Detlev von Liliencron
Kriegsnovellen
Detlev von Liliencron

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Portepeefähnrich Schadius

General Faidherbe hatte seit einigen Wochen seinen leichten Lendenschurz, den er am heißen Senegal getragen, mit einem tüchtigen Pelz in Lille vertauscht.

Mit schnellkräftiger Hand hatte er die dort vorgefundenen Truppen gerüttelt, geschüttelt, gemengt, gesondert, hatte sich neue Bataillone geschaffen, alte aufgefrischt und ihnen wieder Lebensmut eingeblasen, und war nun wie ein zierlicher Fechter von der großen nordischen Stadt aus vorgestoßen einmal, zweimal, dreimal, viermal . . . unermüdlich. Aber einmal, zweimal, dreimal, viermal hatte er von den Deutschen empfindliche Schläge gefühlt. Jedesmal gelang es ihm, sich mit besondrer Geschicklichkeit aus der Schlinge zu ziehen und in seinen vielfach Lille umgebenden größeren und kleineren Festungen zu verschwinden. Zahlreiche Gefangene und zahlreiche Stiefel und Schuhe, die das gute England in seiner bekannten Parteilosigkeit den Franzosen geliefert hatte, blieben jedesmal in unsern Händen. Die Gefangnen wurden nach Deutschland gesandt, die Stiefel und Schuhe ließen wir stehen, weil sie gar zu schlecht gearbeitet waren.

Endlich bei St. Quentin, am neunzehnten Januar, an einem grauen, mißmutigen Wintertage, schlug ihn der klargeistige General Goeben für immer zurück.

General Faidherbe, klug, durchgreifend, weiten Blickes, hatte während seiner sich wiederholenden Vorstöße – er sollte unsre Nordarmee zum Abrücken auf Paris verhindern, sie deshalb stets am Mantel zupfen – gewissermaßen zu seiner linken Seitendeckung, in der östlichen Picardie, in den Ardennen, im nördlichen Teil der Champagne Freischärlerabteilungen, große und kleine, gebildet, die uns mancherlei Abbruch thaten, uns zum wenigsten recht unbequem wurden.

Der Franctireur in Masse, das heißt: in Trupps geteilt, in Uniformen, und wenn auch nur durch ein gemeinsames Abzeichen kenntlich, gekleidet, wurde stets als regelrechter Feind behandelt, trat er uns so gegenüber. Aber jeder Franctireur, der einzeln, vom Hinterhalt aus, einen einsam reitenden Adjutanten, eine Ordonnanz, einen Feldposten erschoß, wurde auf der Stelle an den nächsten Baum geknüpft, wenn wir seiner habhaft werden konnten: denn das blieb und bleibt in jedem Falle der Meuchelmord. Beschönigungen giebt es nicht.

Um diesem Unwesen entgegenzutreten, wurde, gleich nach der ersten Schlacht bei Amiens, im Anfange des Decembers, eine aus den drei Hauptwaffen gemischte Truppe zusammengesetzt, die den Auftrag erhielt, die Linie Rheims–Rethél–Mézières unter fortwährender Beobachtung zu halten. Alles Übrige war dem Kommandeur durchaus überlassen. Die gemischte Abteilung bestand aus meinem (Infanterie-) Regiment, aus den einundvierzigsten Husaren und einer reitenden Batterie.

Als Befehlshaber war uns von Versailles ein junger Reitergeneral gesandt, der erst vor kurzem die schmalen Biesen seiner Hose in breite rote Streifen umgewandelt sah. Die ganze Armee kannte ihn schon seit Jahren. Sein Ruf als Sportsman, als Pferdekenner, als ein leidenschaftlich die Frauen Verehrender war bekannt, nicht minder aber auch, daß er als einer der vorzüglichsten und lebhaftesten Offiziere galt. Aus diesem Grunde, so hieß es bei uns, sei er vom großen Hauptquartier hierhergeschickt. Man fand dort keine rechte Verwendung für den feurigen, oft tollkühnen Mann.

Ich erinnere mich der Stunde, als ich ihn zum ersten Male sah, sehr deutlich. Unser Kommando stand einige hundert Schritte nördlich von Amiens auf der Landstraße. Wir erwarteten den gestern Abend spät eingetroffnen Führer, um uns dann sofort in Bewegung zu setzen. Schon eine Stunde wohl hatten wir in den Gräben gesessen, geplaudert, gefrühstückt, manchen Schluck gethan, als sich uns von der Stadt her rasch eine kleine Staubwolke näherte. »An die Gewehre«, »An die Pferde«, »An die Geschütze« rief es durcheinander. Aber ehe noch »Gewehr in die Hand« kommandiert war, raste wie auf einem durchgehenden Pferde der General bei uns vorbei. Er hielt seinen Gaul erst beim vordersten Mann an. Dann schrie er mit lauter Stimme: »Die Herren Offiziere«, und »die Herren Offiziere« klang im Echo der Ruf der Unterkommandeure. Bald hatten wir um ihn einen Kreis gebildet und hörten nun sein erstes Wort: »Meine Herren! Räubertag – Freudentag!« Er wollte uns damit sagen, wie sein Herz vor Lust poche, auf die Hasenhetze zu reiten, und wie auch wir uns wohl glücklich schätzten, mit dem Gesindel uns herumzuschlagen. Dann hielt er in kurzen Sätzen eine kleine Ansprache, wie er die Sache anzufangen gedenke. Der Batterie befahl er, an den Kopf der Kolonne zu fahren, zu unserm allseitigen inneren Entsetzen! Eine Batterie vornweg! Das war noch nicht vorgekommen. Freilich, beim Anmarsch trabte er mit einer Schwadron eine halbe Meile vor, so daß die Geschütze doch nicht ganz in den blauen Dunst hineinrollten.

Keineswegs »pochte uns das Herz vor Lust«, in den Guerillakrieg zu ziehen. Dabei kam nichts heraus, das wußten wir. Ging die Kolonne geschlossen vor, dann würden die Franktireurs schnell wie die Wiesel in ihren Schlupflöchern, die sie überall hatten, verschwinden; zeigten wir uns einzeln, in kleinen Abteilungen, dann, ja dann würden die Banden zum Vorschein kommen, um uns zu überfallen.

Während der General uns seine Belehrungen gab, und, wie gesagt, in kurzen, markigen Sätzen seine Absichten für die nächsten Tage verkündete, hatte ich Zeit, ihn zu betrachten. Selten wohl hat es einen schönern Mann gegeben. Früher durch Jahre im großen Generalstab beschäftigt, lag ihm noch, ich möchte es so nennen, der leidende Zug im Gesicht. Die überaus angestrengte Arbeit gräbt ihn unsern Generalstabsoffizieren ein. Aber andererseits, wie wir dies namentlich bei den jüngeren dieser Herren finden, war ihm aus jener Zeit das (im guten Sinne natürlich) »Geschniegelte und Gebügelte« geblieben. Wie saß ihm die Schärpe! Wie sehr gepflegt glänzte der starke, schwarze, in zwei scharfgedrehte Spitzen auslaufende Schnurrbart.

