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Aus meinen Erinnerungen
– November 1907 –
Im Frühsommer des Jahres 1883 verbrachte ich als Gast des verstorbenen Herzogs Ernst von Koburg-Gotha auf Schloß Kallenberg, das in nächster Nähe von Koburg auf bewaldeter Höhe wundervoll gelegen ist, einige mir unvergeßlich gebliebene Tage. Der Herzog besaß in hohem Grade das, was Goethe als »der Erdenkinder höchstes Gut« preist: eine zwingende Persönlichkeit. Er war ein Erzähler ersten Ranges. Seine Darstellung war von packender Lebendigkeit, farbenfrisch, originell, sprudelnd witzig und übermütig lustig, wenn der Gegenstand es gestattete; sie konnte unter Umständen aber auch sehr ernst, ja ergreifend dramatisch sein. Fesselnd und wirksam war sie immer.
Mir waren die vorgerückten Abendstunden, wenn das offizielle Programm des Tages abgetan war – mit den herrlichen gemeinsamen Spazierfahrten, den interessanten Besichtigungen, den Mahlzeiten, zu denen gewöhnlich einige Herren vom Hofstaate hinzugezogen wurden – weitaus die liebsten und genußreichsten. Der Herzog hielt mich dann entweder in seinem gemütlichen Arbeitskabinett zurück oder kam zu mir in das dem Gaste angewiesene behagliche, mit hohen gebräunten Eichenpanelen bekleidete Wohnzimmer; und ich brauchte nur einen Ton leicht anzuschlagen, um ihn zu einer längeren Erzählung zu veranlassen. Da er mir wohl anmerkte, daß er in mir einen sehr aufmerksamen und dankbaren Zuhörer hatte, verlängerten sich diese Plauderstunden – wenn ich sie so nennen darf, obwohl mein gütiger Wirt eigentlich allein die Kosten der Unterhaltung trug – oft bis in die tiefe Nacht, bis der Hall der ungeduldigen Schritte des wartenden Kammerdieners auf dem Korridor den Herzog zu einem Blick auf die Uhr und dann zum brüsken Aufbruch veranlaßte.
»Mein Gott, was ist das wieder spät geworden! Da haben wir uns wieder einmal festgeschwatzt. Also gute Nacht! Fortsetzung auf morgen! Aber da darf es nicht so lange dauern!«
Am folgenden Abend dauerte es indessen gerade so lange. Und an den nächsten Abenden auch. Jede unserer Unterhaltungen, oder besser gesagt: jeder seiner Vorträge endete mit dem Ausruf aufrichtigen Erstaunens darüber, daß es so spät geworden sei, und dem guten Vorsatze, das abendliche Zusammensein von jetzt an abzukürzen.
Zu jener Zeit war der Herzog gerade damit beschäftigt, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Sie sind, wie man weiß, veröffentlicht worden. Ihr reicher Inhalt und ihr geistvoller Vortrag haben die verdiente Anerkennung gefunden. Aber so fesselnd und wertvoll diese Aufzeichnungen auch sein mögen, hinter der packenden Wirkung des gesprochenen Wortes bleiben sie weit zurück. Der Herzog hat sich eben für die Öffentlichkeit Rücksichten, die er auf hohe Persönlichkeiten zu nehmen hatte, auferlegt und mancherlei für sich behalten, das in seinem mündlichen Vortrage vielleicht gerade die reizvollsten Momente bildete. Man wird auch die Annahme nicht von der Hand weisen dürfen, daß der glänzende Erzähler im künstlerischen Ausschmuck mitunter von den gefälligen Eingebungen seiner regen Phantasie sich williger hat leiten lassen als von der Rücksicht auf ängstliche Genauigkeit in der Wiedergabe des trocken Tatsächlichen. Auch seine Geschichten mochten mitunter wohl dem freundlichen Bunde von Wahrheit und Dichtung entstammen.
Eine dieser Kallenberger Geschichten, die mir vor langen Jahren schon die Anregung zu einer kleinen Kriminalskizze gegeben hat: »Was der Schusterfriedel auf dem Sterbebette beichtete«, hat sich während der letzten Wochen in meiner Erinnerung wieder ungestüm vorgedrängt.
Seit der Sommernacht, in der mir der Herzog diese sonderbare Begebenheit erzählte, sind nunmehr sechsundzwanzig Jahre vergangen. Ich habe die Sache in meinen Tagebüchern in zehn, zwölf Zeilen mit wenigen abgerissenen Schlagworten skizziert, habe die Namen der handelnden Personen und der Örtlichkeiten, die der Herzog angab, vergessen, und gewiß ist manche charakteristische Einzelheit mit der Zeit verblaßt. Bei meinem Versuche, zum Zwecke einer zusammenhängenden Erzählung diese Lücken auszufüllen, das Verschossene und Verblichene wieder aufzufrischen, habe ich alle phantastischen Zutaten zu unterdrücken mich bemüht und in allem wesentlichen an die Tatsachen, so wie sie Herzog Ernst mir berichtet hat, mich eng angeschlossen. Da der Fall sehr ungewöhnlich ist und sich eine derartige Begebenheit in einem kleinen thüringischen Herzogtum wohl kaum ein zweites Mal zugetragen hat, würde es, wenn auch nicht ganz leicht, so doch gewiß möglich sein, die tatsächlichen Vorgänge festzustellen, die in die Zeit von 1844 bis in die siebziger Jahre – vom Antritt der Regierung des Herzogs Ernst II. bis etwa ein Dezennium vor der Kallenberger Erzählung – fallen müssen. Mein Versuch, durch einen Koburger Bekannten in angesehener Hofstellung, der Sache auf die Spur zu kommen, ist bis jetzt erfolglos geblieben. Vielleicht wird diese Veröffentlichung zu einem günstigen Ergebnis führen Seit der Veröffentlichung dieser Zeilen in der »Neuen Freien Presse« – November 1907 – sind wiederum beinahe zwei Jahre vergangen, ohne daß sich die von mir gehegte Hoffnung erfüllt hätte. Der Herzog war zwar ein sehr erfindungsreicher Herr, in dem die Lust am Fabulieren die Nüchternheit einer streng sachlichen Darstellung mitunter auf Kosten der Genauigkeit fröhlich beleben mochte; daß er sich die ganze Geschichte aber aus den Fingern gesogen habe, halte ich für sehr unwahrscheinlich, beinahe für »ausgeschlossen«, wie man jetzt so gern sagt. Frühherbst 1909. P. L..
*
In einiger Entfernung von einem Dorfe im Thüringer Walde liegt ziemlich vereinsamt ein Gehöft mit einem hübschen, mit Ziegeldach bedeckten Hause. Von diesem Gehöft ist seit langen Jahren ein Stück Land mit einem alten baufälligen einstöckigen Häuschen abgetrennt worden. Da haust ein armer Mann mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern; die älteste hilft gegen geringes Entgelt in der Wirtschaft des reicheren Nachbarn.
Der vermögende Bauer nebenan, seine Frau und sein Knecht sind jetzt, um die Erntezeit, auf dem Felde beschäftigt. Der Bauer, der schon während der letzten Tage sich recht hinfällig gefühlt hatte, war heute früher als gewöhnlich, so etwa eine Stunde vor Einbrechen der Dämmerung des trüben Herbsttages, nach Hause gegangen. Frau und Knecht arbeiteten noch auf dem Acker. Er hatte wie gewöhnlich, nachdem er die verschlossene Haustür geöffnet, den Schlüssel von innen im Schlosse stecken lassen. Um sich die Beine zu bedecken, hatte er aus dem Nebenraume eine Bettdecke geholt und sich dann, wie er ging und stand, auf den großen Lehnstuhl in der Wohnstube gesetzt. Wahrscheinlich war er bald eingeschlafen.
