Detlev von Liliencron
Kriegsnovellen
Detlev von Liliencron

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Umzingelt

Zelte, Posten, Werda-Rufer!
Lustge Nacht am Donauufer!
Pferde stehn im Kreis umher
Angebunden an den Pflöcken!
An den engen Sattelböcken
Hangen Karabiner schwer.

Um das Feuer auf der Erde,
Zu den Füßen seiner Pferde
Liegt das östreichsche Piket.
Auf dem Mantel liegt ein jeder;
Von den Tschakos weht die Feder,
Leutnant würfelt und Kornet.

Freiligrath.

       

War das eine bewegte Nacht gewesen. Mit Gewehr im Arm, unter unaufhörlichem, strömendem Regen hatten wir gelegen, die Augen, wohl viermalhunderttausend Augen, in grader Richtung nach der Riesenfestung.

Der Telegraph spielte unterbrochen im großen Umgebungsringe. Ganz deutlich, legten wir wie die Indianer das Ohr auf den harten Weg, konnten wir das Rollen der Geschütze und der Schießbedarfs- und Krankenwagen hören. Auch Musik klang durch die Nacht, abgebrochen, schwach zu uns herüber: augenscheinlich durch Stunden auf einer Stelle haltend, um den vorbeimarschierenden Truppen die Köpfe zu heben.

Daß es die Märsche durch die Thore der Stadt nach den Außenforts waren, um am Morgen auszufallen, vielleicht mit der ganzen eingeschlossenen Armee, schien uns allen klar. Aber wo und wohin, nach welcher Himmelsrichtung sollte der Vorstoß, der Durchbruchsversuch geschehen? Und deshalb blieb alles auf den Beinen.

Wieder spielte der Telegraph. Seine Königliche Hoheit hatten um Mitternacht befohlen: Feuer aus. Und schon nach wenigen Minuten umgab uns Finsternis. Der Mond stand im letzten Viertel. Ihn und die Sterne hatten dicke schwarze Wolken gleichmäßig bedeckt. Und immer regnete es noch fort; Regen, Regen, Regen.

Da, wie zum Hohne, unmittelbar darauf, als bei uns die tiefste Dunkelheit eingetreten war, als in übertriebner Vorsicht nicht mehr das Zündhölzchen zu einer Zigarre flammte, gab uns der Feind ein Feuerwerk. Überall stiegen, als das Nichtvergessenhaben einer Verabredung, in den lebhaftesten Farben Raketen auf. Und als diese fünf Minuten gezischt, geprasselt hatten, erloschen waren, blitzte es, wie auf ein gegebenes Zeichen, auf allen Forts im ganzen Umkreise. Ohne Pause rollte der Geschützdonner zwei ausgeschlagne Stunden. Wir schwiegen unter dem sich entleerenden Granatfüllhorn still wie Schüler, denen eine zornige Strafpredigt gehalten wird.

Bei uns die ewige Nacht, drüben die ewige, krachende Hölle und der Ursitz der Blitze. Bei uns Ruhe, drüben fieberhafte Unruhe.

Die Geschosse, oft lang und dick wie ausgewachsene Pudel, wie ein neben mir liegender Musketier sie nannte, und mit feuerigem Schweife hinter sich, thaten uns wenig oder nichts; selten zerplatzten sie im aufgeweichten Boden.

Plötzlich, ohne Übergang in ruhigeres, langsameres Schießen, hörte die Kanonade auf. Und Totenstille hüben und drüben, und Dunkelheit hüben und drüben.

Einige Minuten wohl lagen wir mit angehaltnem Atem, erleichtert durch das Schweigen des greulichen Gezänkes, das uns die Ohren vollgelärmt hatte, und – in spannender Erwartung! Was kommt nun.

Und keine Viertelstunde mochte verlaufen sein, als sich überall in den Luken der Kasematten Lichter zeigten: die tausend Augen eines Ungeheuers. Bald schienen sich diese Augen zu schließen, bald öffneten sie sich, je nachdem der Schein durch in den Stuben vorübergehende, eilende Mannschaften auf Sekunden für uns beschattet wurde. Hätten wir näher und genauer hinsehen können, dann würden wir in allen Räumen der Forts eine wimmelnde Bewegung von Soldaten entdeckt haben: Tornisterumhängende, säbelumschnallende, patronentaschenfüllende, und was sonst das hastige Durcheinander einer Truppe bedeutet, die auf den Kasernenhöfen zum Abmarsch antreten soll.

