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Eusebius Pieydagnelle. – Thouviot
Das plötzliche, geheimnisvolle, unerklärliche Aufkeimen des Mordgedankens, und die furchtbare, schier unüberwindliche Gewalt, mit der er, sobald er sich einnistet, den Willen des Individuums lähmt und alles Sinnen und Trachten des Unglücklichen seinem Machtgebote unterwürfig macht, – dies psychologische, oder wenn man will: pathologisch-psychiatrische Motiv hat Emile Zola in seinem Kriminalroman über » Die Bestie im Menschen«, vielleicht dem ernstesten und bestkomponierten Werke in der langen Serie seiner epischen Dichtungen über den Fluch der erblichen Belastung, mit erstaunlichem Wissen und Scharfsinn behandelt.
In der Erblichkeit, in der fortschreitend wuchernden Entartung des unheilvollen Vermächtnisses lasterhaft veranlagter Vorfahren glaubt Zola auch die Lösung des schauerlichen Problems zu finden.
Der Held dieses Mord-Romans ist Jacques Lantier. Großeltern auf väterlicher und mütterlicher Seite sind Säufer gewesen, sein Vater ist ein verkommener Strolch, seine Mutter ebenfalls trunksüchtig und verlüdert. In der Großmutter indessen und auch in der Mutter Gervaise steckt bei aller Roheit doch eine starke Herzensgüte, die erblich weiterwirkt. In Jacques regt sich die Vererbung der Trunksucht der Vorfahren als unüberwindliche Mordlust inmitten edler Instinkte. Jacques muß morden. Eine unbezähmbare Macht arbeitet in ihm, altes Unrecht, das an ihm begangen ist – er weiß nicht, wann; er weiß nicht, wo; er weiß nicht, von wem –, zu rächen, einen Schimpf, den man ihm angetan hat, mit Blut reinzuwaschen. Dieses Unbewußte, das ihm die Mordwaffe in die Hand zwängt, ist eben eine tragische Äußerung der im Kinde unbewußt nachwirkenden Roheit und Trunksucht der Vorfahren, ist ererbtes Leiden.
Zola hat diesen Typus des Mordsüchtigen nicht erfunden. Er hat die nachweisbare Anregung dazu in dem vielumstrittenen Werke Lombrosos: »Der Verbrecher« und in einer Anfang der siebziger Jahre von den Zeitungen gebrachten Kriminalgeschichte gefunden.
Diese, die auch in unsere bekannte Sammlung interessanter Kriminalfälle, in den »Neuen Pitaval«, Aufnahme gefunden, hat offenbar Zola vor allem bei der Gestaltung seines Helden vorgeschwebt.
Der Held jener französischen Kriminalgeschichte heißt Eusebius Pieydagnelle, dessen angebliche Schlußrede vor dem Schwurgericht im »Neuen Pitaval« vollständig mitgeteilt wird. Dieser Mörder, der als eine pathologische Merkwürdigkeit bezeichnet wird, erzählt, wie er schon als Kind ein besonderes Vergnügen daran gefunden habe, bei einem benachbarten Metzger zuzusehen, wenn geschlachtet wurde. Die blutigen Hände der Fleischer, die langen Messer bereiteten ihm eine unsagbare Freude, der Geruch des frischen Blutes erregte sein Entzücken. Und so wurde er denn Metzger aus Passion. Er trank mit besonderm Wohlbehagen frisches Blut, und wenn er sicher war, daß niemand es bemerkte, verwundete er heimlich Tiere und sog das hervorströmende Blut auf. Er wurde in seinem Handwerk sehr geschickt, und »ich fühlte es als das Süßeste, wie das Tier unter dem Messer zitterte. Das fliehende Leben schlängelt sich der Klinge entlang und in die Hand herein, die das tödliche Werkzeug hält … Der mächtige Anprall des wuchtig mit dem Schlägel geführten Kopfschlages, unter welchem der Ochse zusammenbrach, klang in meinen Ohren wie Sphärenmusik.«
Am 15. Juni 1860 – so wird weiter berichtet – wurde nun ein Mord begangen. Man fand die Tochter eines Wirts mit einem Messer an den Küchentisch angeheftet. Der Mörder war dieser Eusebius, und er erzählt darüber wie folgt:
»Sie war ein braves, zuvorkommendes, liebes Mädchen. Es war bereits elf Uhr vorüber, als ich an dem Gasthofe anlangte. Ich wunderte mich, durch die Ritzen der geschlossenen Fensterladen Licht schimmern zu sehen. Ich dachte an Lurotte – das ist der Name des Opfers –, aber nur in freundlicher Absicht. Die Tür stand halb offen, und ich trat ein. Lurotte schlief neben dem großen Herd. Sie war über einen langen Tisch in der Mitte der Küche gebeugt. Ihre Stirn lag auf ihren wie zum Gebet gefalteten Händen. Ihre weißen Arme hoben sich von dem roten Tischtuche ab. Ihr Hals war entblößt, und ihr schwerer, hochgesteckter Chignon ließ den üppigen unteren Haaren Raum, die lose auf den breiten Nacken herabwallten. Das flackernde Licht beleuchtete die üppigen Formen der schönen Schläferin in malerischer Weise. Lurotte war allein. Ich näherte mich ihr. Alles war still. Ich hörte nur ihre gleichmäßigen Atemzüge und das Ticken der Uhr … Was sich nun meiner Sinne bemächtigte, ist so seltsam, daß ich nicht weiß, wie ich es in Worte kleiden soll. Sie können es nicht begreifen, wie mir zumute war, Sie müßten denn zuvor verrückt werden, so wie ich es auch war in jener Nacht. Als ich das schöne Mädchen ansah, dachte ich zuerst daran sie zu küssen. Ich beugte mich nieder, um meine Lippen auf ihren weißen Hals zu drücken. Aber ich hielt inne. Ich schaute den prächtigen Nacken an. Meine Pulse fingen an zu schlagen, meine Phantasie fing an zu arbeiten. Ich wähnte am Halse von Lurotte zwei lächelnde Lippen zu sehen, welche mir verlockende Küsse zusandten. Ich beugte mich tiefer, und siehe, die Lippen öffneten sich immer weiter. Aber hinter ihnen sah ich nicht weiße Zähne, sondern perlendes, schäumendes Blut quoll hervor. Das alles sah ich. Und der Schweiß trat mir auf die Stirn … Neben dem Mädchen lag ein langes, scharfes Küchenmesser. Bei meinem Eintreten hatte ich es nicht bemerkt, aber jetzt fiel ein Lichtstrahl auf die Klinge, und sie blinkte mir einladend entgegen. Ich wollte fliehen, aber ich konnte nicht. Ich schloß die Augen, aber ich sah ebenso deutlich. Es zog mich mit magnetischer Gewalt hin zu dem Messer. Ich ergriff es. Aber Gott weiß, ich wollte der Schläferin nichts anhaben. Und dennoch erhob ich den Arm und stieß … Nun wollte ich fort. Ich konnte jedoch die Tür nicht finden. Das Blut schoß mir so gewaltig nach dem Kopfe und hämmerte so an den Schläfen, daß ich wankte und mich festhalten mußte, um nicht niederzustürzen. Endlich ergriff ich die Klinke der Tür. Ich eilte fort in die freie Luft. Da wurde mir wieder wohl. Ich stürmte nach Hause.«
Die ganze hier geschilderte Szene stimmt in allem Wesentlichen, mitunter sogar im Wortlaute, überein mit der Mordtat Lantiers. Auch bei Lantier bricht die unbezähmbare Mordlust aus in dem Augenblick, da er küssen will. Auch er greift, ohne es zu wollen, durch eine geheime wie »magnetische Gewalt« getrieben, nach dem Messer, das unter der Lampe »einladend blinkt«, und er stößt zu, ohne seinem Opfer ein Leid antun zu wollen. Er muß zustoßen.
Eusebius Pieydagnelle hat in derselben Weise noch eine Reihe anderer Morde begangen. Er bezeichnet sich als eine »Tötungsmaschine« und sagt: »Ich tötete niemals aus Haß, sondern ich mußte töten.« Und auch viele andere Züge, die Eusebius von sich erzählt, stimmen mit denen Lantiers vollkommen überein. Wie Eusebius meidet Lantier den Umgang mit Menschen. Eusebius zieht sich in den Wald zurück, Lantier, der Lokomotivführer, vereinsamt sich auf seiner Maschine. Immer ist es der Anblick des Messers, der Schere, also eines spitzigen, schneidenden, blitzenden Instrumentes, niemals einer andern Mordwaffe, der den wahnsinnigen Blutdurst in ihm erweckt. Und auch Eusebius hat ganz dasselbe dunkle Gefühl, das Lantier beherrscht. Als er eines seiner Opfer zusammenbrechen sieht, sagt er: »Ich hatte die Empfindung, mich an ihm gerächt zu haben.«
*
Dieser Eusebius ist aber nicht das einzige Modell für Jacques Lantier gewesen. Auch das Bild eines andern Verbrechers hat dem Dichter bei der Gestaltung seines Lantier vor Augen gestanden.
Jener irre Mordgeselle, von dem der berühmte Psychiater Legrand du Saulle in seinem Werke: » De l'Epilepsie« spricht, und dessen auch in Lombrosos Werk Deutsche Bearbeitung von Dr. Fränkel, Hamburg, J. F. Richter, 1887. über den »Verbrecher« Erwähnung getan wird, heißt Thouviot Dies ist der wahre Name des irren Verbrechers, nicht Thouriot, wie er irrtümlich in dem Werke Lombrosos genannt wird.. Er ist der Enkel eines Apoplektikers, der Sohn eines Selbstmörders und einer öffentlichen Dirne.
Vergegenwärtigen wir uns nun, wie sich Jacques nach einer Schreckensnacht benimmt, als er die schlafende Geliebte am andern Morgen beim Sonnenlichte erblickt. Da überfällt ihn unbezwingliche Mordlust. Er kleidet sich in aller Eile an und läuft auf die Straße. Er muß morden. Er weiß noch gar nicht, wen. Er schleicht allen weiblichen Personen, die ihm zufällig in den Weg laufen, nach. Schon greift er nach der Mordwaffe. Lediglich durch zufällige, von seinem Willen unabhängige Umstände wird er daran verhindert, seine entsetzliche Lust zu befriedigen.
Und hören wir jetzt, was Legrand du Saulle über Thouviot zu berichten hat Siehe Lombroso, deutsche Bearbeitung, Seite 500.: »Thouviot klagt über Anfälle von Betäubung und einen Zustand, in welchem er den Drang verspürt, irgendwen umbringen zu müssen. Während dieser Anfälle läßt es ihn nicht ruhig. Er muß irgendwelche Gewalttat begehen. Während eines solchen Anfalls verläßt er einmal seinen Laden, kauft ein Messer, verbringt die Nacht mit einer Buhlerin, überlegt am Morgen, ob er sie umbringen soll, geht dann mit dem Messer in der Tasche fort, irgendwen zu töten. Im Laufe des Tages schreibt er in einem Gasthofe, er werde jemanden umbringen, er wisse noch nicht, wen: ob die Magd oder die Wirtin. Die Magd bedient ihn, er tötet sie. Im Gefängnis ist er ruhig Über dieses Verbrechen finden wir in » Mon Musée criminel« von Macé, dem früheren Direktor der Kriminalabteilung in Paris, einige nähere Angaben, die wir ergänzend nachtragen: Am 12. Juni 1874, nachmittags zwei Uhr, trat der siebenundzwanzigjährige Thouviot, der, beiläufig bemerkt, eine sehr gute Gymnasialbildung genossen hat, in die Restauration des Herrn Gautier, 7 Rue Cujas, und bestellte ein Frühstück. Während des Frühstücks schrieb er in sein Notizbuch die folgenden Zeilen: »Seit dem Jahre 1866 werde ich von der Idee, ein Verbrechen zu begehen, verfolgt. Jetzt ist der Augenblick dazu da. Ich muß mir endlich Ruhe verschaffen. Mir gegenüber am Kassentisch befinden sich zwei Personen. Welche von beiden soll ich töten: die Kellnerin oder die Wirtin? Mir ist es einerlei. Die eine oder die andere muß sterben. Ich werde diejenige töten, die mir die Rechnung bringt.« Darauf verlangte er seine Rechnung. Die Kellnerin Marie Cotard übergab sie ihm. Er erhob sich, und ohne ein Wort zu sagen, stieß er ein langes Dolchmesser in das Herz der Unglücklichen. Bei der Verhaftung fragte ihn der Polizeikommissar: »Hatten Sie Ihr Messer denn schon geöffnet?« Und Thouviot antwortete: »Natürlich! Mit diesem Dolch habe ich ja den Bleistift gespitzt, um meine fixen Ideen aufzuschreiben.« Die Sachverständigen sprachen in ihrem Gutachten sich dahin aus, daß Thouviot im Sinne des Gesetzes unzurechnungsfähig sei. Er wurde in das Irrenhaus von Bicêtre gebracht, und am 25. Juni 1881 wurde er dort in seiner Zelle erhängt gefunden..«
Den Grad von Glaubwürdigkeit, den Lombroso für seine wissenschaftlichen Feststellungen und Folgerungen zu beanspruchen hat, haben wir an dieser Stelle nicht zu erörtern.
