassen würde, hatte er nichts mehr zu erwarten. Die war für ihn abgetan. Als denunziatorischem Kronzeugen aber würde ihm vielleicht während seiner bevorstehenden Strafzeit manche Bevorzugung gewährt, würde jedenfalls sein Verbrechen der Hehlerei milde bestraft werden … Er war sich selbst der Nächste!
Und dieser Merker, dem Grete alles gegeben hatte, was sie besaß: ihren jugendfrischen Leib, ihre leidenschaftlichen Sinne – dem sie auch gegeben hatte, was sie nicht besaß: das Geld, das sie sich durch Fälschung und Diebstahl für ihn und nur für ihn verschafft, die, um seine unaufhörlichen Ansprüche zu befriedigen, in den tiefsten Abgrund des Verbrechens sich gestürzt, die seinetwegen gefälscht, geraubt und schließlich gemordet hatte – dieser Merker wurde der Angeber der unseligen Grete und überreichte den Kassiber der Behörde, »um sich Liebkind zu machen«.
Und da stand in deutlicher Schrift: »Ich habe Dich von Preßler befreit …!« Von Preßler, dessen Name schon verschollen war!
Diesem von ihr selbst gegebenen unzweideutigen Schuldbeweise gegenüber gab Grete das Leugnen auf. Sie legte nun ein umfassendes Geständnis ab und erzählte in allen Einzelheiten – sogar mit Varianten, die sie sich »ausgedacht« hatte In der Voruntersuchung hatte sie die Vergiftung durch Zyankali zunächst verschwiegen. Sie hatte angegeben, sie habe Preßler vorgeredet, daß sie für ihn eine Überraschung vom Jahrmarkte mitgebracht habe, und ihm das neckische Spiel vorgeschlagen: »Mund auf, Augen zu!« Preßler sei auf den Scherz eingegangen, habe die Augen geschlossen, um die sie noch eine Serviette gebunden habe, und den Mund weit geöffnet. Da habe ihm dann Grete die bereit gehaltene Pistole tief in den Mund gesteckt und abgedrückt. Vom Vorsitzenden befragt, wie sie denn zu dieser merkwürdigen Version gekommen sei, gab sie die Antwort: »Ich hatte mir das so ausgedacht.« Wenn der Verfasser eines Schauerromans einen Mord konstruiert, der als Selbstmord wirken soll, und wenn er, um die Annahme, daß ein Selbstmord vorliegt, durchaus glaubhaft zu machen, das erfindet, was Grete Beier in Wahrheit getan hat: Vergiftung in idealer Konkurrenz mit dem Schuß durch den Mund, so beglückwünscht er sich wegen der guten Eingebung. Grete Beier findet für die Aufgabe spielend gleich zwei Lösungen: Tötung durch Gift und nachheriger Schuß, der die wahre Todesursache beseitigt und den Selbstmord als erwiesen annehmen läßt; und Tötung durch den Schuß in den Mund, den das Opfer unter scherzhafter Vorspiegelung freiwillig geöffnet hat. Das hat sie sich »so ausgedacht!« – ruhig, ohne alle sentimentalen und komödiantenhaften Zutaten, ohne den Versuch der Beschönigung, ohne auf impressionable Gemüter durch heuchlerische Zerknirschung oder trotzige Frechheit wirken zu wollen, den von ihr an Preßler begangenen Mord. Und sie bewahrte diese ruhige, man möchte sagen bescheidene Haltung konsequent während der ganzen öffentlichen Verhandlung vor den Geschwornen.