Wenn die drei, Bauer, Bäuerin und Knecht, auf dem Felde zu schaffen hatten, wurde das Gehöft von einem starken, bissigen Hunde bewacht, der jedesmal, wenn irgend jemand vorüberkam, kräftig anschlug und sich immer erst beruhigte, nachdem er einen Bekannten gewittert oder die Schritte sich entfernen gehört hatte. Wenn der Hund durch längeres Bellen meldete, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging, kam die junge Magd von nebenan, um nach dem Rechten zu sehen. Schlug der Hund bloß an, so wußte sie, daß das nichts weiter zu bedeuten hatte. Aber regelmäßig kam sie – sie hatte einen Schlüssel zur Hintertür – kurz bevor sie die vom Felde Heimkehrenden erwartete, um den Tisch fürs Nachtmahl herzurichten.
Auch heute hatte sie den Hund anschlagen hören und, wie ihr schien, sogar mit besonderer Heftigkeit. Da es aber gleich darauf wieder still geworden war, hatte sie sich nicht weiter darum gekümmert.
Der Hund aber hatte das Nahen eines schweren Verbrechers gemeldet. Er hatte jedoch seine Warnung nicht mehr vernehmlich genug machen können. Man fand das Tier später unweit der Eingangstür der Umfriedung, alle viere von sich gestreckt, mit durchschnittenem Halse. Das Unbegreifliche, daß das starke, wütige Tier so ums Leben hatte kommen können, sollte sich später aufklären. Der Täter hatte dem Hunde ein Stück vergiftetes Fleisch hingeworfen, das ihn wahrscheinlich gleich getötet, jedenfalls kampfunfähig gemacht hatte. Vermutlich hatte er ihm dann erst die Kehle durchgeschnitten.
Aus dem Schuppen, der hinter dem Hause lag, hatte der Eindringling eine Leiter geholt, an die Bodenluke angelegt, war eingestiegen und nach unten gegangen. In der Küche, durch die er gehen mußte, hatte er ein dem Bauern gehöriges Beil gefunden, es an sich genommen und war dann in die Vorderstube getreten, in der der Bauer auf seinem Stuhle schlief. Mit einem furchtbaren Schlage hatte er, anscheinend ohne vorhergegangenen Kampf, den Schädel des kranken Mannes zertrümmert. Der eine mit voller Wucht geführte Schlag war unbedingt tödlich gewesen. Auf dem Lehnstuhl, der Decke, den Kleidern und dem Fußboden waren Spuren des reichlich vergossenen Blutes sichtbar. Alsdann hatte er alle Kisten und Kasten in brutalster Weise erbrochen, alles bare Geld und alles Unauffällige, das unverdächtig in Geld umgesetzt werden konnte, geraubt.
Nach geschehener Arbeit hatte er sich dann auf demselben Wege, auf dem er gekommen war, wieder zurückgezogen. Auf dem Boden, den er passieren mußte, waren verschiedene geräucherte Fleischwaren aufgehängt. Er hatte einen Schinken mitgenommen und unter dem Rockschoß versteckt, und war dann die Leiter wieder herabgeklettert. Auf der vierten oder fünften Sprosse von unten angelangt, hatte er um sich geblickt und nun auf dem Feldwege ein junges Mädchen gesehen, das starr vor Schrecken wie festgewurzelt dastand. Es war die junge Magd von nebenan. Er sprang diese vier, fünf Sprossen herab. Bei der Gelegenheit sah das Mädchen, daß er unter dem Rockschoß einen größeren Gegenstand – es war der Schinken – versteckt hatte. Nun war der Verbrecher eilends auf die Magd gestürzt, hatte einen fürchterlichen, wütenden Blick auf sie geworfen und war dann, ohne sie weiter zu behelligen, querfeldein gerannt.
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Das geängstigte Mädchen war wie gelähmt zusammengebrochen, hatte sich nicht vom Flecke mehr gerührt, sich nicht in das Haus getraut und war draußen an der Hecke liegen geblieben. Die vom Felde Heimkehrenden ließen nicht mehr lange auf sich warten und hörten nun, daß ein Mensch vom Boden herabgeklettert und davongelaufen war. Die Bäuerin und der Knecht, schon vom Anblick des Hundekadavers aufs äußerste erschreckt, traten in das Haus, das Mädchen folgte ihnen zitternd. Was sie da in der freundlichen, gelb getünchten Stube vor sich sahen, war entsetzlich. Der Bauer, in halb liegender Stellung, war vom Sitze des Lehnstuhles herabgeglitten, er lag da mit der klaffenden Wunde; Gesicht und Kleider vom Blute völlig besudelt. Die Schlösser waren erbrochen, die Schubladen halb aufgezogen. Alles war durchwühlt. Das Beil, mit dem der tödliche Schlag geführt worden war, lehnte nahe der Tür an der Wand.
Der Schulze des benachbarten Dorfes und der Gendarm wurden vom Knecht sogleich benachrichtigt. Sie erschienen denn auch schnellstens am Orte der grausigen Tat und es wurden sogleich umfassende Nachforschungen nach dem Verbrecher angestellt. Dutzende von Freiwilligen beteiligten sich daran.
Durch das Zeugnis des jungen Mädchens konnte der Zeitpunkt des Verbrechens ganz genau angegeben werden. Sie hatte den Hund anschlagen hören und etwa eine halbe bis drei viertel Stunden später den Verbrecher vom Bodenraum durch die Luke die Leiter herabsteigen sehen. Sie hatte sich auch das Bild des furchtbaren Menschen ganz genau eingeprägt und schilderte ihn so: Er war sehr lang und schmalbrüstig. Bleiche Gesichtsfarbe, bartlos. Er trug alte verschlissene Kleider von unbestimmbarer grünlich-bräunlicher Farbe und eine dunkle Mütze mit breitem Schirm. Die Sachen schlotterten ihm um die Glieder. Wäsche war nicht sichtbar. Um den Hals hatte er ein leinenes oder baumwollenes Tuch von hellbläulicher Farbe geschlungen. Unter seinem Schoßrock hatte er auf der linken Seite einen größeren Gegenstand versteckt gehabt. Als besonderes Merkmal führte das Mädchen an, daß er das linke Bein schleife. Das habe sie sehr deutlich gesehen, als er auf sie zugestürzt sei, und sie habe es auch wieder gemerkt, als er davonlief.
Bei der näheren Untersuchung der Örtlichkeiten ergab sich, daß vom Boden ein Schinken abgeschnitten war und fehlte.
Auf die Beschreibung, die unter den Nachbarn schnell von Mund zu Mund getragen war, meldete sich sogleich ein Bäcker, der einem Strolche, auf den die Beschreibung paßte, in der Dämmerung ein Stück Brot verkauft hatte; ebenso meldete sich der Schankwirt, der mitteilte, daß ein Mann wie der Geschilderte etwa um dieselbe Zeit, etwas früher oder später, von ihm ein Glas Branntwein gefordert und im Hausflur getrunken habe, ohne in die Wirtsstube einzutreten. Das Individuum war auch ihm verdächtig erschienen, denn er hatte etwas unter dem Rocke. Auch er hatte an dem Fremden den schleppenden Gang bemerkt.