Daß aber ein angeborener, durch Vererbung überkommener Mordtrieb in Wahrheit vorhanden ist, darf nach den übereinstimmenden Untersuchungen der Fachgelehrten als eine tragische Wahrheit gelten. Ich selbst habe in der städtischen Irrenanstalt zu Dalldorf mehrere von diesem Mordwahnsinn befallene verbrecherische Irrsinnige kennen gelernt: den unglücklichen Wilhelm Mercker, der in einem epileptischen Anfalle eine Frau, bei der er ein Zimmer mieten wollte, und die er bei dieser Gelegenheit zum erstenmal sah, ohne irgendwelche Veranlassung niedergeschlagen und sich darauf in einem Briefe an die Frau selbst mit seinem vollen Namen als den Mörder bezeichnet; den Küfer Heise, der sich mitten in der Nacht von seinem Lager erhoben und ohne weiteres dem ihm befreundeten Schlafgenossen mit einem Rasirmesser die Kehle durchschnitten hat. In beiden Fällen war schwere erbliche Belastung nachzuweisen.
Ernst Sobbe – Eichinger – Berthold Rauscher
Auch der Mörder des Briefträgers Cossäth, Ernst Sobbe, wäre wohl den vom Mordwahn befallenen Unglücklichen beizuzählen. Aber der Fall liegt hier doch anders. Da kann vom Fluche der Erblichkeit nicht die Rede sein. Sobbe entstammt einer guten bürgerlichen Familie – seine Eltern und Geschwister sind geachtete Leute in wohlgeordneten Verhältnissen; einige Mitglieder gehören zum Kreise der akademisch Gebildeten, sind Geistliche und höhere städtische Beamte; er selbst hat nie irgendeine böse oder gewalttätige Neigung verraten, hat eine gute Erziehung genossen, hat sich als Soldat musterhaft gehalten, hat überhaupt vorzügliche Führungsatteste und niemals Not gelitten. Im Vorleben Sobbes ist auch nicht eine einzige Handlung wahrzunehmen, die nur im entferntesten auf die Möglichkeit eines ernsteren Vergehens, geschweige denn eines schweren Verbrechens schließen ließe. Er war leichtlebig, freigebig und prahlte gern mit seiner körperlichen Kraft und seiner Geschicklichkeit als Reiter. Er besaß kleine Schwächen, aber anscheinend kein Laster. Alle, die ihn gekannt haben, rühmen vielmehr seine Gutmütigkeit, seine Freundlichkeit, seine Umgänglichkeit. Niemand hat je an ihm die geringste Extravaganz wahrgenommen, die auf eine geistige Überreizung oder psychisch krankhafte Bildung hingewiesen hätte. Sobbe war bis zu dem Augenblick, da er wegen des schwersten Verbrechens angeklagt vor seinen Richtern stand, in Wahrheit der »sympathische Mensch«, als welchen ihn der Staatsanwalt selbst bezeichnete.
Im Vorleben dieses Mannes steht die fürchterliche Tat, die Sobbe dem Scharfrichter überliefert hat, ohne irgendwelche Verbindung mit seinen sonstigen Handlungen völlig isoliert da.
Der Untersuchungsrichter Hollmann, der während seiner langjährigen Amtsführung mit den berüchtigtsten Verbrechern der letzten Jahrzehnte eingehend zu schaffen gehabt hat, dem alle Spielarten der Verbrecherklasse bekannt waren, den nichts mehr überraschte, sagte mir: in seiner Praxis sei ihm ein Verbrecher wie dieser Sobbe nie begegnet. Sobbe sei ihm ein vollkommenes psychologisches Rätsel geblieben. Hollmann fügte hinzu: »Ich war von den Verhören, die ich mit Sobbe anzustellen hatte, geradezu erschüttert. All die charakteristischen Merkmale der Mörder: theatralisches Prahlen, Eitelkeit, Roheit, Jähzorn, Heuchelei, fehlten bei diesem merkwürdigsten Exemplare des Verbrechertums. Er hat mich – auch das möchte ich als ein Unikum bezeichnen – während der langen Verhöre nicht ein einziges Mal auch nur in einer Geringfügigkeit zu beschwindeln und zu belügen versucht. Er hat stets die vollste Wahrheit gesagt. Nur einmal sagte er mir: »Ich bitte Sie, mir zu gestatten, diese Frage nicht zu beantworten, da ich sonst einen Namen nennen müßte, den ich durch die Beteiligung an meinem Prozeß nicht kompromittieren möchte. Die betreffende Persönlichkeit hat mit meiner Sache übrigens nicht das geringste zu schaffen, und die wahrheitsgemäße Beantwortung Ihrer Frage würde die klare Sache absolut nicht klarer machen. Ich bitte Sie also, darauf zu verzichten.« Er benahm sich vom ersten Augenblick, da ich mit ihm zu tun hatte, bis zu dem Augenblick, da er aufs Schafott stieg, würdig, männlich, einfach. Er empfand die tiefste Reue. Er sehnte sich nach der Vollstreckung seiner Strafe wie nach einer Erlösung. Aber er bewahrte eine geradezu erstaunliche Festigkeit und Ruhe in der Haltung. Ich wußte, welches fürchterliche Verbrechen dieser Mann begangen hatte. Er erzählte es mir in allen seinen grauenhaften Einzelheiten. Und trotz alledem konnte ich mich eines Gefühls der Sympathie nicht erwehren. Ich habe niemals einen Verbrecher so bedauert wie diesen.«
Ganz denselben Eindruck habe ich auch von meiner Begegnung und Unterredung mit Sobbe gewonnen. Wenn man diesen jungen hübschen, etwas über mittelgroßen Mann mit seinen treuen guten Augen, seinem kleinen koketten Schnurrbart, seinem gepflegten Äußern, vor sich sah und ihn hörte, wie er sich mit einem leichten Anfluge Harzer Dialekts in der Sprache der Gebildeten einfach und klar ausdrückte, so mußte es jedermann vollkommen unfaßbar erscheinen, wie dieser ruhige stille Mensch eines so fürchterlichen Verbrechens sich hatte schuldig machen können. Von seinen Anverwandten, von seinen Freunden, von allen, die mit ihm in Verkehr getreten sind, ist denn auch ausgesagt worden, daß Sobbe sich niemals irgendwelche Roheit oder Gefühllosigkeit habe zuschulden kommen lassen. Er war seines freundlichen Wesens wegen allgemein beliebt.
Und auf einmal taucht in diesem Manne der Mordgedanke auf!
Sobbe besaß den begreiflichen Ehrgeiz, seinem kleinen Kolportagebuchhandel größere Verhältnisse zu geben. Aber dies natürliche Verlangen war keineswegs übertrieben. Niemals hat er Klage darüber geführt, daß es ihm schlecht ginge, und niemals das Verlangen nach einer glänzenderen Stellung in ungestümer oder auch nur auffälliger Weise geäußert … Eines Abends fährt Sobbe mit einem Stoß Bücher, die er auf der Messe abzusetzen hofft, von Magdeburg nach Braunschweig.
Um die Zeit der langweiligen Fahrt zu kürzen, nimmt er ein Zeitungsblatt, in das einige Bücher eingeschlagen waren, zur Hand und liest darin. Es war zufällig eine alte Nummer der »Neuen Freien Presse« mit den ersten ausführlichen Berichten über den Briefträgermörder Francesconi. » Da auf einmal, ganz plötzlich, schoß mir der Gedanke auf: Du mußt einen Briefträger ermorden! Mit dem Gelde, das du ihm abnimmst, kannst du dir eine große, selbständige Stellung schaffen!« Er liest die Geschichte noch einmal. Er hat von der Sache vorher nichts gewußt; er hat sich auch nie darum bekümmert, wie sie verlaufen ist.
Daß Francesconi die wohlverdiente Strafe für sein Verbrechen empfangen hat, hat er erst während der Untersuchungshaft erfahren.
Nun bemächtigt sich der Mordgedanke Sobbes mit fürchterlicher Gewalt. Die Plötzlichkeit, das Unerwartete des verbrecherischen Entschlusses verblüfft ihn zunächst und ängstigt ihn; aber er kann den Gedanken nicht abschütteln. Er erstickt alle edleren Regungen, jedes sittliche Gefühl. Und der Unselige, in dessen Gehirn dieser Gedanke entstanden ist, findet keine Ruhe und Rast, bis er die blutige Tat verübt. »Es schrie mir Tag und Nacht in die Ohren: Du mußt den Briefträger ermorden!«
Er ist in Braunschweig säumig und zerstreut. Er kehrt nach Magdeburg zurück. Er erzählt seinen Verwandten, daß er eine Geschäftsreise nach einigen kleinen Städten unternehmen müsse, und begibt sich nach Berlin. Von Berlin fährt er viermal nach Potsdam hinüber und macht Posteinzahlungen an sich selbst unter dem falschen Namen, den er sich beigelegt hat. Dreimal scheitert sein Vorhaben. Endlich findet er den traurigen Mut zur Tat. Er begeht die Tat in der denkbar unvorsichtigsten Weise … Als der Briefträger, den er erwartet, anläutet, kommt die Wirtin aus der Küche, gleichzeitig mit ihm, um zu öffnen. Er schickt die Wirtin fort und sagt ihr: »Ich erwarte eine Geldsendung; es wird wohl der Briefträger sein.« Die Wirtin sieht den Briefträger in der Tat in die Wohnung eintreten. Sobbe führt ihn in sein Zimmer. Er verschließt nicht einmal die Tür. Im Nebengemach – das ist die Küche – befindet sich, wie er sehr wohl weiß, die Wirtin. Er bietet dem Briefträger ein Glas Bier an und fordert ihn auf, sich zu setzen, während er den Empfangschein unterzeichnet. Sobald der Unglückliche auf dem Stuhl sitzt, holt Sobbe aus der Schlafrocktasche den dort verborgenen Hammer und führt mit furchtbarer Kraft einen Schlag gegen ihn. Dieser erste Schlag hatte eine solche Wucht, daß die Profilierung des Hammers einen tiefen, scharf umgrenzten Eindruck im Schädel des Ermordeten hervorgerufen hat. Schon dieser erste Schlag war absolut tötlich. Lautlos war Cossäth vom Stuhle gesunken. »Was nun geschehen ist,« sagt Sobbe in wörtlicher Übereinstimmung mit Eichinger, »kann ich nicht sagen. Ich müßte lügen, wenn ich darüber genaue Angaben machen wollte. Ich glaube, ich habe noch drei-, viermal mit dem Hammer auf den Briefträger losgeschlagen.« Tatsächlich sind noch ungefähr zwanzig Hammerschläge durch die Autopsie konstatiert worden. Als der Präsident diese Feststellung Sobbe vorhielt, gab der Mörder zur Antwort: »Das kann sein. Ich weiß eben nicht, was geschehen ist. Ich hätte aber nicht geglaubt, daß ich so oft geschlagen habe. Ich stelle es durchaus nicht in Abrede. Ich sage nur der Wahrheit gemäß: ich weiß es nicht.« Sobbe hat alsdann dem Erschlagenen das Bargeld in geringem Betrage und einige Wertbriefe, die ebenfalls nur geringfügige Beträge enthielten, abgenommen. Er hat sich aber, obwohl er noch lange Zeit im Zimmer geblieben ist und sich bis auf die Beinkleider umgezogen hat, nicht einmal die Mühe gegeben, die vorgeschnallte Tasche des Briefträgers genau zu durchsuchen. Die Briefe mit den großen Wertbeträgen, in denen mehrere tausend Mark enthalten waren, wurden unversehrt bei der Leiche vorgefunden. Aus Sobbes Äußerungen und aus seinem ganzen Verhalten gewann man die Meinung, daß Sobbe, nachdem er die verbrecherische Tat, zu der er sich mit unwiderstehlicher Gewalt hingedrängt gefühlt, einmal begangen hatte, auf die habgierige Ausnützung nur noch geringeren Wert legte. Vom Vorsitzenden des Gerichtshofes wiederholt in dringlichster Weise dazu aufgefordert, über die Motive zu dem Verbrechen, das mit dem Vorleben Sobbes und mit seinem Wesen durchaus nicht in irgendeinen Zusammenhang zu bringen war, Aufschluß zu geben, wiederholte er beständig und mit dem Ausdruck der vollsten Aufrichtigkeit: »Ich kann nichts anderes antworten, als: es ließ mir keine Ruhe. Es war mir, als wenn mir beständig jemand ins Ohr riefe: Du mußt den Briefträger ermorden!«
Nach vollbrachter Tat läuft er wie ein Irrer durch die Straßen, von der Adalbertstraße nach dem Schlesischen Bahnhof, von da nach dem Potsdamer Bahnhof … Dann kehrt er nach Magdeburg, von wo er gekommen war, zurück.
Vierundzwanzig Stunden lang bleibt das Verbrechen überhaupt unentdeckt. Alsdann macht es das gewaltigste Aufsehen. Sobbe verweilt volle acht Tage in Magdeburg bei den Seinigen. Er unternimmt nicht den geringsten Fluchtversuch, obgleich er täglich in den Zeitungen liest, wie die Polizei auf den Mörder des Briefträgers fahndet. Ja, er rührt sich nicht vom Flecke, als sein Name bereits als der des Mordes Verdächtige in den Zeitungen genannt worden ist! Er läßt tatlos, stumpf, noch volle achtundvierzig Stunden vergehen, bis ihn die Polizei abführt.