Die Schlichtheit und Wahrhaftigkeit ihres Vortrages machte auf alle im Gerichtssaale Vereinigten einen tiefen Eindruck. »Will man die Haltung der Angeklagten schildern,« schreibt mir ein Augenzeuge, »so kann man sich die Tat der Verbrecherin kaum vergegenwärtigen und findet nur Bezeichnungen, die man einer geständigen Mörderin gegenüber anzuwenden sich scheuen muß. Ich wüßte nichts anderes von ihr zu sagen, als daß sie durch ihr bescheidenes, würdiges, geschmackvolles Benehmen auf der Anklagebank einen geradezu schmerzhaften Konflikt zwischen dem Gefühl des Abscheus vor dem Verbrechen und der erzwungenen Sympathie für die Persönlichkeit der Urheberin hervorgerufen hat – einen Konflikt, wie er zunächst in der Schlußrede des Sachverständigen Dr. Nerrlich zum Ausdruck gekommen ist und dann vor allem in der Haltung der Geschwornen.«
Man weiß, daß die Geschwornen der gebotenen Bejahung der Schuldfrage die freiwillige und einstimmige Unterstützung des vom Verteidiger Dr. Knoll (Dresden) eingebrachten Begnadigungsgesuches auf der Ferse folgen ließen. Nach der Bemerkung des Vorsitzenden, ein offenes Geständnis würde die Tat in einem milderen Lichte erscheinen lassen, durften die Geschwornen mit dem Verteidiger wohl annehmen, daß Grete Beier nach ihrer wahrheitsgetreuen und vollständigen Darlegung sich auf diesen milderen Ausgang, auf die Umwandlung der Todes- in lebenslängliche Zuchthausstrafe, ein gewisses Anrecht erworben habe.
Die Geschwornen und der Verteidiger haben sich geirrt. Der König hat von seinem Begnadigungsrechte keinen Gebrauch gemacht.
Wie in allen schrecklichen Situationen während der letzten anderthalb Jahre ihres unseligen Daseins hat Grete Beier auch in den schrecklichsten Augenblicken des Abschlusses ihre Ruhe, ihre Festigkeit, ihre Schlichtheit – man verzeihe den Ausdruck! – ihren Anstand bewahrt. Mit der kühlen Selbstverständlichkeit, die sie bei der Ausübung ihrer Taten bewiesen, hat sie auch die Sühne hingenommen. Ohne Wanken und Schwanken hat sie das Schafott bestiegen, ohne Zittern und Zagen sich ans Brett schnallen lassen.
»Sie war mutig entschlossen, ihre Schuld mit dem Tode zu sühnen,« erklärt ihr Rechtsbeistand, Herr Dr. Knoll, Dresden. »Ihr Gottvertrauen und ihr Vertrauen auf Vergebung und ein Wiedersehen mit ihrem Vater war unerschütterlich. Daher auch ihre Ruhe bei ihrem letzten schweren Gange.« In voller Übereinstimmung damit bezeichnet der Seelsorger, der sie auf diesem letzten Gange begleitete, ihre Ruhe »nicht etwa als stumpf, eisern, sondern wie gefestigt, fast freudig.« Das Kreuzeswort des Erlösers: »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« war das letzte Wort ihres Lebens. Dann senkte sich das Fallbeil.
Zweihundert Zuschauern ist der Anblick dieses grausigen Schauspiels, das weniger geeignet erscheint, Abscheu gegen das Verbrechen als gegen die Strafe zu erwecken, mit hoher behördlicher Genehmigung gegönnt worden.
Vornehmlich in Sachsen, insbesondere in Brand, Freiberg und Chemnitz, wo Grete Beier viel Bekannte zählte, aber auch weit über den Schauplatz ihrer Handlungen hinaus hat sich die öffentliche Meinung darüber erregt, daß Grete Beier nicht begnadigt worden ist. Es ist oft gestattet, mit einer gewissen Geringschätzigkeit von einer »sogenannten öffentlichen Meinung« zu sprechen, die in vielen Fällen gewiß nicht mehr wert ist, als der von Faust verspottete »Geist der Zeiten«. In diesem Falle aber liegt die Sache doch anders. Hier handelt es sich nicht um den Versuch, für die Ansicht eines einzelnen eine ungebührliche Bedeutung zu beanspruchen und diesen unberechtigten Anspruch darauf zu begründen, daß man in wohlfeiler Verallgemeinerung die individuelle Ansicht zu einer öffentlichen Meinung heraufpufft. In diesem Falle hat eine Gesamtheit ehrenhafter, angesehener und vertrauenswerter Männer, die in der Tat als berufene und befugte Vertreter der öffentlichen Meinung anzusehen sind, in einstimmigem Beschluß sich gedrungen gefühlt, an den Landesherrn mit der ehrerbietigen Bitte heranzutreten, von der Verurteilten die Strafe des Todes abzuwenden und Gnade für Recht ergehen zu lassen.
