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Das Drama von Allenstein

Mai 1908

 

» Nulla fere causa est, in qua
non femina litem
Moverit …
«

»Keinen Handel fast gibt's, wo ein
Weib nicht wäre des Streites
Stifterin.«

Juvenal, Sat. IV. 224

 

Die Morgenblätter hatten die Nachricht vom Selbstmord des Hauptmanns Hugo v. Goeben gebracht. Am Abend war ich zu einer kleinen Gesellschaft geladen. Es war von nichts anderm die Rede als vom erschütternden Ausgange der Allensteiner Tragödie, die in ihrer grausigen Trias: Wahnsinn, Mord und Selbstmord stofflich an die schlimmste Hintertreppenliteratur gemahnt. Als ein Zufall dürfte es wohl kaum zu bezeichnen sein, daß mehrere von uns den unglücklichen Helden dieses Trauerspiels im Leben schon begegnet waren: denn der ernste und straffe Generalstäbler von Goeben und die pikante, temperamentvolle Frau Toni v. Schönebeck waren in der Berliner Gesellschaft bekannte Persönlichkeiten.

Ein Zufall aber war es, daß sich in unserer kleinen Gesellschaft ein intimer Freund Goebens befand, der seit Jahren unausgesetzt in vertrautestem Verkehr mit dem Dahingeschiedenen gestanden hatte, und daß zwei andere Gelegenheit gehabt hatten, Frau v. Schönebeck näher kennen zu lernen: eine kluge und wohlwollende Dame – eine hervorragende Künstlerin und Trägerin eines berühmten Namens von bestem Klange – die vor längerer Zeit in einem Schweningerschen Sanatorium mit der kindlich mädchenhaften jungen Frau zusammengetroffen war, und ein lebensfreudiger Herr, der einige Jahre später, während eines ihrer Auffrischungsausflüge, die sie von Zeit zu Zeit von Allenstein nach Berlin zu unternehmen liebte, mehrere vergnügte Abende mit der großstadtfrohen Dame aus der langweiligen Provinz verbracht hatte. Ein Vierter endlich hatte einige Zeit mit dem damaligen Rittmeister v. Schönebeck in derselben Eskadron der Dragoner in der kleinen schlesischen Garnison Bernstadt gestanden. Er war, ohne mit seinem Kameraden gerade intim befreundet gewesen zu sein, ihm doch nahe genug getreten, um über ihn manches Persönliche, das jetzt Interesse erregte, berichten zu können. Gewissen, in die Öffentlichkeit gedrungenen Mitteilungen, die für das erste Opfer des Allensteiner Dramas auch im Charakter und Verhalten des Unglücklichen eine Erklärung des Mordes und damit eine Art von Entschuldigung der Urheber zu finden suchten, trat er mit vollster Wärme und Entschiedenheit entgegen und schilderte seinen Kameraden als einen ungemein sympathischen, jovialen, ehrenhaften Mann, als tüchtigen Soldaten, der sich der allgemeinen Beliebtheit und Achtung erfreute.

Die Künstlerin, die Freundin der Frau, bemerkte dagegen, sie habe von dem, was sie früher über den Gemahl der Frau v. Schönebeck gehört habe, sich eigentlich eine andere Meinung gebildet; sie habe glauben müssen, daß der Major zu wenig getan habe, um die blutjunge Frau an sich zu fesseln, und daß er vom Vorwurfe, sie vernachlässigt und ihr zu viel Freiheiten gegönnt zu haben, doch wohl nicht ganz freizusprechen sei. Da wurde sein früherer Regimentskamerad ganz wild und ging leidenschaftlich für ihn ins Zeug. Er zitierte das Shakespearesche Wort:

Rach' und Wollust
Sind tauber als der Ottern Ohr dem Rufe
Wahrhaften Urteils.

Und er eiferte mit wahrer Erbitterung wider den unseligen Hang, für jeden Verbrecher mildernde Umstände aus dem Versuch zu gewinnen, daß man das unglückselige Opfer in einem gewissen Grade als Mitschuldigen hinstelle. Geradezu entrüstet habe es ihn, daß man Schönebeck beschuldigt habe, die Extravaganzen seiner kranken Frau durch schweigsame Duldsamkeit begünstigt zu haben. In diesem Falle wäre Scheinblindheit doch ein schimpflicher Vorwurf, der indessen nur aus Unkenntnis oder Leichtsinn gegen einen Mann wie Schönebeck erhoben werden könne; blind sei nur das Vertrauen zu seiner zweifellos krankhaften Frau gewesen, deren Krankheit der urgesunde, einfache Mann leider nicht erkannt habe. Von einem tief beklagenswerten Verhängnis dürfe man sprechen, nicht aber von ehrenrührigem Unterlassen und Handeln …

Die vier Einzelerzählungen mit ihren Kontroversen bildeten eine Gesamtheit, die, wenn auch ungegliedert und lückenhaft, doch synthetisch den Fernerstehenden ein sonderlich anschauliches Bild der erschütternden Vorgänge darboten – der Tragödie, die jetzt unser aller vollste Teilnahme in Anspruch nahm. Manches, was nach den der Allgemeinheit zugänglich gemachten Angaben unverständlich und dunkel hatte bleiben müssen, hellte sich nun vor unseren Blicken zu klarer Faßlichkeit auf.

Vor allem waren es die Mitteilungen des blonden Hauptmanns über seinen verstorbenen Freund, welche die unbegreiflichen Geschehnisse unserm Verständnis näher rückten und das, was man die »Beichte« Goebens genannt hat: den Bericht des angesehenen Münchener Psychiaters Freiherrn v. Schrenck-Notzing über seine Beobachtungen des Unglücklichen unmittelbar vor der blutigen Tat, nach manchen Richtungen hin ergänzten.

Als unser Wirt in unser aller Namen dem Hauptmann für seine interessanten Erzählungen dankte und mit Recht anerkennend hervorhob, wie es seiner Darstellungskunst gelungen sei, viele der verschlungenen Fäden zu entwirren, Loses aneinanderzuknüpfen, Unwesentliches auszuscheiden, Wesentliches deutlich erkennen zu lassen und bedeutsame innere Zusammenhänge aufzuweisen, lehnte der Hauptmann das ihm gespendete Lob sehr entschieden ab. Was er hier vorgebracht habe, sei doch nur ein ungefüger Versuch, der Wahrheit näher zu kommen. Die volle Wahrheit aber mit ihrer überzeugenden Kraft hätte nur ein Mensch offenbaren können – Goeben selbst. Und es sei sehr zu beklagen, daß dieser tüchtige, gewissenhafte, ehrliche Mensch es nicht vermocht habe, das, was in ihm vorgegangen war, mit der ihm eigenen ehernen Wahrheitstreue aufzuzeichnen. Um so bedauerlicher, als Goeben mit ernster Selbsterkenntnis eine bemerkenswerte schriftstellerische Gabe verband, die Außen- und Innenwelt scharf beobachtete und, wie aus seinen Briefen und Berichten hervorgeht, schmucklos mit eindringlicher Wirkung zu schildern verstand. Eine solche Aufzeichnung wäre ein document humain von unschätzbarem Werte geworden, das Epos eines menschlichen Verhängnisses, wie es ergreifender, erschütternder kaum gedacht werden kann. Aber dazu habe Goeben wohl kaum noch den Willen und gewiß auch nicht mehr die Kraft besessen. Und so werde denn das Rätsel dieses Mordes für die Allgemeinheit wohl auf immer ungelöst bleiben.

Ich hatte mich an der Unterhaltung bisher nur als Zuhörer beteiligt. Nach meiner Auffassung unterschätzte der Hauptmann die aufklärende Wirkung seiner Mitteilungen erheblich; und ich gestattete mir einzuwerfen, daß, wenn die Öffentlichkeit auch nur dasjenige erführe, was hier während der letzten Stunden in unserm kleinen Kreise zur Sprache gekommen war, die Psychologie der Allensteiner Tragödie doch viel begreiflicher erscheinen, Recht und Unrecht zu viel gründlicherer Würdigung gelangen würden, als es bis jetzt der Fall war. Ich verstieg mich sogar zu der Behauptung: Wenn die Gespräche des heutigen Abends zufällig stenographisch aufgenommen wären, würde ein einigermaßen geübter Schriftsteller, der nicht einmal bedeutend zu sein brauchte, wohl befähigt sein, auf Grund einer solchen stenographischen Unterlage eine durchaus glaubliche, wahrscheinliche und im wesentlichen sogar zutreffend echte Schilderung des bisher wenig oder gar nicht Gekannten herzustellen – ein Elaborat, das, wenn es auch vom Ideal eines » document humain«, wie es eben nur Goeben hätte schreiben können, weit entfernt wäre, doch wohl mehr denn als eine müßige Phantasterei, daß es sogar als ein verdienstliches Bemühen gelten dürfte, insofern es eben manches Unverständliche verständlich machen würde und schon das rechte Verstehen, nach dem schönen, Frau v. Staël zugeschriebenen Worte, den Richter nachsichtig stimmt.

Mehr noch als die Zustimmung, die meine Ausführungen bei den anderen Gästen fanden, reizte mich der Widerspruch des kopfschüttelnden Hauptmanns, selbst den Versuch zu wagen, die Eindrücke, die ich von dem Gehörten empfangen hatte, zu freier Wiedergabe zu gestalten; die Erzählungen des Hauptmanns mit denen der Bekannten des Schönebeckschen Ehepaares zusammenzufügen und durch verbindende Übergänge aneinanderzuschließen, tatsächliche Lücken durch erfundene Zwischenglieder auszufüllen und dergestalt – in der Ichform, als ob Goeben selbst zu seinem Freunde spräche – eine Darstellung zu geben, die ich nach bestem Vermögen der Wirklichkeit nahe zu bringen mich bemühen würde.

Das habe ich versucht. Und hier ist der Versuch, der sich nicht etwa als dokumentarischer Beitrag zur Geschichte des Allensteiner Dramas aufspielen will, sondern nur in leicht zugänglicher Form die Vorgänge und Persönlichkeiten in dem Lichte zeigen soll, in dem sie dem aufmerksamen Zuhörer von Freundesworten erschienen sind.

*

I
Unglückliche Liebe

Arresthaus Allenstein am Schalttag 1908

Seit langen bösen Tagen, die mich furchtbar erregt haben, ist allmählich wieder Ruhe über mich gekommen – Ruhe, Sammlung und Klarheit. Ich glaube, daß ich Festigkeit genug besitze, dir alles zu sagen, was ich für die Wahrheit halte.

Da ich vor dem Abschluß stehe, wird mein Geständnis so vollständig sein, wie es zu machen mir irgend möglich ist. Mitbeteiligte will ich schonen – während ich diesen Satz schreibe, beschleicht mich indessen schon der Zweifel, ob dieser Versuch mir gelingen kann; mich selbst zu schonen, werde ich nicht einmal den Versuch machen.

Du hast mich in glücklichen Zeiten gekannt, als ich wirklich unbefangen war. Und auch später noch, als ich unbefangen schien. Es wird dir nicht leicht werden, mir auf dem Wege zu folgen, den ich dich führen will. Ich weiß ja selbst nicht einmal, ob ich mich zurechtfinde und dir den Weg überhaupt weisen kann. Schwerlich wirst du in dem traurigen Manne, der dir sein Herz öffnet und dich in sein Innerstes blicken läßt, den harmlosen Kameraden wiedererkennen, mit dem du so angenehme und nützliche, anregende und erfrischende Stunden verbracht hast.

Ich habe echtes Soldatenblut in den Adern. Von früh auf hat es mich zum Soldaten gedrängt. An einen andern Lebensberuf habe ich nie denken können, tatsächlich wohl auch nie gedacht. Alles andere im Leben habe ich dem Soldatischen untergeordnet. Vergnügen fand ich nur an Dingen, die mit dem Soldatenstande irgendwelchen Zusammenhang hatten. Wissenschaftliches Interesse hatte ich nur an Fragen von militärischem Inhalt. Zu jeder Art von Sport fühlte ich mich hingezogen. Ich war ein recht guter Schütze, ein gewandter Fechter und Turner. Geistig trainierte ich mich bewußt und unbewußt auf stramme Disziplin, auf unbedingten Respekt vor meinen Vorgesetzten, auf Ruhe und Bestimmtheit im Erteilen von Befehlen an Untergebene.

Wenn ich auch nicht gerade wie ein Trappist gelebt habe, so ergab sich doch aus den Lebensgewohnheiten, die ich schon als junger Offizier zu den meinigen gemacht hatte, daß in meinem Dasein für das Weib nur geringer Raum geblieben war. Ich war zwar kein Philister, kein Kopfhänger und Kostverächter, aber auch nichts weniger als ein Weiberjäger. Ich war ganz gut zu verwenden als Gelegenheitskurmacher ohne besondere seelische Beteiligung, als kommandierter Tänzer für Mauerblümchen. Zum Sonderling fühlte ich mich ganz und gar nicht veranlagt. Hätte ich mir auch nur die leiseste krankhafte Neigung zum Misogyn verspürt, so würde ich sie mit voller Energie bekämpft haben. Aber davon war, wie gesagt, gar keine Rede. Ich hatte eben andere Dinge im Kopfe als zeitraubende Liebeleien.

Das redete ich mir wenigstens lange Zeit ein. Und es regte sich in mir eine Art von geringschätziger Überlegenheit meinen fideleren Kameraden gegenüber, die jeder Schürze nachliefen.

Aber dieser Zustand war nicht von Dauer. Ich fühlte mich dazu gedrängt, ernsthaft mit mir ins Gericht zu gehen und mich zu fragen, ob ich in Wahrheit noch zu einer solchen Überhebung berechtigt sei, und ob nicht etwa uneingestandenes Pharisäertum mein Urteil trübe. Denn das Zeugnis darf ich mir ohne Ruhmredigkeit ausstellen, daß ich mich nie leichtsinnig mit mir selbst abgefunden und mich immer redlich bemüht habe, meine Gesinnungen und Handlungen in ihrer Wahrheit zu erkennen und Häßliches nicht vor mir selbst zu beschönigen. Die Worte des Polonius an seinen scheidenden Sohn:

Dies über alles: Sei dir selber treu!
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen;

– dies einfache Wort hat schon, als ich es als Heranwachsender Jüngling zum erstenmal vernahm, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht und ist die Richtschnur für mein Leben geworden.