Die Suche nach dem Mörder blieb zunächst erfolglos, und die hereinbrechende Nacht machte ihr vorläufig ein Ende.
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In früher Morgenstunde des nächsten Tages aber wurde von Bauern, die zur Feldarbeit gingen, ein verdächtiger Kerl, der aus dem kleinen Gehölz zwischen Dorf und Gehöft heraustrat und sich spähend umblickte, gesehen, als man den lahmenden Gang an ihm wahrnahm, ergriffen und in Gewahrsam gebracht. Er wurde der jungen Magd, die ihn gesehen hatte, gegenübergestellt, und sie erkannte ihn mit vollster Bestimmtheit. Alle ihre Angaben erwiesen sich als zutreffend. Er trug die breite Schirmmütze, die schlottrigen, verschossenen Kleider, das blaue Halstuch; auffällig war, daß er keine Weste hatte. Er hatte eine ungesunde graugelbliche Gesichtsfarbe, Bartstoppeln und den lahmen linken Fuß.
Inzwischen hatte auch aus einem anderen nahe gelegenen Flecken ein Schlächter gemeldet, daß zwar nicht am Tage des Verbrechens, aber einen Tag früher, gegen Abend ein Landstreicher für ein paar Pfennige Fleischabfälle bei ihm gekauft hatte.
Dem Bäcker, dem Gastwirte und dem Fleischer wurde der schwer Belastete gleichfalls gegenübergestellt. Bäcker und Gastwirt erkannten ebenfalls mit voller Bestimmtheit den Mann, mit dem sie am Abend vorher zu tun gehabt hatten. Der Fleischer war weniger bestimmt in seinen Angaben. Er sagte, daß der Mann, dem er die billigen Fleischabfälle verkauft, auf ihn den Eindruck eines hungrigen Strolches gemacht, um den er sich im übrigen nicht viel gekümmert habe. Es sei außerdem schon ziemlich dunkel gewesen; er habe gerade den Laden schließen wollen und kein Licht mehr gemacht. Er glaube wohl, daß der Mensch ungefähr die Größe des Vorgeführten gehabt habe, und er glaube auch sich zu erinnern, daß er bartlos gewesen sei. Ein schleppendes Bein habe er nicht an ihm bemerkt; aber er habe ihn ja, wie gesagt, nicht genau gemustert, und der Käufer habe es anscheinend eilig gehabt und, sobald er das Fleisch bekommen, sich schnell entfernt.
Der des Mordes Beschuldigte leugnete alles. Er behauptete, am Tage vorher, von einer benachbarten Stadt kommend, den ganzen Tag fechtend auf der Landstraße gewesen zu sein. Er sei mit den vier Zeugen, mit dem Mädchen und den Handwerkern niemals zusammengetroffen, kenne sie gar nicht. Bei einbrechender Dunkelheit habe er in dem Gehölz, aus dem man ihn hatte heraustreten sehen, Unterschlupf gesucht und im Freien genächtigt. Während der für das Verbrechen in Betracht kommenden Zeit sei er unterwegs gewesen. Von dem, was sich auf dem Gehöft zugetragen, habe er erst nach seiner Festnahme Kenntnis erlangt. Im übrigen verweigerte er jede Auskunft über seine Personalien. Man hatte bei der Durchsuchung seiner Kleider nichts Erhebliches gefunden, keine Legitimationspapiere, aber auch nichts Verdächtiges. Am zerrissenen Futter des linken Rockschoßes waren anscheinend frische Fettflecke, über die er keine Auskunft geben konnte, Blutspuren konnten an seinen Kleidern und an seinen groben, zerrissenen Stiefeln nicht nachgewiesen werden.
Bei der genauen Untersuchung des Gehölzes entdeckte man bald eine Stelle, die darauf schließen ließ, daß die Erde frisch aufgewühlt und das Loch wieder zugeworfen sei. Es wurde nachgegraben, und nun kam ein in die Weste des Verbrechers eingewickelter Schinken zum Vorschein, von dem eine große Scheibe abgeschnitten war. Ungeachtet dieses schlagenden Beweisstückes beharrte er trotzig auf seinem frechen Leugnen wie auf seiner Verweigerung jeder Antwort auf die Frage nach seinem Namen, seinem Stand, seiner Herkunft.
Die Feststellung der Identität war zu jener Zeit beiweitem noch nicht so vollkommen organisiert wie jetzt. Es vergingen Wochen, Monate, bis man ermittelte, wer der Mensch war. Da stellte sich heraus, daß man es mit einem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher schlimmster Art zu tun hatte. Der Betreffende, der das vierzigste Lebensjahr noch nicht erreicht, hatte bereits zwölf Jahre hinter Schloß und Riegel zugebracht. Alle Strafen lauteten auf gewalttätiges Einbrechen, schwere Körperverletzung und dergleichen. Die letzte Strafe, fünf Jahre Zuchthaus – wiederum ein schwerer Einbruch, bei dem er dem Beraubten mit einem Holzscheit eine schwere Schädelwunde beigebracht – hatte erst kurz vor diesem neuen Verbrechen ihr Ende erreicht: erst fünf Tage vor dem Raubmorde war er aus dem Zuchthause entlassen worden. Da er ein sehr schlechter Arbeiter war, hatte er im Zuchthause so gut wie gar keine Ersparnisse gemacht. Mit den Paar Groschen, die ihm bei seiner Entlassung ausgehändigt worden waren, hatte er sich dann auf den Weg gemacht. Er hatte sich auch, wie nachgewiesen werden konnte, hie und da zu gröbsten Arbeiten erboten, war aber nirgends angenommen, da er keine Papiere besaß, die er zeigen wollte. So war er hungernd und lungernd seiner Wege gegangen und schließlich nach Thüringen gekommen, wo er, wie er später zugab, einen vom Zuchthause her alten Bekannten aufsuchen wollte, um mit dem zu verabreden, was nun wohl geschehen könne.
Nachdem ihm nun bekannt gegeben war, daß man über ihn alles erfahren hatte, was man wissen wollte, bequemte er sich endlich dazu, sein unsinniges Leugnen wenigstens zum Teil aufzugeben. Er gestand aber nur das zu, was überhaupt nicht in Abrede zu stellen war: er gestand, daß er den Schinken vom Boden des Bauern gestohlen habe. Der Hunger habe ihn dazu getrieben. Das bißchen Geld, das er gehabt, habe er bis auf ein paar Pfennige aufgezehrt. Als er bei dem Gehöfte zufällig vorübergekommen sei, habe er bemerkt, wie eine Leiter an die Dachluke angelehnt gewesen sei; alles sei ruhig gewesen, ringsum habe sich kein Mensch blicken lassen, er habe auch von einem Hunde, der angeschlagen, nichts bemerkt. Er sei die Leiter hinaufgestiegen, habe den Schinken genommen und sei dann davongelaufen. Er gab auch zu, daß er für sein letztes Geld sich ein Stück Brot beim Bäcker und einen Schnaps beim Gastwirt gekauft habe; alles andere aber sei Unsinn.