In einem Lande, in dem das Todesurteil noch gesetzlich vollstreckt wird, mag freilich das starre Wort des Dichters:
»Wenn Gnade Mörder schont, verübt sie Mord«
auch seine Anhänger finden; mag es Diener des Gesetzes geben, die dazu raten, wenn menschliche Regungen das Urteil zu beeinflussen drohen, der Justiz die Binde nur noch fester um die Augen zu legen und die Urheberin eines todeswürdigen Verbrechens ohne Gnade und Erbarmen dem Scharfrichter zu überliefern.
Gleichwohl ist es nicht zu verwundern, wenn sich auch für diese Verbrecherin, die ihre Untaten mit fast beispielloser Kaltblütigkeit und einer raffinierten Berechnung ohnegleichen begangen, die alles gestanden und während die Hammerschläge zur Aufrichtung des Blutgerüstes in die Zellen dröhnten, noch erklärt hat, daß sie lügen würde, wenn sie sage, daß sie die Mordtat bereue – wenn sich trotz allem auch für Grete Beier die weicheren Gefühle eines unbezähmbaren Mitleids regen Über ihre Stimmung während und nach der Ermordung ihres Bräutigams hat Grete sich zweimal in sehr merkwürdiger Weise geäußert: In der Nachmittagssitzung vom 30. Juni 1908 richtete der Vorsitzende die Frage an sie, ob bei ihr während all der Vorgänge das Gewissen niemals lebendig geworden sei? Grete Beier antwortete: »Nein! Es war mir so, als ob Preßler wirklich Selbstmord begangen hätte.« Und drei Wochen später, am 22. Juli, am Vorabend ihrer Hinrichtung erklärte sie dem Geistlichen, Herrn Prediger Schmidt, der ihr den letzten Trost spendete, ihre Reuelosigkeit mit den Worten: »Ich hatte immer das Gefühl, als ob ich das hätte tun müssen.« Vor dem letzten Abendmahl, das sie gemeinsam mit ihrer Mutter genommen, hat sie allerdings gesagt, daß sie nun auch diese Tat bereue..
Man denkt an ihr Geschlecht. Das Privileg der Schwachheit wird ihr freilich nicht zugebilligt werden; denn Grete Beier ist eine Starke, ungewöhnlich Starke. Aber sie ist ein Weib. Und die Todesstrafe, an einem Weibe vollstreckt, wirkt in ihrem Schrecken mit verstärkter Brutalität. Seit einem halben Jahrhundert ist denn auch in Sachsen keine weibliche Verbrecherin hingerichtet worden.
Und ihre Jugend! Zweiundzwanzig Jahre alt! Du lieber Gott, in voller Lebensfrische getötet … von Rechts wegen!
Sogar ihre Untaten … ihre verbrecherischen Handlungen, so ruchlos sie auch sind, werden wenigstens nicht durch den Schmutz des gemeinen Eigennutzes besudelt; und schließlich ist's doch die Liebe, »der mächtigste Hebel im irdischen Getriebe« – die ihr Handeln bestimmt. Nicht die reine und reinigende Liebe – die sinnliche, sinnverwirrende Liebe, die in hungrigem Ungestüm alle Schranken niederreißt und, um sich zu sättigen, wie das Raubtier sich auf seine Beute stürzt, würgt und zerfleischt – »die Geißel der Welt«, wie sie Musset nennt:
Amour, fléau du monde, exécrable folie,
Toi qu'un lien si frêle à la volupté lie,
Quand par tant d'autres noeuds tu tiens à la douleur …
Für die Befriedigung ihrer Sinnlichkeit, die sie an ihren Geliebten fesselte, und die Beschwichtigung der Angst, daß der Mitwisser ihre bösen Streiche an die große Glocke schlage und sie ins Verderben bringe, hat sie zahlen müssen. Und sie hat einen hohen Preis bezahlt – mehr als sie besaß, mehr als sie auf ehrliche Weise erwerben konnte. Nur für ihn hat sie das Geld zusammenscharren wollen. Für ihn ist sie die Fälscherin, die Diebin, die Raubmörderin geworden.