So mußte ich mir denn nun gestehen, daß ich mich in der Beurteilung meiner Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, wenn auch zunächst noch unbewußt, des Selbstbetruges schuldig gemacht hatte. Ich durfte mir nicht mehr verheimlichen, daß meine Sinne von den Reizen der Weiblichkeit genau so stark erregt wurden, wie die meiner jugendlichen Kameraden, auf die ich mit spöttischem Lächeln hinabgeblickt hatte.

Ein Zufall, eine launische Konstellation war daran schuld, daß diese Erkenntnis lange hatte auf sich warten lassen. Die ersten Weiber, zu denen ich als junger Dachs in gelegentliche Beziehungen trat, gehörten zu denen, auf deren Eroberung sich ein leidlich vernünftiger Mensch nicht viel einbilden darf. Bei meinem festen Entschlusse, nichts vor dir zu verheimlichen, will ich dir indessen nicht verschweigen, daß ich mich auch in dieser Gesellschaft oft recht gut amüsiert habe. Für die eine oder andere hatte ich sogar, wie man zu sagen pflegt, »etwas übrig«. Aber es war doch nie etwas anderes als ein Zeitvertreib oberflächlichster Art, wie ich ihn bei gutem Anlaß ganz gern mitnahm, den ich aber, wenn sich kein Anlaß dazu bot, kaum vermißte. Und schließlich war es doch immer eine ziemlich nüchterne Geschichte, mit der ich das Wort »leidenschaftliche Erregung« kaum, das Wort »Liebe« aber unter gar keinen Umständen in Verbindung bringen möchte.

Wenn die ruhig überlegende Vernunft – » la sévère raison«, wie es im französischen Liede heißt – auch für den knappen Zeitraum eines ausgelassenen Abends beiseite treten und die Hände in den Schoß legen konnte, so war sie doch am andern Morgen immer wieder zur Stelle und meldete sich manchmal recht ungehalten mit Vorwürfen über den unsinnigen Zeitverbrauch und der beständigen Mahnung: daß Jugendeseleien von kurzer Dauer sein müssen, um sich nicht zu unliebenswürdigem Leichtsinn und uninteressanter Bummelei zu verhärten. Ich fühlte dann auch das Bedürfnis, für die verlorenen Stunden mit verdoppeltem Ernst und Fleiß zu zahlen.

So war eine verhältnismäßig ziemlich lange Zeit vergangen. Ich war eigentlich mit mir und meinem Wandel ganz zufrieden. Ich hatte es nicht nötig, mit philisterhafter Scheu beständig auf meiner Hut zu sein. Wenn ich gelegentlich auch einmal über die Stränge schlug, so wußte ich doch, daß ich die Direktion über mich behalten hatte und mich ohne Sträuben selbst wieder einschirren konnte.

*

Da ereignete sich etwas für mich Bedeutsames. Ich möchte es eine erste ernste Verwarnung vom Schicksal nennen.

Mittlerweile war ich in die Jahre vorgerückt, in denen man nach unseren heutigen Anschauungen und bei der Frühreife unseres Geschlechtes das Recht nahezu verwirkt hat, sich der schönen Zeit der jungen Liebe von Herzen zu erfreuen. Daß meine bisherigen Liebeständeleien mein Inneres nicht bewegt hatten, sollte ich erst jetzt fühlen, als ich zum erstenmal mit einem weiblichen Wesen zusammentraf, dem ich nicht die Schande antun will, es mit den Damen meiner früheren Bekanntschaft in einem Atem zu nennen.

Eine bildschöne, kluge, gebildete, edle Frau, für die ich sogleich eine tiefe, verehrungsvolle Zuneigung empfand, trat mir entgegen. Als ich ihr beim Abschiede nach unserm ersten Zusammentreffen die Hand küßte, war ich schon sterblich in sie verliebt.

Eine ganz wunderbare Wandlung vollzog sich in mir. Jäh und unaufhaltsam. Mir war, als hätte ich meinem ganzen bisherigen Dasein den Kehraus gemacht, den Inhalt meines Lebens ausgeschüttet. Was mich bisher gefreut und angezogen hatte, wurde mir gleichgültig, wenn nicht geradezu widerwärtig. Die Arbeit, die meine ernsteste, ja eigentlich meine einzige Leidenschaft gewesen war, widerstand mir. Ich war zerfahren und zerstreut, wenn ich an meinem Schreibtische saß und auf die halb beschriebenen Blätter vor mir blickte. Alle meine Gedanken flatterten dem einen Ziele zu, von dem ich ganz genau wußte, daß ich es nie würde erreichen können; und hätte ich glauben dürfen, daß es für mich erreichbar wäre, so würde es mir eine bittere Enttäuschung bereitet und mich noch elender gemacht haben. Aber ich wußte, daß ich Unmögliches begehrte.

Begehrte? Ich kann nicht einmal sagen, daß sich wirklich das Begehren des Besitzes in mir regte. Auch im ungehinderten Fluge meiner Gedanken in der Einsamkeit wagte ich mich nicht in ihre Nähe. Respektvolle Scheu hielt mich vom Gegenstande meiner unbeholfenen Anbetung in gemessener Entfernung zurück. Ich fühlte sehr wohl, daß sie mir vom Herzen gütig gesinnt war, und daß nicht demütigendes Mitleid ihre Wohlgesinnung für mich bestimmte. Aber ich fühlte auch, daß zwischen uns unüberwindliche Schranken aufgerichtet waren, daß ich dieser jungen, liebenden Frau und Mutter nie etwas anderes sein und werden konnte als ein guter Freund – wie Ritter Toggenburg! Das aber war für mich gleichbedeutend mit seelischem Leid auf Lebenszeit.

Und wie Toggenburg raffte ich alles, was ich an Energie noch in mir besaß, zu dem Entschlusse zusammen, mich von der Umgebung, in der ich ihr begegnen mußte, gewaltsam loszureißen. Jede Lösung erschien mir besser als dies langsame Verkommen, zu dem das Andauern der unerträglichen Situation mich unnachsichtig verurteilen mußte.

Ob ich unter völlig veränderten Lebensbedingungen Vergessen finden würde? Versucht mußte es werden. Gelang es nicht – das völlige Verderben erschreckte mich minder als dies unausbleibliche seelische Verblöden – ein Zustand, für den ich keinen passenderen Ausdruck finde als eine Art von Gehirnerweichung des Herzens.

Das, was ich bisher als eine unverdiente Härte des Schicksals oft bitter und schmerzlich empfunden hatte: meine Halbinvalidität, die mir das Fortkommen in meinem soldatischen Berufe erschwerte, erschien mir nun auf einmal in ganz anderem Lichte: als eine wohltätige Schickung des Himmels, als eine mögliche Rettung.

Wegen eines schlecht verheilten Gelenkübels, das ich mir im Dienste zugezogen, hatte ich die Marine verlassen müssen und war zur Feldartillerie übergetreten. Ich galt als brauchbarer Offizier und erfreute mich der besonderen Gunst meiner Vorgesetzten, die mich für militärwissenschaftlich veranlagt hielten und Gutes von mir erwarteten. Mein Abschiedsgesuch rief daher unter meinen Kameraden Erstaunen und wirkliches Bedauern hervor. Man wollte die von mir angeführten Motive meiner körperlichen Unzulänglichkeit nicht recht gelten lassen. Man eröffnete mir sogar die Aussicht, daß ich in Zukunft vorwiegend für Generalstabsarbeiten in Anspruch genommen werden würde, für die meine körperliche Beschaffenheit natürlich vollauf genügte. Ich besaß ja in der Tat bemerkenswerte Körperkräfte, hatte andauernd körperliche Übungen vorgenommen und mir als Linkhändiger eine Gewandtheit angeeignet, welche die ausreichende Gebrauchsfähigkeit meiner Rechten nicht mehr vermissen ließ. Ich bestand aber auf meinem Abschiede, für den ich das wahre Motiv nicht angeben konnte, und ließ die verwunderte Kritik meines schwer begreiflichen Eigensinns stillschweigend über mich ergehen.

Mein Vorsatz war, zunächst möglichst unauffällig aus dem Kreise meiner Kameraden zu verschwinden und mich in eine Tätigkeit zu stürzen, die mich körperlich und geistig möglichst anstrengte. Dazu fand ich sogleich eine günstige Gelegenheit.

*

In Südafrika war der Boerskrieg entbrannt. Ich ging zu den Boers. Der Auffassung, die damals allgemein verbreitet war, habe ich nicht entgegentreten wollen und nichts dagegen gehabt, daß man mich für einen abenteuernden Haudegen hielt, für einen Soldaten vom alten Schlage des Wachtmeisters Paul Werner in »Minna von Barnhelm«, dem die Freude des Drauflosschlagens als Höchstes des Soldaten gilt, und der mit Wonne für jeden beliebigen persischen Prinzen Heraklius in den trefflichen Krieg zieht. Ich widersprach nicht, so wenig diese Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Damals wenigstens. Daß später das »rauhe Kriegshandwerk«, wie man zu sagen pflegt, einen tiefen und, wie ich beinahe glauben möchte, sogar veredelnden Einfluß auf mich geübt hat, muß ich gestehen.

Durch meine Beteiligung an den Boerskämpfen erhielt mein Dasein jedenfalls eine viel stärkere Bewegung, gestaltete es sich viel abwechslungsreicher und interessanter als es den meisten meiner gleichaltrigen Kameraden, auch wenn sie im gewöhnlichen Garnisonsdienste in vollem Erkennen ihrer Aufgabe ihre Pflicht bis aufs äußerste taten, beschieden war.

Nachdem ich mich nun aus der ruhigen und normalen Entwicklung des Offiziers, wie sie in langjährigen und gesicherten Friedenszeiten sich vollzieht, herausgerissen und das Waffenhandwerk in blutigem Ernste erlernt hatte, fühlte ich, daß ich doch ein anderer Kerl geworden war, als ich es im Manövergelände je hätte werden können. Durch die seelischen Kämpfe von ehedem, die ich vor jedermann verborgen, und durch die körperliche Unzulänglichkeit, die es mir bis dahin allerdings erschwert hatte, unter normalen Bedingungen mit meinesgleichen in meinem Berufe Schritt zu halten, wurde mir nun die unschützbare Bevorzugung zuteil, den Krieg im Ernstfalle mitzumachen – den Krieg mit allen seinen gewaltigen Erregungen, seinen körperlichen Strapazen, mit allen Glücksgefühlen des Siegers und allem Jammer des Besiegten. Ich hatte Blut fließen sehen, auch mein eigenes, denn ich war mehrfach nicht leicht angeschossen; das Blut erschreckte mich nicht mehr.

Diese herrlichen und rauhen Erfahrungen brachten mir nun in der Tat, was zu hoffen ich kaum gewagt hatte: seelische Genesung. Ich konnte an das Vergangene denken wie an eine überwundene psychische Krankheit, wie an eine Verirrung, die abgetan war. Ich hatte mich selbst wiedergefunden, tatenfroh, als Mann. Und mit immer tieferer, ich darf wohl sagen, mit edlerer Leidenschaft erfüllte mich die Zugehörigkeit zu dem Stande, dem ich mein Leben geweiht hatte.

Ich war als ein ernsterer und, ich glaube, auch als ein tüchtigerer und besserer Mensch nach Deutschland zurückgekehrt; und ich hielt meine Zukunft für aussichtsvoll und gesichert, als mir die freudigste Genugtuung gewährt wurde, als Offizier in unsere Armee wieder eingestellt zu werden.

Das war wohl einer der frohesten Tage meines Lebens, als ich den dunklen Rock der Feldartillerie wieder anlegen durfte, mit der sicheren Anwartschaft, in Kürze zur Hochschule der militärischen Tüchtigkeit und Ehre, zum Generalstab, berufen zu werden.

Das geschah denn auch. Ich habe mein Mögliches getan, um das Vertrauen, das man in mich gesetzt hatte, zu rechtfertigen. Ich war ein fleißiger Arbeiter und meine Erfolge überstiegen meine Erwartungen. Es wurden mir Aufgaben zugewiesen, wie sie einem Offizier meines Dienstalters nur ausnahmsweise gestellt werden. Ich hatte die große Genugtuung, mir die wärmste Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erwerben. So namentlich auch als Berichterstatter über die mazedonischen Vorgänge, zu deren Beobachtung ich eigens nach Salonichi entsandt wurde.

Mein Dienst im Generalstabe füllt wohl die lichtesten und erfreulichsten Tage meines Lebens.

II
Glückliche Liebe

Im Mai 1907 wurde ich zum Hauptmann befördert und nach Allenstein versetzt. Ich war sehr glücklich. Einige Kameraden schüttelten allerdings den Kopf, als ich ihnen mit strahlendem Auge das entlegene Allenstein als meine künftige Garnison bezeichnete. Sie verstanden meinen Optimismus nicht recht und machten kein Hehl aus ihren Bedenken, daß mir das öde Nest da oben in Ostpreußen doch wohl arge Enttäuschungen bereiten würde.

Ich lächelte über die gut gemeinten Bemerkungen, die mich in keiner Weise beunruhigten. Ich fühlte mich meinen Warnern an Erfahrungen wirklich überlegen. Ohne zu murren, ohne auch nur ein stärkeres Unbehagen zu verspüren, hatte ich ja viel Schlimmeres durchgemacht. Überdies wußte ich auch, daß Allenstein für mich doch nur als der durch den Dienst gebotene Übergang in Betracht kam, und daß ich in absehbarer Zeit zum Generalstab zurückkommandiert werden würde.