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Die immer wiederholten Versuche, den Menschen zu einem vollen Geständnis zu bewegen, blieben erfolglos. Er gehörte eben zur bekannten Kategorie der schlimmsten Verbrecher, die alles leugnen, aber auch alles, was nicht durch unwiderlegbare Tatsachen ihnen nachgewiesen wird. Er räumte daher nach langem Sträuben auch nur den Diebstahl des Schinkens ein und das, was unmittelbar mit diesem Verbrechen zusammenhing; nichts weiter.
Bei diesem System hartnäckigsten Leugnens verharrte er während der ganzen Dauer der Untersuchungshaft. Sie währte nach Feststellung der Identität des Verbrechers nicht mehr lange, da ja die Tat in allen ihren Einzelheiten vollkommen klargestellt war, soweit es eben überhaupt möglich, wenn der Schuldige nicht auf frischer Tat ertappt wird oder freiwillig ein Geständnis ablegt.
Unter der Anklage des Mordes wurde der Strolch mit dem schleppenden Gang vor die Geschworenen gestellt.
Der Staatsanwalt, ein ernster, gewissenhafter und sich seiner schweren Verantwortlichkeit vollbewußter Mann, fügte mit unerbittlicher Logik die einzelnen Glieder der schweren Belastungen zu einer ehernen Kette, die sich erdrosselnd um den Hals des Angeklagten legte. Bei dem Beweise, daß der Angeklagte in Wahrheit der Urheber des scheußlichen Verbrechens sei, brauchte er sich nicht lange aufzuhalten. Das war ja durch die Angaben der jungen Magd, die den Verbrecher unmittelbar nach der Tat mit dem gestohlenen Schinken aus der Dachluke hatte herausklettern sehen, in unerschütterlicher Weise festgestellt. Die Verläßlichkeit ihrer Angaben hatte sich überdies in jedem einzelnen Punkte glänzend bewährt. Die Genauigkeit ihrer Wahrnehmungen und ihrer Schilderung der Persönlichkeit hatte allein das schnelle Ergreifen des Raubmörders ermöglicht. Der im Gehölz ausgegrabene, in die Weste des Angeklagten eingewickelte Schinken, die nachweisliche Beute des Raubmörders, vervollständigte noch den Schuldbeweis, wenn es bei der unbedingten Glaubwürdigkeit der jugendlichen Zeugin einer solchen Vervollständigung noch bedurft hätte.
Daß man im übrigen von dem geraubten Gelde und Geldeswerte bei dem Angeklagten, der im Augenblicke seiner Verhaftung nur ein paar Pfennige bei sich hatte, nichts gefunden, konnte angesichts der erwiesenen Tatsachen gar nicht in Betracht kommen. Der Mensch, der den geraubten Schinken vergraben, werde schon wissen, wo er das Geld gelassen habe. Leider hatte ein andauernder starker Regen, der am Nachmittage nach der Auffindung des Schinkens heruntergegangen war, die Spuren des wahrscheinlichen Verstecks weggewaschen.
Ebenso erklärlich erschien, daß man an der Kleidung des Angeklagten nachweisbare Spuren von Blutspritzern nicht entdeckt habe. Aus der einen furchtbaren tödlichen Wunde habe sich der reichliche Bluterguß gewissermaßen lokalisiert. Nur an der Leiche selbst, am Stuhl, auf dem der Ermordete vorher geruht, an der Bettdecke, die er über seine Beine gebreitet, und auf der Diele unmittelbar neben dem Stuhl habe das Blut sichtbare Spuren hinterlassen. Außerdem nur noch am Eisen des Beiles, mit dem der tödliche Schlag geführt worden war, während die sorgfältigste Untersuchung des hölzernen Griffes nicht den kleinsten Blutspritzer aufgewiesen hatte.
Seine Hauptkraft der Argumentation verwandte der Staatsanwalt auf den Nachweis, daß es sich nicht um Totschlag, sondern um Tötung mit Vorbedacht und Überlegung, um Mord handle. Der Ankauf der billigen Fleischabfälle schon am Tage vorher, die offenbar keine andere Bestimmung hatten, als dem wachsamen Hofhunde vorgeworfen zu werden, und denen nach Feststellung der chemischen Untersuchung ein sehr jäh wirkendes Gift beigemischt war, lasse keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es sich um eine kaltblütig wohlüberlegte, vorbedachte Tat handle. Die Küche, aus der das Beil geholt, sei genau in demselben Zustande nach wie vor der Tat gewesen. Nicht ein Stuhl sei gerückt worden. Es sei also ausgeschlossen, daß sich etwa der Verbrecher im Zustande großer Erregung dahin geflüchtet und da das erste beste Werkzeug ergriffen habe – etwa wie bei seinem letzten Verbrechen das Holzscheit. Er habe vielmehr mit kühler Berechnung, bedächtig und ungestört, die Mordwaffe ausgesucht. Der Befund der Leiche lasse mit unanfechtbarer Gewißheit erkennen, daß dem Morde ein Kampf nicht vorangegangen sei. Mit dem Beile in der Hand habe sich der Mörder in die Stube eingeschlichen und den kranken, schlummernden Bauern mit einem wohlgezielten wuchtigen Schlage niedergestreckt. Es sei ein gemeiner Raubmord, nichts anderes. Aus seiner tiefsten Überzeugung, mit feierlich bewegter Stimme, forderte der Staatsanwalt das Haupt des in seiner entsetzlichen Verbrecherlaufbahn schließlich zum Morde gereiften Angeklagten.