»Also, meine Herren, den Stab in die Hand,« schloß der General.

In den ersten Tagen und auch fernerhin hatten wir keine Belästigungen, so lange wir geschlossen blieben. Dennoch war die äußerste Vorsicht geboten. Diese ewige »Vorsicht« brachte unsern Nerven nicht grade Ruhe. Sobald wir ins Quartier kamen, mußten wir erst alles durchsuchen, die Kirchen, die Boden, die Keller, die Abseiten, jede kleinste Räucherkammer. Starke Wachen zogen auf, dichte Postenlinien wurden ausgestellt, Patrouillen gingen hin und her, hierhin und dorthin. Und dazu das ungünstigste Wetter, Schnee und Regen tauschten fortwährend. Der Wind blies schwach, so daß wir nicht den Vorteil hatten, von ihm getrocknet zu werden. Mit durchnäßten Kleidern, oft bis aufs Hemd, rückten wir in die großen, kalten Kirchen und Scheunen als in unsre Massenbehausung ein. An ein wärmendes Feuer war, der Gefahr wegen, nicht zu denken. Und wie aufgeweicht schwammen die Wege; wir versanken in ihnen bis über die Knöchel. Der Däne hat hierfür das hübsche Wort: ssapssig.

Das waren wirklich Strapazen und fast übergroße Anstrengungen. Die Verpflegung wurde schlechter und schlechter. Langer Marsch und frostig Dach, und was das schlimmste war: wir sahen und hörten nichts vom Feinde. Wenn wir uns doch tüchtig hätten einmal raufen können: das wäre eine Erlösung gewesen.

Unserm Führer war diese ewige »Hinundherzieherei, ohne die Kerls an den Kopp zu kriegen«, ebenfalls sehr unerwünscht. Er lenkte deshalb seine Aufmerksamkeit darauf, sich irgendwo mit der ganzen Abteilung festzusetzen, um von hier aus seine Unternehmungen zu beginnen. Schon nach drei Tagen hatten wir den gesuchten Punkt gefunden. Er lag einige Kilometer westlich der großen Straße. Sérancourt selbst, das, nach seiner Ausdehnung zu urteilen, fünf- bis sechstausend Einwohner zu haben schien, lag in einem Thälchen; ihm unmittelbar nach Norden sich anschließend, auf einem Hügel, entdeckten wir ein Schlößchen im Mansardenstil. Diesem wieder eng naheliegend, standen viele gewaltige Fabrikgebäude. Bald wußten wir das Nähere. Das Herrenhaus und die große Eisenbahnwagenfabrik gehörten Herrn François Bourdon. Seine von ihm beschäftigten zweitausend Arbeiter wohnten mit ihren Familien oder als Junggesellen in Sérancourt. Zur Zeit zwar lauerte und lungerte wohl über die Hälfte dieser in den Wäldern der Franctireurs umher. Die Fabrik war gänzlich geschlossen. Herr und Frau Bourdon und ihr einziges Kind, Fräulein Fanchette, waren vernünftiger Weise zu Hause geblieben.

Was hauptsächlich den Befehlshaber vermocht hatte, diese Stellung als Ausgangspunkt für seine Streifzüge, nach allen Seiten hin, zu wählen, war die günstige Lage. Überall dämmerten erst in weiter Entfernung Berg und Holz. Überallhin überschaute das Auge vom Hügel aus alles. Jede Annäherung konnte am Tage von uns frühzeitig entdeckt werden. Nachts allerdings mußten strahlenförmig Patrouillen, stehende Unteroffizierposten und Horchtrupps vorgetrieben werden. Dafür ließ sich der Wachtdienst in Sérancourt, auf dem Schlößchen und in den Fabrikgebäuden einschränken.

Im Orte selbst stand das Infanterieregiment. Im Herrenhause hatte sich der General und sein Stab eingerichtet. Auch hatte dieser hierhin die vierte Kompagnie, die von mir geführt wurde, befohlen. Ich lag also vortrefflich, von meinem Kameraden viel beneidet. Während es sich meine Leute, so gut es gehen wollte, bequem machten in Ställen und andern Nebengebäuden, wohnte ich selbst mit meinem Leutnant in zwei hübschen Zimmern der Villa. Endlich hatten in den weitläufig angelegten Fabrikräumen das Husarenregiment und die Batterie Unterkunft gefunden. Zwar hatte der Befehlshaber erst alle die Riesenmaschinen, und diese mit nicht geringer Mühe, sowie die fertigen und unfertigen Eisenbahnwagen rücksichtslos entfernen lassen. A la guerre comme à la guerre. Die Eisenbahnwagen dienten uns vorzüglich zu einer Art Wagenburg, die wir wie eine Umwallung um die Villa aufgeführt hatten.

Herr und Frau Bourdon schienen die liebenswürdigsten Leute. Doch nie vergaßen sie den »Franzosen« (die kleine dicke Madame war übrigens eine Engländerin), bewahrten aber jede Höflichkeit, die unsern unruhigen Nachbarn so gut steht. Auch mochte ihnen die Klugheit, wie sie namentlich aus den Augen des Herrn Bourdon leuchtete, gesagt haben, daß es das beste sei, sich in das Unabänderliche zu fügen.

Morgens und abends, auch fast den ganzen übrigen Tag, lebten wir für uns. Nur das Hauptessen zeigte uns bei Tisch unsern unfreiwilligen Wirt und seine Damen.

Die körperliche Erscheinung Fräulein Fanchettes, der Tochter des Hauses, schien mir gar sehr auffällig und obsonderlich von den andern Menschenkindern, die ich bisher im Leben gesehen, abzustechen. Auf einem schlanken Halse saß ein Kopf, der mich dermaßen beim ersten Anblick in Erstaunen setzte, daß ich beinahe zurückgeprallt wäre. Auch den andern Offizieren geschah dasselbe, wie ich deutlich bemerkte und wie wir es uns später unter uns erzählten. Das längliche Gesicht Fanchettes zeigte überall eine gleichmäßig elfenbeinerne Farbe. Die Haare, durch einen graden Scheitel über den Kopf geteilt, schlangen sich im Nacken zu einem griechischen Knoten. Sie schimmerten mehr ins Rötliche als ins Blonde. Ihre großen Augen, die von sehr langen Wimpern beschattet wurden, schienen aus dunkelbraunem Samt geschnitten zu sein.

Auch der General trat wie bestürzt einen Schritt zurück, als er ihr vorgestellt wurde.

Bei Tisch saßen wir in folgender Reihenfolge: Madame, rechts von ihr der General, Fräulein Fanchette, ein Oberstabsarzt, der Adjutant des Befehlshabers. Links von Madame: mein Regimentskommandeur, Herr Bourdon, ich, mein Kompagnieoffizier.