Wieder spielte der Telegraph: es kam der Befehl: Feuer erlaubt.

In der ersten Frühe des Morgens erhielten wir genaue Kenntnis durch den Feind selbst, wo er die Hörner einsetzen wollte. Und just war es die Truppe, zu der ich gehörte, die den ersten Anprall aushalten sollte.

Wir waren schnell in den von uns schon früher zur Übung für den Fall eingenommen gewesenen Stellungen, um hier den Gegner zu empfangen. Mit großer Lebendigkeit entwickelte er sich.

Im ersten wütenden Schlag wurden einige unsrer weit vorgeschobnen stärkeren Posten überrannt; bis zum Mittag aber waren diese wieder mit aufgepflanztem Seitengewehr zurückerobert. Hin und her, ohne kaum strichweise Land zu gewinnen, hatte die Schlacht den ganzen Tag gewährt. Nur das hatten wir erreicht, daß es dem Feinde trotz immer erneuter Anstürme nicht gelungen war, uns zu durchbrechen.

Es herrschte bei uns nur der eine Gedanke, vom Kommandierenden bis zum Hornisten, die Andrängenden unter keinen Umständen durchzulassen. Auch aus den weitesten Entfernungen des Ringes war, was entbehrlich, zur Unterstützung hergeschickt.

Sieben Uhr. Mein Bataillon lag, um sich zu verschnaufen, hinter einem Dorfe. Ein Adjutant brachte den Befehl, uns in ein, etwa zweihundert Schritte hinter uns liegendes, mit einer Mauer umfriedigtes Gehöft zurückzuziehen, dort uns einzunisten und diesen Punkt durch die Nacht bis auf den letzten Mann zu halten.

Hinter uns wieder lagerten sich auf den Höhen die Unsrigen. Durch diese Bewegung waren wir vereinzelt in den Vordergrund getreten.

Das Feuer hörte auf der ganzen Linie auf, und überall kochten bei Feind und Freund wie im Frieden ohne Störung die Feldkessel.

Es war erreicht, was erreicht werden sollte. Unsre Klammer um das schwellende Holz hatte gehalten.

Immer neue Unterstützung und Ergänzung kam heran, und so durfte auch für uns der folgende Tag als gesichert erscheinen.

* * *

Als uns der Befehl erreichte, schlug die Dorfkirche sieben. Die heiße Augustsonne hatte sich häufig während des Tages in den Regenwolken gezeigt! glühend, dann dampften unsre Röcke. Nun schien sie aus schwammigen Massen, sich spiegelnd in den Regenlachen und Bluttümpeln. Dann kroch sie in den Mantel zurück, noch einmal wieder heraus und sank. Ein breiter Streifen, in blauer und gelber Farbe, blieb am Horizont wohl eine Viertelstunde. In dieser Beleuchtung brachen wir auf. Da es kein Rückzug war, da wir nicht mehr vom feindlichen Feuer belästigt wurden, ging alles in Ordnung. Bei dem Hofe angekommen, machte der Bataillonskommandeur für seine Person Kehrt und Halt. Er saß, den Kopf vorgebeugt, den wieder gezognen Degen auf dem Sattelknopf kreuzend, in ruhiger Haltung. Um ihn, höchste Eile in größter Ordnung war geboten, flutete rechts und links das Bataillon wie schnelle Ebbe um einen Felsen. So nahe mußten die Leute an ihm vorbei, daß sie oft die Flanken des Gauls berührten, der dadurch nach rechts und links geschoben wurde.