In der öffentlichen Verhandlung erklärte er auf eine Anfrage des Vorsitzenden: er habe niemals an Flucht gedacht. »Ich konnte ja doch nicht vom Flecke,« fügte er charakteristisch hinzu.
Zur Erklärung dieses Verbrechens sind also weder stichhaltige subjektive noch objektive Gründe anzuführen. Sobbe war keine gemeine Verbrechernatur, und die Habsucht kann nicht als genügendes Motiv für diesen Mord angeführt werden. Sobbe lebte keineswegs in schlechten Verhältnissen. Er hatte sogar bemittelte Verwandte, mit denen er auf bestem Fuße stand, und er selbst hatte sein anständiges Auskommen.
Das ist das Rätselhafte: Sobald einmal das Gehirn das Ungeheuer des Mordgedankens gebiert, reißt es ungestüm alle von den Sittlichkeitsbegriffen aufgerichteten Schranken nieder und die › bête humaine‹ verschlingt, wie das aus dem Käfig entsprungene Raubtier, alles, was sich ihr in den Weg stellt. Der plötzlich erstandene Mordgedanke ruft akustische Halluzinationen hervor; die Mörder hören die Stimmen, die sie warnen, die sie zum Verbrechen treiben.
Es ist allerdings eine Art Wahnsinn, eine jener ganz abnormen, verbrecherischen Handlungen, wie sie besonders von geisteskranken Epileptikern begangen werden. Wenn nun auch wissenschaftlich feststeht, daß die von epileptischem Irrsinn Befallenen nicht immer die äußerlich wahrnehmbaren Zuckungen zu haben brauchen, so erscheint bei Sobbe die Annahme, daß hier verborgene Epilepsie vorliege, doch wenig gerechtfertigt. Nichts spricht für die Berechtigung einer solchen Annahme, alles dagegen. Er stammte, wie wir nochmals hervorheben wollen, aus guter Familie, war erblich in keiner Weise belastet, körperlich wohlgebildet. Die sorgfältigste ärztliche Untersuchung vermochte keinerlei Anomalie des Schädels, keinerlei krankhafte Symptome aufzuweisen. Sobbe machte, mit einem Worte, den Eindruck eines ganz gesunden, durchaus normalen Menschen, in dessen Dasein eben nur diese eine unerklärliche schreckliche Tat die Gesetze seines psychischen und physischen Organismus durchbrochen hat.
*
Mit Sobbe und der Ermordung Cossäths weist der Wiener Eichinger, der (im Frühling 1895) seinen Chef, den Rechtsanwalt Dr. Rothziegel erschlug, im wesentlichen merkwürdige Übereinstimmungen auf, so weit sie in den Motiven zur Tat auch voneinander abweichen. Für das Verbrechen des ruhigen, freundlichen, in geregelten Verhältnissen lebenden Sobbe läßt sich ein einigermaßen plausibles Motiv überhaupt nicht anführen. Eichinger ist leichtsinniger, leidenschaftlicher. Nicht frivole Genußsucht, nur die bitterste Not treibt ihn zu unüberlegten und unlautern Streichen, treibt ihn schließlich zur Verzweiflung. Er liebt ein schönes Mädchen herzlich. Er hat seiner Liebe seinen Glauben, seinen Beruf freudig geopfert, mit der Geliebten gedarbt und gehungert. Er ist in tief gedrückter Stimmung. Er hat dringende Zahlungen zu leisten, er weiß nicht, woher er das Geld nehmen soll. Er denkt an Verwandte und Bekannte, die vielleicht in der Lage wären, ihn von seinen Sorgen zu befreien. Er sieht nirgends Hilfe.
In dieser Stimmung tritt er in eine Stehbierhalle in der Kärntnerstraße ein. Er läßt sich ein Glas Bier geben. Und ein zweites …
Der Augenblick, in dem der verbrecherische Gedanke zum erstenmal sich regt, ist der Treffpunkt, wo der Wiener Eichinger und der Berliner Sobbe sich begegnen. Nun häufen sich die Übereinstimmungen zwischen den beiden in überraschender Weise. Sie wählen sogar dieselben Worte, um das Unerklärliche zu erklären.
Eichinger starrt in dumpfem Brüten in sein halbgeleertes Glas. » Da auf einmal« kommt ihm der Gedanke, »ganz eigentümlich,« wie er sagt, »es ist mir so eingefallen,« daß er seinen Chef Dr. Rothziegel ermorden werde und müsse. »Der Gedanke setzte sich mir so im Kopf fest, daß ich an nichts anderes mehr denken konnte. Ich habe nichts mehr gesehen und nichts gehört, gar nichts.«
Und nun erinnert er sich des Auftrages, den ihm sein Chef vor einiger Zeit gegeben hat: daß er einen starken Hammer kaufen solle; und als er den Hammer hat, macht er sich klar, daß er damit das geeignete Werkzeug besitze, um seinen Plan durchzuführen.
Nun macht er sich auf den Weg nach der Kanzlei. Er sieht und hört nicht, was um ihn vorgeht. Er erkennt keinen Menschen. Er weiß nicht einmal, wo er ist.
Er bleibt plötzlich stehen. Er hört eine innere Stimme: »Kehre zurück und gehe nicht!«
Aber dann fängt's wieder an in seinem Kopfe zu hämmern und zu bohren. »Der Gedanke war so festgesetzt, ich konnte ihn nicht mehr herausbringen.«
Er betritt das Bureau, spricht mit dem Chef, setzt sich an den Schreibtisch. Der Gedanke, daß er den Rechtsanwalt ermorden müsse, geht ihm beständig im Kopf herum. Es kommt zu einer geringfügigen Auseinandersetzung, die unter gewöhnlichen Verhältnissen gar nichts zu bedeuten gehabt hätte; aber diese Geringfügigkeit genügt nun, um den im Gehirn schon ausgereiften Gedanken alsbald in fürchterliche Tat umzusetzen. Er schlägt mit dem Hammer auf den Unglücklichen los. »Was dann weiter geschehen ist, kann ich in der Reihenfolge nicht sagen. Ich müßte lügen, wenn ich es sagen wollte.«
Ist's nicht, als ob man Sobbe sprechen hörte?
Auch die Ausübung der beiden Verbrechen, die Haltung, welche die Täter während der Ermordung selbst und nach begangenem Verbrechen bis zur öffentlichen Darlegung vor dem Gerichte beobachten, weist eine ganz merkwürdige Übereinstimmung auf. Hier wie dort dient der schwere Hammer, den sie eben gekauft haben, als Mordwaffe; hier wie dort dieselbe überflüssige Roheit und Grausamkeit, die fürchterliche und zwecklose Verstümmelung des Opfers. Beide erinnern sich nur des ersten, entscheidenden Schlages, den sie geführt haben; von dem, was weiter geschehen ist, haben sie nur noch dunkle Vorstellungen. Man darf ihren Angaben Vertrauen schenken, denn beide haben dieselbe bei gewöhnlichen Verbrechern so überaus selten wahrzunehmende Eigenschaft: Sobald sie nach kurzem Leugnen zu einem Geständnisse sich entschlossen haben, sagen sie die vollste Wahrheit bis in die geringfügigste Einzelheit hinein. Ihrem umfangreichen und vollständigen Geständnis gegenüber erscheinen die Zeugenaussagen nur noch als ein formaler Apparat. Sie selbst erbringen den unumstößlichen, in allen Gliedern fest verbundenen Beweis ihrer großen Schuld.
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Den beiden, Sobbe und Eichinger, die von Hause aus keineswegs schlecht geartet, sogar mit sympathischen Charaktereigenschaften ausgestattet, anscheinend jeder Roheit und Gewalttätigkeit unfähig, sich des rohesten und gewalttätigsten Verbrechens schuldig machen, reiht sich ein Dritter an: Berthold Rauscher aus Rauenstein.
Nur für die Darstellung dieser »Pfingstgeschichte vom Lande,« der ich den Titel »Und es geschah ein Brausen« gegeben, habe ich die freiere Form der Erzählung gewählt. An der Sache habe ich nicht das geringste geändert.
Ich hab' der Verhandlung vor den Meininger Geschworenen beigewohnt. Am 26. Oktober 1898.
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In dem kleinen Häuschen unten am Berge wohnten arme Leute. Zwei Familien: Kranichs und Rauschers. Rauschers waren die ärmeren. Denn der alte Rauscher, den sie im vorigen Frühling begraben hatten, hatte eine lange Krankheit durchgemacht. Und langsam sterben kostet noch mehr, als lange leben. Die Mutter, eine kleine gebrechliche Frau, hatte niemals viel verdienen können. Sie war froh, wenn sie für einen gelegentlichen Aushilfedienst oben von der Herrschaft in der Fabrik mit ein paar Mark entlohnt wurde. Das kam aber selten vor. Aber sie war eine ordentliche, sparsame Frau, die jeden Groschen dreimal herumdrehte, ehe sie ihn ausgab. Und solange ihr Mann lebte und tüchtig arbeiten konnte, ging es zur Not. Es ging sogar ganz leidlich, seitdem die beiden Kinder herangewachsen waren.
Das älteste, ein Mädchen, Charlotte, von ebenso zarter und hinfälliger Körperbeschaffenheit wie der Vater, wie die Mutter, hatte sich mit dem ältesten Sohne ihrer Hausgenossen, mit Christian Kranich, verheiratet, der sich als Bäcker ein schönes Stück Geld verdiente. Für die war also ausgesorgt.
Ihr jüngerer Bruder hieß Berthold. Er hatte gleich nach seiner Konfirmation oben in der Porzellanfabrik Arbeit gefunden, und sein Wochenlohn, so bescheiden er auch war, kam dem kleinen Haushalt doch sehr zustatten. Vater und Sohn gingen nie ins Wirtshaus, die Mutter wirtschaftete umsichtig. Keines verlangte vom Schicksal mehr, als eben das liebe Leben zu haben. Und so kam es, daß in dieser glücklichsten, wenn auch immer noch freudeleeren Zeit Mutter Rauscher ein paar Notpfennige beiseite legen konnte … Aber dann kamen die bösen Tage. Die Erkrankung des Mannes, seine Arbeitsunfähigkeit, und der Arzt, und der Apotheker, und das teure Begräbnis …
Wenn Berthold, der inzwischen zwanzig Jahre alt geworden war, jetzt auch schon so viel verdiente, daß er für sich allein hätte durchkommen können – zum Unterhalte der Familie mit dem kranken Vater hatte es nicht gelangt. Da hatte also der Schwager, der Bäcker, aushelfen müssen. Bei dem herrschte aber auch kein Überfluß; denn da war inzwischen ein Kind gekommen. Und so hatte denn Berthold seine liebe Not, die Schulden abzuzahlen und für seine Mutter und sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Manchmal wurde es ihm recht schwer. Umsomehr, als Berthold wie seine Angehörigen schwach und schlaff war und bei der Arbeit leicht ermüdete. Er lahmte. Er hatte also auch niemals einen Tanzboden betreten können. Es war ihm eigentlich ganz recht; denn dadurch war er der Versuchung zum Geldausgeben entgangen. Aber er hatte auch noch einen anderen Grund, sich dem fröhlichen Treiben seiner Altersgenossen fernzuhalten. Er hatte einen Sprachfehler. Er konnte einige Buchstaben überhaupt nicht aussprechen, und seine Stimme hatte einen unschönen, gaumigen Klang. Die anderen lachten ihn aus, wenn er den Mund auftat, und das wurmte ihn. Es wallte zornig in ihm auf, er wollte den Spöttern eine derbe Antwort geben. Der Ausdruck versagte ihm, er mußte es hinunterschlucken. Er wollte in seiner gesteigerten Wut dem ersten besten an die Kehle springen. Springen? Sein lahmer Fuß erinnerte ihn daran, daß er ein Krüppel war. Und die jungen Leute, die ihn hänselten, waren vierschrötige starke Burschen. Da humpelte er dann in großer Erregung, die allmählich in tiefe Traurigkeit umschlug, nach Hause. So lebte er nun mit seiner armen, sorgenden Mutter ganz für sich allein.
Den Kranichs, die im oberen Stockwerk wohnten, ging es viel besser. Die Mutter hatte schon ein paar hundert Taler mit in die Ehe gebracht, der Vater war ein gut bezahlter Arbeiter der Fabrik, der Sohn selbständig und aus dem Hause; und seit ihrem fünfzehnten Jahre verdiente auch die einzige Tochter: Milda. Zwischen den beiden Familien herrschte vollkommene Eintracht.
Schon in früher Kindheit hatte Berthold eine sehr innige Zuneigung zu dem lustigen, blühenden, hübschen Nachbarskinde gefaßt. Und auch sie war ihm gut. Sie verstand ihn wohl besser als die anderen; er tat ihr leid. Holder nannte sie ihn. Berthold war froh, wenn er in ihrer Nähe sein konnte, und sie duldete ihn gern wie einen alten, treuen Hund, – wenn er ihr manchmal auch ein bißchen unbequem war.
Es war ein großer Schmerz für ihn, als Kranichs ihre enge Wohnung in dem elenden Häuschen aufgaben. Ihre Mittel hatten es ihnen gestattet, oben auf dem Berge, hart an der Fabrik, ein bescheidenes Anwesen käuflich zu erwerben. Als die letzten Geräte aus der Wohnung herausgeschleppt waren und Milda ihm die Hand zum Abschied reichte, sagte er: »Schade!«
Sie sahen sich zwar noch täglich auf dem Hofe in der Fabrik; am Sonntag besuchte Berthold Kranichs mitunter, da kannte man ihn ja und verlangte nicht von ihm, daß er an der Unterhaltung teilnahm. Ihm genügte es schon, wenn er mit Milda zusammen sein konnte. Aber mit der Innigkeit von ehedem war es doch vorbei. Milda kümmerte sich auch augenscheinlich immer weniger um ihn.