Der Verteidiger hatte einen sehr schweren Stand. Auch ihm gegenüber hatte der Angeklagte, soweit es die Tat des Mordes betraf, hartnäckiges Schweigen beobachtet. Gerade wie er bis zum erbrachten Nachweis, daß er mit dem Schinken die Leiter heruntergeklettert war, mit äußerstem Trotze behauptet hatte, das Mädchen müsse sich geirrt haben, er sei überhaupt nicht in der Nähe gewesen, so stellte er jetzt ebenso trotzig seine Anwesenheit im unteren Stockwerke in Abrede. Der Verteidiger schilderte seinen Klienten als einen völlig heruntergekommenen elenden Menschen, für den er unberechtigtes Mitleid hervorzurufen gewiß nicht die Absicht habe. Nach seiner Meinung sei indessen dem Staatsanwalt der Nachweis des »Mordes« nicht gelungen. Man solle sich die Lage des Mannes am Tage des Verbrechens vergegenwärtigen. Er hatte eine lange Zuchthausstrafe soeben verbüßt. Er war sozusagen völlig mittellos, als er in Freiheit gesetzt wurde. Die paar Groschen, die man ihm zugesteckt hatte, waren in den wenigen Tagen der jämmerlichen Freiheit bis auf einige Pfennige aufgezehrt. Nirgends war er angekommen. Er hatte sich auf den Landstraßen herumgetrieben, unter freiem Himmel genächtigt, er hungerte. Daß einem Manne wie dem Angeklagten der Gedanke nahe lag, sich das, was er zu seines Lebens Notdurft gebrauchte, da er es auf ehrlichem Wege nicht erlangen konnte, nun auf unehrlichem und gewaltsamem zu verschaffen, lasse sich bei dem alten Zuchthäusler gewiß begreifen. Aber ebensowenig wie bei seinen früheren schweren Diebstählen brauche er diesmal einen Mord geplant zu haben. Man könne ihm sehr wohl glauben, daß er lediglich, um Nahrungsmittel zu stehlen, eingestiegen sei. Und da er merkte, daß im Hause alles still war, könne ihm sehr wohl der Gedanke gekommen sein, nun auch reichere Beute zu machen. Wenn es auch eine Torheit des Angeklagten sei, in Abrede zu stellen, daß er im unteren Zimmer sich aufgehalten habe, so sei doch unzweifelhaft die Möglichkeit gegeben, daß er beim Besuche dieser unteren Räume unerwartet dem Bauern gegenübergetreten sei. Was sich dann ereignet habe, sei der anklagenden Behörde ebensowenig bekannt wie der Verteidigung. Woher sei es denn erwiesen, daß er das Beil aus der Küche geholt und den Schlafenden erschlagen habe? Man könne ebensogut die Hypothese aufstellen, daß der Bauer selbst zu irgendwelcher Handhabung schon vorher das Beil mit ins Wohnzimmer genommen habe, daß er durch das Eintreten des Strolches aufgeweckt, beim Anblick erschrocken aufgeschrien, um Hilfe gerufen habe und halb ohnmächtig auf den Stuhl zurückgesunken sei; daß da der Angeklagte ohne Überlegung das Beil ergriffen und in der Angst um seine eigene Sicherheit sinnlos darauf losgeschlagen habe. Das seien doch immerhin Möglichkeiten, mit denen gerechnet werden müsse, wenn es sich um Kopf und Kragen eines Menschen handle. Außerdem seien viele Punkte nicht genügend aufgeklärt. Es sei nicht nachgewiesen, daß der Angeklagte das Fleisch gekauft, vergiftet und damit den wachsamen Hund getötet habe. Man habe außer dem Schinken, dessen Diebstahl ja eingestanden werde, nicht einen Pfennig Bargeld oder irgendwelchen Geldeswert bei ihm gefunden, obgleich die Beute doch ungewöhnlich reich gewesen sei. Unter den geraubten Gegenständen hatte sich auch ein Sack mit Silbergeld in großer und kleiner Münze befunden. Daß selbst ein gewiegter Verbrecher der Versuchung widerstanden habe, zum mindesten eine Kleinigkeit zu sich zu stecken, um wieder einmal warm essen zu können, sei doch sehr unwahrscheinlich. Ebenso dürfe man nicht so schnell, wie es der Staatsanwalt getan habe, darüber hinweggehen, daß nicht eine einzige verräterische Spur des vergossenen Blutes an der Kleidung und am Leibe des Angeklagten habe entdeckt werden können. Unverständlich sei es endlich, daß der Täter sich nicht unauffällig durch die nicht verschlossene Tür des Zimmers im Untergeschoß und die Haustür heimlich entfernt, sondern den sehr viel umständlicheren und verdächtigeren Rückweg auf der Leiter wieder angetreten habe. Er wolle aber nicht so weit gehen, aus diesen auffälligen Einzelheiten zu schließen, daß der Täter mit der Erschlagung des Bauern überhaupt nicht in Zusammenhang zu stehen brauche; wohl aber müsse er dafür eintreten, daß der Beweis der Tötung mit Absicht und Überlegung von der anklagenden Behörde nicht erbracht sei, und an die Geschworenen die dringende Bitte richten, die Frage der Überlegung zu verneinen.
Nach längeren Repliken seitens des Staatsanwaltes und des Verteidigers und nach vorhergegangener Rechtsbelehrung wurde das Verfahren geschlossen, die Geschworenen zogen sich zurück. Nach kurzer Beratung wurde das Urteil verkündet, die Frage des Mordes bejaht und der Angeklagte, dem Antrage des Staatsanwaltes gemäß, vom Gerichtshofe zum Tode verurteilt.
Der Herzog, der Anstand nahm, das Todesurteil zu unterzeichnen, begnadigte den Verbrecher zu lebenslänglichem Zuchthaus.
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Jahre vergingen. Da ereignete sich in einem von Thüringen weit entfernten Zuchthause, in Schlesien oder Ostpreußen glaube ich, ein merkwürdiger Fall. Ein alter Verbrecher, der den größten Teil seines Lebens hinter den Mauern des Gefängnisses verbracht hat, fühlt, daß es mit ihm zu Ende geht. Nachdem ihm vom Arzt auf sein ausdrückliches Verlangen bestätigt worden ist, daß sein Zustand sehr bedenklich ist, spricht er das Verlangen aus, den Direktor oder Inspektor des Zuchthauses und den Anstaltsgeistlichen zu sprechen, da er eine wichtige Mitteilung zu machen habe. Dem Verlangen wird natürlich sogleich entsprochen. Der Direktor und der Pastor setzen sich an das Bett des Sterbenden, der sich mit Anspannung aller seiner Kräfte ein wenig auf seinem Lager aufrichtet und mühsam, leise, aber vollkommen deutlich und klar etwa folgendes sagt:
»Ich weiß, daß ich bald sterben muß. Da will ich noch etwas sagen, was ich längst habe sagen wollen; mir hat aber der Mut dazu gefehlt. Jetzt habe ich nichts mehr zu fürchten.
Es ist schon lange her, da ist in Thüringen ein Bauer erschlagen worden. Den Mann habe ich erschlagen. Man hat aber einen andern gefaßt, und der sitzt noch, wenn er nicht gestorben ist.
Es ging mir damals recht schlecht, wie fast immer im Leben. Ich hatte kein Obdach, nichts zu beißen, nichts zu brechen. Ich hatte da in der Nähe Feldarbeit getan. Da für mich nichts mehr zu tun war, wurde ich abgelohnt. Ich trieb mich zwei Tage in der Gegend herum und erfuhr unter der Hand, daß auf dem kleinen Gehöft am Feldwege, das mir schon aufgefallen war, ein Bauer mit viel Geld wohnte, ein alter Knicker. Wenn auf dem Felde viel zu tun war, wurde das Gehöft eigentlich nur von einem bissigen Hunde und von einem kleinen Mädchen aus dem Nachbarhause überwacht. Die Kleine fürchtete ich nicht, und mit Kötern wußte ich umzugehen. Von einem alten Bekannten, mit dem ich in Waldheim lange zusammengewesen war, hatte ich mir früher einmal Gift verschafft. Er war in einem Drogengeschäft angestellt. So etwas muß man für alle Fälle haben. Ein paarmal habe ich es sogar für mich selbst gebrauchen wollen.
Ich holte mir am Abend in der Dämmerung vom Metzger Abfälle von Fleisch, wickelte das Gift da rein und trug es am Abend und am folgenden Tage mit mir herum. Na, und an dem folgenden Tage – da machte ich mich nun an das Gehöft heran. Ich hatte nichts weiter bei mir als mein altes Stemmeisen, Messer und mein Stück Fleisch – eben, was man so braucht. Ich schlich mich so vorsichtig wie möglich ans Haus heran. Aber der Köter hatte mich doch gewittert. Ich hörte ihn knurren. Nun lief ich auf ihn los. Da schlug er laut an. Ich warf ihm das Fleisch hin, gerade auf die Schnauze. Das Tier stutzte und verschlang es. Er winselte nur noch ein paarmal leise. Dann streckte er alle Viere von sich und verreckte. Um sicher zu gehen, schnitt ich ihm noch die Kehle durch.