Im Osten lag das einzige breite Thor der Besitzung. Dieses sog, wie Schafe der Pferch, nacheinander die Kompagnieen herein. Unmittelbar neben dieser Öffnung hatte sich ein Geschütz mit den sechs Pferden und einigen Bedienungsmannschaften zu undurchdringlichem Knäuel verfitzt. Alles schien schon im Jenseits, Mensch und Tier; nur ein Dunkelbrauner suchte immer wieder auf die Beine zu kommen, Mähne und Kopf wiederholt hebend. Ist es der aus dem Himmel geschlagne, in- und durcheinander geschüttelte Sonnenwagen, gings mir durch den Kopf, als ich den Wirrwarr sah. Eine einzige, gut getroffne Granate hatte das Unheil angerichtet.

»Alles drin in der Arche?« rief der Noah-Oberstleutnant, als er, der letzte, hereinritt. »Zu Befehl, Herr Oberstleutnant,« schrieen wir vier Kompagnie-Chefs fast einstimmig. »Thor schließen, verrammeln, Bettzeug dahin!« Dann eine kurze Anweisung: dort die erste, dort die zweite, dritte, vierte Kompagnie, begleitet mit Fingerzeig und Degenausstreckung. Und fast eben so schnell standen wir an den angewiesenen Plätzen. Diese Plätze waren einfach zu wählen. Ringsum hinter der ganzen Umfassungsmauer. Aber diese Mauer ragte hoch auf. So mußte vor allem dafür gesorgt werden, daß wir über die Bekrönung hinwegsehen, auf diese die Gewehre legen konnten. Also Unterlage her. Und gleich wurde herangeschleppt, was nur tragbar: Möbel, Tonnen, Fässer, ein Erard, Dünger, im Umsehen gekappte Bäume, ein mit Windeseile abgebrochnes chinesisches Lusthäuschen. Über dies alles Bohlen und Bretter, die sich glücklicherweise vorfanden. Nun hinauf auf die Bohlen und Bretter! Es geht; die Gewehre liegen gut, wir können ins Vorland schauen.

Der Besitz bestand aus einem Herrenhaus und einem großen Nebengebäude, das als Stall und Vorratsraum seinen Zweck zu erfüllen schien. Beide wurden umschlossen von einem großen Park mit jungem Baumschlag; diesen wieder umzog überall die nun von uns besetzte Mauer. Das Schlößchen war in nicht aufzuklärendem Stil gebaut. Oben barock (Schnörkel und Muschel), lief es unten in eine, die ganze Länge der Stirnseite einnehmende Säulenhalle aus. Diese Säulen verband, im höchsten Grade beleidigend fürs Auge, eine Glaswand. Doch in diesem Augenblicke glänzte keine Scheibe, kein Scheibchen ganz. Und klirr, klirr, klang es noch immer.

Während ich emsig beschäftigt bin in der Unterbringung und Aufstellung meiner Kompagnie, steht plötzlich ein Herr in bürgerlicher Kleidung vor mir. Seine Rechte preßt das Herz, die Linke ist in die schwarzen Haare gefahren: genau wie auf dem bekannten Bild, wo der an der Stirn blutende Cambronne beschwörend vor Napoleon kniet. Wie ein Wasserfall geht seine Rede, begleitet von den aufgerissensten Augen. Ich verstehe kein Wort; ich bitte ihn, langsamer und deutlicher zu sprechen. Nun allmählich wird es mir klar. Er erzählt mir französisch, daß er, der Besitzer, Graf Méricourt, im Begriff sei wahnsinnig zu werden; worauf ich zwischen die Zähne, deutsch: Waschlappen. Seine Frau befinde sich unmittelbar vor ihrer schweren Stunde. Ein Wegtragen sei unmöglich gemacht durch ihren Zustand. Die Gräfin und er seien heute durch die Schlacht überrascht worden. Die Dienerschaft sei geflohen und nur eine alte Tante geblieben.

Der Tausend, ja, da mußte denn doch Anstalt getroffen werden. Unter Begleitung unsers jungen Stabsarztes, der vor der Hand nichts zu thun hatte und vor der Hand nichts anderes that, als sich Pflaumen herunterzuschütteln, trugen wir die Gräfin in den Keller. Über diesen machten wir eine Decke »bombensicher«. Der Oberstleutnant, dem ich in fliegender Eile den Vorfall gemeldet hatte, stellte einen Doppelposten vor die Thür, so daß die Dame vor dem, natürlich, wenn es geschehen sollte, unverschuldeten Eindringen unsrer Leute gesichert war. Der deutsche Soldat bleibt immer deutsch.