Sie hatte sich in den letzten Jahren zu einer Art Dorfschönheit herausgemacht. Eine üppige Blondine mit starken Hüften, mit gewöhnlichen, aber keineswegs unschönen Gesichtszügen, frischen Farben, schelmischen blauen Augen und gesunden Zähnen. Wegen ihrer Lustigkeit war sie allgemein beliebt, obwohl ihr leichtsinnige Streiche aller Art nachgesagt wurden. Sie war die Erste und Letzte auf dem Tanzboden, wurde von allen jungen Leuten umschwärmt, und wenn einer etwas draufgehen ließ, so mußte Milda jedesmal als heiterster Gast dabei sein. So trieb sie es jahrelang. Aber sie war eben ein liebenswürdiges Geschöpf, und kein Mensch verdachte es ihr. Seit ein paar Wochen hatte sie einen Schatz, den Kutscher des Fabrikherrn, der auch die ernste Absicht hatte, Milda zu heiraten. Er hatte nur ein bißchen Angst vor ihrem leichten Sinn und wollte noch ein Jährchen warten.
Milda hatte ihr neunzehntes Jahr vollendet und blühte herrlich in der Jugend Prangen, während Berthold von schlechtem Blut, von klein auf kümmerlich genährt, in gewohnheitsmäßiger Entbehrung aufgewachsen, engbrüstig und siech, abseits im Schatten stand. Unendlich traurig blickten seine dunklen Augen in die Welt, die ihm so wenig Freude bot. Auf seinem langen, ziemlich schmalen Schädel starrten die kurz geschorenen Haare wie eine Bürste auf. Seine Gesichtsfarbe war fahl mit graugrünlichem Schatten – die unheimliche Farbe des Fabrikarbeiters, der von Kindheit an in schlecht gelüftete Räume eingesperrt wird und sich fast niemals Bewegung in freier Luft macht. Kein Mensch kümmerte sich um ihn – auch Milda nicht, die sich in der Gesellschaft von hübscheren und flinkeren Burschen wohler fühlte. Aber sie war ihm trotzdem gut geblieben; und begegneten sie sich, so war sie herzlich zu ihm. Daß ihr lustiger Lebenswandel dem unbeholfenen und schweigsamen Freunde naheging, ahnte sie nicht. Er brachte kein Wort über die Lippen, und die unausgesprochenen Gefühle stauten sich in ihm auf und wurden stärker und stärker. Er konnte nur noch an Milda denken, die es unbefangen und frohlebig so weiter trieb, wie er es nun schon so lange beobachtet hatte. Alles, was er von ihr hörte und sah, gab ihm einen Stich ins Herz. Die Eifersucht auf den Kutscher raubte ihm die Ruhe der Tage und den Schlaf der Nächte. Er mußte einmal vernünftig mit ihr sprechen. Er mußte vor ihr sein Herz ausschütten und ihr sagen, daß er sie viel lieber habe als alle anderen und es treuer mit ihr meine. Sie solle nur zu ihm kommen.
Er lud sie ein, und Milda kam. Er gab ihr fünfzig Pfennige; dafür holte sie zwei Flaschen Bier, die zweiundzwanzig Pfennige kosteten. Achtundzwanzig Pfennige gab sie ihm zurück. Sie saßen einander gegenüber in dem engen Stübchen, während die Mutter nebenan in der Küche zu schaffen hatte. Milda allein führte das Wort. Sie allein sprach auch dem Getränke zu, während er das halb gefüllte Glas unangerührt vor sich stehen ließ und sie mit seinen schwermütigen Augen beständig anblickte. Holders Schweigsamkeit fiel ihr nicht auf; sie kannte ihn ja. Nach etwa einer Stunde stand sie auf. Sie hatte ihm alles erzählt, was sie wußte, und es war schon spät geworden, etwa neun Uhr. Nun erhob sich auch Berthold. Und als sie ihm die Hand zum Abschied reichte, sagte er: »Ich bringe dich.«
Sie traten hinaus in den wundervollen, milden Frühlingsabend. In gewöhnlichem Schritt braucht man kaum zehn Minuten, um von der Rauscherschen Wohnung zu dem Krauichschen Häuschen zu gelangen, aber sie gingen sehr langsam, und es waren wohl zwanzig Minuten verflossen, als sie oben ankamen. Berthold war immer zwei oder drei Schritte hinter Milda hergehumpelt. Unterwegs hatten sie kein Wort gewechselt. An der Haustür streckte ihm Milda die Hand entgegen und sagte: »Danke schön! Schlaf süß, Holder! Gute Nacht!«
»Gut Nacht!«
Die Tür schloß sich. Berthold, den der Weg bergan immer anstrengte, blieb eine Weile vor dem Hause stehen. Wohl ziemlich lange. Denn er sah, daß in einer Stube ein Licht angezündet wurde, und als es gelöscht wurde, war er noch immer da. Er beachtete es kaum. Er hatte Milda so vieles sagen, ihr Vorwürfe machen und ihr gestehen wollen, wie gut er ihr war. Es hatte in ihm gewallt und gesiedet wie in dem Dampfkessel da oben in der Fabrik. Aber das Wort war ihm in der Kehle stecken geblieben. Als sie vorhin so leichtfüßig und drall vor ihm hergeschritten war und sich einmal nach ihm umgewandt und ihren Schritt verlangsamt hatte, um ihn wieder nahe an sich herankommen zu lassen, da war es auf einmal über ihn gekommen: da hätte er sie leidenschaftlich umarmen und küssen mögen. Sie hätte sich wohl darüber gewundert, aber gewiß nicht gesträubt, denn sie hatte Holder gern. Aber er war wie gelähmt; sie ging ruhig ihres Weges weiter, und er hinkte hinterdrein. Jetzt, da er in der stillen, warmen Nacht vor dem dunklen Häuschen stand, stöhnte er dumpf auf. Er erschrak über den eigentümlichen Laut, der sich seiner Brust entrungen hatte, und schleppte sich nun schwerfällig nach Hause. Er zündete kein Licht an. Er entkleidete sich nicht und schlief nicht.
Das hatte sich am Samstagabend vor Pfingsten zugetragen.
Berthold war kein Kirchgänger. An den hohen Festtagen aber begleitete er seine Mutter ins Gotteshaus. Das war von Kindheit an so gewesen, und dabei war es geblieben.
Als Milda an der alten Frau Rauscher und ihm vorüberging, um ihren Platz auf einer der vorderen Bänke einzunehmen, hatte sie ihnen artig zugenickt. In ihrem hellen Sonntagskleide war sie schöner als alle anderen.
Berthold sah nur sie, ihren weißen Hals, ihren kleinen runden Kopf mit dem üppigen ährenblonden Haar, das sie für den Festtag mit besonderer Sorgfalt geordnet hatte. Er sah nur sie und folgte der Predigt mit geringer Andacht. Nur einige Worte der Pfingstepistel, die der Pastor verlas, blieben in ihm haften und hallten wieder: das »Brausen vom Himmel als eines gewaltigen Windes, der das ganze Haus erfüllte« – das glaubte er schon gehört zu haben. Und wie sich alle verwundern und entsetzen, irre reden und einer zum andern spricht: »Was will das werden?« – das kam ihm so vertraut vor, das verstand er.
Er ließ seine Mutter vorangehen und wartete an der Kirchentür.
Als Milda heraustrat, redete er sie an:
»Willst du heute zu mir kommen?«
»Heute? Das tut mir leid! Heute geht's nicht. Ich habe mich verabredet.«
»Und morgen?«
»Morgen?« wiederholte Milda gedehnt und zögernd. »Ich will sehen … wenn ich kann, komme ich morgen auf einen Sprung zu euch … So gegen Abend …«
»Aber bestimmt versprechen tu' ich's nicht.«
»Ich warte.«
Sie hatte es eilig, loszukommen. Sie nickte ihm zu und entfernte sich leichtfüßig. Sie ging nicht nach Hause, denn sie bog in die Seitengasse ein. Da hatte Berthold eben noch den Kutscher an der Ecke stehen sehen. Er folgte mühselig. Als er an die Gasse kam, blickte er hinein. Aber da war kein Mensch mehr. Ein Kätzchen putzte sich festtäglich in der Sonne. Sonst kein lebendes Wesen.
»Bist du krank?« fragte ihn die Mutter bei Tisch; denn er hatte von dem Feiertagsmahle, das immer besser war als das alltägliche, so gut wie nichts genossen. Berthold verneinte stumm.
Am Abend war Tanz im Wirtshause …
Am zweiten Feiertage ließ Berthold die Mutter allein in die Kirche gehen.
Regungslos standen die Bäume in ihrem frischen grünen Blätterschmucke. Die Sonne schien. Am blauen Himmel schwebten nur in der Tiefe einige langgezogene, duftig graue, durchsichtige wolkige Striche. Tauben kreisten und wogten in schillerndem Zuge. Manchmal gackerte eine Henne. Der Flieder duftete.
Berthold wartete. Er stützte die Stirn auf die Handfläche und schloß die Augen, denn er fühlte, daß ihm das Blut heißwellig zu Kopfe stieg. Da hörte er wieder das Brausen als eines gewaltigen Windes, und es fragte ihn: »Was will das werden?«
»Laß mich nur, Mutter!« wehrte er ab, als ihn Frau Rauscher wie am Tage vorher gefragt hatte, ob ihm etwas fehle.
Er ging in sein Stübchen und setzte sich da ans offene Fenster. Er wartete.
Gegen Abend sah er Milda am Arme des Kutschers lachend vorübergehen. Sie warf wohl einen flüchtigen Blick auf das Häuschen, aber sie sah ihn nicht. Im Stübchen war es ja schon ganz dunkel, und die beiden halten keine Zeit zu verlieren. Denn von ferne her hörte man schon undeutlich die mißlautenden Klänge der Tanzmusik. Je weiter der Abend vorrückte, desto vernehmlicher wurde die Begleitung durch den Brummbaß und das schrille Tuten der arg verstimmten Trompete.
Berthold saß noch immer am offenen Fenster. Er hatte die schmalen Lippen fest geschlossen und blies den Atem durch die zitternden Nasenflügel. Von Zeit zu Zeit zog er das Taschentuch und schneuzte sich.
Gegen Mitternacht verstummte die Musik, und es wurde nun auf kurze Zeit lebendiger im stillen Dorfe. Nun zogen auch verschiedene Pärchen bei ihm vorüber – gewiß auch Milda mit ihrem Kutscher. Im Dunkel der Nacht konnte er die einzelnen nicht erkennen. Aber er hörte ein Lachen, das er kannte.
Schon lichtete sich der Himmel im Osten; schon wurden da milchige Flocken sichtbar, die sich bald zitronengelb färbten, dann in ein zartes duftiges Rosa übergingen und endlich im blendenden Brande flüssigen Goldes erstrahlten. Die Sonne ging auf. Berthold erhob sich mühselig von seinem Stuhle, auf dem er lange, lange Stunden unbeweglich gesessen hatte. Er fühlte sich wie zerschlagen. Er warf den Kopf nach hinten, reckte die kümmerliche, schmale Brust vor und machte mit den Armen einige Male ruckhafte Bewegungen. Dann steckte er den Kopf in das Waschbecken, das er mit kaltem Wasser gefüllt hatte, und rieb sich mit dem rauhen Handtuch tüchtig ab. Er fühlte sich jetzt etwas frischer. Und als er in der Nebenstube die schlürfenden Schritte seiner Mutter hörte, öffnete er die Tür.
»Schon so zeitig auf?« rief Frau Rauscher verwundert und setzte etwas beunruhigt hinzu: »Du wirst mir doch nicht krank werden?« Berthold schüttelte den Kopf. »Ich will dir nur gleich Kaffee machen, das Wasser muß bald kochen.«
Als sie sah, mit welcher Gier Berthold das heiße Getränk herunterschlürfte und den dicken Schnitt Schwarzbrot fast ohne zu kauen verzehrte, lächelte sie befriedigt und sagte: »Nein, du bist nicht krank.«
Gleich nach dem Frühstück stand Berthold auf und nahm seine Mütze vom Haken nahe der Tür.
»Willst du denn schon in die Fabrik.? Es ist ja noch viel zu früh! Vollends heute … am dritten Feiertag.«
»Macht nichts.« Er nickte seiner Mutter zu und ging davon.
Inmitten des Weges bergan blieb er plötzlich stehen. Er erhob die Rechte ein wenig, bis auf Brusthöhe, und bewegte die Hand mit aufgestrecktem Zeigefinger einigemal auf und nieder, etwa wie es der Lehrer macht, wenn er seinem Schüler etwas schwer Verständliches verdeutlichen will. Dabei starrte er unausgesetzt vor sich hin auf einen etwas helleren Stein, der am Wege lag und im sonnigen Frühlichte glitzerte. Dann ging er schneller weiter.
Auch der Aufseher wunderte sich darüber, daß Rauscher das Tagewerk schon so früh beginnen wolle. Aber er kannte ihn ja als einen Sonderling.