* * *

Am andern Morgen ritt der General mit einem Trompeter und einem Husarenunteroffizier, der eine lange Stange mit sich führte, um deren oberes Ende ein großes weißes Laken gewunden und gebunden war, bei Tageslichtanbruch von Hause weg. Ich sah es von meinem Fenster aus. Selbst sein Adjutant, den ich später fragte, wußte nicht, wohin er sich begeben habe.

Etwas vor fünf Uhr nachmittags stieg er wieder lachend mit seinen Begleitern vor der Villa ab. Beim Mittagessen verriet er nichts, bis er sich plötzlich mit artiger Bewegung an Frau Bourdon wandte und dieser einen Gruß bestellte vom Vicomte de Combières, dem Gouverneur von Le Dragon de Muraille. Die Dame dankte erstaunt mit großen Augen, während Herr Bourdon ihn von unten ansah, dabei seinen Suppenlöffel, den er schon dicht vor den Lippen hatte, zum Stillstehen bringend. Auch Fanchette schielte, ohne ihr Haupt zu wenden, einen Augenblick zu ihm hin. Aber der General gab geschickt dem Gespräch eine andre Wendung, so daß jede weitere Frage der Tischgesellschaft unterblieb. Nachdem wir uns nach Beendigung der Mahlzeit von der Familie Bourdon verabschiedet hatten, bat uns der General, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen.

Hier erzählte er uns: »Meine Herren! In der letzten Nacht fiel es mir in den Sinn, ob es mir nicht möglich sein würde, die kleine Felsenburg Le Dragon de Muraille, die wir von unsrer Wohnung hier sehn können, und von der unser Hauptmann« (er machte eine leichte Handbewegung zu mir) »gestern behauptete, daß sie sich im Mondenscheine wie eine Dorische Zeichnung ausnähme, zu überraschen.

Gedacht, gethan! Ich ließ um sieben Uhr früh einen Trompeter und einen Husarenunteroffizier rufen und war um acht Uhr schon auf dem Wege nach der kleinen Festung. Wir hörten früher, und ich habe es heute selbst in Erfahrung gebracht, daß dies Steinnest außer einem Gouverneur, vierzig bis fünfzig uralten Invaliden den letzten Lebensort bietet. Außerdem hausen dort oben etwa fünfhundert Einwohner, von denen die männliche Bevölkerung zur Bedienung der Geschütze eingeübt ist.

Es bestätigt sich vollkommen, daß das Städtchen uneinnehmbar ist. Daß es den Namen der kleinen Eidechse führt, wurde mir oben dadurch erklärt, daß sich unendlich viele dieser zierlichen Tierchen hier auf den Mauern, im Gerölle und in den Felsspalten bis zur Stunde aufhalten.«

Der General setzte seine Erzählung fort.

»Meine Herren, wenn ich die Phantasie hätte der schönen Märchenerzählerin, so würde ich Ihnen jetzt aus Tausend und einer Nacht vortragen. Das kann ich nicht, und so müssen Sie sich mit meinem nüchternen Berichte begnügen:

Als wir heute Morgen zu Pferde stiegen – ich hatte sie schärfen und die Bügel stark mit Stroh umwickeln lassen, denn es hatte in der Nacht gefroren – umwehte uns ein sanfter Südwind, der aber schon nach einer halben Stunde in einen unangenehmen Ost überging, so daß ich es bereute, statt meines Mantels meinen Überzieher angezogen zu haben. Aber deshalb umzukehren, schien mir die Sache nicht wert.

Ich hatte geglaubt, wie Sie wohl alle derselben Ansicht sind, in etwa zwanzig Minuten den Fuß des Kegels, und in weiteren zwanzig Minuten das Städtchen selbst zu erreichen. Wie hatte ich mich getäuscht. Nach Verlauf einer Stunde erst gelangten wir zu dem Punkte, von wo aus uns ein Schneckenweg in eineinhalb Stunden auf die Spitze brachte. Es giebt nur diesen einen, etwa wagenspurbreiten Hinaufstieg, der an einzelnen Stellen kleine Ausbuchtungen zum Ausbiegen hat. Die Straße ist rechts und links mit meterhohen Mauern eingefaßt, über die wir in immer tiefere Abgründe schauten. Plötzlich, bei einer Biegung, riß ich meinen Hengst zurück, denn vor mir dehnte sich eine bodenlose Tiefe. Zugleich aber sah ich über diesem kaum sechs Meter breiten Schlund eine aufgezogene Zugbrücke. Rechts und links auf jener Seite starrten jähfallende Felsen. Über dem Thore bemerkte ich eine eingesprengte Nische.

Sofort ließ ich meinen Trompeter blasen. Ich hatte ihm gesagt, daß er, was er wolle, geben könne; und so klang es denn in dieser Wüstenei absonderlich, wenn hintereinander: ›O, Du mein holder Abendstern‹, ›Mädle ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite‹, unser prächtiges Signal ›Trab‹, ›Wo Du nicht bist, Herr Organist‹, und das düstere, nüchterne, eiserne, alles mit sich fortreißende: ›Vorwärts‹ der Infanterie erklangen. Den Unteroffizier ließ ich unaufhörlich das weiße Laken schwingen. Nun war es Zeit, daß wir einen Bomelunder (einen ausgezeichneten Schnaps aus meiner Heimat Schleswig-Holstein), den ich in meine Satteltasche gesteckt hatte, zu uns nahmen.

Nichts rührte sich. Nur entdeckte ich links, in gleicher Höhe mit mir einen Steinadler, der über dem Schlunde schwebte. Ich nahm mein Glas und erkannte ihn an den gelben Kopf- und Nackenfedern. Da riß eine schwarze Wolke auseinander, so daß ein schmaler Sonnenstrahl just den herrlichen Raubvogel in ein Meer von Gold tauchte. Dieser Sonnenstrahl traf auch eine Felswand, von deren Rande eine Riesentanne schräg über eine Untiefe hinausragte.

Während ich noch ganz versunken dies mächtige Wildnisbild betrachtete, hörten wir eine Kindertrompete, und als ich darauf nach der Nische sah, von woher der Ton zu schwingen schien, bemerkten wir in dieser einen kleinen eisgrauen französischen Soldaten, gekleidet wie die Invaliden in Paris.

Eine vor Altersschwäche zitternde Stimme fragte, was wir wollten. ›Ich wünsche den Herrn Kommandanten zu sprechen.‹ ›Den Herrn Gouverneur, wenns gefällig ist,‹ antwortete vorwurfsvoll die Stimme. Was wir denn bei diesem beabsichtigten? »Ich möchte den Herrn Gouverneur in dienstlicher Angelegenheit aufsuchen.«

Wie in eine Versenkung verschwand der Mann, und klapp! sagte es deutlich, und es zeigten sich rechts und links des Eingangs plötzlich je drei Geschützmündungen, die drohend ihren offenen schwarzen Hals gegen uns aufsperrten. Die Blenden waren wie durch Zauberschlag gefallen. Gleich dann rasselte schwerfällig die Zugbrücke nieder, die Pferde wurden durch das Geräusch des sich senkenden Belags scheu, und im Handumdrehen wären sie uns durchgegangen.