Die Sonne war untergegangen. Auch die blauen und gelben Streifen am Himmelsrand verblaßten mehr und mehr. Die Sterne flimmerten immer deutlicher. Die schöne, klare Sommernacht kümmerte sich nicht um das wüste Kriegsgetümmel.

Nur ein einziges Feuer brannte hinter der Scheune; hier konnte es nicht entdeckt werden. Zwei eingefangene Hammel brieten.

»Herr Hauptmann, der Herr Divisionspfarrer bitten, eingelassen zu werden,« meldet ein Posten von den Bohlen her zu mir. Ich mußte die Augen, als ich zu ihm hinauf schaute, beschatten; schon hob er sich wie ein Schattenriß gegen den bleichen Himmel.

Da das Thor fest verrammelt, ist an ein Öffnen nicht zu denken. Auf einer nach der andern Seite heruntergelassenen Leiter holten wir den Feldgeistlichen herein. Der kleine Herr mit den doppelten Brillengläsern, in hohen Stiefeln, mit der violett und weißen Binde am Arme stand mitten unter uns.

»Ich konnte doch das Bataillon nicht allein lassen. Die Kameraden oben auf den Höhen werden ruhige Stunden haben; hier kanns heiß hergehen.« Ich konnte nicht anders, ich nahm das Kerlchen wie eine Puppe in die Arme und drückte ihn an mich wie ein süßes Mädel in verschwiegner Sommerlaube. Alle Offiziere gaben ihm stürmisch dankbar die Hand.

Überall flammten und rauchten die Biwakfeuer, vor uns die des Feindes, hinter uns die des Freundes. Ein wundervoller, friedlicher, fast feierlicher Anblick.

Ob sie kommen werden? Ob sie es versuchen werden, uns hinauszujagen?

Alles blieb ruhig. In den sanften Armen der Nacht schliefen die Soldaten in unmittelbarer Nähe der Mauer: die meisten mit den Köpfen auf den Tornistern. Wie in einem verzauberten Garten nahm sichs aus: hier lehnte einer mit hängender Stirn an einem Stacket, dort schnarchten zwei Rücken an Rücken, hier wieder ruht einer im Schoße seines Landsmannes, dort stützte einer das Haupt in die Hand, so müde, so müde.

Nur die zahlreichen Posten gingen mit Gewehr über auf und nieder. Scharf den Blick in die Nacht hinein, gespitzt das Ohr nach dem kleinsten Geräusch.

Neben mir im leisen Murmelgespräch stand der Hauptmann der zweiten Kompagnie. Schon als Fähnriche hatten wir Freundschaft geschlossen. Wir waren im selben Regimente »groß« geworden. Mehr als einmal trat sein ruhiger, sichrer Fuß die Funken aus, auf denen ich leichtsinniger Bruder gewandelt; mehr als einmal hatten sein treues Herz, seine Klugheit geholfen in Gewittern überschäumender Jugend, die mich wegzuschwemmen drohten. Keinen Menschen liebte ich so wie ihn..

Wir schrieben uns gegenseitig in die Notizbücher die genauen Adressen unsrer Verwandten, für den Fall des Todes. Ziemlich überflüssig zwar, da jeder des andern Verhältnisse kannte.

Und wie es kam: wir unterhielten uns just von fröhlichen Leutnantszeiten – ich nahm seine Hände in die meinen und ein überströmendes Gefühl gab mir das richtige Wort heißen Dankes. Er aber, weich, wie ich ihn nie gesehen, wehrte meine Rede ab, die Stirn auf meine Schultern stützend: seine Nüchternheit und nur zu ernste Auffassung des Lebens hatte ich mit meiner Fröhlichkeit ergänzt so manches Mal.

Just tauchte der Arzt neben uns auf und berichtete mit Stolz, daß er eben seine erste Entbindung geleitet habe; Mutter und Kind seien wohlauf. Der Vater beruhigte sich mehr und . . . »Was war das? Was ist das?« rief mein Freund, sich hochauf richtend und ins Vorland lugend. Nun rasselte es. Getös wie die Hiebe des Kantschu auf den Rücken der Pferde; Kommandorufe.