Berthold wurde seit einiger Zeit mit dem Einpacken der feineren und leichtzerbrechlichen Waren beschäftigt. In dem kleinen Raum war er allein tätig. Er sah sich um, nahm eine Papptafel, wie sie zu Mustersendungen benutzt werden, und einen Zimmermannsbleistift, der dalag, und schrieb nun etwas darauf. Langsam, ungelenk, mit großen, kindischen Buchstaben. Mit dieser Arbeit war er kaum fertig, als es auf dem Fabrikhofe lebendiger wurde. Die Arbeiter und Fabrikmädchen suchten ihre Werkstätten auf.
Als Milda vorüberging, rief er sie an. Sie trat ein und begrüßte ihn freundlich lächelnd: »Guten Morgen, Holder!«
»Lies das!«
Er reichte ihr die Papptafel, die Milda etwas zögernd und verwundert in die Hand nahm.
»Lies es laut!«
Sie las: »Liebe Milda. Jetzt ist die letzte Stunde unseres Lebens. Du weißt, wie gut wir uns in der Schule waren. Jetzt behängst du dich mit anderen Kerlen, schäme dich in dein Herz hinein. Wenn du nicht sagst, daß du mich magst, kann ich's länger nicht mit ansehen. Sei vernünftig wie ein Mensch. Sagst du nein, so werden ich und du zwei Leichen.«
Er stand ihr gegenüber und hatte einen großen schweren eisernen Schraubenschlüssel ergriffen. Und während sie las, klopfte er drohend in langsamen Schlägen auf eine leere Kiste.
Die ahnungslose Milda hielt alles das für einen Scherz, und bei den letzten Worten »zwei Leichen« lachte sie hell auf. Da hörte er es wieder … das pfingstliche Brausen als eines gewaltigen Windes. Er erhob den eisernen Schraubenschlüssel und schlug sie mitten auf den Kopf. Sie stürzte blutend und ohnmächtig zu seinen Füßen, ohne einen Schrei zu tun. Noch einmal erhob er den Arm. Da hörte er ganz deutlich eine Stimme, die ihm schrecklich mahnend zurief: »Was will das werden?« Er ließ den Schlüssel fallen. Er riß die Tür zum Nebenraume auf und lallte Unverständliches.
Diese Worte »… so werden ich und du zwei Leichen« waren auch die letzten, die Milda gehört hat. Da hatte die übermütig Auflachende der fürchterliche Schlag getroffen, der ihr sogleich die Besinnung raubte, ihr also auch keinen Schmerz bereitet hat. Wie sie von ihrer Freundin, nachdem man die klaffende Wunde oberflächlich verbunden hatte, nach Hause geschafft, wie der Arzt herbeigeholt worden, und was in den nächsten Stunden überhaupt mit ihr geschehen ist, – daran hat sie keinerlei Erinnerung bewahrt. Sie hat auch stundenlang auf keine der an sie gestellten Fragen Antwort gegeben.
Die Niederschrift Rauschers hatte noch eine Fortsetzung, die Milda nicht mehr vernommen hat. Ich habe die mit Blut besudelte Papptafel später – viel später, als ich den Inhalt der Rauscherschen Drohung aus dem Gedächtnis (übrigens beinahe wortgetreu) skizzierte, – in Händen gehabt. Berthold wandte sich nun an die Seinen und schrieb also: »Liebe Mutter und Geschwister! Wir wollen hin zu Jesus, wo mein lieber Vater ist. Ich und Milda reisen jetzt zu unserm Welterlöser, der der Seelenerlöser ist, und ich werde es besser kriegen, als es auf der Welt gewesen ist. Ade, liebe Eltern, Ade.« (Auch der auffällig emphatische Satz vom Welt- und Seelenerlöser, den ich mir genau gemerkt habe, ist wörtlich so von Rauscher geschrieben worden.)
Nach dieser Verabschiedung von den Seinigen richtete Berthold noch eine letzte Warnung an die Geliebte: »Liebe Milda! Sage, wie du es machen willst. Willst du mich lieben oder nicht. Sage es gleich! Dann will ich dir Ruhe lassen. Sonst schlage ich dir den Kopf ab.«
Sein Entschluß war gefaßt. Nach Mildas Tötung wollte er sich selbst das Leben nehmen, um mit ihr vereint »dahin zu reisen, wo man es besser kriegen wird, als es auf der Welt gewesen ist,« – wie er den Begriff des »besseren Jenseits« mit echt volkstümlicher Eindringlichkeit des Ausdrucks umschreibt. Da er sie aber bewußtlos, blutüberströmt vor sich sah, war sein Mut gebrochen.
Willenlos ließ er sich binden. Der herbeigerufene Gendarm lieferte ihn in der Kreisstadt ins Gefängnis; und vier Monate daraus stand Berthold Rauscher unter der Anklage des Mordversuches vor den Geschworenen.
*
Als Hauptzeugin bei der Verhandlung trat Milda Kranich auf. Der lebensgefährliche Schlag, der sie auf dem Schädel am Haaransatz getroffen hatte, hatte sie nur wenig entstellt. Seit einem Monat war sie von der schweren Verwundung so weit geheilt, daß sie ihre Arbeit hatte wieder aufnehmen können. Und am letzten Sonntag hatte sie zum erstenmal wieder getanzt.
Die Verhandlung vor den Geschworenen verlief ohne besondere Zwischenfälle. Die Sache lag ja auch so einfach. Der Angeklagte war geständig, er beantwortete die Fragen des Vorsitzenden, die er bisweilen das erste Mal nicht recht verstand, ruhig mit »Ja« und mit »Nein«. Das Zeugenverhör stellte nur schon Bekanntes fest. Der Staatsanwalt schilderte Berthold Rauscher als einen ganz gemeinen, heimtückischen, viehisch rohen Menschen, der mit kühlster Überlegung und schaudernerregender Ruhe das blühende Leben eines lieben, heiteren Kindes, das die Freude und der Stolz der Eltern und der Liebling des ganzen Dorfes sei, habe vernichten wollen. Nur durch ein Wunder sei Milda ihrem Schicksal entronnen. Also Mordversuch. Er beantragte acht Jahre Zuchthaus.
Der Verteidiger konnte den Versuch der beabsichtigten und überlegten Tötung angesichts der schriftlichen Todesandrohung und des Geständnisses nicht in Abrede stellen. Er bat nur um eine etwas mildere Strafe.
Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage, und nach kurzer Beratung verkündete der Gerichtshof das Urteil, das auf sieben Jahre Zuchthaus lautete. Die Sache lag ganz einfach.
Milda weinte bitterlich. Rauscher folgte ohne ein Zeichen von Teilnahme dem Wärter in die Zelle; am andern Morgen wurde er ins Zuchthaus abgeliefert.
Als die Geschworenen zu früherer Stunde, als sie hätten erwarten dürfen, den Sitzungssaal verließen, sagte der eine zu einem andern: »Von der heutigen Sache hatte ich mir eigentlich mehr versprochen.«
*
Nachschrift
August 1909
Das ist die Aufzeichnung, wie sie unter dem unmittelbaren Eindruck, den die Verhandlungen vor den Meininger Geschworenen auf mich gemacht hatten, entstanden war (Oktober 1898). Als ich sie jetzt – nach mehr denn zehn Jahren – wieder zur Hand nahm und sie wiederum las, um sie in diese Sammlung einzureihen, traten mir die Bilder, die mir allmählich nur noch in verschwommenen Umrissen und verblaßten Farben vorschwebten und sich schließlich vollkommen verflüchtigt hatten, mit merkwürdiger Schärfe der Zeichnung und des Kolorits wieder ganz deutlich vor das geistige Auge. Ich sah sie alle vor mir, die an diesem Prozesse Beteiligten: den hohen Gerichtshof, der kein »besonderes Interesse zur Sache« zu haben schien, den vehementen Vertreter der Anklage, den unfreudigen Verteidiger, den die Erkenntnis, für eine verlorene Sache zu fechten, ermattet haben mochte, und die von der Länge der, eines jeden auffrischenden Zwischenfalls baren Sitzung abgespannten Gesichter der Geschworenen. Alles das im trüben Lichte eines grauen Herbsttages.
Ich sah auch die rührende Gestalt der Hauptzeugin, der hübschen, frischen Milda, mit der zwar verharschten, aber noch stark geröteten breiten Spur des wuchtigen Schlages, der sie besinnungslos zu Boden gestreckt hatte, sah, wie ihr unbeschreiblich trauriger Blick den unbegreiflichen Freund auf der Anklagebank streifte, und hörte, wie sie unter Schluchzen und Tränen erzählte, daß »Holder« – sie nannte ihn nie anders – immer so gut und herzlich zu ihr gewesen sei, und daß sie ihn immer lieb gehabt habe. Und die andern Zeugen, die Verwandten, Nachbarn und Honoratioren von Rauenstein, die allesamt im monoton gemütlichen Singsang des heimatlichen Dialekts dem des schwersten Verbrechens Angeklagten dasselbe Leumundszeugnis ausstellten: ein armer Teufel, ein harmlos guter Kerl! …
Und ich sah am schärfsten und deutlichsten den Angeklagten selbst: schmalschulterig, eine Mückenbrust, schlaff herabbaumelnde Arme, wackelig auf den mißgestalteten Füßen, ungelenk in seinen Bewegungen, das Gesicht aschgrau, krankhaft fahl mit dunkeln klagenden Augen. Er hatte offenbar Mühe, den Verhandlungen zu folgen, und verstand oft gar nicht, um wen und um was es sich eigentlich handelte. Wenn der Vorsitzende in seiner schroffen Weise unversehens eine Frage an ihn richtete, so fuhr er jedesmal erschrocken zusammen, zitterte heftig und mußte sich die Frage gewöhnlich wiederholen lassen, ehe er nach längerem Besinnen deren Sinn erfaßte. Dann gab er nach sichtlicher Anstrengung schwerfällig und bisweilen kaum verständlich eine unbeholfene Antwort. Der Vorsitzende verlor zumeist, während Rauscher mit dem Ausdruck noch rang, die Geduld und fuhr mit der barschen Abfertigung: »Schon gut! Setzen Sie sich!« in den Verhandlungen fort …
Die alle sah ich leibhaftig wieder vor mir. Aber vergeblich war mein Bemühen, mir den sachverständigen Arzt zu vergegenwärtigen. Und ich kannte doch alle Meininger Ärzte, die etwa in Betracht kommen konnten. Sollte ein Psychiatrischer Sachverständiger überhaupt nicht hinzugezogen worden sein? …
Die Sache hatte mich damals so bewegt, daß ich die erste Gelegenheit ergriff, – ich glaube, es war am Tage nach der Verurteilung, – um mit Sr. Hoheit dem Herzog darüber zu sprechen.
Einige Monate später – im März 1899 – verließ ich Meiningen.
*
Nicht ohne ein Gefühl von Beschämung machte ich nun – nach zehn Jahren – die Wahrnehmung, daß ich an den verkrüppelten Othello des Thüringer Nestes kaum noch gedacht hatte, daß mir sogar sein schöner, wie für den Ritterroman-Helden in einem Familienblatt erfundener Name entfallen war: Berthold, genannt Holder Rauscher von Rauenstein! …
Was mochte aus ihm geworden sein? Selbst wenn die Gnade des Landesherrn strafmildernd einzugreifen nicht in der Lage gewesen war. – Rauschers Strafzeit war ja längst um (Herbst 1905). War er verdorben, gestorben? Und wenn er noch am Leben war, – was war aus ihm geworden?
Es ließ mir keine Ruhe … Ich schrieb an einen Meininger Freund und fand nun bei dem dortigen Staatsanwalt, Herrn Dr. Luge, der erst nach meinem Scheiden von Meiningen dort in Funktion getreten war und sich über den ihm bisher unbekannt gebliebenen Fall Rauscher auf meine Anregung hin genau unterrichtet hatte, das freundlichste Entgegenkommen.
Der Bescheid, den er mir gab, erregte mich in womöglich noch höherem Grade als der seinerzeit vor den Geschworenen verhandelte Prozeß. Und da ich zur Erholung von der Großstadt im behaglichen Eisenach, also in der Nachbarschaft, einen längeren Aufenthalt genommen hatte, nahm ich die Einladung, nach Meiningen hinüberzukommen, dankbar an, um aus dem Munde des Herrn Staatsanwalts, soweit seine amtliche Stellung es ihm gestattete, Näheres über das Unglaubliche, Unbegreifliche zu vernehmen.
Berthold Rauscher war nicht gestorben, wohl aber – sofern Tatsachen sprechen, – verdorben, gründlich verdorben!
Der körper- und geistesschwache Krüppel, der bis auf den, in sinnverwirrender Eifersucht verübten mörderischen Überfall seiner Geliebten Milda keinem Menschen ein Härchen gekrümmt hatte, war eines abermaligen Mordversuchs an einem Mitsträfling angeklagt, schuldig befunden und am 1. Juli 1903, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, zu einer weiteren Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt worden!
»… Es horcht
Der Alte die Lieder
Und schüttelt das Haupt … »
*
Über die Szene, die sich am 28. März 1903 gegen 2 Uhr nachmittags im Meiningenschen Zuchthause zu Unter-Maßfeld abgespielt hat, wird die objektive Wahrheit wohl kaum jemals festzustellen sein. Von einer »Feststellung« des Tatbestandes auf Grund glaubwürdiger Aussagen kann eben nicht die Rede sein. Die Beteiligten, Rauscher und Trautmann, sind wegen schwerer Verbrechen bestrafte Zuchthäusler. Der einzige wichtige Zeuge ist ein wegen Muttermordes bestrafter Sträfling.