In der Öffnung stand derselbe Kleine mit dem Kinderhorn, der eben in der Nische uns antrompetet hatte. Jetzt trug er noch ein überlanges Schwert an der Seite. Er lud uns mit einer freundlichen Handbewegung ein, näher zu kommen. Merkwürdigerweise traten unsere Gäule ohne »Geschichten zu machen« über die Bohlen, die den grausigen Grund überbrückten. Sowie wir aber ins Thor ritten, als der leichte Hufklang mit dem dröhnenden wechselte, als plötzlich die sechs Geschütze zugleich abgefeuert wurden, stiegen sie. Doch kein Reiter darf Träumer sein, und so waren wir auf alles vorbereitet. Bald, wenn auch ein wenig aufgeregt und Ohren und Augen in lebhafter Bewegung, ruhten die zwölf Beine wieder auf dem Boden.

Rechts und links wurden Thüren auseinander geschoben, und je drei Invaliden – keiner von diesen, wie überhaupt von allen, denen ich im Laufe des Tages begegnete, schien unter siebzig Jahren – traten mit entzündeten Fackeln vor. Die Zugbrücke rasselte, wie durch ein Uhrwerk getrieben, in die Höhe. Nun sah ich bei dem hellen Scheine, wie mir sechs der alten Soldaten, die in einer Reihe links von uns standen, mit ihren Gewehren ihre Ehrenbezeugungen erzeigten.

Wir traten in folgender Reihenfolge den Weitermarsch an: Zuerst in einer Linie nebeneinander die sechs Fackelträger (so breit war alles hier weggesprengt), dann ein zwölf- bis vierzehnjähriger Trommelschläger. Hinter diesem der kleine Mann, der das lange Schwert gezogen hatte. Endlich die sechs Invaliden, die mir ihre Ehrenbezeugung gegeben, in einer Linie nebeneinander. Meine beiden Begleiter hatte ich an mich herangewinkt. Ich sagte ihnen, daß sie keine Miene zu verziehen hätten, was wir auch immer an diesem Tage erleben würden. »Zu Befehl, Herr General,« erklang es frisch.

»Je suis le petit tambour . . .«

Das Liedel fiel mir ein, als ich den unaufhörlich das Kalbfell bearbeitenden winzigen Trommelschläger beobachtete. Mit außerordentlicher Würde schritten die weißschnurrbärtigen Soldaten (keinen Henry quatre hab ich bei ihnen gefunden) voraus. Ihre Bärenmützen wackelten nicht. Ernst lag auf ihren Gesichtern. Wäre jetzt ein Offenbachsches Tschingda, Tschingda, Tschingdada erklungen, eine Operette hätte sich vor mir abgespielt.

Über zwanzig Minuten marschierten wir im Tunnel. Die Wände schwitzten. Wann wird es ein Ende nehmen und wie?

Da kam es mir vor, als wenn mir eine Treibhauswärme entgegenhauchte. Bald streiften Schimmer des Tages an den Seiten hin; heller wurde es und heller. Die Fackelträger bogen, zu je dreien, rechts und links aus, hielten und machten Stirnseite zu uns. Der Trommler schritt weiter; hinter ihm der kleine Mann mit dem großen Schwert. Hinter diesem die sechs Grenadiere . . . Wir ritten aus dem Tunnel ins Freie . . . Und wie entsetzt, wie auf ein gegebenes Zeichen hielten wir die Pferde an . . . Eine Wirrnis von Steinen lag um uns zu beiden Seiten des wieder wie beim Aufstieg sich verengenden Weges . . . Kein Baum, kein Strauch; nur Würfel auf Würfel gestellt, nur nackte Schroffen und unermeßlich tiefe Schlünde . . . Und wärmer und wärmer wurde die Luft. Ich knöpfte meinen Überzieher auf.

Die Trommel hörte auf zu schlagen, und der kleine Mann mit dem Goliatschwert gebot Halt. Die sechs Grenadiere, die der schmalen Straße wegen zu zweien hintereinander gegangen waren, blieben stehen. Gewehr ab. Rührt euch – und der Führer trat an mich heran. Er mußte mein Staunen in meinen Zügen lesen, denn er begann sofort, ohne mich zu Worte kommen zu lassen: »Ja, das glaube ich, mein Offizier. Hier kann kein Preuße herüber. Diese Einöde legt sich um unsere ganze Festung wie ein Gürtel, wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Eigentlich werden den Unterhändlern die Augen verbunden; in diesem Falle aber sollen Sie sich grade durch Sehen überzeugen, durch Sehen, Sehen, Sehen, ja durch Sehen, mein Offizier! Kommt der Preuße heran, so sprengen wir den Tunnel und die große Brücke, ah, die große Brücke. Und dann ist jeder Angriff unmöglich.« Aber erlauben Sie, unterbrach ich ihn . . . »Erlauben Sie, erlauben Sie, mein Offizier, es ist unmöglich.« Aber die Wärme hier, woher . . . »Sie werden sehen, Sie werden alles sehen. Ah, die große Brücke. Und nun bitte ich, daß der preußische Trompeter uns einige Stückchen vorblasen darf, wenn wir wieder antreten. Der Herr Gouverneur ist schon benachrichtigt. Sie werden einen neunzigjährigen Greis finden. Aber er ist voll der Ehre, voll der Ehre. Er wird sich eher töten, als daß er die Festung übergiebt.«

Ich ließ meinen Trompeter seine ›Stückchen‹ blasen, und vorwärts gings. Ich konnte mich eines herzlichen leisen Lachens nicht erwehren, als ich die stolzen Schritte des Knaben, des Führers und seiner sechs Soldaten sah. Die Musik begeisterte ihr altes treues Soldatenherz. Unsre Pferde nickten mit den Köpfen.

Hatte ich vorher an Schillers Drachentöter gedacht: ›Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck‹, oder daß ich den Mont-Salvage hinanritt als ›tumper‹ Parcival, so kam mir nun der Gedanke, daß ich dem lustigen dicken König von Yvetot einen Besuch abstatten wollte.

Lange schon hatten wir ein dumpfes Geräusch vernommen.

Plötzlich, bei einer Biegung der Schneckenstraße, hielt ich im Ruck meinen Hengst an. Dem Trompeter blieb mit einem schrecklichen Mißlaut sein ›Stückchen‹ in den Lippen sitzen.