Leider sollten sich jedoch die Befürchtungen meiner Kameraden in völlig unerwarteter Weise – wenn auch ganz anders, als sie selbst geglaubt hatten – in traurige Wirklichkeiten umsetzen. Nicht die Kleinlichkeit der Verhältnisse, nicht die Unergiebigkeit des engen Kreises, auf den der fremde Offizier in einer weltentlegenen Garnison angewiesen ist, nicht die lederne Einförmigkeit und Langeweile waren es, die den Aufenthalt für mich hier oben verhängnisvoll machen sollten. Es war etwas ganz anderes: ein schwerer, unendlich schwerer Rückfall in das Leiden, von dem ich in der wilden Jagd des afrikanischen Krieges und in den gesammelten Studien als Generalstäbler völlige Genesung gefunden zu haben hatte hoffen dürfen.

Und wiederum war es das Weib, das in mein Dasein gewaltsam eingriff. Diesmal aber viel furchtbarer als zuvor.

Es war eine verheerende und zerstörende Gewalt, der ich unterlag, die mich lähmte, entnervte, alle Begriffe verwirrte, hypnotisierte, die Stimme des Gewissens tyrannisch erstickte und mich zum Spielball wilder Regungen entwürdigte, die, wie mir, Gott sei's geklagt, zu spät klar werden sollte, zweifellos krankhaft waren. Es war etwas so unbegreiflich Furchtbares, daß ich es auch jetzt, da ich mich zu einer nüchternen Erwägung durchgerungen habe, zu fassen kaum imstande bin. Durch das Ungestüm der erregten Sinne wurde ich mir selbst enteignet, aus einem lebensvollem Geschöpf eine Marionette, die willenlos in der zarten Hand eines anmutig lächelnden Kindes nach deren Gefallen zappelte. Zu einem elenden Nichts war ich zusammengeschrumpft, nur noch ein somnambules Schemen, das der Willkür eines stärkeren Wesens in der Hülle dieses verführerisch schönen, kindisch frohen, lebenshungrigen Weibes blindlings gehorsamen mußte.

Der sympathische, wissenschaftlich erfahrene und menschlich einsichtige Psychiater, mit dem ich während der letzten Tage viel verkehrt habe – er hatte mich von Gerichtswegen zu beobachten, und ich hätte wohl den Versuch wagen können, ihm eine verächtliche Komödie vorzuspielen, hätte sie vielleicht sogar auch erfolgreich durchgeführt; aber alles Possenhafte, das eine Feigheit gewesen wäre, widerstrebte mir, und ich bin ihm gegenüber vollkommen aufrichtig gewesen – dieser Mann der Wissenschaft, der mir Vertrauen und Respekt einflößte, hat meinen Zustand gelegentlich als »Hörigkeit vom Weibe« bezeichnet. Wenn, wie ich glaube, der Begriff der Hörigkeit eine mildere Form der Leibeigenschaft bedeutet, so scheint mir dieser Ausdruck nicht ganz unzutreffend zu sein. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein vernunftbegabtes Wesen, wie ich es zu sein glaubte, daß ein reifer Mann mit dem Anrecht auf ein gewisses Maß von Selbstbestimmung, wie es die Jahre, gemachte Erfahrungen, erworbene Stellung dem Individuum zugestehen, zu so unbedingter seelischer Knechtschaft und Leibeigenschaft herabgemindert werden könne, wie ich sie widerspruchslos ertrug, ohne daß sich mein Gewissen dagegen auch nur aufgelehnt, ohne daß ich bei der Ausführung der mir gegebenen Befehle auch nur Unlust verspürt hätte. Ich fühlte gar nicht den lästigen Druck der schweren Ketten, die mich gefesselt hatten, und seufzte nicht unter dem mir auferlegten Joch. Ich war vielmehr wahrhaft glücklich, in einem beständigen Taumel, der von einer Aufregung um die andere genährt und dessen schmähliche Unwürdigkeit von mir nicht gespürt wurde.

Die Leidenschaft, die mich vor Jahren aus meinem Berufe herausgerissen hatte, und die ich in hartem Kampfe gegen mich bis in die Wurzeln ausgerottet zu haben wähnte – sie war, wie ich nun fühlen sollte, doch nur überschüttet gewesen. Nicht vernichtet, nur eingeschläfert war sie. Und wurde nun plötzlich mit verstärktem Ungestüm wieder aufgerüttelt. Sie war wieder wach geworden und unter ganz anderen verhängnisvolleren Bedingungen als zuvor.

Meine erste Liebe war, wie man es nennt: unglücklich gewesen; ich wußte, daß sie in diesem gewöhnlichen Sinne auch niemals glücklich werden konnte, niemals so erwidert, wie ich es ersehnte. Jetzt aber war es nicht mehr ungestilltes Verlangen meiner Sinne, das mich elend machte. Jene »unglückliche Liebe« hatte die Kraft meines Widerstandes doch nicht völlig gebrochen. Ich hatte mich ja noch immer dazu befähigt gefühlt, den Entschluß durchzuführen, dem jämmerlichen Niedergange in schmachtender Schlaffheit zu entrinnen, Vergessen zu suchen – oder Verderben, wenn es sein mußte.

Das damals Unerreichbare, nun aber war es erreicht. An die Stelle pflichttreuer Versagung von ehedem war nun völlige, sorglose, selige Gewährung gerückt – Gewährung mit hingebender Zärtlichkeit, in unerschrockener und mutiger Loslösung von allen Geboten unserer Sitte und Gesellschaft. Wir hatten uns gefunden, wir liebten uns rasend – was kümmerte uns im Egoismus unserer Glückseligkeit die Welt um uns herum?

*

Der Major? – –

Ich berühre hier einen Punkt, dessen Klarlegung mir am schwersten wird. Ich muß dem nun Folgenden eine Bemerkung voranschicken: Ich unterscheide jetzt scharf in meinen Empfindungen für den Lebenden und für den Toten. In meiner Beurteilung des Lebenden stand ich unter einem starken, ihm feindseligen Einfluß, der meine Gesinnungen und Handlungen ihm gegenüber beherrschte. Von diesem Einfluß losgelöst, habe ich mir jetzt, in meinem Alleinsein, über den Toten ein anderes, milderes, gerechteres Urteil gebildet, das mich zu spät mit Reue erfüllt und schmerzlich erschüttert. Es ist nicht etwa das schlaffe de mortuis nil nisi bene, das mich ihm gegenüber weicher stimmt und mein Handeln vor mir selbst nun noch unbegreiflicher und unverzeihlicher erscheinen läßt. Auf dem Dornenwege der Erkenntnis bin ich vielmehr nach hartem Ringen zu der ehrlichen Überzeugung gelangt, daß das Äußerste, das geschehen ist, doch nur hat geschehen können, weil ich ihm in der Beurteilung seines Charakters das bitterste Unrecht angetan habe. »Die Klage, sie wecket die Toten nicht auf,« und auch dies Geständnis erleichtert nicht die Last, die nun mein Gewissen bedrückt …

Um mich und mein Handeln dir einigermaßen erklärlich zu machen, muß ich den Major in meinem Bericht in der falschen Beleuchtung dir zeigen, in der ich ihn damals erblickte. Ich bitte dich also, betrachte das, was ich dir zu sagen habe, nicht als objektive Wahrheit. Es ist nichts anderes als der Ausdruck meines damaligen, von der Leidenschaft irregeleiteten subjektiven Empfindens. Die Wahrheit, wie sie sich mir darstellte, als jene Leidenschaft, die mich umnebelte und verwirrte, von mir gewichen war, als Kopf und Herz der ernsten Mahnung der Vernunft wieder zugänglich waren – die erkannte Wahrheit werde ich zum Schlusse mit voller Offenheit aussprechen. An gehöriger Stelle: zur Zeit, da sie mir aufdämmerte, sich immer mehr in mir aufhellte und mir schließlich zu lichter Erkenntnis ward.

Aber auch jetzt will ich keinen Versuch machen, mein Verhalten ihm gegenüber in milderem Lichte erscheinen zu lassen. Wenn ich mich ihm auch so ferne wie möglich gehalten habe, bei unseren unvermeidlichen Begegnungen habe ich mich doch mit äußerstem Widerwillen zu einer Komödie zwingen müssen, die mir furchtbar schwer geworden ist, und deren Unwürdigkeit ich wie einen Dorn im Fleische schmerzhaft empfunden habe.

Da ich aber dem elenden Spiel kein Ende machen konnte, ohne auf das zu verzichten, auf das ich nicht verzichten konnte, das allein das Leben mir lebenswert machte, suchte ich die Stimme des Gewissens gewaltsam zu ersticken und betäubte mich künstlich, um mir die Wahrheit des Verhältnisses, wie es zwischen uns bestand, so wenig wie möglich klar zu machen. Es soll nichts beschönigen, wenn ich hier der Wahrheit gemäß mitteile, daß mir das verhaßte und verwerfliche Spiel nur deshalb hat gelingen können, weil ich Freundschaft niemals für ihn empfunden und auch niemals für ihn erheuchelt habe.

Ferne sei es mir, daß ich dem Manne, dem ich alles, ja alles – dem ich auch das Leben genommen habe, Beschimpfendes nachrufe. Aber verschweigen darf ich nicht, daß ich mich von Anbeginn unserer Bekanntschaft von ihm abgestoßen fühlte, abgestoßen vornehmlich auch deshalb, weil er mir den Verkehr mit seiner Frau so wenig erschwerte – diesen Verkehr, dessen wachsende, immer unverhohlenere Intimität ihm nach meiner Auffassung kaum hätte entgehen können. Für so blind, daß ihm unser stetes Zusammensein harmlos und statthaft hätte erscheinen dürfen, vermochte ich ihn damals nicht zu halten. Es dünkte mich einfacher, bei ihm eine gewisse lässige Duldsamkeit vorauszusetzen, die meine Antipathie gegen ihn verstärkte, da ein solches laissez faire, wie ich es annahm, mit dem, was er sich, seiner Frau, seinem Ansehen, seinem Stande schuldete, schwer zu vereinbaren war.

Die weit verbreitete Auffassung: der Mann merkt es ja immer zuletzt! war mir zwar wohlbekannt; ich mochte jedoch nicht zugeben, daß dies Wort auch für unseren Fall gelte. Wenn der Major, sagte ich mir, wirklich nicht hörte, was draußen die Spatzen auf den Dächern pfiffen, für das Auffällige, was er täglich daheim vor sich sah, mußte er doch eine Art von Erklärung zu finden suchen!

Die in keiner Weise gehemmte übergemütliche Zwanglosigkeit zwischen der jungen Frau und mir steigerte sich in ihrem leicht erkennbaren Ausdruck bis ins Unglaubhafte. Wir nahmen auf die Dienstboten weit mehr Rücksicht als auf den Mann, der uns nicht zur Ordnung rief, der nicht mit einem verweisenden Worte oder Blicke auch nur andeutete, daß er an der Sache doch auch beteiligt war und berechtigt, ja verpflichtet wäre, sich beleidigende Ungehörigkeiten energisch zu verbitten.

Er schien es aber gar nicht zu bemerken, daß wir ihn ignorierten, daß wir über ihn hinweg sprachen, in seiner Gegenwart Anspielungen auf Vorgänge machten, die ihm unbekannt waren, darüber scherzten und lächelten, uns hänselten, unter Umständen auch zankten und uns an dem durchsichtig kindischen Puppenspiel der Verliebten zwanglos belustigten oder aufregten, ohne von ihm, dem einzigen Zuschauer, Notiz zu nehmen. Er saß ganz gemütlich dabei, trank seinen Rotspon oder selbstgebrauten Grog, las seine Jagdzeitung oder schmökerte und dachte an alles Mögliche, nur nicht an das, was sich in waghalsigster Unvorsichtigkeit unmittelbar vor seinen Augen abspielte.

Während der ersten Zeit meines Verkehres im Hause des Majors spürte ich eine arge Befangenheit, wenn ich wahrnahm, mit welcher Nonchalance die reizende Toni ihren Mann aus unserer Gemeinsamkeit loslöste und mit ruhiger Selbstverständlichkeit, manchmal in unverkennbarem Übermut, beiseite schob. Ich fühlte schon aus Gründen oberflächlichen gesellschaftlichen Anstandes das Bedürfnis, ihn wieder heranzuziehen. Ich sagte mir: das kann er sich doch nicht gefallen lassen! Aber es wurde mir gar nicht leicht, die Brücke zu schlagen, auf der er zu uns zurückkehren konnte. Die Kindereien seiner kleinen Frau machten ihm keinen Spaß. Daß sie sich dafür einen andern, mich zum Beispiel, aussuchte, war ihm sogar offenbar bequem und deshalb ganz erwünscht.

Denn er war vor allem der Mann der Bequemlichkeit.

Er wollte sich den Kopf nicht heiß machen lassen, wollte sich nicht mit Unannehmlichkeiten herumschlagen und zog es vor, lieber in das mit gutem Wein gern gefüllte Glas zu blicken als die Augen aufzuschlagen, um dann Albernes und Unerwünschtes sehen zu müssen. Er hatte sich mit seiner Ehe, die wohl nie eine rechte Ehe gewesen war, abgefunden und jeden Versuch, die zwar neckisch reizenden, aber doch unerträglichen Unarten seiner bezaubernden kleinen Frau zu bekämpfen und erzieherisch auf sie einzuwirken, längst aufgegeben. Er wollte vor allem seine Ruhe haben!

Und diese Ruhe wurde ja durch den Klatsch, der in seiner Gegenwart sich allerdings zu kaum vernehmbarem Pianissimo abschwächte und überhört werden konnte, nicht weiter gestört. Er hatte ein verheiratetes Junggesellenheim mit gutem Keller, guter Küche, gut gelüftetem Schlafzimmer, in dem er, wenn er ermüdet von der Jagd heimkehrte, ungestört ausschlafen konnte. Über die kleine Störung einer ihm angetrauten Frau, mit der er jeden Verkehr längst aufgegeben hatte, hatte er sich mit der Zeit hinweggesetzt, wie über einen chronischen Zustand, der eben nicht zu beseitigen war.