»Auf! Auf!« schrieen wir, schrieen die Posten, zugleich zur schnellen Erweckung Schüsse gebend, schrie der Oberstleutnant, und schon starrten, wie die Waffe des Stachelschweins, tausend Gewehrläufe ringsum.

Zwei Batterieen jagten bis auf dreihundert Schritte an unsere Westseite und begannen: »Mit Granaten – gradeaus.« Aber die bösen Vögel flogen meist hoch über uns weg; nicht einmal ein rotes Hähnchen setzte sich aufs Herrenhaus. Augenscheinlich wollten sie eine Bresche machen, aber es sollte ihnen nicht gelingen. Wir schossen in die hell sichtbaren Batterieen hinein. Plötzlich protzen sie auf, teilen sich rechts und links, und in dichten, schwarzen Schwärmen wachsen aus der Lücke Infantrie-Bataillone. Wir hören die Rufe der Offiziere, wir hören auch: Avant les epaulettes! Sie kommen, sie kommen. Einige Tiger, die Freiwilligen, in Sprüngen voraus; wir sehen, wie diese die Gewehre, die Yatagans über ihren Häuptern schwingen. Hinter ihnen die Massen im Laufschritt. »Jungs, holt fast,« ruft ein Schleswig-Holsteiner unter meinen Leuten. Ein rasendes Feuer empfängt die Stürmer. Sie stutzen und zurück, zurück, und sind verschwunden in der Dunkelheit. Der Angriff ist abgeschlagen. Ein zurückschießendes Meer; die Töne ersterben. Aber andre klingen nun deutlich: ruhige, langsame Trompetenstöße von dort, wo eben die Batterieen gestanden. Drei Fackeln, die hoch hin und her geschwungen wurden, zeigen sich. Zwischen den Fackeln geht einer, der unablässig eine weiße Fahne schwenkt; neben ihm ein Offizier. Alles geistert auf uns zu. Unser Bataillonskommandeur schickt ihnen seinen Adjutanten entgegen. Dem fremden Offizier werden die Augen verbunden, dann wird er über die Mauer gehoben.

Der Unterhändler bringt folgendes: Gegen freien Abzug mit Wehr und Waffen und mit klingendem Spiele sollen wir seinen Landsleuten das Gehöft übergeben. Im Weigerungsfalle kündet er uns völlige Erdrückung an.

Noch heute höre ich meinen Oberstleutnant; »Nous y restons, mon camarade.« Schon ist der Fremde auf der Krone der Mauer, um hinunter gelassen zu werden, als ihm der Oberstleutnant die Geschichte der unglücklichen Gräfin erzählt: daß es in der Unmöglichkeit liege, die Dame wegzuschaffen. Der Offizier zuckt die Achseln, macht ein trübes Gesicht, läßt sekundenlang die Augen den Boden suchen. Dann antwortete er: »A la guerre comme à la guerre,« und zieht mit seinen Leuten, blasend, unter Schwenken der Fahne, im huschenden Lichte der Fackeln in die Dunkelheit ab.

Der Oberstleutnant ruft: »Die Herren Offiziere!« Bald umstehen wir ihn im Kreise, und der alte Herr, der in der »Ochsentour« die Stufenleiter bis zu den Rampen erklommen hat, der keine Ansprüche auf Leben macht, dem sein König, sein Vaterland, seine Familie alles ist, der nie andre Interessen gekannt hat, der in eiserner Sparsamkeit, im steten Einerlei der nie wechselnden Garnison grau geworden ist – wie spricht er nun zu uns? Seine Worte sind wie gehackt; sie kommen kurz und bestimmt. Aus seinen Augen leuchtet die hochherrliche Sonne der nüchternsten Pflichterfüllung, der Pflicht der Stunde. Er, der uns zuweilen auf dem Exerzierplatz durch seine Kleinigkeitskrämerei zur Verzweiflung gebracht, der in jeder Rede stecken blieb in den kleinen Gesellschaften, wo er zu sprechen hatte – jetzt klingt es scharf und schneidig.