Dieser Zeuge hörte zur angegebenen Zeit in seinem Arbeitsraum, wo er wohl mit andern Sträflingen zusammen beschäftigt war, gellende Hilferufe, die aus dem benachbarten Raume drangen – einer Art von Magazin, in dem die im Zuchthause gefertigten Korbgeflechte bis zur Abholung aufbewahrt werden. Er stürzte auf das schreckliche Geschrei nach der Nebentür, die er nicht ohne Mühe aufriß, da sie, wie sich später herausstellte, mit einem Draht umschlungen war, der das Öffnen der Tür erschwerte. Als Erster zur Stelle, fand er am Boden liegend zwei Sträflinge in verzweifelt wildem Raufen, blutüberströmt.
Der eine, Rauscher, kniete jetzt auf dem andern, einem gewissen Trautmann, und hieb mit einem Schlageisen auf ihn ein. Er selbst, Rauscher, hatte eine lange – eine 12 Zentimeter lange! – aber nicht sehr tiefe Schnittwunde am Halse, die von einem scharfen, sogenannten »Schnitzmesser« herrührte, wie sie von Korbflechtern zum Schneiden der Weiden verwandt werden. Das Messer wurde gefunden.
Der Zeuge sprang auf die Wütenden zu und riß sie auseinander.
»Er schlägt mich tot! Er schlägt mich tot!« heulte Trautmann.
Rauscher zitterte wie Espenlaub am ganzen Leibe und stierte blöde vor sich hin.
»Was hast du denn da getan?« fragte der Zeuge.
»Nichts! Nichts!« stammelte Rauscher. Etwas anderes war nicht aus ihm herauszubringen.
– – – Das ist das tatsächlich Erwiesene. Für alles übrige ist man auf Hypothesen angewiesen.
Die beiden hatten im Korblager nichts zu schaffen.
Trautmann erklärt: er habe Tabak zum Kauen, den er dort versteckt gehalten, holen wollen. Rauscher sei ihm nachgeschlichen, habe ihn überfallen und ihm plötzlich mit dem Eisen einen Schlag versetzt, daß er zu Boden gestürzt sei. Die Wunde am Halse habe sich Rauscher selbst beigebracht.
Rauscher dagegen erklärt: Trautmann, der allerdings im Rufe – anscheinend im begründeten Rufe homosexueller Verirrungen stand, habe ihn in den Lagerraum gelockt und ihn, wie schon in früheren Fällen, zu einer unzüchtigen Handlung verleiten wollen. Rauscher habe sich diesmal aber widersetzt. Die beiden seien darauf handgemein geworden, dabei gestolpert, und da habe ihm Trautmann die Wunde mit dem Schnitzmesser beigebracht. Nun erst habe Rauscher nach dem Eisen gegriffen und auf seinen Gegner losgeschlagen.
Trautmann bestreitet das alles und stellt, trotz seines bösen Leumunds, jede sexuelle Ausschreitung entschieden in Abrede.
Die Staatsanwaltschaft hielt die Angabe des Rauscher, daß bei dem geheimen Zusammentreffen der beiden im Korblager das Homosexuelle mitgewirkt habe, für wahrscheinlich. Dagegen wollte sie Rauschers weiterer Darstellung, die darauf hinauslief, daß er im Zustande der Notwehr zugeschlagen habe, keinen Glauben beimessen. Sie nahm vielmehr an, daß das Motiv zu dieser mörderischen Rauferei eine Art von Analogon zu seinem früheren Verbrechen bilde: Mordversuch aus Eifersucht. – Es könne als notorisch angesehen werden, daß sich bei Rauscher im Zuchthause ein perverser Geschlechtstrieb entwickelt, und es sei in hohem Grade wahrscheinlich, daß zwischen ihm und dem Trautmann ein widerwärtiger Verkehr stattgefunden habe. Rauscher sei nun auf den Trautmann, der zu andern Sträflingen in ähnlichen Beziehungen gestanden habe, eifersüchtig geworden und habe ihn deshalb töten wollen – wie ehedem seine Milda.
Die Geschworenen haben diese Auffassung zur ihrigen gemacht, Rauscher des Mordversuchs im Rückfall schuldig befunden, und das Gericht hat ihm eine weitere Zuchthausstrafe von acht Jahren zuerkannt.
Bei dem Halbdunkel, in dem die Vorfälle selbst sich abgespielt haben, und den verschlossenen Türen, hinter denen darüber verhandelt worden ist, würde es nicht wohl anstehen, irgendwelche Kritik zu üben, um so weniger, als bei diesem zweiten Prozesse die Anklage durch einen Mann vertreten war, – durch den damaligen Ersten Staatsanwalt Herrn Freytag Jetzt Oberstaatsanwalt am Kgl. Oberlandesgericht in Celle (Hannover). – der sich wegen der Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit und menschenfreundlichen Gesinnung in der Ausübung seines Berufs der allgemeinsten Hochschätzung erfreut. Ein vollkommen überzeugender Schuldbeweis aber hat nicht erbracht werden können; und die Möglichkeit wird nicht von der Hand zu weisen sein, daß die Vorstrafe des Rauscher dem menschlichen Irren verhängnisvollen Vorschub geleistet habe.
Wenn er es überlebt, wird Berthold Rauscher aus Rauenstein also im Herbst 1913 nach verbüßter fünfzehnjähriger Zuchthausstrafe wieder auf freien Fuß gesetzt werden …
Und dann? …
Heinrich Schunicht
Bei einem großen Prozentsatz der Morde lassen sich Anfälle epileptischen Wahnsinns nachweisen; meistens infolge erblicher Belastung. Welche furchtbare Bedeutung diese unfaßlich grausame Heimsuchung der Nachkommenschaft »bis ins dritte und vierte Glied« bei Kindern mit abnormen sittlichen Anlagen erlangt, hat Lombroso in seinem vielberufenen Werke über den verbrecherischen Trieb im Menschen durch statistische Untersuchungen festgestellt.
Unter solchen Kindern mit verbrecherischen Neigungen konnte bei 46 Prozent die erbliche Belastung nachgewiesen werden! Der große Einfluß der erblichen Belastung auf die Hervorbringung abnormer sittlicher Anlagen ist also unbestreitbar, wiewohl er nicht so weit geht, daß er die Entstehung eines normalen sittlichen Charakters geradezu unmöglich mache. Denn unter 42 Kindern mit schwerer erblicher Belastung waren zwölf, also zwischen 26 und 27 Prozent, gutgeartet.
Unter den Sünden der Väter, die an den Kindern heimgesucht werden, steht aber die Trunksucht obenan. Sie scheint in den späteren Geschlechtern am verheerendsten weiterzuwirken. Die Kinder von Gewohnheitssäufern sind fast niemals normal, und gerade die Epilepsie ist eines der gewöhnlichsten Vermächtnisse der elterlichen Trunksucht.
Gerade in der Epilepsie bricht nun das Tierische im Menschen am erkennbarsten hervor, zeigt sich die » bête humaine« in ihrer unverhülltesten Gestalt. Gowers zählt in seiner Schrift über Epilepsie (London, 1860) die seltsamen Handlungen der Epileptiker auf und sagt dann: »Man sollte meinen, es seien das instinktmäßige Äußerungen des Tierartigen, das verborgen in uns schlummert.«
Das unruhige flackernde Auge, der Kopfschmerz, der den Anfällen vorherzugehen pflegt, dann plötzlich das Schwinden des Bewußtseins, ein blendend roter Feuerschein im höchsten Stadium und endlich nach der überstandenen Krisis furchtbare körperliche und seelische Schmerzen, oder auch völlige Apathie und Stumpfheit, – alles das sind Krankheitserscheinungen, die bei Epileptikern vielfach beobachtet worden sind.
Die Unfähigkeit, der zwecklosen und vom Täter selbst verabscheuten Schandtat Widerstand entgegenzusetzen, findet keine bessere Erklärung als in der Epilepsie. »Bei Gehirnen, die durch aus frühster Kindheit herrührende Entwickelungsschäden zur Epilepsie beanlagt sind, ist stets ein locus minoris resistentiae vorhanden, an welchem sich eine jener tausend krankhaften Neigungen, wie sie bei jedem von uns Vorkommen, einnistet. Eine solche entwickelt sich zu irgendeiner schlimmen Stunde, wenn sie auf günstigen Boden fällt, und wenn man es unterläßt, sie zu bekämpfen.«
Diese Gemütsverkehrtheiten können in ihrer Fortentwickelung die furchtbarsten Verhältnisse annehmen und sehr wohl bis zum unwiderstehlichen Mordtrieb ausarten. Im Mailänder Gefängnis wurde vor einigen Jahren ein gutmütiger Wärter, dem keiner der Gefangenen übel wollte, erschlagen. Der Mörder sagte aus, er habe weder aus Haß noch aus einem sonstigen Grunde die Tat verübt, aber er habe jemand töten müssen. Ein anderer Epileptiker begegnete einem Händler, den er nach seinem Namen fragte, und den er auf die Antwort, er heiße Weiß, mit den Worten tötete: »Ich werde dich schwarz machen!« Ohne alle Veranlassung, bloß aus plötzlicher Mordlust.
Zola hat sich in seinem Kriminalromane ganz auf den Standpunkt Lombrosos gestellt: daß die im Menschen schlummernde Bestie nur durch die stärkere Gewalt der Erziehung unschädlich gemacht werden kann, die aber – wenn eine krankhafte Veranlagung, wie namentlich die Epilepsie, die Widerstandskraft bricht, – sich entfesselt und in ihrer vollen Bestialität sich offenbart. Lombroso sagt: »Welchen andern Schluß kann man aus diesen Dingen – aus den von ihm angeführten Beispielen – ziehen, als den, daß sogar die scheußlichsten Verbrechen einem physiologischen, auf tierischem Trieb beruhenden Zustande entspringen, der sich beim Menschen infolge der Erziehung oder aus Furcht vor Strafe zwar abstumpft, aber unter dem Einfluß von Krankheit, von Liebesrausch und dergleichen mehr Plötzlich wieder hervorbrechen kann?«
Die Liebesleidenschaft öffnet den Käfig, um das wilde Tier loszulassen. Wollust und Mord Hausen im Wahnsinn in grausiger Nachbarschaft dicht beieinander.
»Die Epilepsie,« sagt Voisin, »verdirbt den Charakter, tötet das sittliche Gefühl, schwächt den Verstand, ruft Verstimmungen, Verblendung, Illusionen hervor.« Und Zerstörungssucht ist eine fast allen Epileptischen anhaftende Eigenschaft. »Sie haben,« sagt Lombroso, »ein wahres Bedürfnis, leblose Gegenstände zu zerstören, noch mehr aber, lebende Wesen zu vernichten; daher der Hang, zu verwunden und zu morden.« Und weiter: »Die Anfälle bilden durch ihr plötzliches Auftreten, durch das Übermaß an unmotivierter Grausamkeit, vor den Augen des aufmerksamen Beobachters ein Momentbild von dem eigentlichen Zustande des Epileptischen, eine Karikatur des Verbrechens. Auch die Abstumpfung der Sinne, die vorübergehende Betäubung, welche den Anfällen folgen und sie begleiten, sind nichts, als der gewöhnliche und oft angeborene Zustand der Epileptischen.«
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Wenn wir von Mordtaten sprechen, so haben wir zunächst immer nur die gewaltsame Tötung des Menschen durch Menschenhand im Sinne.
Nach unserm Sprachgefühl verbindet sich mit dem Worte »Mörder« immer der Begriff einer gewaltsamen Handlung, insbesondere einer persönlichen Gewalttätigkeit, die einen gewissen persönlichen Mut bedingt, – eine gewisse physische brutale Überlegenheit, sei es durch die eigene Kraft: durch die Faust, oder durch das Rüstzeug: durch Hieb-, Stoß- oder Schußwaffe – Mann gegen Mann, von Angesicht zu Angesicht.
Wer aus gedeckter Stellung, auf nächtlicher Lauer, aus dem Hinterhalt einen Menschen tötet, ist, wie unsere Sprache fein unterscheidet, ein Meuchelmörder; wer heimtückisch, heuchlerisch, schleichend, durch die Mittelsgewalt eines todbringenden Stoffes Menschenleben vernichtet, ein Gift mischer. Der »Mörder« greift sein Opfer an, packt es, befleckt seine Hand mit Blut und muß es darauf ankommen lassen, daß, wenn sein Streich mißlingt, wenn er auf unerwartet stärkeren Widerstand stößt, mit seinem eigenen Blute die Zeche zu zahlen hat.
Nur in selteneren Fällen sind es edlere Motive, wie Rache, gekränkte Ehre, unglückliche Liebe, die den Mordgedanken gebären; gewöhnlich ist vielmehr gemeine Habgier die treibende Gewalt zur ruchlosen Tat.
Der typische Mörder ist der Raubmörder: Ihn gelüstet's, gerade wie den Dieb, sich fremdes Eigentum auf unrechtmäßige Weise anzueignen. Von dem Diebe aber unterscheidet er sich vollkommen durch die Wahl der Mittel, die er zur Ausübung des Verbrechens anwendet.