Vor uns zeigte sich eine wohl vierzig Meter lange Brücke, die über eine grauenhafte Höllentiefe führte. An unsrer Seite und an der gegenüberliegenden stürzten die Felsen lotrecht hinunter. Am Rande stiegen ungeheure Tannen in die Lüfte. Einige abgestorbne standen schräg oder lagen wagerecht über dem Schlunde. Wasserfälle, Gießbäche, große und kleine Rinnen sprangen und schossen, rauschten, polterten und plätscherten hinab. Aus dem Thal selbst quoll ein grauweißer Dampf empor, ohne uns zu erreichen. Zuweilen sahen wir, oder so schien es uns wenigstens, einen breiten, schnell vorbei wirbelnden Strom unten.

Der kleine Mann trat wieder zu mir, beguckte mich, freute sich über meine großgewordnen Augen und lachte. Dann fing er an (doch kaum wars zu verstehen vor dem Lärmen der Wasser): »Ja, das haben Sie nicht geahnt, mein Offizier. Wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt« (er brauchte wieder denselben Vergleich), »so umzieht dieser Fluß unser Städtchen. Die Wasser, die hinunterfallen, sind eiskalt, aber frieren nie. Der Strom ist glutheiß. Wo seine Abflüsse sind, hat bisher niemand entdeckt. Vor einigen Jahren ließen wir einen jungen Gelehrten, einen Naturforscher, trotz aller erdenklichsten Warnungen, an Stricken hinunter. Als wir ihn nach einer halben Stunde vorsichtig wieder heraufzogen, lag er tot in den Seilen. Seine linke Hand umschloß einen Stengel, auf dem eine große himmelblaue Blume saß, wie wir sie nie gesehen.«

In diesem Augenblicke flog ein Reiher (ein Reiher im Dezember? Aber mir fiel ein, daß er oft Standvogel ist) kaum haushoch über uns weg. Seine Flügel donnerten, als wären sie von Erz.

Huchda, huchda. der Houben los! beginnt ein Jagdgedicht, das dem furchtbaren Kaiser Heinrich dem Sechsten zugeschrieben wird. Und ›Huchda, heida! der Houben los!‹ hätte ich gleich gerufen, als mir der große Fischvertilger über den Scheitel flog. Dem Edelfalken die Haube ab, und ihn nachgeworfen. Der Reiher hat ihn gesehen; er entledigt sich des Inhaltes seines Kropfes, steigt, steigt in die Wolken. Der Edelfalk ihm nach. Nun hat er ihn überflogen, er zupft ihn an den Schwingen. Der zweite Falke wird geworfen. Ah, ein wundervolles Bild: der Kampf am Himmelsthor. Endlich überschlagen alle drei sich zur Erde. Reiter und Reiterinnen jagen hin. Dem Reiher werden einige Prachtfedern genommen; ihn ziert jetzt ein Blechschildchen, das schnell ihm umgehangen ist. Und wieder Freiheit, Freiheit, Freiheit . . . So war es einst. Die edelste Jagd.

Verzeihung, meine Herren, für diese durchaus unnötige Abschweifung.

Mein Lakenträger bibberte mit den Lippen und sah mich von der Seite an; ich bemerkte, daß er mir etwas sagen möchte. Nun, Meier, wollen Sie mir etwas mitteilen? Ich bog mich zu ihm, denn sonst war nichts zu verstehen. Er flüsterte mir wie in Besorgnis: Dies ist wie eine andre Welt, Herr General.

Endlich zogen wir weiter, ohne Spiel, ohne Wort, über die lange, lange Brücke, die sich am andern Ufer wieder in den schmalen gewundnen Weg verengte. Alle Schroffen und Schluchten waren verschwunden. Wir pilgerten durch eine Ebene.

Der kleine Trommelschläger fiel wieder ein. Und vorwärts gings. Plötzlich ein weites, offenes Thor, Festungsmauer, Giebel einzelner Häuser, die Spitze eines Kirchturms, und drumdirum marschierten wir durch die Wölbung ins Städtchen ein. Gleich voran streckte sich ›das Schloß‹ über die andern Dächer empor. Hier machten wir Halt, und der kleine Mann mit dem großen Säbel führte mich in dies Gebäude.

Ich stand dem Gouverneur, dem Vicomte de Combières, gegenüber. Nie hab ich so etwas erlebt. Ein unendlich in sich zusammengesunknes Männchen mit einem Stelzfuß, in voller Uniform, geschmückt mit Orden über die ganze Brust, am Krückstock – lachte mich höhnisch von unten an, indem er den Kopf ganz schief hielt und mißtrauisch wie ein Rabe mich anblinzelte.

»Sie kommen, Sie wollen, mein preußischer Kamerad . . .« und nun humpelte er durch den Riesensaal, worin wir uns befanden, und lachte, lachte, lachte, nicht mehr höhnisch, aber so fröhlich, lachte wie ein Kind. Dann stellte er sich wieder vor mir auf, guckte mich abermals schief von unten an, und sagte:

»Nun gut, was wollen Sie? Meine Festung haben, mein Eidechschen?«

»Ich bin in der That hierhergekommen, mein Gouverneur,« erwiderte ich ihm, »um Sie zu bitten, die Thore zu öffnen für meinen Obergeneral, der mit dreißigtausend . . .«

»Mit dreißigtausend Mann,« und wieder holperte der Alte im Zimmer umher. Aber sein Lachen klang anmutig und gutmütig. Rasch stampfte er auf mich zu, ergriff einen Rockknopf von mir und zerrte mich in ein Nebengemach. Hier stellte er mich vor ein ungeheures Fernrohr, putzte emsig mit seinem gelbseidnen Taschentuch an den Gläsern und schrie mich an: »Schauen Sie durch, bitte, wenns gefällig ist; schauen Sie durch.« Ich legte mein Auge an und sah unsre Villa vor mir, bemerkte deutlich, wie unsre Leute über den Hof gingen.

Der Greis rief: »Dreißigtausend Mann, dreißigtausend Mann! kaum viertausend haben Sie dort. Und wollen mich zur Übergabe zwingen. Und wenn es über viermalhunderttausend wären, unmöglich, unmöglich. Ich sprenge ja einfach meine lange Brücke. Durch den dampfenden Fluß, der meinen Platz wie ein Ring umfließt, kann kein Mensch durch.«

»Dann werden wir die Ihnen anvertraute Burg aushungern.«

»Wie, was,« schrie er, aus vollem Halse lachend, »aushungern wollen Sie uns, aushungern? Kommen Sie, kommen Sie, mein Kamerad, ich will Ihnen zeigen . . .« und damit tapste er voraus.

Als wir aus dem Schlosse traten, wollte ich dem Vicomte meinen Arm geben; er erwiderte, die Einwohner und Soldaten würden ihn für meinen Gefangnen betrachten. Statt dessen mußte ich ihn unterfassen. Und so traten wir denn durch hügelige Gassen und Gäßchen unsern Weg an. Überall liefen die Leute an die Fenster und an die Thüren. Überall mußte ich hören: Ah, Herr Bismarck . . . Ah, Herr Moltke, und die ausgesuchtesten Schimpfworte folgten. Als es einmal gar zu arg wurde in einer Gruppe, hob der Vicomte den Stock: »Wollt Ihr wohl Eure Fischmäuler halten.« Alles jauchzte und rief: »Es lebe der Gouverneur!«

Bei einer jungen, hübschen, schwarzäugigen Frau blieb der Alte stehn und fragte sie ganz gemütlich, was sie heute Abend auf dem Herde habe. Erbsen und Schweinefleisch lautete die rasch gegebne Antwort.