»Meine Herren! Sie haben alle gehört, was uns der Unterhändler geboten, was er im Falle der Weigerung uns zu sagen hatte. Die Antwort, die ich ihm gab, war Ihrer aller Antwort, ohne daß ich Sie zu fragen brauchte.

In einer Viertelstunde werden wir umzingelt sein. Treu bis in den Tod! Es lebe der König.«

Dann gab er uns allen dankend die Hand. Zu mir, der ich der Chef der dritten war, sagte er: »Die Kompagnie schickt einen Zug ins Schlößchen zum Vorstoß, wenns nöthig thut. Sie werden diesen Zug begleiten, Herr Hauptmann; mit den beiden andern Zügen werde ich mich an der Scheune selbst aufstellen, um sie dahin zu werfen, wo die äußerste Gefahr.«

Jeder eilte zu seinen Leuten. Eine Fluruhr im Herrenhause schlug in schrillem Ton die erste Stunde nach Mitternacht.

* * *

Ich hatte meinen Zug in die Säulenhalle – der Begriff Glasverbindung war verschwunden – postiert, zu der eine breite, wenige Stufen haltende, helle Marmortreppe führte. Wir konnten aus dieser Stellung in einem Sprung den Weg erreichen. Überall ödete schon die Verwüstung im Hause; nicht um zu plündern war hier gewütet, sondern um Möbel herauszuschleppen für die Unterlage der Bretter und um nach Eßmitteln und Wein zu suchen. Zart wird dann natürlich nicht angefaßt.

Vor meinem Fuß ruhte ein Buch. Ich hob es auf: A circle of the arts and sciences. By William Johnson. London 1817. Ich schlug es auf und las, indem ich meine Zigarre erglühen ließ.

Mythologie:

Frage: Who was Jason?

Antwort: He was the son of Eason and Almede, and, at the persuasion of Pelias, undertook the Argonautik expedition to Colchis for die golden fleece, which he carried away, though it was guarded by bulls and breathed fire from their nostrils, and by a great and watchful . . .

Ich hatte das ganz aufmerksam gelesen, als wäre ich daheim in meinem Zimmer.

Jetzt! Nichts war zu hören, und doch wußte es jeder von uns! sie kommen! Und geräuschlos vollzog sich, im weiten Kreis, ihn immer enger schließend und näher auf uns losrückend, die völlige Umzingelung.

Jetzt. Nein, noch Nicht. Stille des Grabes. Und doch, wir fühlen es in jedem Nerv: sie schleichen heran.

Hörner und Trommeln und Jauchzen und Geschrei. Die Mitrailleuse knattert dazwischen.: es hört sich täuschend an wie vom Schiffsdeck in die Tiefe rasselnde Anker. Rrrrrrrt – Rrrrrrt – Die Marseillaise im Hintergrund von tausend Instrumenten, von vielen Tausenden von Stimmen, und so, wie sie die Franzosen singen: Allons, enfants de la patri–i–e! Das »i« gellend, langaushaltend.

Und dann waren sie heran. Wir hatten meisterhafte Feuerzucht gehalten. Kein Schuß war vorher losgelassen. Schnellfeuer. Geknatter. Kampf um die Mauer. Sind sie im Garten? »Kerls, die Gewehre fest.« Und schon wollte ich hinunter springen, als ich Turkos sehe. Die schwarzen Gesichter stechen ab von der weißen Marmortreppe im matten Licht der Sterne. Kurze, geschlängelte Messer, Yatagans, umblitzen mich; Ranbtierzähne fletschen. Afrika gegen Deutschland. Und alles ein wirbelnder Kreis, in dem wütende Menschen, Blätter, Steine, Erde in ungeheuerm Tumult sind. Bald bin ich allein, bald helfe ich meinen Leuten, bald schlagen sie mich heraus.

Schon brennt es im Schlößchen. Und mitten im Treten und Getretenwerden, im Würgen und Gewürgtwerden denk ich plötzlich der Gräfin. Wie ich hinunter in den Keller gekommen bin. nie kann ichs sagen.