Der Dieb sucht sich das fremde Eigentum je nach seiner verbrecherischen Neigung unter einfachen oder erschwerenden Umständen zu eigen zu machen. Der eine nimmt, wenn er sich unbelauscht wähnt, was ihm gerade erreichbar ist: Kleidungsstücke aus Wirtschaften oder Privatwohnungen, zu denen er sich unter irgendeinem Vorwand, als Bettler oder Ausrichter einer Bestellung, ohne Anwendung von gewaltsamen Mitteln Zutritt verschafft; er entwendet Wertgegenstände aus öffentlichen Verkaufsläden, oder, wenn er die besondere Geschicklichkeit dazu besitzt, auch aus den Taschen von Personen, an die er sich in geschickter Weise herandrängt.
Ein anderer verschmäht diesen einfachsten Weg. Es würde ihm nicht beikommen, unter gewöhnlichen Verhältnissen einen Wertgegenstand vom Tische zu nehmen und in die Tasche zu stecken. Ihn reizt die Ausführung des Verbrechens nur unter erschwerenden Verhältnissen. Er muß »knacken«. Nur mit Anwendung von Dietrichen und Brecheisen gelangt er zu dem, was sein begehrlicher Sinn heischt. Das zu entwendende Gut scheint für ihn nur dann wirklichen Wert zu haben, wenn er es sich mühsam aus geschlossenen Räumen, zu denen er sich nur gewaltsam und am liebsten im Dunkel der Nacht den Weg bahnt, und im Steigerungsfalle noch aus besonders verschlossenen Behältern, die gewissermaßen ihm zum Trotz konstruiert worden sind, greifen kann. Beim Einbrecher ist die Schwierigkeit der Ausführung, verbunden mit der steten Angst vor dem Ertapptwerden, die eigentliche Würze des Verbrechens.
In einer Unterredung mit Adolf Krüger, einem vielbestraften, in der Kriminalwelt sehr bekannten Einbrecher, sprach sich dieser mir gegenüber in überaus charakteristischer Weise über die unbeschreiblichen Sensationen, die er bei der Ausübung seiner gewaltsamen nächtlichen Untaten empfand, mit einer Beredsamkeit aus, die ich nicht wiederzugeben vermag. Seine Augen funkelten, als er mir erzählte, wie ihm zumute sei, wenn er am Tage das Haus, in das er in einer der folgenden Nächte eindringen wolle, von außen besichtigt habe, wie er sich nach den Gardinen usw. die Bestimmung der einzelnen Räume zurechtgelegt und nun seinen Operationsplan ausgearbeitet habe, wie er dann in der Nacht auf Schritt und Tritt auf Unerwartetes, Unvorbereitetes, seltsam Aufregendes gestoßen sei, welche unsagbare Erregung ihn erfaßt habe, wenn er endlich auf seinem Operationsfelde sich befunden und sich nun mit schleichenden Schritten vorsichtig an die Arbeit gemacht, wie er bei jedem verdächtigen Geräusch, bei jedem Knarren der Diele den Atem angehalten, das Hämmern seiner Pulse und das stürmische Schlagen seines Herzens gefühlt, und welches Gefühl von Befriedigung und Stolz ihn nach getaner Arbeit ergriffen habe. Ein Verliebter, der in glücklicher Erinnerung ein Liebesabenteuer erzählt, konnte das Bild, das der Verbrecher von seiner Untat gab, nicht mit sinnlicheren Farben schildern.
Der gemeine Dieb wird vom Einbrecher vielleicht noch mehr verachtet, als vom ehrlichen Manne. Denn der gemeine Dieb bedarf nur der Geschicklichkeit und Schlauheit, die unter den Eigenschaften der Verbrecher von diesen selbst als geringwertig betrachtet werden, während der Einbrecher verwegen bis zur Tollkühnheit sein und gewöhnlich auch besondere Körperstärke besitzen muß, – also männliche Eigenschaften, die auch unter den Verkommensten dieser Menschenklasse einen gewissen Respekt gebieten.
Aber dieser Wagemut bewährt sich bei den Einbrechern nur in dem Angriff auf das Objekt. Die stärksten und frechsten unter ihnen nehmen Reißaus, sobald sie bei ihrem Unternehmen gestört werden. Vor dem kleinen kläffenden Hündchen, vor dem schwachen Mädchen laufen sie sinnlos davon und lassen die schon zusammengeraffte Beute im Stich. Sie denken nicht daran, ein lebendes Hindernis gewalttätig zu beseitigen. Einbrecher, die zu Totschlägern werden, gehören zu den großen Seltenheiten. Es kommt fast niemals vor, daß diese oft mit herkulischer Kraft ausgestatteten Gesellen, die spielend eine schwere Tür aus den Angeln heben, wenn sie bei der Ausübung der Tat ertappt werden, auf den Störenfried losgehen und ihn zu Boden schlagen. Solange ihnen irgendwie die Möglichkeit zum Entweichen geboten ist, ergreifen sie die Flucht; und ist ihnen der Weg dazu versperrt, so lassen sie sich ruhig abfassen. Sie haben es eben nur auf das leblose Eigentum abgesehen, und schlägt ihr Unternehmen fehl, so bescheiden sie sich und sehen der Bestrafung gelassen entgegen. Das ist die Regel.
Ganz anders der Raubmörder. Der denkt gar nicht daran, daß er dem Lebenden Geld und Gut abnehmen könne. Bei ihm stellt sich die Ausführung des geplanten Verbrechens vielmehr immer so dar: daß er zunächst töten müsse, um alsdann zu rauben. Das Wort »Raubmörder« ist deswegen auch nicht ganz logisch gebildet. Richtiger in der Zeitfolge würde das Wort »Mordräuber« den Begriff decken.
Daher erklärt es sich denn auch, daß, wie die Kriminalstatistik aller Länder als unumstößliche Tatsache festgestellt hat, der Raubmörder sehr oft zu den noch nicht bestraften Individuen gehört. Ist er schon bestraft, so hat er die Vorstrafe gewöhnlich durch Roheiten, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Aufsässigkeit usw. erwirkt, fast niemals aber durch Veruntreuung oder durch Diebstahl.
An dem Tage, da sich im Hirn des typischen Raubmörders der fürchterliche Vorsatz befestigt, sich fremdes Gut anzueignen, sagt er sich sogleich: du mußt einen Menschen töten, um ihn berauben zu können. Er setzt als selbstverständlich voraus, daß er als der Urheber der Tat dem Beschädigten unbedingt bekannt werden müsse; während der Dieb und Einbrecher umgekehrt immer von der Voraussetzung ausgehen, daß der Beschädigte nichts erfahre. Und weil der Raubmörder mit Wissen des Beschädigten zu seinem Ziele gelangen will, muß er dessen Widerstand niederschlagen und den Mund, der das Verbrechen bezeugen könnte, für ewig stumm machen. Deswegen muß er morden.
So, wie hier geschildert, tritt uns die widrige Mißgestalt des Mörders als Urheber der bei weitem überwiegenden Mehrzahl von Kapitalverbrechen, die vor den Geschworenen zur Verhandlung kommen, entgegen.
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Vielleicht am schärfsten ausgeprägt sind die für den gemeinen Mord charakteristischen Merkmale in Heinrich Schunicht, der des Mordes schuldig befunden, zum Tode verurteilt und in den ersten Monaten des Jahres 1886 in Berlin hingerichtet worden ist.
Dieser Schunicht hatte eine mittlere Bildung genossen und war ein tüchtiger Arbeiter gewesen. Durch sein Geschick und seinen Fleiß hatte er es Anfang der siebziger Jahre zu wirklichem Wohlstand gebracht. Er war Tischlermeister und hatte sich besonders auf die Billardtischlerei geworfen. Zur Zeit seines geschäftlichen Gedeihens beschäftigte er über ein Dutzend Gesellen in seiner Werkstatt. Noch vor wenigen Jahren fand man in vielen Berliner Wirtschaften Billards mit der Firma »P. H. Schunicht«.
Durch die Ungunst der Verhältnisse und auch durch eigenes Verschulden ging das Geschäft zurück. Schunicht wurde faul, trieb sich in den Schenken umher, verpraßte sein Geld in schlechtester Gesellschaft, und das Ende vom Liede war, daß er das einträgliche, früher so gute Geschäft völlig aufgeben mußte und nun sittlich immer tiefer und tiefer sank. Seine Frau wurde geisteskrank und nach Dalldorf in die Irrenanstalt gebracht. Schunicht trieb sich meist beschäftigungslos herum, in Not und Elend. Eine Unredlichkeit hat er sich aber während dieser Zeit nicht zuschulden kommen lassen. Er hat weder betrogen noch gestohlen. Er ist, wie die meisten Mörder, bis zu der Verurteilung wegen des furchtbarsten Verbrechens unbestraft geblieben. Von Zeit zu Zeit arbeitete er, der frühere Meister, als Geselle bei einem fremden Meister; und wenn er dann ein paar Groschen beiseite gelegt hatte, verfiel er wieder in seinen leichtsinnigen Lebenswandel, bis wiederum das Elend über ihn hereinbrach.
So stand es auch um ihn im Frühling 1885. An einem schönen, warmen, sonnigen Vormittage, am 18. Mai – er hatte die Nacht vorher im Freien zugebracht –, hatte er nach planlosen Wanderungen durch die Stadt sich neben dem Schiller-Denkmal auf dem Gendarmenmarkt auf eine Bank niedergelassen und zermarterte sein Gehirn mit dem Gedanken, was er nun mit sich anfangen solle. Er hatte keinen Pfennig Geld. Alles, was er an Wäsche und Kleidung besaß, trug er auf dem Leibe. Er hatte keine Wohnung. Seinem elenden Dasein selbst ein Ende zu machen, daran dachte er nicht. Wie weiterleben? Das war die Frage.
Da kommt ganz zufällig eine alte Bekannte des Wegs daher. Es ist die von ihrem Ehemanne geschiedene Johanne Weber, die bei einer unverheirateten Dame als Wirtschafterin und Köchin dient, und die ihr Fräulein, das sich in die Sommerfrische begeben, soeben zur Bahn begleitet hat. Johanne Weber ist eine ältere Person, sehr gutmütig und zärtlichen Neigungen noch immer zugänglich. Sie hat vor etwa einem Jahre in intimen Beziehungen zu Schunicht gestanden. Schunicht weiß, daß sie sich in den langen Jahren ihrer Dienstzeit einige hundert Mark gespart und diese Summe in der Sparkasse angelegt hat.
In dem Augenblick, als Johanne ihren Freund begrüßt, fährt Schunicht freudig zusammen. Nun bietet sich ihm ja das, was er sucht. Mit dem Gelde der Johanne Weber kann er schon eine Weile weiterleben. Und in demselben Augenblicke reift auch bei ihm der Mordgedanke zum festen Entschluß: du wirst die Weber ermorden!
Auf die Fragen des Vorsitzenden des Schwurgerichts: »Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß es Ihnen vielleicht möglich sein würde, sich von Frau Weber das Geld zu verschaffen, ohne zur äußersten Gewalttat zu schreiten? Frau Weber soll ja sehr gutmütig gewesen sein und soll für Sie eine sehr starke Neigung besessen haben. Würde sie Ihnen das Geld nicht auf längere Zeit geliehen haben? Würden Sie es ihr nicht unter Vorspiegelungen haben ablocken können?« – auf diese Fragen antwortete Schunicht zögernd: »Sie würde es mir wohl gegeben haben, wenn ich sie darum gebeten hätte.«
»Und warum haben Sie sie nicht darum gebeten?«
»Daran habe ich nicht gedacht,« lautete die charakteristische Antwort.
»Also Sie haben gleich den Entschluß gefaßt, die Weber zu töten?«
»Ja.«
»Und es ist Ihnen gar nicht eingefallen, daß Sie, ohne zu töten, zu Ihrem Ziele gelangen konnten?«
Schunicht schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich habe es mir nicht weiter überlegt. Ich habe mir nur gedacht, daß ich die Frau totschlagen müßte, um das Geld zu haben.«
Das ist in der Tat bei diesen gräßlichen menschlichen Abnormitäten sozusagen der normale Ideengang.
Arglos läßt sich die schon zum Morde auserkorene Johanne Weber neben Schunicht nieder. Schunicht hört nun, daß der Zufall sein bestialisches Vorhaben in besonderer Weise begünstigt. Johanne Weber ist allein in der Wohnung, die Schunicht längst kennt. Das Fräulein wird erst in einigen Wochen zurückkehren, und lange, lange Zeit kann das Verbrechen unentdeckt bleiben.
Die beiden begeben sich also nach der Wohnung des Fräuleins, bei dem Johanne Weber dient. Schunicht trennt sich vor der Tür von seiner Geliebten, und sie verabreden sich für den Abend.
Als die Dunkelheit hereingebrochen ist, betritt er das Haus, nimmt die ihm wohlbekannte Hintertreppe und trifft, ohne irgendwie auffällig zu werden, mit der Weber zusammen.