Einmal trat ein Graukopf dicht an den Vicomte und flüsterte ihm, während wir im Weitergehen blieben, etwas ins Ohr. Ich denke mir, irgend eine Feindseligkeit gegen mich, oder einen Vorschlag, mich gefangen zu nehmen. Wütend war die Gegenreden: »Willst Du Deinen Rachen halten, Du ausgedörrtes Stück Rindfleisch, Du!«

Bald traten wir aus dem Städtchen ins freie Feld. »Wie, was, aushungern wollen Sie uns?« rief Seine Excellenz. »Sehen Sie hier, das ist der Acker Pierre Bomballons, dann folgt Auguste Rochambeau, Erneste Lièvre, Charles Matin, Henri Manier . . .«, und fort und fort, daß mir der Kopf wirbelte, gab er Namen auf Namen.

Schließlich führte er mich in den Gouvernementsgarten. Dieser war ins Gelände eingeschnitten. Hier strömte uns dieselbe feuchtwarme Luft entgegen wie auf der Brücke. Ein Apfelbaum stand in Blüte, im Dezember! Doch belehrte mich der Greis, daß aus dieser Jahreszeit die Blüte niemals zur Frucht gedeihe.

Ins Schloß zurückgekehrt, hatte ich die Ehre, Ihrer Excellenz vorgestellt zu werden. Ich fand eine ebenfalls uralte Dame. Ihre Ruhe und Würde stach wohlthuend ab gegen die quecksilberige Lebhaftigkeit des Gouverneurs.

Beim Frühstück erschien eine Enkelin der Alten, die mit ihrem siebenjährigen Kinde, einem reizenden Mädchen, vor dem Kriege hierhergeflüchtet war. Die kleine Julienne war kaum eingetreten, als sie vor mir »Stellung nahm«, die Ärmchen in die Seite stemmte und sehr drollig sagte, während sie mich von oben bis unten und von unten bis oben musterte: »Das also ist der preußische Buhmann, Herr Bismarck.« Ich glaube, sie hätte mich angespuckt, wenn die Mama sie nicht rasch weggezogen hätte. Später haben wir Freundschaft geschlossen.

Meine beiden Unteroffiziere erzählten mir auf dem Heimritt, wie vortrefflich sie verpflegt worden seien.

Auf der langen Brücke ließ ich halten, um die märchenhafte Umgebung noch einmal auf mich wirken zu lassen. Ich dachte an den jungen Gelehrten, der hier die »blaue Blume« gefunden, das Finden aber mit dem Tode gebüßt hatte.

»Was war es doch mit der ›blauen Blume‹, lieber Behrens,« wandte sich der General an meinen Kompagnieoffizier. »Sie sind der Jüngste von uns, und müssen daher Bescheid wissen.«

»Sehr wohl, Herr General. Erinnere mich deutlich. Vorbereitung zum Examen. Famöse Blume, das. Irgend ein Reimschmied, wollte sagen Dichter, suchte sie. Feudaler Name, das . . . Heinrich von Ofter . . . Ofterdingen . . . nein, Hardenberg, richtig, Hardenberg. Hätte nur hierherkommen sollen.«

Wir brachen alle in ein helles Gelächter aus, weniger über die treuherzige Aufklärung über die »blaue Blume«, als über die gezierte, näselnde Sprache unsers Leutnants. Wie oft war er deshalb schon von den Kameraden aufgezogen und geneckt worden. Nun, in nicht langer Zeit wird er selbst finden, wie wenig hübsch eine solche Sprechweise ist. Sonst hatten wir Behrens alle gern. Er war außerdem ein ausgezeichneter Offizier.

»Sie suchen auch die ›blaue Blume‹, lieber Behrens, und wohl allen, die sie noch suchen,« schloß der General.

* * *

Mitten in der Nacht wurde ich geweckt. Der Feldwebel stand vor meinem Bette. »Warten Sie einen Augenblick, Bruns. Gleich mach ich Licht . . .«

»So, nun brennts . . . Was giebts denn . . .«

Mein Feldwebel las:

Regimentsbefehl.

»Die vierte Kompagnie steht morgen früh acht Uhr als Begleitkommando zum Abmarsch nach Brettonville bereit. Die Wache bleibt zurück.«

»Schreiben Sie, Bruns:«

Kompagniebefehl:

»Die Kompagnie steht morgen früh drei Viertel acht Uhr zum Abmarsch bereit. Ohne Tornister; sonst feldmarschmäßig.«

Der Feldwebel meldete mir dann ferner, daß erst vor einer Stunde aus Brettonville beim Herrn General die Mitteilung eingegangen sei, daß dort Liebesgaben für unser Regiment aus der Heimat eingetroffen wären. Der Herr General habe dem Herrn Oberst Befehl erteilt, und dieser, der Kürze der Zeit halber, die vierte Kompagnie bestimmt. Zahlmeister Franz sei benachrichtigt, morgen früh dreiviertel acht Uhr mit zwei Wagen im Schloßhof zu stehen.

Nachdem ich mit dem Feldwebel das Erforderliche besprochen, ihm namentlich auf die Seele gebunden hatte, daß die Mannschaften nicht zu frühzeitig geweckt würden, entließ ich ihn.

Während ich mich noch im Bette aufstützte und eben im Begriff war, das Licht auszublasen, rief ich: »Behrens, Behrens,« es zugleich bereuend: weshalb denn störte ich ihn; er wird schon zeitig genug sich die Augen reiben müssen.

Leutnant Behrens drehte sich schwer in seinem Bette herum, und fing an, im Halbtraume eine ganze Geschichte zu erzählen: »Fanchette . . . wirklich famöses Frauenzimmer . . . wie Nubierin, nein Ägypterin Cleo . . . Cleopatra . . . Anton . . .« (Anton steck den Degen ein, lachte ich leise), »Antonius . . . nein . . . wie hieß doch der schneidige Hund . . . wirklich famoser Kerl« (Rebus gestibus Caesar invenit in Galliam, lachte ich wieder leise) ». . . Cäsar, wirklich famöser Kerl . . . Cleopatra . . . Cäsar . . . Cäsarion . . . Fanchette . . .«

. . . und mit diesen Worten schlief mein Leutnant wieder fest ein.

Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, lag ich gleich darauf auch selbst im tiefsten Schlaf.