Vom Gedanken einer Scheidung, der ihm oft nahegelegt war, wollte er durchaus nichts wissen; die wäre ihm viel zu geräuschvoll gewesen. Da hätte er ja selber aktiv eingreifen müssen. Da wäre der öffentliche Skandal unausbleiblich gewesen, der Skandal, der voraussichtlich unliebsam in seine Lebensstellung eingegriffen hätte! Er machte sich ja nichts aus seiner Frau, und daß über sie geschwatzt wurde, berührte ihn nicht weiter. Geschwatzt wurde wohl schon seit Jahren. Vielleicht. Er wußte es nicht. Er war vom Gerede persönlich unbehelligt geblieben. Er erfreute sich der allgemeinen Beliebtheit. Weshalb sollte es nicht auf Jahre so weiter gehen? Das genügte ihm. Er hatte sich mit dem Unabänderlichen eben abgefunden …

Im übrigen war der Major wirklich ein freundlicher, wohlwollender Mann und überall gern gesehen, vergnügt und vergnüglich an wohlbesetzter Tafel und bei einem guten Tropfen. Nicht gerade sehr unterhaltend. Denn eigentlich waren es doch nur zwei Gesprächsthemata, die ihn zur Beteiligung heranzogen: der Drill und die Jagd. Über Kommisangelegenheiten und Kasinogeschichten, über Pferde, Hunde und Wild sprach er mit wie einer, der's versteht.

Daß das einer jungen, verführerischen, genußhungrigen Frau nicht genügte, war nicht zu verwundern. Unter den vielen Rätseln, die mir der Verkehr mit der Familie v. Schönebeck aufgab, war die Eheschließung selbst für mich das unlösbarste. Ich habe nie begreifen können, was diese beiden grundverschiedenen Menschen zusammengekuppelt hat. Auch die Jugend und der leichte Sinn der reizenden Frau Toni, die als siebzehnjähriges Kind vom Rittmeister geheiratet wurde, hat mir das Geheimnis nicht enthüllt. Von wirklicher Zuneigung kann bei beiden nie die Rede gewesen sein, von Liebe gar nicht zu reden.

*

Als ich nach Allenstein versetzt und von den dämonischen Reizen der schönen Frau in das Unglückshaus verlockt wurde, war das Zusammensein der beiden kaum noch eine Scheinehe zu nennen. In Offizierskreisen vermied man es zwar, von den Schönebecks zu reden; wenn aber die natürliche Frage eines neuen Kömmlings beantwortet werden mußte, so geschah es in einer Weise, die bei allem lächelnden Vorbehalt des Erzählers doch dem schlimmsten Verdachte des Hörers Tor und Riegel öffnete. Besonders, wenn von der Frau Major die Rede war.

Ich hatte die liebliche junge Frau erst einmal gesehen und gesprochen, als ich solche Bemerkungen hören mußte. Sie empörten mich. »Das verleumderische Basengeschwätz der kleinen Stadt!« sagte ich mir. »Das gemeine Verkennen jugendfroher Leichtlebigkeit, für die diese philiströsen Dutzendmenschen kein Verständnis besitzen!« Wahrhaftig, ich sehnte mich aus unserer Kultur heraus nach der Sonne Afrikas, nach den Wilden, die doch bessere Menschen sind. Am liebsten hätte ich einen dieser »tadellosen Herren« beim Kragen gepackt und ihm meine Auffassungen ins Gesicht geschlagen. Ich durfte mir aber nicht den Ruf eines Raufboldes machen und mußte mir Zurückhaltung auferlegen.

Indessen, gerade weil ich die volle Überzeugung hatte, daß mit diesem vielsagenden Lächeln und diesen aalglatten Andeutungen einer berückend schönen Frau, die mit ihrer kecken Grazie und weltstädtischen Eleganz in diese nüchterne öde Kleinstadt gar nicht hereinpaßte, bitteres Unrecht geschah, glaubte ich den Umgang mit den Schönebecks besonders pflegen zu dürfen – oder um mich wahrer auszudrücken: fühlte ich mich besonders zu ihr hingezogen, der Verleumdeten. Daß es zwischen dem Major und seiner Frau nicht so war, wie es sein sollte, war mir sogleich zur Gewißheit geworden. So hatte ich mir denn auch das böswillige Gezischel um sie herum bald erklären können. Der Mann entrückte mir ganz und gar. Um ihn hätte ich mich überhaupt nicht mehr gekümmert, wenn nicht ein unwiderstehlicher Drang, mit dem geliebten Weibe zusammen zu sein, mich in das einsame Haus gezogen hätte. Daß dieser Verkehr nach außen hin wie eine Art von Intimität auch mit dem Manne wirken mußte, ist nicht zu verwundern. Davon war in Wahrheit aber nie die Rede.

Der Major wußte auch ganz gut, daß ich mir nichts aus ihm machte. Er gab sich auch niemals die geringste Mühe, sich mit mir aus vertrauteren Fuß zu stellen. Angenehm war ich ihm wahrscheinlich nicht. Aber gewiß auch nicht unangenehmer als andere. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, daß ich in die gähnend langweilige Bude etwas Leben brachte, durch meine Gesellschaft die junge Frau, die sich oft in einer geradezu trostlosen Stimmung befand, etwas auffrischte und ihren Unwillen, der sich ihm gegenüber manchmal in ungezogener und lästiger Weise äußerte, verscheuchte.

Daß ihr, der Herrlichen, der Ärmsten, vom böswilligen Gerede schreiendes Unrecht zugefügt wurde, darauf hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. Sie erschien mir als der Inbegriff der holdesten Weiblichkeit, himmlisch sogar in ihren kleinen Unarten und Extravaganzen, bezaubernd in ihrer kecken Frivolität, bewundernswert und großartig in ihrem leichten Sinn, in ihrem Mute, mit dem sie über alle Vorurteile des beschränkten Philistertums strahlend und freudig hinweghüpfte.

Und dieses Weib, für mich das Ideal aller der geheimnisvollen, reizenden Kräfte, die das Weib liebenswert machen, die zartesten und stärksten Empfindungen des Mannes wecken, in der entzückendsten körperlichen Hülle, die unsere Sinne auspeitscht, diese über alles Geliebte ward mein! Sie hatte sich mir gegeben, fast ohne Widerstand, wie ein mir längst Gehöriges. Wie mich das selig, stolz und dankbar machte – ich will nicht nach Worten suchen, um es zu beschreiben!

Der Besitz der Geliebten machte meinen Glauben an sie felsenfest. Ich wußte, daß es nur der böse Leumund war, der sie schmählich beschimpfte. Sie brauchte mich nicht in ihrer süßen Kindlichkeit zu versichern, daß sie vor mir nie einen Mann geliebt hatte. Ich wußte es. Ich vertraute ihr vollkommen. Und niemals beschlich mich eine eifersüchtige Regung, auch nicht auf die Vergangenheit, nicht auf ihr Eheleben, das mir nach ihrer Schilderung in seiner entsetzlich prosaischen Nüchternheit verständlich genug geworden war. Die Schamröte trat ihr auf die Wangen, wenn sie jetzt, da die Liebe zu mir in ihr erwacht war, die ersten Jahre ihrer gräßlichen Ehe, an die sie kaum noch eine Erinnerung bewahren wollte, sich vergegenwärtigte. Und zugleich war sie empört darüber, wie geringschätzig er sie behandelte. Und ich mit ihr! Obgleich nur auf Grund dieser Geringschätzung des Mannes die Intimität mit der Geliebten möglich geworden war. Ich war so verblendet, so ungerecht, daß ich tiefen Groll gegen ihn fühlte, weil er sie vernachlässigte, und machte mir nicht einmal klar, daß ich ihn noch viel mehr hätte hassen müssen, wenn es anders gewesen wäre. Blindlings glaubte ich ihr alles, was sie mir von »ihm« erzählte, den ihren Mann zu nennen sie so viel wie möglich geflissentlich vermied. Und kam das Wort über ihre Lippen, so verzog sie den Mund, als ob sie einen gallenbitteren Geschmack habe. Ihre Abneigung sog ich in mich ein, ihr Widerwille wurde kritiklos der meinige. Wir waren eins in unserem Hassen wie in unserem Lieben.

*

Ein Zwischenfall, der mich zunächst etwas aufregte, bestärkte mich schließlich vollends in meinem beglückenden Sicherheitsgefühl.

Im Frühjahr 1907 war Toni die meine geworden. Im Spätherbst desselben Jahres führte mich eine dienstliche Angelegenheit nach Berlin. Da traf ich eines Abends in einer Gesellschaft eine sehr kluge, sehr liebenswürdige Künstlerin, die Trägerin eines berühmten Namens. Von der Wirtin hatte sie erfahren, daß ich in Allenstein stand, und daraufhin den Wunsch geäußert, mich ihr vorstellen zu lassen.

»Ich kenne in Ihrer Garnison eine entzückende junge Dame,« sagte sie mir, »mit der ich vor Jahren sehr viel zusammengetroffen bin. Sie hat mich aufs lebhafteste interessiert, und da sie Ihnen sicher nicht unbekannt ist – sie ist die Frau eines Ihrer Kameraden – möchte ich Sie bitten, mir über Frau Toni v. Schönebeck recht viel zu erzählen.«

Die Dame mußte mir wohl anmerken, daß ihre unerwartete Anrede mich etwas aus der Fassung gebracht hatte. Denn sie setzte mit artigem Lächeln hinzu: »Wenn Sie das bezaubernde Geschöpf näher kennen gelernt haben, weiß ich im voraus, was Sie mir ungefähr sagen werden. Unerfreulich wird es wohl nicht ausfallen. Sie werden sich in die Frau Rittmeister, wie sie damals allgemein genannt wurde – inzwischen ist sie ja wohl zur Frau Major avanciert – verliebt haben wie alle Welt.«

Mein Protest war gemäßigt und klang gewiß nicht ganz aufrichtig. Ich gab auch ohne weiteres zu, daß Frau v. Schönebeck eine junge Dame sei, die jedem normalen Menschen starke Sympathie einflößen müsse, und der ich in aufrichtiger Verehrung ergeben sei.

»Wie steht es denn jetzt mit ihrer Gesundheit?« fragte mich die Dame weiter.

Und als ich darauf eine ziemlich nichtssagende, eine jedenfalls nicht unbefriedigende Antwort gab, fuhr sie fort: »Also krank ist sie nicht? … Das freut mich herzlich. Zur Zeit unserer Bekanntschaft war Frau v. Schönebeck manchmal recht leidend. Wir alle machten uns ihretwegen schwere Sorgen, die auch unser Arzt teilte. Wir haben uns nämlich in einem Sanatorium kennen gelernt, das ich wegen meiner nervösen Kopfschmerzen aufgesucht hatte.«

»Frau v. Schönebeck war in einem Sanatorium?« fragte ich erstaunt.

»Ja … es war in der ersten Zeit ihrer Ehe, etwa ein halbes Jahr vor der Geburt ihres Sohnes.«

Jetzt war mein Interesse an unserm Gespräch das lebhaftere geworden. Gerade von dieser ersten Zeit ihrer Ehe hatte Toni mit mir in offenbarer Absicht recht wenig gesprochen. Ich brannte darauf, gerade darüber Näheres zu erfahren. Die Dame hatte für meine rege Teilnahme das vollste Verständnis und erfüllte meinen Wunsch mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit. Ich merkte ihr an, daß es ihr eine Art von Bedürfnis war, die Erinnerung an ihr Zusammensein mit der reizenden, damals blutjungen Toni wieder wachzurufen, ihre Eindrücke von ehedem aufzufrischen und in einzelnem wohl auch zu korrigieren.

Sie erzählte mir:

»Im Hochsommer des Jahres 1897, also vor etwas mehr als zehn Jahren, hatte ich während der Theaterferien auf Anraten eines befreundeten Arztes die »Villa Schweninger« aufgesucht, die in Braunfels im Kreise Wetzlar liegt. Sie wurde von einem der erfolgreichsten Schüler Schweningers, dem jetzigen Sanitätsrat Dr. Gerster, geleitet und heißt jetzt ›Gersters Sanatorium‹. Wir Patienten bildeten eine Art geschlossene Gesellschaft. Mahlzeiten, Spaziergänge, Gartenarbeiten, Unterhaltungen und gelegentliche wissenschaftliche Belehrungen, alles war gemeinsam.

Als ich ankam, war der Mittelpunkt dieser Gesellschaft, die Primadonna, möchte ich sagen, auf die alle stolz waren, › die Frau Rittmeister‹, wie man sie nannte – ein ganz junges, mädchenhaftes Frauchen von 17, höchstens 18 Jahren. Sie war erst seit einigen Monaten verheiratet. Sie machte den Eindruck eines kleinen Mädchens, das sich für sein Alter mit ungewöhnlicher Eleganz kleidete und mit großer Sicherheit auftrat. Eigentlich noch mehr den Eindruck eines wunderhübschen, herzigen Kindes, eines sehr übermütigen, gefallsüchtigen, bestrickend liebenswürdigen, aber mitunter auch ein bißchen unartigen, verzogenen, trotzigen Kindes. Auch hier wurde sie von allen verwöhnt und verhätschelt – jedenfalls von allen Herren und beinahe von allen Damen. Einigen der Damen schien ihr Wesen indessen doch nicht recht zu behagen. Die junge Frau Rittmeister war ihnen zu laut. Sie beobachteten ihr gegenüber eine gewisse Zurückhaltung, und später hörte ich von ihnen manches mißtrauende, ja kritisch abfällige Wort.