Sie bereitet ihm eine kräftige Mahlzeit, und Schunicht nimmt sich vor, die Weber nach dem Essen zu töten. Aber sie erzählt zufällig, daß sie noch eine kleine Rechnung an die Wäscherin zu zahlen habe, die am andern Morgen die Wäsche bringen und das Geld holen werde. Ohne irgendwie Verdacht zu erwecken, stellt Schunicht fest, daß außer dieser Wäscherin in den nächsten Wochen voraussichtlich kein Mensch anklingeln werde. Diese Mitteilung veranlaßt Schunicht, die Ausführung des Mordes zu verschieben, bis die Wäscherin gekommen sein wird. Diese kommt in der Tat am andern Morgen um neun. Johanne Weber bezahlt die Rechnung, und die Wäscherin geht. Die beiden verbringen den ganzen Tag in ungestörter Gemütlichkeit miteinander. Kurz vor sechs Uhr essen sie zu Abend. Johanne Weber hat noch einige Flaschen Bier aus einem benachbarten Keller geholt.
Da gleich nach der Mahlzeit kurz nach sechs – »da war es mir,« erzählt Schunicht, »als ob mir jemand aus die Schulter klopfte und mir ins Ohr flüsterte: Jetzt faß an!«
Diese Empfindung ist so stark, daß er sich betroffen umsieht, und daß seine plötzliche Bewegung der Weber auffällt. Sie fragt ihn: »Was hast du denn eigentlich?«
»Und darauf faßte ich an,« setzte Schunicht hinzu.
Er hat den Mordgedanken in seinem Gehirn so unablässig hin- und hergewälzt, daß schließlich die gereizten Gehirnfasern die Täuschung einer Stimme und einer Berührung hervorrufen.
Da umklammert er also mit seinen starken Fäusten die Unglückliche, die ihn beherbergt, ihm zu essen und zu trinken gibt, von der er nur Beweise ihrer Zuneigung empfängt. Und die Arme versieht sich der Gewalttat so wenig, daß sie zunächst an einen etwas rohen Scherz glaubt, an einen Zärtlichkeitsbeweis, und lächelnd ihm sagt: »Mach doch keinen Unsinn! Du tust mir ja weh!« Er schließt die knochige Faust fester und fester, und in wenigen Minuten ist das grausige Verbrechen vollbracht.
Als er sich überzeugt hat, daß die Weber tot ist, trägt er sie auf das Bett, bedeckt sie mit Kissen und breitet das Bettuch darüber, sorgsam und bedächtig, so daß das Bett unberührt erscheint. Dann erbricht er die Kommode, sucht und findet das Sparkassenbuch und die Barschaft, 75 Mark. Und geht seiner Wege …
Als er vor dem Hause angelangt ist, fällt ihm aus einmal ein, daß der kleine Kanarienvogel im Bauer verhungern müsse, wenn, wie er vorausgesetzt hatte, das Verschwinden der Weber bei den Hausgenossen nicht in Kürze bemerkt werden sollte; denn in diesem Falle dürfte ja die Wohnung voraussichtlich auf lange Zeit nicht wieder geöffnet werden. Und derselbe Mensch, der eben einen Menschen ermordet hat, kehrt um, öffnet mit dem mitgenommenen Schlüssel die Küchentür, streut von den Überresten des Mahles Brosamen umher, macht die Tür des Käfigs auf und lehnt das Fenster an, so daß der zahme Vogel, wenn er in der Wohnung nichts mehr findet, wo anders seine Nahrung suchen kann.
Diese Fürsorge des Mörders für das Leben des kleinen Tieres ist freilich seltsam und verdient hervorgehoben zu werden. Man darf aber nicht in falscher Sentimentalität so weit gehen, darin etwas besonders Rührendes zu erblicken. Derartige psychologische Widersprüche begleiten sehr oft die grausigsten Verbrechen. Es sind in dieser Beziehung andere merkwürdige Fälle bekannt. An demselben Tage, an dem Lacenaire, einer der fürchterlichsten Mörder aller Zeiten, der Mensch, der das entsetzliche Wort gesprochen hat: » Je tue mon hemme, comme je bois un verre d'eau,« – dieser Lacenaire wagte am selben Tage, an dem er die Chardon tötete, sein eigenes Leben, um eine Katze zu retten, die eben vom Dache stürzen wollte. Ein anderer Mörder gab dem Säugling, dessen Mutter er eben ermordet hatte, die Flasche. – Sind das wirklich edle Regungen, die inmitten der grenzenlosen Verderbnis des Ganzen unangetastet geblieben sind? Oder sind es renommistische Komödiantereien, wie sie bei fast allen großen Verbrechern beobachtet werden können? Es ist schwer zu sagen. Denn einem Menschen wie Schunicht, der nach begangenem Morde die Wohnung säuberlich in Ordnung bringt, die Ermordete bettet und zudeckt, das Gesangbuch aufschlägt usw. – einem solchen Menschen ist auch sehr wohl zuzutrauen, daß er den Vogel vor dem Hungertode bewahrt hat, um sich zu einem Verbrecher der »interessanteren Art« herauszustaffieren.
Vor diesen »interessanten Mördern« soll man aber sehr auf der Hut sein! Einigermaßen sympathische oder respektable Eigenschaften, die auf den Charakter eines gewöhnlichen Sterblichen ein freundlicheres Licht werfen, ohne daß man viel Aufhebens davon machte, genügen schon, wenn sie bei einem großen Verbrecher wahrgenommen werden, nach der Schätzung einer törichten und krankhaften Gefühlsduselei, um den nichtswürdigsten Buben mit schimmerndem Glorienschein zu umgeben und seine Schandtat in milderem Scheine erglänzen zu lassen.
Diese Eigenschaften brauchen nicht einmal sympathisch zu sein, sie brauchen nur zu imponieren. Die freche Selbstgefälligkeit und der renommistische Zynismus des Lacenaire, des gemeinsten aller Raubmörder, haben aus diesem ruchlosen Bösewicht seinerzeit den Abgott der schönen Damen von Paris gemacht. Es wurde förmlicher Kultus mit ihm getrieben; seine schlechten Verse wurden als geniale Dichtungen bewundert, seine Zelle wurde mit Blumen, die zarte Hände zum Kranze gewunden hatten, geschmückt; er wurde um autographische Widmungen angebettelt, und ein Zug hysterischer Weiber aller Stände begleitete ihn wie einen Märtyrer auf dem letzten Wege nach dem wohlverdienten Schafott.
Auch Wiens anmutige Frauen haben dem Eichinger, der viel geliebt hatte, nicht nur viel, sondern wie es scheint: alles vergeben wollen. Solche Verirrungen sind nicht bloß geschmacklos; sie trüben in erschreckender Weise die Erkenntnis des Guten und Bösen, für welche die Menschheit nach der tiefsinnigen Schöpfungssage den höchsten Preis gezahlt: die Freuden des Paradieses und das ewige Leben geopfert hat.
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In Schunicht sehen wir also ein Exemplar des typischen Mörders, in dem sich zugleich mit der Begehrlichkeit nach fremdem Gut bei dem Gedanken an die Befriedigung seiner Habgier als erstes Mittel, das bei der Ausführung zur Anwendung zu kommen hat, die Tötung des zu Beraubenden darstellt, – den Verbrecher, dem, wie Schunicht mit vollkommener Wahrhaftigkeit ausgesagt hat, überhaupt gar nicht der Gedanke beikommt, sich das begehrte fremde Eigentum aus eine andere Weise durch Bitten, Überlistung oder sonstwie zu verschaffen. Die gutmütige Weber würde ihrem Freunde Schunicht unzweifelhaft aus der Verlegenheit geholfen haben, wenn er sie darum gebeten hätte. An dieses Nächstliegende und Einfachste hat er aber in der verhängnisvollen Einseitigkeit des echten Mörders überhaupt nicht gedacht. Er hat das Geld haben wollen, und um es zu bekommen, hat er kein anderes Mittel finden können als den Mord.
Um den Einsatz seines eigenen Lebens, im mildesten Falle des lebenslänglichen Kerkers, sucht der Mörder sich gewaltsam das fremde Gut anzueignen, das ihm auf ein paar Tage, oft nur auf ein paar Stunden geringwertige Vorteile gewährt. Er steht unter dem Banne der Leidenschaft des Augenblicks.
Genau so verwischt beim Spieler und Trinker der Drang, das mächtige Gelüste momentan zu befriedigen, die Abwägung des Genusses und des dafür gezahlten Preises. Es fällt dem Spieler nicht ein, daß er für die Summen, die er dem Zufall des grünen Tisches preisgibt, sich selbst und seinen Lieben dauernde Freuden, kostbare Genüsse bereiten könnte. Wenn er auf die Karten stiert, ist er für alles andere mit Blindheit geschlagen. Er vergegenwärtigt sich nicht, welche furchtbaren Folgen der Leichtsinn einer Stunde, ja eines Augenblickes für sein ganzes Dasein haben kann: materiellen Ruin und Reue bis an sein Lebensende. Es ist auch eine Art von Wahnsinn, die ihn umnachtet.
Ebenso verschließt der Trinker geflissentlich die Augen vor den unvermeidlichen Folgen seiner Leidenschaft, die sich ihm nach jedem Exzeß deutlich vergegenwärtigen. Es kümmert ihn nicht, daß er seine Gesundheit untergräbt und sich eine jämmerliche Zukunft körperlichen Leidens geflissentlich errichtet.
So könnte man vielleicht auch diese Art von Mordsucht psychologisch den sogenannten Leidenschaften zuzählen, unter denen sie dann allerdings die fürchterlichste Stelle einnehmen würde. Bei ihr ist auch das Mißverhältnis zwischen der grausigen Tat und dem Gewinn, den der Täter erhoffen darf, am entsetzlichsten. Die Fälle, in denen der Raubmörder auf wirklich beträchtlichen Gewinn seiner blutigen Arbeit rechnen darf, sind spärlich. Eichinger genügt die Voraussetzung, daß er im Geldschrank des Dr. Rothziegel wohl ein paar hundert Gulden, mit denen er die drückendsten seiner Schulden zahlen könne, finden werde, um ihn dazu zu veranlassen, den unglücklichen Advokaten niederzuschlagen. Sobbe, der nicht mittellos ist und wohlhabende Verwandte besitzt, kann höchstens auf ein Paar tausend Mark rechnen, die er bei dem Geldbriefträger vielleicht findet. Er findet sie nicht. Mit der unglaublich geringfügigen Summe, die er dem Erschlagenen abnimmt und die er sich jederzeit von den Seinigen auf einfachste Weise hätte verschaffen können, ist er auch zufrieden. Schunicht raubt der erschlagenen Weber das Sparkassenbuch, das ihm nach seinem eigenen Geständnis die gutmütige Person wahrscheinlich sowieso gegeben, wenn er ihr zugeredet hätte.
Der Mörder stürzt sich auf den Verkäufer, um die Ladenkasse mit den Paar Gulden der Tageseinnahme zu rauben. Ja, er begnügt sich unter Umständen mit den wenigen Kreuzern, die er in der Tasche einer alten Hökerin finden wird, um die Unglückliche zu Boden zu strecken. Das Überwiegen des unwiderstehlichen Dranges augenblicklicher Befriedigung und die relative Gleichgültigkeit der Frage gegenüber, ob für den erwarteten Genuß oder die Vorteile, die man sich zu versprechen hat, nicht ein ganz unverhältnismäßig hoher Preis gezahlt wird – also das völlig Unzweckmäßige, das allen in der Leidenschaft begangenen Handlungen zu eigen ist, erreicht im Morde seine verhängnisvollste Höhe.
Solchen Erscheinungen gegenüber ist man nur allzu geneigt, das Unbegreifliche mit Wahnsinn, fixer Idee und dergleichen erklären zu wollen. Und Lombroso hat dieser bequemen und laienhaften Auffassung eine wissenschaftliche Unterlage untergeschoben, welche die meisten Verbrecher dem Arme der strafenden Gerechtigkeit entziehen würde. Dies Bestreben, die schlimmsten Missetäter zu beklagenswerten Kranken herauszustaffieren, deren sorgsame Pflege eine Pflicht der Barmherzigkeit für unsere Gesellschaft wäre, erscheint indessen überaus bedenklich und berührt eigentlich schon die krankhaften Nietzscheschen Aufstellungen der Umwertung unserer moralischen Werte.
Mörder, wie die hier aufgeführten, sind sicherlich nach allgemeiner Schätzung keine normalen Geschöpfe. Aber daraus folgt keineswegs, daß die von ihnen geschädigte Gesellschaft sich ihre Untaten gefallen lassen müsse. Die Gesellschaft hat vielmehr das Recht und die Pflicht, sich ihrer Haut zu wehren und diejenigen, die sich an ihr versündigen, zur Rechenschaft zu ziehen und zu strafen. Spieler und Trinker sind auch keine normalen Menschen. Sie üben Untaten an sich selbst und strafen sich selbst. Die Gesellschaft, die als solche nicht unter ihnen zu leiden hat, empfindet daher auch nicht die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu befassen. Sie beansprucht eben nur das Recht, Angriffe, die gegen sie selbst gerichtet sind, zurückzuweisen und den Frevler, der sie an Gut und Blut schädigt, zu strafen.
Die Motive zu diesen gesellschaftfeindlichen Angriffen bleiben freilich in vielen Fällen unaufgeklärte Rätsel, deren Lösung man auch durch die Aufführung von gleichartigen und gleich merkwürdigen Fällen kaum einen Schritt näher rückt. Man wird vielmehr angesichts dieser betrübenden Probleme mit Friedrich Elbogen, dem hervorragenden Verteidiger Eichingers, kleinmütig, ja verzagt an das » ignorabimus« erinnern müssen – die wissenschaftliche Variante des unvergänglichen Paulinerwortes: »Unser Wissen ist Stückwerk.«