Am andern Morgen, als wir in die Landstraße einbogen, umstieß ein häßlicher Nordost unsre Nasen. Die Mannschaften trugen Ohrenklappen. Just als die Trommelschläger ihre Stöcke und die Hornisten ihre Pfeifen ins Futteral steckten, erblickten wir Le Dragon de Muraille. »Kann mir gar nicht denken, Herr Hauptmann, daß der Taubenschlag da oben nicht mit zwanzig, dreißig Kerls ausgenommen werden könnte,« meinte der neben meinem Pferde gehende Leutnant.

»Der General erzählte uns doch gestern Abend,« antwortete ich, »daß die kleine Festung uneinnehmbar sei.«

»Wort des Herrn Generals in Ehren; aber die Geschichte mit dem dampfenden Fluß, der sich wie eine sich in den Schwanz beißende Schlange um den Wolkenschlitzer da ringt, und die Geschichte mit dem blühenden Äppelboom ist mir doch etwas schleierhaft.«

Behrens' und meine Gespräche mußten bald abgebrochen werden, da wir beide dienstlich zu sehr in Anspruch genommen wurden.

Ich kannte den Weg nach Brettonville. Auf einem »Räuberzug« hatten wir ihn schon einmal betreten. Bald hinter Sérancourt begleiteten ihn rechts und links dichte Waldungen bis fast nach Brettonville. Nur zwei große Dörfer unterbrachen diese. Es war also beim Hin- und namentlich beim Rückmarsch die äußerste Vorsicht geboten. Beim Rückmarsch um so mehr, weil dann jedenfalls längst bekannt und verraten worden war, daß ich zu irgend einer Abholung am Vormittag mit zwei Wagen nach Brettonville marschiert sei.

Unser Vorrücken wurde dadurch recht verlangsamt, daß ich zahlreiche Seitenläufer schicken mußte, die nun, um unter sich und mit uns in Fühlung zu bleiben, fortwährend sich leise zuriefen. Die Spitze trieb ich weit vor, das bedang wieder Zwischenposten. Mein ganzer Schützenzug war als Schleier und Fühlhorn in Verwendung getreten.

Als wir durch die beiden Dörfer zogen, standen in ihren Holzpantoffeln wohl alle männlichen Einwohner harmlos vor den Thüren. Sie trugen ihre blauen Blousen, vergruben ihre Hände in den Hosentaschen und lachten uns nichts weniger als gemütlich an.

In Brettonville hatte sich einige Tage nach Sedan eine Johanniterniederlage eingerichtet, die dort zugleich einem großen Lazarett ihre Säle öffnete. Zwei starke Landwehrbataillone lagen im Städtchen zum Schutze.

Sérancourt von Brettonville trennten nur neun Kilometer.

Gegen elf Uhr trafen wir in Brettonville ein. Nicht das geringste Hemmnis hatte uns unterwegs aufgehalten.

Vor dem Auseinandergehen meiner Kompagnie befahl ich ihr, an diesem Platze dreiviertel zwei Uhr nachmittags wieder zum Nachhausemarsch anzutreten. Ihrer vorzüglichen Verpflegung unterdessen in der Niederlage war ich sicher.

Nun gingen Behrens und ich zum Kommandanten, wo ich mich zu melden hatte, und dann zum »Oberbonzen«, wie sich mein Leutnant ausdrückte, um uns mit diesem und den andern Johannitern bekannt zu machen. Zahlmeister Franz, ein alter, von uns vielgeliebter Prachtmensch, der so hübsch Schubertsche Lieder sang und die Guitarre spielte, lenkte seine beiden leeren Wagen in einen großen Thorweg, um sie dort füllen zu lassen.

Wer jemals die aufopfernde Thätigkeit der Johanniter und ihrer Angestellten im Kriege zu beobachten Gelegenheit hatte, wird für sie sein Leben lang eine tiefe Verwunderung und eine tiefe Dankbarkeit behalten. Vom Fürsten abwärts besorgen sie ihren Samariterdienst und seine Abzweigungen in selbstlosester Weise, und einzig bedacht, den Verwundeten und Kranken die möglichste Pflege zu geben, den gesunden Truppen nach vorn ins Feld soviel des Guten nachzuschicken, als irgend ihre Räume nur fassen können.

Als ich mich beim Kommandanten gemeldet hatte, gingen Behrens und ich in die Niederlage. Vor allen Dingen konnten wir dort ein »schneidiges« Frühstück erwarten. »Werde ihnen die Hammelbeine schon grade ziehen, wenn sie nicht mit ihrem besten Madeira herausrücken,« schnarrte mein lieber Behrens.

Wir traten in ein Kloster ein, das zum Hospital und zum Aufbewahrungs- und Versendungsort der Liebesgaben umgewandelt war. Gleich im ersten Raume, den wir aufsuchten, sah es wie in einem Laden aus, der aller Welt Waren in sich barg. Ich bat hier um wollene Decken, die uns sehr fehlten. Ein kleiner dicker schlesischer Graf, der eine grüne Schürze vorgebunden hatte wie ein Krämerlehrling, nahm eine Leiter, trug sie an eine bestimmte Stelle und kletterte hinauf. Von oben rief er, nach schnellem Überblick, über seine Brille wegsehend, einem andern Herrn nach unten zu: »Hier liegen noch siebzig bis achtzig. Wie viele können wir abgeben, mein Prinz?« Dieser antwortete: »Wollen Sie etwa fünfzig bestimmen, lieber Graf. Grade für diese Tage ist uns ja eine neue Sendung angesagt.«

Als ich im Lager auf und ab schritt, fiel mein Blick wie zufällig durch eine offen stehende Thür in ein Nebenzimmer: Auf einer noch nicht geöffneten Kiste saß, den Kopf an ein aus einem Fache herausdrängendes Bündel Leibbinden gelehnt, die Hände lang aneinander gestreckt zwischen den Knieen haltend, ein Knirps in Uniform, die die Abzeichen meines Regiments zeigte, und schlief. In die blasse Stirn wagte sich ein tiefschwarzes Löckchen, das, zum Ärger meines Hauptmannsherzens, nicht ganz ordnungsmäßig verschnitten war.