›Was will die hier?‹ fragte ich mich, ›diese lebensprühende Mamsell Übermut in dieser unfrohen Kolonie nervöser Menschen? Weshalb hat diese reizende Person auf ihr junges Eheglück zu verzichten?‹

Die Antwort, die ich auf diese Frage erhielt, bereitete mir eine doppelte Überraschung. Dies unfertige Kind, das um uns herum tollte, sah Mutterfreuden entgegen, und der Arzt hatte ihre völlige Loslösung von der ehelichen Gemeinsamkeit und allen kleinen Sorgen eines unruhigen Haushaltes für geboten erachtet. Denn der Herr Rittmeister, den keiner näher kannte, gegen den aber im Kreise der Patienten eine merkliche, wahrscheinlich nicht begründete Abneigung bestand – man hatte ihm den Ruf gemacht, ich weiß nicht, mit welchem Rechte, oberflächlich und derb zu sein und wenig geeignet zum Erzieher dieses der Leitung doch sehr bedürftigen Kindes – der gemütliche Mann galt als großer Freund der Geselligkeit im eigenen Hause, in dem viele seiner Kameraden fast täglich verkehrten, und das gewissermaßen eine Dependance des provinzialen Offizierskasino geworden war. Der Zustand des jungen, unentwickelten Geschöpfes aber, von dem ich mir kaum vorstellen konnte, daß es schon eine Frau sein könne, und für dessen Leben ich geradezu fürchtete, als ich erfuhr, daß sie etwa in einem halben Jahre Mutter werden solle, erheischte überhaupt, und jetzt ganz besonders, Ruhe und eine regelmäßige, einfache Lebensweise. Denn sie war wirklich krank, die kleine Frau! Und das war die zweite peinliche Überraschung, die mir bereitet wurde. Krank trotz ihrer quirlenden Lebhaftigkeit, ihrer lustigen Augen, ihres lauten Lachens, und sogar recht bedenklich krank, unzweifelhaft stark hysterisch veranlagt, wie Dr. Gerster bekundete, zerfahren und willensschwach, oder vielmehr willensverkehrt, von einem falschen Willen, wenn er sich ihrer einmal bemächtigt hatte, tyrannisch geleitet und dann mit störrischem Eigensinn und seltsamer Verschlagenheit darauf erpicht, das Unsinnige durchzusetzen.

Dr. Gerster glaubte, daß außer der ihr verordneten rationellen Lebensweise: der nahrhaften, einfachen Verpflegung, möglichst langem Aufenthalt in frischer Luft, größeren Spaziergängen, gelinden körperlichen Übungen, wie Gartenarbeiten und dergleichen, harmlosen geselligen Zerstreuungen, frühem Zubettgehen und frühem Aufstehen, dem Leiden der jungen Frau noch mit stärkeren Mitteln beizukommen sei: vielleicht mit Hypnose.

Dabei zeigte sich nun, daß die Frau Rittmeister der hypnotischen Einwirkung in kaum glaublicher Weise zugänglich war, völlig von der Wirklichkeit abgelöst werden konnte und auch zeitlich weit über das Maß des Gewöhnlichen hinaus unter dem Banne der ihr im Zustande der Beherrschung ihres Willens durch einen anderen suggerierten Anschauungen und Empfindungen verharrte.

Widerstrebend – denn vor allem mir Unbegreiflichen habe ich eine unüberwindliche Scheu – folgte ich der Einladung unseres Arztes und wohnte einmal einer solchen Sitzung bei. Damals war die hypnotische Heilmethode sehr im Schwange. Ich habe mein Mißtrauen dagegen niemals überwinden können. Ich würde auch jetzt unter keiner Bedingung meine Zustimmung dazu geben, daß ein menschliches Wesen, das mir lieb ist, hypnotisiert wird. Aber das mag eine laienhafte und beschränkte Auffassung sein.

Unser Doktor war ein lieber, ernster, erfahrener und tüchtiger Mann. Er meinte, nach ihrem verkehrten Willen dürfe sie nicht leben. Der Wille eines andern, ein besserer Wille, müsse ihr aufgezwungen und dieser ihr sozusagen eingeimpfte Wille so verstärkt werden, daß er allmählich in ihr zum herrschenden würde und ihre Handlungen bestimme. Ich widersprach nicht, aber ich war auch nicht überzeugt. Und die Sitzung, der ich beiwohnte, bestärkte mich nur noch in meiner Abneigung.

Das Experiment fand in einer Gartenlaube statt; der hypnotisierende Arzt sagte, er werde ihr suggerieren: einer der Kurgäste, ein Offizier, der sich der Frau Rittmeister besonders angeschlossen hatte, habe eine große Beule auf der Nase. Der Herr, der inzwischen im Garten spazieren gegangen war, gesellte sich auf den Ruf des Arztes zu uns.

Sobald Frau v. Schönebeck ihn erblickte, brach sie in ein furchtbares Gelächter aus, das gar nicht aufhören wollte. Sie konnte sich über die komische ›falsche Nase‹ nicht beruhigen. Wir alle waren ganz außer uns, wie Frau v. Schönebeck noch lange, lange nach dem Erwachen in dem ihr aufgezwungenen Irrwahn beharrte und bis zur Erschöpfung lachte und lachte. Mir war diese in schrecklicher Ausgelassenheit sich äußernde Nervenüberreizung so unheimlich und die liebliche Patientin tat mir so leid, daß ich es nicht mehr mitansehen konnte.

Unheimlich – das war der Eindruck, der sich in mir festgesetzt hatte, und den ich nicht mehr los geworden bin: ein verzogenes, unheimlich reizvolles, unheimlich lebenshungriges Wesen. Dieser Eindruck war aber gedämpft und verschleiert durch ihre rührende Kindlichkeit, ihre Jugend, Anmut und ihr lustiges, putziges, niedlich-schlaues und immer erregtes Gebaren, durch ihre begeisterte Freude an allem, was ihr gefiel. Ihre Kindlichkeit war es ganz besonders, die mich an sie zog, und ich unterlag dem Zauber, den sie auf ihre Umgebung ausübte, so vollkommen, wie die andern. Sie fesselte mich ungewöhnlich, wenn ich auch gestehen muß, daß ich eigentlich ein innigeres Verhältnis zu ihr nicht habe finden können. Sie ging mir doch mehr auf die Sinne und Nerven, als aufs Gemüt. Und wenn sie mir in ihrer vertraulichen Mitteilsamkeit gelegentlich erzählte, daß sie eine wenig erfreuliche Kinderstube gehabt, mit ihrer Stiefmutter sich nie recht habe verständigen können und mit allen ihren Erzieherinnen im steten Kampfe gewesen sei, so war es doch nicht die rechte innige Teilnahme, die sie mir einflößte. Ich konnte ihre Freundlichkeit nicht ehrlich erwidern. Das krankhafte Umschlagen ihrer Stimmung von lärmendem Übermut zu tief schwermütigem Mißbehagen machte mich mehr ungeduldig und nervös, als daß es wirkliches Mitgefühl in mir erweckt hätte. Und fühlte ich mich in einem weicheren Augenblicke zu ihr hingezogen, so wurde ich bald wieder durch eine mich verletzende, ungehörige Äußerung, die wie unbewußt über ihre lächelnden Lippen kam, von ihr abgestoßen.

Ich wurde die Empfindung nicht los: ein Strindbergsches Geschöpf. Manchmal erinnerte sie mich auch lebhaft an die Isa in der ›Affäre Clemenceau‹, wie sie in der eindrucksvollen Darstellung der Lilli Petri mir vor Augen stand, manchmal auch an die Lulu mit ihrer naiven Zerstörungsfreude in Frank Wedekinds ›Erdgeist‹. Ein sonderbar interessantes, sonderbar veranlagtes, entgleistes Kind, von Hause aus gewiß nicht schlecht, aber durch krankhafte Regungen vom geraden Wege abgedrängt und, einmal in der Irre, wie von einer lächelnden moral insanity umfangen, zu allen Unarten freudig bereit – ein gefährliches, kleines Ding, das auch vor schlimmerem nicht zurückschrecken würde.

Daß diese junge Frau eine zehnjährige Ehe ertragen würde, noch dazu mit einem Manne, wie er hier geschildert wurde, hätte ich nie geglaubt. Wahrscheinlich hat die Mutterschaft eine wunderbare Wandlung in ihr hervorgerufen, und ich sehe jetzt ein, daß ich ihr und ihrem Manne gewiß in Gedanken manches Unrecht angetan und ihnen doch manches abzubitten habe.«

III
Der Entschluß

Das war es, was die Künstlerin in der Berliner Gesellschaft von der jungen Frau Toni mir erzählte. Es wirkte stärker auf mich, als ich es durch eine Miene verriet. Es ging mir beständig durch den Kopf. Der Gedanke an krankhafte Hysterie, an der Toni zu leiden habe, hatte sich auch mir mitunter aufdrängen wollen; ich hatte ihn indessen immer weit von mir gewiesen. Von einer kranken Geliebten wollte ich nichts wissen. Nervös war sie – aber um das zu verstehen, brauchte ich nicht gleich an das Schlimmste zu denken, an eine tückische, schleichende Krankheit. Das Offenbare: ihr eheliches Leben war für mich eine völlig genügende Erklärung. Ich wurde wohl nachdenklicher gestimmt, aber ernstlicher beunruhigt war ich nicht.

Nicht eine Stunde länger, als durch den Dienst geboten, duldete es mich in Berlin. Überall und beständig hatte sie mir gefehlt. Ihre lieben, zärtlichen Briefe waren doch nur ein kümmerlicher Ersatz für das, was ich zu entbehren hatte. Ich sehnte mich stürmisch nach ihr. Und beim Gedanken des Wiedersehens klopfte mir das Herz, als wolle es mir die Brust zersprengen.

Sie hatte mir geschrieben, daß er auf der Jagd sei und daß sie mich erwarte. Unser erstes Wiedersehen nach unserer ersten Trennung war also ungestört. Wir begrüßten uns ungestüm, als ob wir uns seit Jahren nicht in die Arme geschlossen hätten. Trotzdem machte es auf mich den Eindruck, als ob in ihrer überströmenden Zärtlichkeit so etwas wie eine gewisse Befangenheit im Hinterhalte lag. Ich mußte lächeln über die von ihr verlangte genaue und vollständige Berichterstattung. Nicht eine Stunde meines Berliner Aufenthaltes sollte ich ihr unterschlagen.

»Du hast gewiß gehörig gebummelt?« fragte sie mit eigentümlichem Lächeln. »Ich möchte wetten, du warst mit guten Kameraden in den Bars und Gott weiß, wo sonst noch, wo man mit hübschen Damen zusammentrifft – in der Arkadia und wie die Lokale alle heißen.«

Ich gab mir wirklich nicht die Mühe, auf diese törichten, übermütigen Fragen ernsthaft zu antworten. Aber verheimlichen konnte ich ihr nicht und wollte ich auch nicht, daß ich in guter Gesellschaft mit der Künstlerin, einer ihrer alten Bekannten aus Braunfels, zusammengetroffen war. Es schien ihr Freude zu bereiten und sie zu beruhigen, als ich ihr sagte, daß ich viel Liebes und Interessantes über sie gehört habe. Sie setzte indessen gleich in einem merkwürdigen Tone hinzu:

»Hat man denn gar keine unnützen Bemerkungen über mich gemacht?«

»Wie kommst du darauf?« fragte ich erstaunt.

»Mein Gott, ich habe in der Beziehung schon so merkwürdige Erfahrungen gemacht. Was man über mich für Albernes und Abscheuliches zusammengeschwatzt hat, ist geradezu haarsträubend. Und es wundert mich immer, wenn ich höre, daß man hinter meinem Rücken über mich gesprochen hat, ohne mir alle Federn auszurupfen.«

»Nun, über die Nachrede bei der Dame, die ich kennen gelernt habe, brauchst du dich wirklich nicht zu ärgern. Manches an dir hat ihr zwar nicht übermäßig gefallen, aber sie hat sich jeder häßlichen Kritik enthalten. Und ihre bedingte Billigung darauf begründet, daß sie dich doch wohl nicht genau genug kenne, dich nicht vollkommen genug verstehe und dir gewiß mancherlei abzubitten habe.«

»Das freut mich. Ja, die Dame ist eine wirklich vornehme Natur … Und mit anderen hast du nicht über mich geschwatzt?«

»Wie sollte ich dazu kommen?«

»Ich meinte nur … so ganz zufällig, gelegentlich, wie es eben manchmal kommt. Dann hättest du am Ende Mordgeschichten zu hören bekommen. Ich hatte mir schon Vorwürfe gemacht, daß ich dich – für alle Fälle – nicht vorbereitet hatte.«

»Vorbereitet? … Ja, worauf denn?«

»Mir ist zu Ohren gekommen, daß man in gewissen Kreisen der Berliner Lebewelt über mich die unerhörtesten Klatschereien herumgetragen hat. Ich solle mich geradezu wie eine Entsprungene der öffentlichen Ballsäle mit allen möglichen Individuen in unzweideutig schlechtester Gesellschaft und in berüchtigten Lokalen herumgetrieben und meine Wohnung im Zentralhotel gewissermaßen zu einem Absteigequartier für Vergnügungssüchtige dieser Sorte von Menschen gemacht haben.«

»Aber, wie ist denn das möglich?«

»Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß irgend so ein Frauenzimmer, eine Hochstaplerin oder so etwas, meinen Namen mißbraucht hat und als Frau v. Schönebeck ihrem sauberen Gewerbe nachgegangen ist. Ich habe sogar schon den Schutz der Polizei anrufen wollen …«

»Das hättest du nur tun sollen!«

»Es war unmöglich.« Mit starker Bitterkeit fuhr sie fort: »Mein Mann hätte da für mich eintreten müssen, und das hätte ich nie durchgesetzt. Das ist ja das Unglück meines Lebens: ich bin eine verheiratete Frau und habe keinen Mann. In ihm habe ich nicht den geringsten Schutz und von einem andern darf ich keinen Schutz erbitten … Ja, wenn du mir zur Seite stehen könntest! … Aber das ist unmöglich! Alles ist unmöglich, solange dieser Mensch allein dazu berufen ist, meine Ehre zu wahren! Er zerstört mein Leben – unser Glück! Es ist zum Verzweifeln! …«

Ihre Augen wurden feucht. Sie sah mich mit einem Blicke kindlicher Hilflosigkeit und rührendster Zärtlichkeit an, der mir durch und durch ging. Sie lehnte sich an mich und flüsterte:

»Wie glücklich würden wir sein, wenn wir unser Einssein vor aller Welt frei und offen gestehen könnten. Du würdest der Verleumdung das Lästermaul stopfen! Du würdest nicht dulden, daß man mich ungestraft beschimpft. Denn du liebst mich! Du bist gut! Du bist tapfer! Du! … Du!«

Sie barg ihren schönen Kopf an meiner Brust und schluchzte …

Die Tür öffnete sich. Der Major trat ein. Er stutzte, als er uns in der verfänglichen Situation erblickte.