Ich glaubte nicht anders, als daß alle draußen auf dem Felde wären, und ging um das Haus herum. Die Türen vorn und hinten waren geschlossen. Im Schuppen hinter dem Hause fand ich eine große Leiter. Ich lehnte sie an, schlug die Dachluke auf und kletterte ein. Ich ging gleich nach unten. Ich mußte da durch die Küche gehen. Da lag ein Beil, und da mein Stemmeisen nicht mehr ganz verläßlich war, nahm ich es an mich. Ich wußte ja, daß ich damit beim Knacken leichtere Arbeit hatte.
Als ich die Stubentür leise aufmache, sehe ich zu meiner großen Überraschung den Bauern im Lehnstuhl schlafen. Einen Augenblick schwankte ich, ob ich umkehren oder mich um den da nicht weiter kümmern sollte. Aber drin war ich nun einmal. Ich sah die Kommode und die eichene Truhe stehen und wußte gleich: da wird man schon was finden! Ich dachte, am Ende hat der Alte einen festen Schlaf, und vielleicht kriege ich einen Kasten auf, ohne daß er's merkt. Aber als ich eben das Stemmeisen eintreiben wollte, wachte der Alte auf. Ich hatte doch zu viel Lärm gemacht. Er war vom Schreck wie gelähmt, wollte sich aufrichten, fiel aber wieder auf den Stuhl zurück und schrie laut auf.
Was sollte ich tun? … Ich hatte das Beil in der Hand. Ich dachte nicht lange nach und brachte ihn zum Schweigen.
Nun war ich ungestört. Ich steckte mein Stemmeisen wieder ein und erbrach mit dem Beile zuerst die Kommode und dann das andere. Ich nahm mit, was ich gerade brauchen konnte.
Als ich meine Arbeit getan hatte, schlich ich ans Fenster, um nachzusehen, ob ich den Rückweg ruhig antreten könnte. Da sah ich, wie ein anderer meine Leiter heraufkletterte. Ich konnte mir gleich denken, was der wollte. Zuerst wollte ich davonlaufen. Aber da fiel mir ein: die Tür ist ja geschlossen! Dann überlegte ich mir den Weg durchs Fenster. Dann hätte ich das Fensterkreuz vorher einschlagen müssen, und das hätte der Mann, der da raufkletterte, ganz gewiß gehört, vielleicht auch noch ein Nachbar oder ein Vorübergehender …
Ich sagte mir also: vorläufig werde ich mal ruhig hierbleiben und abwarten. Vielleicht ist der Mann da oben ganz vernünftig, und man kann sich mit ihm verständigen. Im schlimmsten Falle muß ich's eben drauf ankommen lassen. Damals war ich noch bei Kräften und fürchtete mich nicht. Für alle Fälle nahm ich also das Beil wieder zur Hand und stemmte mich hart an die Wand neben der Tür. Ich hörte ganz deutlich, wie der da oben herumtappte. Es dauerte aber gar nicht lange. Bloß ein paar Minuten. Da wurde es still. Auch auf der Treppe kein Geräusch.
Sollte der Mann schon fertig sein? fragte ich mich. Ich trat ans Fenster. Und wirklich, da sah ich, wie er auf der Leiter wieder herunterkletterte. Ganz langsam und vorsichtig. Denn er hatte etwas unterm Rock. Er sah sich beständig nach allen Seiten um. Als er ziemlich unten war, blieb er stehen, sprang ab und lief davon. Lange konnte ich ihn nicht im Auge behalten; denn das Gehöft ist durch eine dichte Hecke vom Wege getrennt. Ob er den Feldweg genommen hat oder durch die Felder gerannt ist, weiß ich nicht. Ich wartete noch einige Zeit. Es regte sich nichts, ich hörte keine Stimmen. Na also! Ich wollte probieren, ob ich unten herauskommen könnte. Ich trat auf den Hausflur und sah nun, daß der Schlüssel im Schlosse stak. Ich schloß auf und ging ruhig meiner Wege.
Nicht weit vom Eingang sah ich auf dem Feldwege ein kleines Mädchen liegen; sie hatte das Gesicht mir abgewandt und mich nicht gehört. Ich dachte, sie schlief. Ich schlug die entgegengesetzte Richtung ein und ging, bis es ganz dunkel wurde. So etwa zwischen acht und neun Uhr kam ich in ein großes Dorf. Da aß ich in einer Schenke zu Nacht. Ich sagte dem Wirt, daß ich sehr müde wäre, und er ließ mich auf dem Heuboden nächtigen.
Am andern Morgen in der Früh erkundigte ich mich nach der nächsten Eisenbahnstation. Mit dem ersten Zuge fuhr ich in eine größere Stadt, die etwa eine Stunde mit der Bahn vom Dorfe entfernt war. Da kaufte ich mir ein Paar Stiefel und von einem Trödler, der zufällig des Weges kam, einen guten Rock. Ich sah nun ganz anständig aus, und da ich nicht sehr weit weg wollte, suchte ich Arbeit.
Ich hatte von meinem früheren Arbeitgeber, bei dem ich bis vor ein paar Tagen im Dienst gewesen war, ein Zeugnis, und ich fand damit auch als Taglöhner vorübergehende Beschäftigung, um bei der Ernte zu helfen. Aber ich war immer unruhig. Ich wollte gern wissen, wie die Sache da, wo ich herkam, verlaufen war. Ich hörte nichts davon. Mir war es ganz recht, daß mir nach einer Woche ungefähr der Dienst aufgesagt wurde. Ich ließ mir bescheinigen, daß ich gut gearbeitet hatte; und nun machte ich mich wieder auf den Weg. Ich mußte wissen, wie es da stand, – da, wo ich gewesen war.
Am Abend saß ich in der Dorfschenke dicht dabei. Und da hörte ich denn, wie die Leute sich allerhand erzählten. Sie sprachen von nichts anderem. Ich hörte zu, mischte mich auch vorsichtig ins Gespräch, und als sie hörten, daß ich ein Fremder war und von nichts wußte, erzählten sie mir alles noch einmal haarklein. Ein kleines Mädchen hatte den Mörder auf der Leiter vom Boden herunterklettern sehen, sie hatte ihn so genau gesehen, daß sie ihn beschreiben konnte. Er ward gefaßt, und alles Leugnen half ihm nichts, da man den gestohlenen Schinken, den er vergraben, ausgebuddelt hatte.
Na also, sagte ich mir; wenn sie den haben, brauche ich's ja nicht gewesen zu sein.
Am andern Morgen machte ich mich dann ruhig wieder auf, und da ich Draht genug hatte, um ein paar Monat vergnügt zu leben, fuhr ich nach Berlin. Da wußte ich Bescheid und wußte, wo ich alte Freunde finden würde. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich ja auf lange Zeit mein gutes Auskommen gehabt; aber man ist eben nicht vernünftig. Und man wird von den Schuften von guten Freunden und von den Halunken von Wirten so übers Ohr gehauen! Und man ist ja auch so leichtsinnig. Man will vom Leben doch auch was haben, läßt mit Weibern und alten Bekannten so viel draufgehen, daß es schnell alle wird. Na, und wie es alle war, was blieb mir da anders übrig, als? … Das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen, Sie wissen ja so gut wie ich, was mich hieher gebracht hat. Und nun wissen Sie auch, was ich Ihnen noch sagen wollte …«
Diese Aussage wurde von den beiden Zeugen sofort aufgesetzt, konnte dem Sterbenden noch vorgelesen und von ihm unterschrieben werden. Das Gericht wurde sogleich benachrichtigt; aber es war doch zu spät, um ein wirkliches Protokoll noch zu ermöglichen. Der Verbrecher hauchte noch in der folgenden Nacht sein Leben aus.