Die Wöchnerin liegt ohnmächtig auf Pelzen, neben ihr der schreiende Säugling; ihr Mann, diese Memme, betet knieend in einem Winkel. Ich vergesse die Todesangst in seinen Zügen nie und nimmermehr. Da drängen Turkos ein, blutbespritzt, beschmutzt, außer sich, Tiere. Schon beugt sich einer mit dem kurzen Flammenschwert über das Bett – aber ein schwerer bronzener Leuchter fliegt ihm dröhnend an die Stirn; er taumelt zurück. Eine alte Dame hat ihn geworfen, und als stände sie, eine Judith, auf Holofern, stellt sie den Fuß auf das Ungeheuer. Altes Tantchen, das war brav.

Leute von meinem Zuge sind um mich; wir schlagen die Schwarzen wieder hinaus. Aber es brennt ja, es brennt. »Vorwärts, die Frau und das Kind aufgehoben.« Und wie Zuckerpuppen so fein und behutsam nehmen zerrissene, zerdrückte, zerfetzte Uniformen die beiden auf die Arme. Hinaus, hinaus. Es ist wie ein Zug um einen vielgeliebten, auf den Tod verwundeten König bis zur Scheune, unter prasselnden und stürzenden Balken, sorgsam, abwehrend in höchster Kraft, langsam, langsam und mit schnellsten Herzschlägen. »Meier, Jahn, Bergmann, Schönborn hierbleiben, Frau und Kind bewachen!« Ich hab es in zuckenden, gurgelnden Worten geschrieen. Und wieder hinein in die Wogen. »Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, den ganzen Tag Kartoffelsupp, Supp, Supp, Supp.« Da ist es wieder, das Infanterie-Signal. »Vorwärts.« Blast es mir am Sarg, und ich überstürme die Engel, die mir den Himmel verwehren wollen.

Und zum zweitenmal ist der tolle Angriff zurückgeworfen. Ich lehne mich wie ein Todmatter, wie ein Gleichgültiger, an ein Birnenbäumchen; durch die lieben, trauten Blätter gelbt die Frucht. Senkt sich das Bäumchen auf mich? Umrauscht, umschlägt mich seine Krone? Wird es zum Schleier? Und ich sinke langsam nieder. Himmel und Erde sind mir eins geworden.

* * *

(Der Garten des Todes)

Hab ich geschlafen? Nein, wirklich, hab ich geschlafen? Ich liege ganz grade ausgestreckt. Noch sind meine Augen geschlossen. Es ist alles so still um mich. Jetzt öffne ich sie und schaue wieder in das Blätterdach meines Birnbäumchens. Mein Blick wandert, ohne daß ich den Kopf drehe, an den Zweigen vorbei in den Himmel. Unzählige rote Wölkchen treiben im Osten. Es ist die letzte keusche Minute vor Sonnenaufgang. Noch schweigt die Welt.

Mich auf die Knöchel meiner Hände stützend, erhebe ich mich zu sitzender Stellung und wende langsam links und wende langsam rechts die Stirn. Ich bin nicht im geringsten verwundet. Ich sehe nur die buntesten Farben durcheinander auf dem grünen Rasen. Da wach ich auf: denn dicht, dicht neben mir, starrt mich ein schwarzer Kopf an, dem der Schädel weit klaffend, tief gespalten ist. Der Körper des Turkos stemmt sich auf Knie und Hände. Er ist tot. In dieser Stellung ist er liegen geblieben. Jetzt spring ich auf und bin völlig bei Sinnen wieder. Und ich schreite durch den Garten des Todes . . . Hier greift sich einer ans Herz, dort streckt einer die Arme vor, der hat die Finger gekrümmt, dieser ruht platt auf dem Leibe. Die Gesichter sind verzerrt, selten wie schmerzlos schlafend. Die Wunden durch Sprengstücke der Granaten sind die furchtbarsten: Beine und Arme sind oft weggerissen, Brust und Eingeweide stehen offen . . . Kleine weiße Schmetterlinge, wie sie an schönen Sommertagen oft zu Hunderten fliegen vom frühesten Morgen an, gaukeln über die Gefallenen. Zuweilen lassen sie sich nieder auf das rote Blut; aber Rosen sind es nicht, und sie spielen weiter, abgehoben von roten Wunden, von grünen Zweigen, vom blauen Himmel – alles Naturfarben. In einem Beet, das mit Kaiserlilien besetzt ist, finde ich meinen Freund, den Hauptmann der Zweiten. Er hat einige dieser stolzen Blumen im Fallen eingeknickt, einige biegen sich über ihn, wie ein Wiegendach, einige hat die Linke des Hauptmanns im Sturz herausgerissen aus dem Boden mit allen Wurzelchen. Und Hauptmann und Lilien welken – denn welk ist der Tod, und frisch ist nur das wurzelnde Leben, das Leben mit dem Fuß auf der Erde. – Sein aschenfarbenes Gesicht – ein Granatstück hat die Brust zerrissen – ist, soll ich so sagen, ruhig ausgeklungen. Er hat keine Schmerzen gefühlt. Leb wohl, du Treuer.