Ich war aus alles vorbereitet und zuckte nicht mit den Wimpern.

Mit einer Selbstbeherrschung, die meine Bewunderung erregte, wandte Toni dem Eintretenden langsam den Kopf zu, ohne ihn von meiner Brust zu entfernen.

»Ich bin wieder leidend,« sagte sie mit schwacher Stimme, aber unbegreiflicher Ruhe. »Hätte mich der gute Goeben nicht aufgefangen und gestützt, so würdest du hier eine Ohnmächtige am Boden gefunden haben … Du kommst übrigens früher, als ich dich erwartet hatte,« setzte sie langsam hinzu, während sie gelassen auf den nächsten Sessel zuschritt und sich darauf niederließ.

Sie sagte das mit einer solchen glaubhaften Einfachheit, daß ich mir im ersten Augenblicke wirklich selbst darüber nicht mehr im klaren war, was Toni in meine Arme getrieben hatte; sie hatte es mir zwar nicht verraten, aber es war ja denkbar, daß sie einer Ohnmacht nahe gewesen war.

Ich wunderte mich nicht darüber, daß dem Major die ihm gegebene Aufklärung des Ungewöhnlichen ganz plausibel erschien. Er reichte mir auch unbefangen die Hand zum Willkomm und sagte mir einige banale Worte höflicher Begrüßung. Darauf wandte er sich zu seiner Frau und beantwortete ihre Frage:

»Ja, ich komme früher, als ich dachte … Ich habe Verdruß gehabt. Hektor ist krank. Als ich ihn abhalste, merkte ich schon, daß etwas nicht in Ordnung war. Er schüttelte die Behänge wie verrückt … Er hatte offenbar den besten Willen, und während der ersten Stunden ging's noch so leidlich. Aber dann versagte er vollkommen. Er legte sich vor mich hin, winselte und schüttelte, und als ich beim Untersuchen sein Ohr berührte, schrie er jämmerlich auf. Ich fürchte, er hat ein Geschwür im Ohr oder eine Entzündung. Ich will mit ihm jetzt zum Tierarzt … Ihr entschuldigt mich wohl? …« Und, sich an mich wendend, fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie bei meiner Rückkehr noch zu finden!«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

*

Kaum hatte der Major den Rücken gewandt, so vollzog sich sichtbar in Toni eine geradezu erschreckliche Wandlung. Aus dem bittenden Kinde war eine Megäre, eine Mänade geworden. Ihre Augen blitzten, ihre Nasenflügel bebten, ihre Lippen zuckten. Und wie in einem Anfall von Tobsucht sprang sie zur Tür, durch die der Major gegangen war, spie aus und keuchte mit rauher Stimme: »Pfui! Pfui! Pfui!«

Als ich, um sie zu beruhigen, an sie herantrat, klammerte sie sich an mich und preßte mich an ihre wogende Brust mit einer solchen Gewalt, daß mir der Atem schier verging.

»Befreie mich von diesem gräßlichen Menschen!« schrie sie mit dem Ausdruck erschütternden Schmerzes, wie eine Gemarterte auf der Folterbank.

Und in ihrer fiebernden Wut entfaltete sie nun eine Beredsamkeit glühender Verzweiflung, fand Ausdrücke wildesten Hasses, Akzente finsterer Entschlossenheit von einer Kraft, die ich nicht wiederzugeben vermag.

»Hätte er mich eben halbtot geschlagen,« keuchte sie fassungslos, »hätte er mit seiner Jagdflinte auf dich angelegt, dich niedergeschossen – ich wäre vielleicht verrückt geworden, aber ich hätte es verzeihen können. Daß er es aber ruhig mit ansieht, wie seine Frau in den Armen eines anderen liegt, daß er sich von einer handgreiflichen Lüge beschwindeln läßt – das vergebe ich ihm nie!«

Ich wollte ein Wort einwerfen. Da schrie sie, ohne mich zu hören, mit rauher, bebender Stimme: »Macht es ihm nichts aus, eine Dirne zur Frau zu haben, so soll er sie haben! Will er neben einer Ehrvergessenen weiter vegetieren und in seiner Ehe fünf gerade sein lassen, wenn er nur seine Hühner, Hasen und Böcke abschießen kann – das Vergnügen will ich ihm nicht stören! Aber der Herr Major soll bald ausgespielt haben! Den Heuchler dulde ich nicht mehr an meiner Seite. Das schwöre ich dir!«

Sie war außer sich. Wie sie so vor mir stand, jetzt hochaufgerichtet, schien es mir, als sei sie gewachsen, als habe ihre Brust sich gebreitet, der Klang ihrer Stimme sich verstärkt. All meine Mühe, sie zu beruhigen, war vergeblich. Sie war besinnungslos in ihrer Raserei, unzugänglich jedem mäßigenden Einwande.

»Er hat dir wahrscheinlich geglaubt und sich nichts Böses gedacht. Ich selbst …«

Sie drückte ihre eiskalte Hand auf meine Lippen. »Ich bitte dich,« flehte sie, »ich beschwöre dich, kein Wort weiter! Enttäusche du mich nicht auch noch, sonst ist's gleich aus mit mir! … Wenn du mich je geliebt hast, jetzt halte zu mir! Bleibe mir treu! Sei du mein einziger Freund in der Not!«

Sie warf sich an meine Brust und schloß mir den Mund mit einem langen, leidenschaftlichen Kusse.

»Ohne dich könnte ich ja nicht weiterleben. Ich habe ja keine andere Rettung als dich!« röchelte sie mir zu, ohne ihre Lippen von den meinigen zu lösen. Dann trat sie etwas zurück, warf den Kopf in den Nacken und sprach halb vor sich hin:

»Du wirst und mußt mich mit jämmerlichen Halbheiten verschonen. Nur um des Himmels willen keine Moralpredigt! Ich mag davon nichts hören. Ich vertrage sie nicht. Zwischen ihm und mir ist jede Brücke abgebrochen. Jetzt heißt es: er oder ich! Du hast die Wahl! Entscheide!«

Ich war so erregt, daß mir die Stimme versagte. Sie trat wieder an mich heran und sagte langsamer, aber mit einer schaudererregenden Festigkeit: »In dieser gräßlichen Lüge zu dritt kann ich nicht mehr atmen. Da gehe ich zugrunde. Körperlich und seelisch. Mußt du ihn schonen, so richtest du mich. Das ist bei Gott keine leere Drohung einer Exaltierten. Ich spreche nur zum erstenmal aus, was während der langen, schrecklichen Jahre in mir zum unerschütterlichen Entschluß gereift ist, und was ich bis zu dieser Stunde mir selbst zu gestehen nicht gewagt habe. Nun hast du es gehört: er oder ich! … Ich halte mein Wort.«

Von ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung erschüttert, sagte ich halblaut vor mich hin: »Was soll ich denn tun?«

»Was du tun sollst?« wiederholte sie schleppend mit unheimlich lauerndem Ausdruck und bitterem Lächeln.

Da raffte ich mich auf und sagte mit ruhiger Bestimmtheit:

»Also gut! Er soll mir vor die Pistole! … Ein Vorwand wird sich schon finden lassen.«

Sie lachte wild auf.

»Ein Duell?« rief sie, »bist du von Sinnen? Dein Leben einsetzen gegen das seine? Mein Leben vom unberechenbaren Ausgange eines Zweikampfes abhängig machen? Die Möglichkeit gelten lassen, dich, meinen Einzigen, meine Liebe, meine Rettung, meinen Schutz, mein Glück zu verlieren und ihm ausgeliefert zu werden, meinem Haß, meiner Verachtung, meinem unsagbaren Elend? … Bist du von Sinnen?«

»Ja, aber was soll ich denn tun?« fragte ich nun mit lauter Eindringlichkeit, »was kann ich für dich tun?«

»Niederknallen sollst du ihn!« schrie sie. »Niederknallen, den Zerstörer unseres Glücks, meinen Peiniger, wie einen bissigen, tollen Köter.«

Ich fuhr erschrocken auf und wich unwillkürlich zurück. Wie betäubt blickte ich auf das zarte Geschöpf, das in seiner Raserei und Kindlichkeit mir schauerlich schön und rührend zugleich erschien.

Es herrschte langes Schweigen. Nur ihre stockenden Atemzüge, von einem rauhen, leise raschelnden Geräusch begleitet, waren vernehmbar. Aus ihren großen, dunklen, grauen Augen, die tränenfeucht schimmerten, sah sie mich fest an. Ich konnte den bösen Blick aus diesen kindlichen Augen nicht ertragen und senkte die Lider. Unwillkürlich schossen mir die Worte Stauffachers durch den Kopf:

Frau, welchen Sturm gefährlicher Gedanken
Weckst du mir in der stillen Brust!

Und im pfeilschnellen Fluge der Gedanken legte ich mir die Frage vor, ob nicht auch die Fortsetzung dieser Worte für mich zutreffend wäre:

Und was ich mir zu denken still verbot,
Du sprichst's mit leichter Zunge kecklich aus!

Ja, ich mußte mir gestehen, daß während dieser letzten, furchtbaren Minuten auch in mir der ungeheuerliche Gedanke, dem sie in wilder Offenheit Ausdruck gegeben hatte, wie ein drohendes Gespenst vor meinen erhitzten Sinnen aufgestiegen war. Freilich nur auf den unberechenbaren Bruchteil einer Sekunde – so jäh, so unerwartet, so blitzartig, daß ich des schrecklichen Gesichts kaum gewahr geworden war, daß ich erst jetzt durch den elementaren, vulkanischen Ausbruch der seit Jahren gedämpften, nun nicht mehr zu bändigenden Wut der an allen Gliedern Bebenden das Bewußtsein des Geschauten erlangte.

Sie richtete noch immer ihren Blick unverwandt und starr auf mich, die entscheidende Antwort heischend. Es war mir ganz klar, daß es sich jetzt um eine Entscheidung über ihr Sein oder Nichtsein handelte.

Ich konnte die Antwort noch immer nicht finden. Ich hatte nicht den Mut zur Bejahung, deren Folgen ich mir in diesem Augenblick wenigstens noch einigermaßen zu vergegenwärtigen wußte. Ich hatte aber auch nicht den Mut zur Verneinung, die mich – das wußte ich – auf ewig von der Geliebten losreißen würde, von der ich nicht lassen konnte.

Sie wartete, schwieg und blickte mich an. Langsam näherte sie ihren Kopf dem meinigen. Ich fühlte den heißen Atem aus ihrem fiebernden Munde auf meinen Wangen …

Da hob sich wie willenlos meine Rechte und streckte sich ihr entgegen …

Nun war's geschehen …

Jauchzend schrie sie auf, umschlang mich und drückte ihre brennenden Lippen so fest auf die meinigen, daß es mich schmerzte.

»Ich wußte es – wußte es!« hauchte sie mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Seligkeit mir in den Mund. »Jetzt weiß ich, daß du mich liebst … Nun ist alles gut!«

Nicht das leiseste Wehen einer unbehaglichen Gewissensregung durchzog ihr Gemüt. Sie war vollkommen und unbefangen glücklich.

Quid enim Venus ebria curat?

Um was kümmert sich ein Weib im Liebesrausche?

Und nun lächelte sie wieder wie ein Kind, dem man sein Spielzeug wiedergegeben hat, völlig sorglos, und streichelte mir die Wangen und liebkoste mich und ließ alle sinnbetörenden Schmeicheltöne ihrer holden Weiblichkeit erklingen, so sirenenhaft hinreißend, daß ich die Empfindung hatte: sie wird doch wohl recht haben. Sie muß recht haben! So einfältig glücklich, so lauter und strahlend kann die Schuld nicht sein.

Ich hatte kaum die Sprache wiedergefunden. Sie aber schwatzte entzückender denn je. Über die »Sache« wie sie mir das abgerungene Versprechen zu unserem gemeinsam gewordenen Vorhaben nannte, huschte sie in leichtem Geplauder wie über eine feste Abmachung hinweg, an der nicht mehr zu rütteln war. Sie berauschte sich und mich an der Vorspiegelung der sonnigen Zukunft, der wir nun entgegensahen, und die bald zu goldiger Gegenwart werden sollte – »wenn wir erst allein sind!«

Wie himmlisch würde es werden, wenn wir das unwürdige Versteckspiel aufgeben würden und unser Glück nicht mehr wie eine garstige Heimlichkeit zu verbergen brauchten! Wenn wir so recht stolz und froh unser Leben genießen dürften!

Was die dummen Leute hinter uns her sagen würden – später, viel später, erst wenn die Welt durch die Öffentlichkeit unseres Bundes an uns Lebende wieder erinnert werden sollte; an den andern, der dann nicht mehr war, würde bald kein Mensch mehr denken – was da getratscht und geklatscht werden würde, das sollte uns wenig kümmern!

»Wir würden es nicht hören. Wir brauchen von keinem Menschen mehr etwas zu hören, wenn wir uns nur haben. Und ich – ich gehe mit dir, wohin du willst – zu den Türken und Bulgaren in Mazedonien oder zu deinen Boers und Kaffern in Afrika. Wohin du willst! Mir ist alles eins! …«

Als wir unten die Tür gehen hörten, erhob ich mich und griff nach meiner Mütze.