Schnellstens wurde auch das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet, der als Mörder verurteilte Schinkendieb vom Morde freigesprochen und sofort auf freien Fuß gesetzt.
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Das ist die Geschichte, die mir vor Jahren auf Schloß Kallenberg erzählt worden ist. In meiner Nacherzählung habe ich erklärliche Erinnerungslücken aus eigenem ausgefüllt und manche Einzelheit angeführt, für die ich eine Bürgschaft des Authentischen nicht übernehmen darf. Alles Wesentliche aber: die Verurteilung eines Menschen, der ein geringeres Verbrechen begangen hat, nämlich Diebstahl durch Einsteigen in ein bewohntes Gebäude, wegen des schwersten Verbrechens, wegen Raubmordes, und sogar unter den besonderen Umständen; daß diese Verurteilung, soweit Menschenwitz reicht, nach den erdrückenden Indizien geradezu eine Notwendigkeit war; daß sich der Angeklagte nachweislich aus dem Besitze des Ermordeten einen Gegenstand angeeignet und beiseite zu schaffen versucht hat; daß die Hauptzeugin, die den Angeklagten vom Tatorte sich hat entfernen sehen, wie die Nebenzeugen sich in ihren Wahrnehmungen nicht geirrt und die vollste Wahrheit gesagt haben – also alles das, worauf es ankommt, hat mir der Herzog von Koburg, der als Landesherr mit der Angelegenheit direkt befaßt werden mußte, genau so mitgeteilt, wie ich es hier verzeichnet und meiner frei gestalteten Darstellung zugrunde gelegt habe.
Erst das Geständnis des wahren Schuldigen hat die Wahrheit an den Tag gebracht und den Verurteilten, dessen Haupt durch den Richterspruch gefallen wäre, wenn nicht der Wille eines einzelnen die Vollstreckung des Todesurteils verhindert hätte, dem Beile des Henkers entrissen.
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Die Erinnerung an die Erzählung des Herzogs wurde in mir aufgefrischt und die Anregung zu dieser Veröffentlichung gegeben durch einen Prozeß, der im Sommer 1907 vor einem süddeutschen Gerichtshof verhandelt, mit der Verurteilung des Angeklagten zum Tode endete. Die Indizien, die für die Schuld des Angeklagten sprachen, waren in der Tat erdrückend. Er hatte das Opfer durch falsche Vorspiegelung auf den Weg gelockt, auf dem es dahingestreckt werden sollte. Er war unter verdächtigsten Umständen, wie ein Operettenbandit mit falschem Bart, den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gedrückt, in langwallendem Verschwörermantel, unheimlich bleich, stieren Blicks, als wolle er gleichsam pantomimisch den Urheber einer bevorstehenden Schreckenstat markieren, in nächster Nähe des Ortes und wenige Minuten vor der Zeit der verbrecherischen Handlung gesehen worden. Das alles gab er auch ohne weiteres zu; bloß die Tat selbst stellte er mit halsstarriger Entschiedenheit in Abrede, ohne indessen auch nur durch die geringste Andeutung den Versuch zu machen, auf einen Dritten den Verdacht zu lenken. Dazu kam nun noch, daß der Angeklagte einen sehr üblen Eindruck machte: er war ein Prahlhans, ein Lügner, ein Aventurier, ein Schwindler. Er war völlig ruiniert, hatte das seiner Frau gehörige Geld heimlich erhoben und durchgebracht. Man konnte annehmen, daß er am Tode seiner leidlich begüterten Schwiegermutter ein starkes Interesse habe, daß dadurch der Kredit des präsumtiven Miterben wieder befestigt und gestärkt werden würde. Der Selbstmord seiner Frau, der Tochter der Ermordeten, war ganz dazu angetan, alle Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu lösen, und seine Urheberschaft nahezu als eine Gewißheit hinzustellen.
Aber trotz alledem und alledem gab es so manchen, der die beruhigende Überzeugung von der Gewißheit der Schuld des Angeklagten nicht gewinnen konnte. Eine glaubwürdige Zeugin erklärte mit aller Bestimmtheit, daß der von ihr gesehene mutmaßliche Täter mit dem Angeklagten nicht identisch sei; eine andere, daß der von ihr gehörte Schuß unmöglich von dem Angeklagten, den sie zur selben Zeit an einem andern Orte gesehen hatte, abgefeuert sein könne, und andere wichtige unaufgeklärt gebliebene, jedenfalls nicht genügend aufgeklärte Punkte ließen sich mit der behaupteten Schuld des Angeklagten nicht vereinbaren.
Das veranlaßte mich, da auch ich zu diesen nicht vollkommen Überzeugten gehörte – und noch gehöre –, die Geschichte vom Thüringer Morde zu erzählen, als warnendes Beispiel dafür, wie Zufälligkeiten sich zum Beweise einer Schuld zusammenballen können, die tatsächlich gar nicht vorhanden ist.
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In der großartigsten Kriminalgeschichte der Weltliteratur, in der » Menschlichen Bestie«, (» la Bête humaine«) hat Emile Zola den grausigen Vorwurf des gewissermaßen gebotenen und unvermeidlichen Justizmordes mit erstaunlicher Kraft behandelt.
Schärfer als in diesem Roman ist die französische Kriminaljustiz niemals gegeißelt worden, die in der Tat durch die frivole Schaulust des Publikums, durch die sachwidrige Behandlung der Kriminalfälle in der Presse, durch die rhetorische Prunksucht der Staatsanwälte und Verteidiger ein widriges Zerrbild geworden ist. Der Typus des »interessanten Verbrechers«, besonders des interessanten Mörders, darf auf dem Repertoire der Pariser Lebewelt niemals allzu lange fehlen. Ein schöner, blutiger Mordprozeß, womöglich mit einem leidenschaftlichen Helden oder einer wahnsinnig verliebten Heldin, gehört zu den ausgesuchtesten Belustigungen der eleganten Pariser Welt und darf mit den Premieren von Dumas und Sardou wetteifern.
Gegen das unwürdig Theatralische des französischen Schwurgerichts, gegen diese künstlichen mises-en-scène, gegen das frevelhafte Herausputzen des Verbrechers zu einem ersten Helden und Liebhaber, gegen die Entwürdigung der Richter, des Staatsanwalts, des Verteidigers, der Geschworenen und Zeugen zu bezahlten Gauklern, deren Leistungen der öffentlichen Kritik unterliegen, schleudert Zola seine schärfsten Pfeile mit der ruhigen Treffsicherheit des unbeteiligten Satirikers. Nirgends verrät sich die bebende Entrüstung über diesen schnöden Mißbrauch. In dieser nüchternen Objektivität der Schilderung liegt aber gerade die blutigste Ironie, die giftigste Satire.
Mit guter Absicht wählt Zola bei seinem Berichte über die Verhandlungen vor den Geschworenen ganz dieselben Ausdrücke, deren sich die Kritik bei der Würdigung der künstlerischen Darbietungen auf der Schaubühne bedient: Der Präsident führte seine Rolle mit großem Geschick und würdiger Haltung durch … Die Haltung der Angeklagten entsprach den Erwartungen … Der Verteidiger riß die entzückte Zuhörerschaft zu begeistertem Beifall hin … Frau X. X. als Zeugin hatte einen großen Erfolg des Geschmacks und der Vornehmheit usw.