Daß sie es aber werden konnte, sie, das Mädchen aus guter Familie, klug, gebildet, von mannigfacher Begabung? Man denkt an die Juvenalsche Sentenz: » Nemo repente fuit turpissimus«; man denkt auch an die Worte der Iphigenie:
»… Es erzeugt nicht gleich
Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer;
Erst eine Reihe Böser oder Guter
Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude
Der Welt hervor …«
Man stellt einem solchen »Ungeheuer« gegenüber in der Tat unwillkürlich zunächst die Frage der erblichen Belastung. Sie soll, wenn auch von Gretens Eltern nicht viel Rühmliches zu berichten ist, im vorliegenden Falle nach sachverständigem Votum als strafmildernd nicht in Betracht kommen.
Aber wenn nicht erbliche Belastung – die nichtige Erziehung, der gänzliche Mangel an jedweder Hemmung häßlicher und unsittlicher Triebe, das lieblose Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, die frostige Ungemeinschaft im Elternhause – diese traurige Kinderstube hat den Wildling nicht weniger geschädigt, als das Laster der Vorfahren den unglücklichen Erben.
Man mag auch an krankhafte Eitelkeit, an Großmannssucht, an grandioses Komödiantentum als Triebfeder ihrer Handlungen denken. Professor Forel erblickt in der Tat in Grete Beier ein »sexuell-sensationsbedürftiges Wesen«. Es liegt ja nahe, auch bei ihr wie bei so vielen »interessanten Verbrechern« eine solche Sensationslust vorauszusetzen. Indessen ihr Verhalten während der Untersuchungshaft, vor Gericht während des Verhörs und bei der Verkündigung des Urteils, nach der Verurteilung in der Zelle, bis zur Hinrichtung unterstützt diese vorgefaßte Meinung in keiner Weise. Diskreter – sit venia verbo – hat sich ein Delinquent wohl selten benommen. Auch hier versagt also die schematische Einordnung in ein bestimmtes Fach der psychiatrischen Rubrizierung. Man rückt dem Verständnis des rätselhaften Wesens erst näher, wenn man neben den offenbaren Hauptagentien ihrer Handlungen – Sinnlichkeit und Angst – immer den ganzen Komplex der Verhältnisse, in denen sie sich entwickelt und ihre Lebensführung sich mißgestaltet hat, im Auge behält.
Ohne Halt und Stütze, ohne Zucht und Zügel, ohne sorgende Zärtlichkeit und Strenge wächst sie auf, in voller Ungebundenheit, in einer Umgebung, über die sie an Intelligenz und Energie turmhoch aufragt. Sie macht, was sie will. Unter dem Dache des Elternhauses läßt sie dem Liebsten den Riegel zu ihrem Stübchen offen, bleibt auch nachts über aus dem Hause und mietet wie die erste beste Prostituierte ein Absteigequartier bei einer Kupplerin. Für alles, was sie irgend unternehmen mag, findet sie gefügige Werkzeuge.