»Ich mag ihn heute nicht mehr sehen!« sagte ich.

»Das verstehe ich!« erwiderte sie. »Geh' nur! …« setzte sie seufzend hinzu. »Ach, was gäbe ich darum, wenn wir heute zusammenbleiben könnten! Oder wenn du wiederkommen könntest! … Wäre es auch zu noch so später Stunde … Ich würde dich erwarten und dir den Schlüssel zuwerfen. Aber, nein, nein, das geht nicht! Ich sehe es ein, daß es gerade heute unmöglich ist … Denn, wenn etwas geschehen sollte, heute, gerade am Tage deiner Rückkehr … es wäre unverantwortlich leichtsinnig! … Nein, ich sehe es ein: heut nicht! … Aber ich werde ihn heut auch nicht mehr sehen. Ich schließe mich ein in mein Schlafzimmer. Ich bin ja krank. Er hat ja selbst gesehen, wie krank ich bin.« Sie lachte übermütig auf. »Krank? Ich habe mich in meinem Leben nicht gesunder gefühlt. Für dies Haus aber bin ich wirklich krank. Er mag sich in seinem Kasino die Zeit vertreiben, wie es ihm beliebt. Lebe wohl! Denk an mich! Ich denke an dich, nur an dich! …«

Sie umarmte und küßte mich. Als sich die Tür des einsamen Hauses hinter mir geschlossen hatte, war es mir angenehm, daß ich ihm nicht mehr begegnet war

IV
Die Tat

Während der Nacht schloß ich kein Auge. Meine Erregung äußerte sich eigentlich nur in vollkommener Benommenheit. In meinem Schädel wirbelte eine unbeschreibliche Wirrnis. Es war mir unmöglich, einen Gedanken zu fassen und festzuhalten. Das Essen, das ich mir von meinem Burschen auf mein Zimmer hatte kommen lassen, ließ ich fast unberührt stehen. Unausgesetzt – ich weiß nicht, wie lange – durchmaß ich meine beiden Zimmer, blieb manchmal am Fenster stehen, blickte durch die Scheiben in die herbstgraue Dämmerung des freudlosen Städtchens und mußte mir später die Frage des Burschen wiederholen lassen: ob er das Essen abtragen dürfe und die Lampe bringen solle?

Um wahr zu sein, muß ich bekennen, daß das Furchtbare unserer Verabredung meinem Bewußtsein mehr und mehr entschwand. Ob der Gedanke, daß Menschenblut fließen solle – fließen von meiner Hand – in seiner Schauerlichkeit mich weniger erschreckte, weil ich bereits mit ruhigem Gewissen, ja mit Freudigkeit und Stolz, Menschenleben vernichtet hatte, – Menschen getötet, die mir nie etwas zuleide getan hatten? – Den Menschen aber, dem ich jetzt mit der Mordwaffe gegenübertreten sollte, hatte man mich als den Zerstörer des Lebensglückes eines geliebten Wesens hassen gelehrt. Ich kann mir nicht mehr genaue Rechenschaft ablegen von dem, was mein Inneres durchwogte. Den Schauder vor dem verabscheuungswürdigen Verbrechen, mit dem ich mich vertraut machen sollte, glaube ich von nun an kaum noch empfunden zu haben.

Die unerschütterliche Festigkeit ihres Entschlusses hatte mich schnell zum Ungeheuren gewöhnt. Ihr herrlicher Zorn, ihr glühender Haß und ihre überströmende Liebe müssen wohl alle Schranken weggerissen haben, die sich gewiß in mir aufgetürmt haben mochten. Es erschien mir jetzt ganz natürlich, daß es geschehen mußte. Sie hatte es gewollt, und was sie wollte, konnte nicht schlecht sein.

Aus dem Umstande, daß ich der Tat, auf die ich mich nun vorzubereiten hatte, ihre wahre Bedeutung beizulegen nicht vermochte, mag es zu erklären sein, daß ich alle gebotene Vorsicht außer acht ließ und mir eigentlich gar keine Mühe gab, den Verdacht von mir, als dem mutmaßlichen Täter abzulenken. Weder in dieser ersten Nacht noch während der folgenden, an Aufregungen überreichen Tage, noch in der Zeit unmittelbar vor, während und nach der Tat, befiel mich die Angst vor der Erwägung, daß der Plan scheitern, daß ich mein Ziel verfehlen konnte, daß, wenn es vollbracht, die Spuren auf uns als die Anstifterin und den Urheber des Verbrechens führen würden.

Wie leicht wäre es gewesen, diese Spuren zu verwischen! Ich hätte ja nur Toni dahin zu instruieren brauchen, daß sie in unbedingter Passivität verharren, gewissermaßen nur als Statistin, soweit ich sie in der gräßlichen Komödie brauchen würde, ihre Beteiligung zugestehen solle. Ich hätte bloß die frevelhaft leichtsinnige Kinderei, mir in dem kleinen schwatzsüchtigen Neste eine Larve zu kaufen, und den unbegreiflich törichten, schriftlichen Verkehr mit der Frau des Ermordeten in den Tagen der höchsten Krisis zu unterdrücken brauchen. Dann hätte es auch nicht das geringste Beweisstück gegeben, das als unanfechtbar belastendes Indizium die Spuren auf uns als die Schuldigen gelenkt hätte.

Verdächtigende Mutmaßungen hätte ich mit einem Hauche weggeblasen.

Eines wäre allerdings geboten gewesen: das Eingeständnis meiner strafbaren Beziehungen zu Frau von Schönebeck. Dazu hätte sie sich unter den gegebenen Verhältnissen ohne weiteres bereit erklärt. Ich würde auch nicht geleugnet haben, daß ich den Major erschossen habe.

Gewiß war eine solche Beschuldigung nicht leicht. Aber welches Gewicht konnte sie haben, wenn auf die andere Schale der Wage der überführte Mord mit der überführten Anstiftung zum Morde geworfen werden konnte? Hier Ehebruch mit blutigem Ausgang, der zwar für die Frau die gesellschaftliche Ächtung zur Folge haben mußte, für mich das Ausscheiden aus meinem bisherigen Wirkungskreise, vielleicht auch eine Strafe; für uns beide dann aber die Möglichkeit, der Verurteilung der Gesellschaft, die wohl auch mildernde Umstände gelten lassen würde, uns später durch Auswanderung zu entziehen, und schließlich die Aussicht auf die ersehnte Wiedervereinigung. Hier allerdings ein schwerer Kampf mit schweren Opfern, aber doch nach allen härtesten Prüfungen die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit des erträumten Erfolges; dort der Tod für die eine und den andern. Unentrinnbare Schmach, Trennung auf ewig.

Und eine rettende Notlüge wäre wirklich nicht schwer gewesen und würde selbst auf die Voreingenommenheit wie lautere Wahrheit gewirkt haben.

Wie würden wohl die Richter geurteilt haben, wenn ich von der Anklagebank mich erhoben und ruhig ein Geständnis etwa in der nachstehenden Form abgelegt hätte?

Wenn ich gesagt hätte: »Ich habe mich in Frau von Schönebeck verliebt, und meine Gefühle wurden erwidert. Kein böses Wort soll über meine Lippen kommen über den Mann, der von meiner Hand gefallen ist. Das Unglück ist geschehen, ich habe es nicht gewollt. Daß ich an eine derartige gewaltsame und blutige Lösung nie habe denken können, wird man mir glauben müssen, wenn man an meinem Verstande nicht zweifelt. Solange ich bei Sinnen war, mußte ich mir doch sagen, daß ich nicht über eine Leiche hinwegschreiten dürfe, um zum Besitze des geliebten Wesens zu gelangen, daß ein solches Verbrechen uns vielmehr auf ewig voneinander reißen würde! Denn in diesem Falle hätte es sich ja nur um einen kühl vorbereiteten und überlegten Mord handeln können. Eine Tötung in leidenschaftlicher Aufwallung, im Jähzorn, der das Bewußtsein und die Strafbarkeit mindert, war ausgeschlossen. Wenn ich mit dem Herrn Major v. Schönebeck auch nicht befreundet war, auch niemals Freundschaftsgefühle für ihn geheuchelt habe, und ebensowenig an seine freundschaftlichen Gesinnungen für mich zu glauben berechtigt war, so war es zwischen uns doch niemals zu einem unangenehmen Auftritte, geschweige denn zu einem ernsten Konflikt gekommen. Wir gingen äußerlich ruhig nebeneinander her, oder vielmehr aneinander vorüber, im wechselseitigen Bestreben, möglichst wenig Berührungspunkte zu haben.

Die Schönebecksche Ehe war nicht glücklich. Wir beide haben oft in ernsten trüben Stunden miteinander beratschlagt, wie es uns wohl gelingen könne, den starken Widerstand des Majors gegen das öffentliche Ärgernis einer Scheidung zu brechen, um dem Jammer und der Unwürdigkeit eines häßlichen Versteckspiels ein Ende zu machen, und das, was wir jetzt im Dunkel scheu zu verbergen hatten, vor aller Welt in hellem Lichte zur Schau zu tragen.

Eine solche qualvoll erregende Auseinandersetzung hatte uns auch in der Nacht vom ersten zum zweiten Weihnachtstage zusammengeführt und uns lange, lange festgehalten. Wir hatten es nicht bemerkt, wie der Zeiger der Uhr immer weiter und weiter vorgerückt war. Wir waren ganz betroffen, als uns der Schlag des Regulators auf einmal die vorgerückte Stunde verkündete.

Ich erhob mich schnell. Wie unbemerkt aus dem Hause kommen? Wir befanden uns im Wohnraume des Oberstockes. Das Schlafzimmer des Majors lag im Erdgeschoß an der Haustür. Ich sah keinen andern Ausweg mehr, als den Versuch zu wagen, aus dem Fenster zu springen. Die verzweifelte junge Frau hielt mich gewaltsam zurück. Es wäre die sichere Verstümmelung, vielleicht der Tod. Der Major habe einen festen Schlaf. Sie werde den Hund, der sein Lager im Hausflur hatte, anrufen; er kenne sie, er kenne mich, er werde nicht anschlagen. Sie werde mir die Haustür öffnen, und wenn wir die Treppe mit aller Vorsicht ganz leise hinabsteigen, würde ich unbemerkt entkommen können. Sei ich aber einmal aus dem Hause, so wäre alles gut. Selbst wenn dann durch das, wenn auch leise, aber unvermeidliche Geräusch beim Öffnen und Zuschließen der alten Tür der Hund unruhig würde und den Major weckte, so habe das nicht viel zu bedeuten. Um eine Ausrede sei sie nicht verlegen. Und käme es zu einem ernsten Zerwürfnis, es wäre auch kein Unglück.

Es würde sogar das, was wir erstrebten, wenn auch gewaltsamer, als wir wollten, doch sicher auch schneller, als wir hatten hoffen dürfen, herbeiführen. Vor einer wenn auch noch so heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Manne allein fürchtete sie sich nicht; nur zusammen dürften wir von ihm nicht betroffen werden. Er dürfte nur nicht wissen, wer in dieser nächtlichen Stunde sie verlassen habe.

Wir schlichen also behutsam aus dem Wohnzimmer. Aus der offen gebliebenen Tür drang der Lichtschimmer auf den Treppenflur und beleuchtete die alte Stiege zur Genüge. Wie Schatten glitten wir lautlos, mit äußerster Vorsicht, langsam, mit angehaltenem Atem die ausgetretenen Stufen hinab …

Der wachsame Hektor schien sich zu rühren. Sie schnippte mit den Fingern, um ihn zur Ruhe zu verweisen …

Da auf einmal krachte eine der alten, morschen Stufen unheimlich laut, und der Hund schlug scharf an.

Wir suchten nun eilends den Ausgang zu gewinnen und konnten uns um das Geräusch, das mein Rückzug verursachte, jetzt nicht mehr besonders kümmern. Nur schnell aus dem Hause!

Es war zu spät.

Der Major war aus dem Bette gesprungen, hatte den Revolver vom Nachttisch genommen, die Tür aufgerissen und stand nun zwei Schritte vor uns, die Waffe in der Hand.

»Wer da?« schrie er in schlaftrunkener Wut.

Keine Antwort.

»Wer da? … Oder ich schieße!«

Der Hund drängte sich, merkwürdige bettelnde Töne von sich gebend, hart an seinen Herrn.

»Um Gottes willen!« rief Frau v. Schönebeck und schob sich vor mich wie eine lebendige Schutzwehr. Im selben Augenblick hörte ich auch das Knacken des Drückers. Ein Versager! Ich stieß die Frau von mir und riß mit raschem Griff meinen Revolver aus der Hüftentasche, den ich beständig bei mir trug.

Ein zweites Knacken der jetzt auf meine Brust gerichteten Waffe. Ein zweiter Versager. Da drückte ich ab …

Ein Krach. Der Major brach leblos zusammen. Meine Kugel hatte ihm die Stirn durchbohrt.

Hektor heulte laut auf und beschnupperte kläglich winselnd seinen toten Herrn. Er fletschte die Zähne gegen mich, Frau v. Schönebeck packte ihn am Halsband …

Was nun folgte, ist mir nicht mehr ganz gegenwärtig. Ich weiß nur noch, daß ich den Major in sein Schlafzimmer schleppte, aus dem Fenster kletterte, eine Weile im Dunkel der Nacht durch die stillen Gassen des Städtchens irrte, und als ich an die Allee kam, den Revolver ins Wasser warf.