In der Tat machen alle an diesen Verhandlungen Beteiligten mehr oder minder den Eindruck von Schauspielern, die ihre Rollen wohleinstudiert und memoriert haben; und auch das Publikum benimmt sich gerade wie im Theater und gibt seine unverhohlenen Sympathien und Antipathien in der theaterüblichen Weise, durch Zischen und Beifall, kund. Der Ausgang des Prozesses wird ebenfalls genau so behandelt wie der Erfolg oder Mißerfolg eines Stückes.
Wird hier der äußere Apparat in boshaftester Weise verhöhnt, so ist die Satire, welche die Sache selbst, das Wesen des vor den Geschworenen verhandelten Prozesses trifft, womöglich noch unerbittlicher.
Aus dieser Zolaschen Darlegung können alle gewissenhaften Richter eine ernste Lehre ziehen. Hier wird durch Zufall, allerdings auch durch Absicht, das Wahre und Tatsächliche der Begebenheiten in verhängnisvoller Weise entstellt und gefälscht. Die zufällige Entstellung entsteht durch das seltsame Zusammenwirken von Tatsachen, die als Indizien von dem findigen Untersuchungsrichter in scharfsinniger Weise kombiniert und gruppiert werden, so daß sie auf einmal ein fürchterliches Ganzes bilden, das die Unschuldigen mit zentnerschwerer Schuldbelastung bedrückt. Der Spürsinn des Untersuchungsrichters wird vor allem geschärft durch den nichtgenannten im Verborgenen wirkenden Hauptmitarbeiter an diesen Verhandlungen: durch das Strebertum. Der Untersuchungsrichter will nach Paris versetzt und will mit dem roten Bändchen im Knopfloch geschmückt werden. Er muß auf alle Fälle mit diesem Prozesse eine Glanzleistung vollbringen; er muß die vollste Zufriedenheit seines hohen Chefs erlangen.
In dem ganzen kunstvoll genestelten Gewebe, das der Untersuchungsrichter zusammenbastelt, ist auch nicht eine Masche solide. Es ist eine unentwirrbare Verknotung von Lug und Trug. Und lediglich dem blinden Zufall ist es zu verdanken, daß die Justiz in einem der Aufgegriffenen wirklich einen der Verbrecher gefaßt hat. Auf den Mörder hat sie die Hand gelegt. Aber der steht nicht etwa unter der Beschuldigung des Mordes; er ist vielmehr nur der Anstiftung zum Morde beschuldigt. Nach dieser Richtung hin will der Untersuchungsrichter in den zahllosen Verhören, die er mit dem Beschuldigten anstellt, ein Geständnis erpressen. Er will durchaus von ihm hören, daß er einen Dritten, den Kärrner Cabuche, überredet habe, den Mord zu begehen. Vergeblich versichert der Angeklagte, daß er den Cabuche überhaupt nicht kenne. Die Wahrheit wird ihm nicht geglaubt. Immer wieder und wieder wird er vom Untersuchungsrichter dahin bearbeitet, zu bekennen, daß er in Gemeinsamkeit mit Cabuche gehandelt habe. Und als die Geschichte den Angeklagten schließlich zu langweilen anfängt, als er von all dem unnützen Gefrage mürbe gemacht ist, entschließt er sich eines Tages dazu, die Wahrheit in ihrem vollen Umfange einzugestehen. Er erklärt: »Ja, ich habe den Mord begangen. Der Getötete hat die Kindheit meiner Frau besudelt. Die Leidenschaft der Eifersucht hat mich zu dem Verbrechen getrieben.«
Und da umspielt die scharf geschnittenen Lippen des Untersuchungsrichters ein kluges und feines Lächeln. Er findet es sehr geistreich, daß der des Verbrechens Überführte durch diese Angabe den gemeinen Raubmord zu einem Morde aus Eifersucht machen wolle – zu einem jener beliebten Fälle, die vor den sensitiven Geschworenen Frankreichs immer eine milde Beurteilung finden. Aber der kluge Mann läßt sich durch die Schlauheit des abgefeimten Verbrechers nicht beirren. Er weiß ja ganz genau, wie die Sachen liegen. Er weiß, daß der Spieler und Verschwender in den Vollgenuß der Erbschaft hat gelangen wollen. Das sogenannte Geständnis paßt nicht in die Konstruktion des Untersuchungsrichters. Es wird daher auch gar kein Gewicht darauf gelegt, und der Geständige wird nicht des Mordes, sondern der Anstiftung zum Morde angeklagt. Der vollkommen unbeteiligte Cabuche, der nie gelogen, der immer einfach der Wahrheit gemäß erklärt hat: »Ich weiß von der ganzen Sache nichts. Ich kenne den Mitangeklagten nicht. Ich habe keinen Mord begangen,« – der bleibt der gesuchte Mörder! Das hat die Untersuchung über allen Zweifel festgestellt. Und es findet sich sogar ein vertrauenswerter Zeuge, der im besten Glauben aussagt, daß er gehört hat, wie beide, die sich tatsächlich nicht kennen, einige Tage vor diesem Verbrechen Heimlichkeiten miteinander gehabt und wahrscheinlich Verabredungen getroffen hätten.
In dieser fratzenhaften Gestalt, in dieser Verdrehung alles dessen, was richtig ist, in dieser Verfilzung von Zufälligkeiten, die in grausigster Weise entstellt sind, kommt nun dieser Rattenkönig von Mordprozeß endlich in dem schwülen, menschenüberfüllten Schwurgerichtssaale zu Rouen zur Verhandlung.
Nichts als Lug und Trug!
Und das Schlimmste ist, daß alle an den Verhandlungen beteiligten Faktoren: der Staatsanwalt und auch die Verteidiger, die Richter und die Geschworenen, durch den Irrtum des Untersuchungsrichters vom Pfade der Wahrheit abgedrängt, in bestem Glauben handeln. Der durch das Strebertum gestärkte Scharfsinn des Untersuchungsrichters hat das Unheil ausgebrütet. Der Staatssekretär hat es aus hochpolitischen Gründen geschehen lassen. Und so steht denn auf diesem Untergründe von Falschheit das stattliche Gebäude da, befestigt und bewehrt vom Staatsanwalt und mit oratorischen Flunkerkunststückchen äußerlich glänzend, aber innerlich schwach angegriffen von den Verteidigern. Die Geschworenen geben ihm durch ihr Urteil die feste Basis. Und alles Lug und Trug!
Auf einen Augenblick indessen – und das ist einer der schönsten Momente der Zolaschen Dichtung – dringt in diesen Wust und in diese Nacht der göttliche Lichtstrahl des Wahren. Freilich nur auf einen Augenblick.
Während des Verhörs ereignet sich nun etwas Seltsames, Unerklärliches …
»Auf einmal erhob sich zwischen diesen Männern (dem fälschlich Beschuldigten und dem Unschuldigen) etwas unsagbar Trauriges. Totenstille ging durch den ganzen Saal. Eine rauschende Bewegung – man wußte nicht, von wannen sie gekommen war – packte auf einen Augenblick die Geschworenen bei der Gurgel. Das war die Wahrheit, die dahinschwebte, stumm.«
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Der leise rauschende Flügelschlag der dahinschwebenden Wahrheit … Du mein Gott, was so ein Dichter alles hören will! …