Und zu ihrem größten Unglück mußte nun diese Grete Beier, die nie in erzieherischem Zaum gehalten war, an einen Menschen geraten wie diesen Hans Merker! An einen verschuldeten, leichtsinnigen, gewissenlosen Burschen von vierundzwanzig Jahren, der sie völlig in seine Gewalt bekam, von dem sie nie ein gutes, ernstes, wohl nie ein verständiges Wort gehört hat. Der sah sich wegen seiner Streiche schon auf der Anklagebank, auf die er ja auch später sich setzen mußte; der hatte ein starkes Interesse daran, Greten in ihrem gewissenlosen Leichtsinn zu begünstigen, denn ihr Leichtsinn wurde für ihn gewinnbringend und gestattete ihm, einstweilen wenigstens die Gefahr der Einsperrung abzuwenden und flott drauflos zu leben Nachweislich hat Grete Beier für Merker in den zwei Jahren ihrer Bekanntschaft vom 5. Februar 1905 bis zum 2. Mai 1907 an größeren Summen herbeigeschafft: 1200 Mark durch ihren Vater, 600 Mark durch die Kunze, 4300 Mark durch den Krönerschen Diebstahl – also 6100 Mark – mithin eine Summe, die das fünfjährige Einkommen dieses geringen Handlungsgehilfen mit seinen 1200 Mark Salär übersteigt. Von kleineren Beträgen, die insgesamt gewiß auch ein hübsches Sümmchen ergeben, gar nicht zu reden..
Merker brauchte beständig Geld, und wenn sie nicht genug schaffte, peitschte er sie durch beängstigende Drohungen zu immer neuen Streichen auf. Er selbst hielt sich als ein vorsichtiger Mann abseits. An den Gefahren des Unternehmens beteiligte er sich nicht. Das mochte sie mit sich abmachen. Wie sie es anfing, das Geld herbeizuschaffen, kümmerte ihn wenig. Er war nicht neugierig. Er brauchte ja nicht zu wissen, und wollte auch nicht wissen, aus welcher Quelle es ihm zufloß. Er fragte nicht: woher? Er fragte nur: wieviel? nahm's und verjubelte es.
Nicht alles! Wenn er Ende Mai 1910 wieder in Freiheit gesetzt wird, wird er fürs erste keine Not zu leiden haben. Dafür hat seine Grete, die seine Angeberei aufs Schafott gebracht hat, doch noch gesorgt.
Und ihm selbst haben wir diese beruhigende Mitteilung zu verdanken. Als ihn Dr. Knoll (Dresden), Gretens Verteidiger, mit der unbequemen Frage stellte, was er mit dem Gelde von Greten angefangen habe, antwortete er unter seinem Eide als Zeuge: »Sie denken, ich habe es mit Weibern verjubelt? Das ist nicht richtig. Ich habe es so angelegt, daß es mir später vielleicht noch einmal von Nutzen sein kann.«
Lucri Bonus est odor ex re qualibet.
Wenn Grete auch schon früher ein unerlaubtes Liebesverhältnis angeknüpft hatte, das gewiß nicht beschönigt werden soll – zur Verbrecherin ist sie erst durch ihre Beziehungen zu Merker geworden. Ein junges Mädchen, das Kind strafbar schwacher Eltern, unverantwortlich unerzogen, ungehindert in ihrem Schalten und Walten, unterstützt von alten Kupplerinnen, durch ihre sinnliche Leidenschaft auf abschüssigen Weg gedrängt, auf dem es für sie keine Umkehr mehr gibt, auf dem sie vielmehr durch die Angst vor dem geliebten Peiniger immer weiter getrieben wird, bis in den tiefsten Abgrund – so erscheint uns Grete Beier. Es kann nicht befremden, daß die Geschwornen mit diesem unseligen Geschöpfe trotz aller Schlechtigkeiten, die Grete begangen, im Hinblick auf ihre Jugend, ihr Geschlecht, ihre Verwahrlosung, die Uneigennützigkeit ihrer Verbrechen, die Ehrlichkeit ihrer Geständnisse, die Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit ihres Auftretens – es kann nicht befremden, daß die Volksrichter mit der Unmenschlichen ein menschliches Rühren fühlen konnten.
Aber – der Gerechtigkeit ist freier Lauf gelassen.
Vor ihrem letzten Gange hat Grete mit ihrer Mutter, die in verzweifelter Reue der Mitschuld sich zeihen mußte, sich noch ausgesöhnt. Der Leichenwagen, der den Sarg von der Richtstätte zum Bahnhof überführte, war mit Blumen geschmückt.