Einige Schritte weiter hat der Tod den tapfern Feldgeistlichen ereilt; mitten ins Herz ging die Kugel. Einem Sterbenden hat er letzten Trost bringen wollen. Er ist über ihn, den unterdessen Verblichnen, quer hingefallen. Noch umkrampft der Gottesmann ein kleines elfenbeinernes Kruzifix.

Kaum fünf Schritte von diesem kniet der Bataillonsarzt. Aber er ist nicht erschossen; nur eine tiefe Ohnmacht aus Überanstrengung hat ihn erfaßt. In seinen Händen hält er eine leinene Binde. Sein Kopf ist auf die Brust dessen gesunken, der nun keine Verbände mehr nöthig hat.

Doch das Leben erwacht: ich sehe die toderschöpften Musketiere an der Mauer schlafen; schlafen in Krümmungen und Streckungen wie die Toten. Die Posten gehen wieder auf und ab auf den Brettern. Ich trete zu ihnen. Flüsternd frag ich, flüsternd antworten sie. Wen wollen wir nicht stören? Die Toten? Die Schlafenden?

Der Deckel des Erard ist aufgerissen; auf den gesprungenen Saiten treibt sich im Morgenwehen ein Notenblatt umher: La Calesera. Cancion Andaluza. Yradier.

* * *

Ich bin bei der Scheune. In dieser, an dieser finde ich die Verwundeten. Der Oberstleutnant ist schwer durch den Unterleib geschossen. Er lächelt mich unter furchtbaren Schmerzen heldenmütig an. Hier auch ist die Gräfin noch. Der Neugeborene hat ein Zuckerbeutelchen im Mäulchen. Irgend ein Musketier hat das Wunder fertig gebracht. Die alte Tante, der die grauen Haare über die Schultern fallen, ist überall thätig. Bald bei ihrer Schwägerin, bald bei dem Säugling, bald bei den Verwundeten und Sterbenden, die sie tränkt und tröstet. Sie ist unermüdlich . . .

Meine Kompagnie umringt mich wieder. Ich bin jetzt vollständig zu mir gekommen. »Antreten, Abteilen, Feldwebel.« Alles im Gange wie auf dem Kasernenhof. Auch die andern Kompagnieen ordnen sich. Wir nehmen die alten Plätze wieder ein an der Mauer. Ein dritter Angriff ist zu gewärtigen. Freilich, noch ein letzter Vorstoß gegen uns, und das Häuflein hat den letzten Mann verloren.

Und wirklich ziehen neue feindliche Kolonnen heran. Nun aber lassen uns die Kameraden nicht im Stich. Von den Höhen steigen sie herab im blendenden Sonnenschein, Regiment neben Regiment. Alle Musiken spielen Märsche. Ein markerschütterndes Hurra entlassen unsere Kehlen. Immer näher, immer näher rückten sie, der Feind, der Freund. Und jetzt umdrängen die Unsrigen das Gehöft. Wir treffen mit ihnen zusammen. Vereint vorwärts ziehend, schicken wir die Franzosen in die Thore zurück.

Später dann half uns ein treuer Bundesgenosse, einer, den eingeschlossene Festungen nicht ganz gerne sehen, der alte Ruppsack Hunger.


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