Der Schuß in dem entlegenen Hause war nicht gehört worden. Kein Mensch hatte mich das Haus verlassen sehen. Ich soll eine Wache oder eine Patrouille angesprochen haben. Ich stelle es nicht in Abrede, aber ich entsinne mich dessen wirklich nicht …

Das ist der traurige Hergang, durch den ich mich bestraft genug fühle. Ich weiß, wie weit das von mir begangene Unrecht geht. Bis zum Morde, bis zur Tötung geht es nicht. Ich lege mein Urteil vertrauensvoll in die Hände meiner Richter …«

*

Hätte ich so gesprochen und an meiner Seite einen Verteidiger gehabt, der über mich, als den Menschen, als den ich mich während meines ganzen Lebens bis zu dieser verhängnisvollen Dezembernacht gezeigt, mehr hätte sagen dürfen, als mir zustand, und der die Sache vom juridischen Standpunkte aus scharfsinnig hätte darlegen können, wegen Mord und Totschlages hätte ich mich sicher nicht zu verantworten brauchen. Ich glaube sogar, daß es nicht einmal nötig gewesen wäre, einer Anklage wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang entgegenzutreten. Man würde mir geglaubt und Notwehr, die von aller Strafe befreit, wohl zu meinen Gunsten angenommen haben.

Ich habe die Lüge verschmäht, verschmäht auch, mit der einzigen überlebenden Zeugin eine vorherige Verabredung zu treffen, um die Lüge glaubhaft zu machen. Ohne mir von meinem Handeln völlig klare Rechenschaft abzulegen, bin ich auf das Ziel losgestürzt, das wir uns gesteckt hatten, alle Vorsicht außer acht lassend, um die Hindernisse, die uns auf dem Wege dahin entgegentreten konnten, zu überwinden, unbekümmert um die Frage: Wenn nun das Ziel erreicht wäre – was dann?

Nun aber, als diese Fragen mir aufgedrängt wurden, stand ich ratlos blöde da, wie schlaftrunken beim Halberwachen aus einem bösen Traum, der in die Wirklichkeit herüberspielt. Der erbärmlichste Pfuscher im Verbrechen hätte sich klüger und umsichtiger benommen als ich – jedenfalls temperamentvoller. Ich war wie geknebelt, hilflos. Mochte man mit mir anfangen, was man wollte. Alles, was an Männlichkeit in mir war, war wie gelähmt. Ich verstand mich nicht mehr, ich verstand auch sie nicht mehr. Die Wahrheit erschien mir ganz unwahrscheinlich, ja unmöglich. Fast mechanisch gehorchte ich dem Drucke des scharfen Verhörs, berichtete das Tatsächliche, ohne die Motive dazu angeben zu können.

Da fiel noch ein letzter Hoffnungsschimmer in die dumpfe Nacht meines trägen Sinnens und meines erschöpfenden Empfindens: ein Psychiater sollte mich auf meinen Geisteszustand untersuchen.

Es war mir wie eine Erlösung, als mir der Gedanke aufleuchtete: ich bin wahnsinnig gewesen! Ich bin es am Ende noch! Und wahnsinnig war ganz gewiß auch das unglückliche, bemitleidenswerte Weib, das mich in seiner wilden Ekstase auf den Weg des Verbrechens gedrängt hatte. Nur meine tolle, rasende Liebe hat mich die fürchterliche Wahrheit verkennen lassen. Krank, schwer krank ist das arme Geschöpf von je gewesen! … Ich vergegenwärtigte mir, was ich von ihrer frühesten Jugend im Sanatorium gehört hatte. Die Krankheit in ihr war nie geheilt worden. Sie hatte im geheimen fortgewuchert und, ohne sich durch Äußerlichkeiten zu verraten, das ganze Seelenleben der Bejammernswerten vergiftet. Wäre ich ihr ein ernster, kluger, willenskräftiger Freund, anstatt eines schlaffen, willenlosen Geliebten gewesen, hätte ich, anstatt unter ihrem Banne zu stehen, ihr ein Berater, ein Leiter sein können – das Unglück wäre wohl nie geschehen!

Aber in unserem unheilvollen Bunde vereinigte sich ein schrecklicher Doppelwahnsinn: aktiv ihre krankhafte Neigung, das Schlimmste zu tun, passiv meine ohnmächtige Schwäche, dem Schlimmsten zuzustimmen.

Unwillkürlich trat mir die wüste und großartige Erfindung Zolas vor die Seele: die tollgewordene Maschine, auf deren Plattform der wahnsinnige Lokomotivführer steht und den Zug ins Verderben sausen läßt.

Sind wir aber, wie ich es hoffte, wirklich wahnsinnig gewesen – und wäre selbst keine Hoffnung auf Befreiung von unserem schweren Leiden – unter der Schande des gemeinsten Verbrechens, des langsam vorbereiteten feigen Meuchelmordes würden wir nicht zusammenzubrechen brauchen.

Wären wir wahnsinnig!

Bei der von unsagbarer Pein heimgesuchten Toni v. Schönebeck, deren Elend tiefstes Mitgefühl wecken muß, ist, wie ich gehört habe, der Wahnsinn in unzweideutigster Weise von der Wissenschaft konstatiert worden. Die Ärmste! Ihr Leiden ist nicht auszudenken. Gefangen, freundlos! Sie, der der Lebensgenuß, die sonnige Freude an voller Freiheit ein wollüstiges Bedürfnis war.

Die Ärmste! … Und doch beneide ich sie. Denn mir ist der letzte Trost, daß ich nicht bei Sinnen gewesen sei, von einem ehrenwerten, gewissenhaften Manne der Wissenschaft, zu dem ich mich ernsthaft hingezogen fühle, wenn er mir auch das schlimmste Leid gebracht hat, genommen.

Wenn ich auch in krankhaft leidenschaftlicher Überreizung mir manches nicht klar gemacht habe, was mich bei ruhigerer Überlegung vom Entsetzlichen hätte zurückhalten müssen – bei männlichem Ernst, den mir die Pflicht gebot, wäre es immerhin möglich gewesen, die ausschweifenden Sinne zu zügeln und die Erkenntnis meiner selbst wieder zu gewinnen. Schlaff war ich, unwürdig in meiner bedingungslosen Hingabe an ein verführerisches, kindliches, kindisches Wesen. Aber mein Geist, wenn auch eingeschläfert, war nicht so verwirrt, nicht so geschwächt, daß ich das Bewußtsein meiner Handlungen und Unterlassungen nicht hätte erlangen können. Ich war nicht unzurechnungsfähig, nicht wahnsinnig, meine Liebe war verbrecherisch.

Seitdem ich mir das klar gemacht habe, ist auch manches andere, das nebelig in mir flatterte, zu festem Bewußtsein mir gekommen. Die schwerste Kränkung, die ich dem Manne in seiner Ehe zugefügt, habe ich sophistisch vor mir selbst in einem gewissen Sinne dadurch rechtfertigen wollen, daß ich mich zum Haß einer leidenschaftlichen Frau habe überreden lassen; ich habe ihn in meinen Augen entwürdigt und so das eine unverzeihliche Unrecht durch ein neues verstärkt.

Major v. Schönebeck war in Wahrheit nichts weniger als der dunkle Ehrenmann, den sich mein Schuldbewußtsein zurechtgemacht hatte.

Er besaß wohl nicht die erforderliche Weltklugheit, um ein so schwieriges, kapriziöses Wesen, wie die kleine Frau, richtig zu behandeln. Aber er war eine ehrliche Haut, ein liebenswürdiger Mensch, ein tüchtiger Offizier, ein Mann, der keiner niedrigen Gesinnung, keiner unehrenhaften Handlung fähig war. Er war nur zu gutmütig, um an so viel Schlechtigkeit, wie sie im Versteck ihm auflauerte, zu glauben.

Selbst ohne Falsch, hat er sich nicht vorstellen können, daß ein Kamerad, den er in seinem Hause sah, unter seinem Dache einen so heimtückischen Streich gegen ihn führen könne. Er hat auch gewiß nicht geglaubt, daß die Frau, die seinen Namen trug, ihn betrüge. In seinen Augen war sie ein ungezogenes, unverbesserliches Kind. Die Ehe mit ihr hatte er als eine Unmöglichkeit erkennen müssen; aber sie war die Mutter seiner Kinder. Er mußte sie neben sich dulden.

Wie konnte er auch an eine Scheidung denken, da er von ihrer entehrenden Untreue nicht überzeugt war und in ihren Ungehörigkeiten doch nur die mutwilligen Streiche eines nervösen, vergnügungssüchtigen Kindes erblicken durfte? Aber sein Vertrauen zu ihr war ja trotz allem nicht vernichtet. Er glaubte nicht an das Schlimmste, und deshalb forschte er nicht danach.

Und weil er ihr noch immer vertraute, war es ihm gewissermaßen ein natürlicher Drang, der lebenslustigen Frau, die sich in dem öden Neste zum Sterben langweilte, manche Laune nachzusehen, die er bei einem Wesen, das er ernster hätte nehmen können, und das er sich zu erziehen hätte hoffen dürfen, gewiß nicht geduldet haben würde; – daß er der viel jüngeren Frau, der er doch herzlich wenig bieten konnte, größere Freiheiten einräumte, als sie seiner wahrhaften Lebensgefährtin jemals von ihm zugestanden worden wären.

Ihre unselige Krankheit hat er ebensowenig erkannt, wie ich sie erkannt habe. Sonst hätte schon vor Jahren das Sanatorium die eheliche Gemeinschaft gelöst – ohne Ärgernis und Schande.

Er war zu vertrauend.

Und diesen Mann habe ich meuchlerisch überfallen und gemordet, ohne daß der Wahnsinn die Unterscheidung des Guten und Bösen in mir völlig verwischt hätte! Das weiß ich nun, und ich weiß, daß ich den Tod verdient habe. Ich gehe ihm gelassen entgegen und werde ihn so lange suchen, bis ich ihn finde. Und ich werde ihn finden und das Urteil selbst an mir vollstrecken, um meinem Stande, den ich so heiß geliebt habe, wenigstens die äußerste Schmach zu ersparen, einen alten Soldaten wegen eines gemeinen Verbrechens das Schafott besteigen zu sehen.

In tiefer Reue bitte ich meine Kameraden um Vergebung. Der eine und der andere, der mich näher gekannt hat, wird mir trotz allem ein gutes Gedenken bewahren. Das ist die Hoffnung, die mich in diesen letzten Tagen meines Lebens aufrecht erhält.«

*

Am 2. März hat Hauptmann Hugo v. Goeben seinem völlig zerrütteten Leben ein Ende gemacht.

Mit dem Tischmesser, das ihm zur Einnahme seiner Mahlzeiten gereicht werden mußte, und das er auf dem Rande des Tellers geschärft hatte, hat er sich die Carotis, die große Schlagader am Halse durchgeschnitten. Der Schnitt ist mit einer solchen Gewalt geführt worden, daß nicht bloß eine nicht gewöhnliche Körperkraft, sondern auch das Aufgebot einer durch unbeugsame Entschlossenheit aufs äußerste angespannte Energie dazu gehörte, um die Tat so zu vollführen. Durch die klaffende Wunde ist dann auch das Blut in strömendem Überschwall herausgestürzt.

Nach Auffassung der Sachverständigen, unterliegt es kaum einem Zweifel, daß durch die gewaltsame und jähe Blutentleerung des Gehirns das Bewußtsein sofort geschwunden und der Tod schon nach wenigen Minuten eingetreten sein muß.

Die alte, vierundsiebzigjährige Mutter und ein Bruder des Unglücklichen haben sich auf die erschütternde Kunde des Selbstmordes sofort nach Allenstein begeben. Die Teilnahme an dem traurigen Geschick des Toten und dem Schmerz der Hinterbliebenen und aller derer, die Hugo v. Goeben im Leben lieb gehabt haben, war tief und allgemein.

Drei Tage darauf wurde er auf dem Kirchhofe zu Allenstein in aller Stille begraben. Nur die Seinen und einige seiner besten Freunde umstanden den Sarg. Unteroffiziere trugen ihn. Der Geistliche, der ihn in bürgerlicher Kleidung, ohne Amtstracht, begleitete, sprach ein kurzes Gebet. Dann wurde die Grube zugeschaufelt.

Ob Toni v. Schönebeck in der Provinzial-Irrenanstalt zu Kortau, wohin sie nach der Ermordung ihres Mannes überführt war, und wo der Verdacht zur Gewißheit geworden zu sein scheint, daß eine gräßlich unheilvolle Krankheit das Bewußtsein ihrer Handlungen vernichtet, in ihrer geistigen Umnachtung bis zu dieser Stunde schon erfahren, was die unglückliche Frau in ihrem Wahn zwei bedauernswerten Menschen, was sie sich selbst angetan hat? …

*

Herbst 1909.

Seitdem diese Zeilen geschrieben und veröffentlicht worden sind, sind mehr denn anderthalb Jahr vergangen. Das Dunkel, das über dem Drama von Allenstein schwebt, hat sich nicht gelichtet. Nach wie vor ist die psychologische Nachforschung darauf angewiesen, den Weg durch die finstere Wirrnis zu suchen, und erst die Zukunft wird entscheiden können, ob der eingeschlagene der richtige war.

Frau Toni v. Schönebeck ist zwar im Sommer 1908 aus der Haft entlassen worden, weil das Medizinalkollegium zu Königsberg sie für krankhaft gestört, also in dem Zustande, welcher die freie Willensbestimmung ausschließt, erklärt hatte (§ 51 StGB.). Dieses Gutachten ist indessen vor etwa einem Vierteljahr durch die Wissenschaftliche Deputation zu Berlin, die letzte Gutachten-Instanz, umgestoßen, und Frau v. Schönebeck nunmehr für zurechnungsfähig erklärt worden. Die Meldung der Blätter, daß gegen die Angeklagte das Verfahren eingestellt sei, ist also unzutreffend. Es hatte nur geruht. Jetzt ist es wieder aufgenommen worden und es finden weitere Beweiserhebungen statt. Die Voruntersuchung ist geheim. Bis zur Stunde, da diese Zeilen in den Druck gehen, ist über das Ergebnis dieser neuen Beweisaufnahme daher nichts in die Öffentlichkeit gedrungen.


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