»Ich bitte Sie, Durchlaucht,« wandte ich mich an den neben mir stehenden Prinzen, »wer ist denn das?«

»Ah, der dort, das Kerlchen. Ja, der ist gestern hier bei uns eingeschneit. Er trat außerordentlich diensteifrig auf, uns, ich möchte sagen, anflehend, ihm den Weg zu seinem Regiment anzugeben. Er hätte Befehl, sich so rasch wie möglich dort zu melden. Aber wir merkten, wie ermüdet und abgespannt er war, und packten ihn daher schleunig ins Bett, wo er sofort einschlief. Es ist der Portepeefähnrich Schadius, der vom Ersatzbataillon nach Frankreich nachgeschickt ist. Nun findet er ja eine gute Gelegenheit, wenn Sie ihn unter Ihre Flügel nehmen wollen . . . Ich werde ihn übrigens gleich wecken: die Frühstückszeit ist gekommen. Wir werden doch die Ehre haben, Sie, Herr Hauptmann, und die beiden andern Herren heute beim Lunch zu sehen?«

Mit diesen Worten ging der Prinz hinein. Ich folgte mit den Augen seinen Schritten. »Sie, Junker, wachen Sie auf. Ein Hauptmann von Ihrem Regiment ist hier,« hörte ich ihn mit gedämpftem Tone sprechen, während er ihm sanft die Schultern bewegte. Schadius erwachte, öffnete noch halb im Traume seine großen blauen Augen, sah den Prinzen verwundert an und sprang dann von der Kiste. »Ja, ja, ein Hauptmann von Ihrem Regiment ist hier, der Sie mitnehmen will zu Ihrem Herrn Obersten,« wiederholte der Prinz. Verschwunden war der Fähnrich, um gleich aufzutauchen in Helm und mit stramm umgeschnalltem Seitengewehr. Dann in straffer Haltung vor mich hintretend, meldete er: »Portepeefähnrich Schadius, kommandiert vom Ersatzbataillon zum mobilen Regiment.«

Nun gab es die Fragen und Antworten, wie sie immer in gleicher Folge bei ähnlichen Veranlassungen lauten. Ich betrachtete mir unterdessen den Junker. Fein und zart, fast überzart war sein Gliederbau. Die Kinderzeit hielt ihn noch ein wenig mit ihren unschuldigen Händen. Der Übergang zum Jüngling war noch nicht vollendet, wenn er auch schon achtzehn Jahre hinter sich zählen konnte. Aber grade solche zarte, wie zum Umwehen eingerichtet erscheinende junge Leute ertragen in den meisten Fällen die Beschwerden und Anstrengungen eines Krieges besser als völlig ausgewachsene Riesen. Das hoffte ich auch von Schadius.

Das Frühstück war »wirklich kolossal schneidig«. Einmal hörte ich meinen Leutnant sagen: »Wirklich famöser Stoff, das . . .« So brauchte er denn die Johanniter nicht »an den Hammelbeinen zu ziehen«.

Um dreiviertel zwei Uhr stand meine Kompagnie zum Rückmarsch bereit. Die beiden vollbeladnen Wagen ließ ich zwischen Spitze und Haupttrupp fahren, um gegebnen Falles so schnell wie angängig fortzueilen. Schadius wollte ich neben den Zahlmeister setzen; aber er bat mich so eindringlich, einen Zug übernehmen zu dürfen, daß ich nachgab. Beim Abrücken drückte mir der Kommandant bewegt die Hand: er bedaure, mir keine Unterstützung mitgeben zu können; aber er habe den strengsten Befehl, unter keinen Umständen sich in Brettonville zu schwächen.

Und dann zogen wir los. Ich hatte noch mehr Vorsichtsmaßregeln angeordnet als am Morgen. Beide Dörfer, in denen diesmal nichts zum Vorschein kam, lagen schon hinter uns. Ich atmete ein wenig auf . . . Da, ein Schuß bei meinen linken Seitenläufern, ein zweiter, ein dritter, nun vorn, nun hinten und überall.

Was ist einzig nötig in solchem Fall? Ruhe, Besonnenheit. Ich kommandierte (alles war vorher schon genau eingeübt): »Siebenter Zug links, achter Zug rechtsum machen.« Und blitzschnell warfen sich die beiden Züge in den Wald. Den einen führte Behrens, den anderen Schadius.

In einem Zeitraum von höchstens zwei Minuten sehe und höre ich:

Der alte Zahlmeister haut mit der flachen Klinge auf seinen Kutscher ein. Dieser jagt davon, was das Riemzeug hält. Der andre Wagen rast hinterher. Jetzt, bei der Wegebiegung, liegt der Zahlmeister auf dem Rücken, immer noch die flache Klinge gebrauchend. Er wird umtanzt von in die Höhe fliegenden und niederfallenden Schinken und Würsten . . .

Behrens brüllt: »Näher heran zu mir mit Ihrer Gruppe, Unteroffizier Becker. Haut se uf'n Deetz, Kerls, haut se uf'n Deetz. Marsch, Marsch, Hurrah . . .«

Ich will mit meinem Braunen über den breiten Graben. Es muß gehen. Aber der Wallach hinkt, bleibt stehen. Ich springe ab. Zwei Kugeln haben das linke Vorderbein getroffen, eine ist durch den Hals gegangen. Rasch den armen Tiere den Revolver hinters Ohr gesetzt. Er hält die Mähne, als ob er die Erlösung erwartet, schon zum Schuß gesenkt, so daß ich gut reichen kann. Er bricht zusammen . . .

Einer umklammert meine Hüften. Wer ist es? Mein kleiner Portepeefähnrich. Sein Gesichtchen ist versteint: vor ihm steht ein riesiger, greulich aussehender, schwarzbärtiger Kerl, der sich vorher im Graben versteckt haben mochte; schon hat dieser den Kolben erhoben und will ihn niedersausen lassen mit Wucht. Kaum zwei Schritte ist das von mir. Mein Revolver scheint noch zu rauchen. Ich ziele dem Unhold ruhig aufs Herz. Ich schieße. Er fällt mit dem Gesicht zur Erde. Sein Gewehr fliegt weg. Seine linke Hand krampft sich in den Schweif meines verendeten Pferdes . . .

In kaum einem Zeitraum von zwei Minuten ist das alles geschehen.

Keine Zeit, keine Sekunde Zeit mehr. »Bleiben Sie an meiner Seite, Fähnrich!« Und hopp! Über den Graben in den Busch zu meinen prächtigen Leuten. Ich übernehme selbst den Zug. Und: »Marsch. Marsch, Hurrah!«

Seht den kleinen Fähnrich. Er stürzt sich wie ein Teufel ins Gefecht. Sein Käsemesserchen schwingt er über sich. Er ist immer weit voran. Wir können kaum folgen. »Bravo, bravo!« ruf ich ihm zu . . .

Wir messen uns im Handgemenge. Jeder Baum scheint einen neuen Feind zu gebären. Immer mehr, immer mehr. Wir sind in bedeutender Minderzahl. Der Pulverdampf verzieht sich schwer durch die Kronen. Jede Übersicht fehlt. Alle sind nur mit sich beschäftigt und ihrem nächsten Angreifer. Allmählich ist unser Häuflein an den Grabenrand gedrängt. Einer meiner Hornisten ist stets an meiner Seite geblieben. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Roland im Thal von Roncesvalles. »Blasen Sie Ruf, Weber.« Und die drei kurzen Töne, wie ein Verzweiflungsschrei, verhallen im Walde. »Noch einmal, Weber.« Und wieder die drei kurzen Stöße ins Horn . . .

Wir sind bis an die Landstraße zurückgeschoben. Auf der anderen Seite sehe ich Behrens und seine Leute. Bis hierher und nicht weiter. Lieber den Tod als Gefangenschaft.

»Blasen Sie Ruf, Weber.« Noch einmal solls erklingen, dann nur noch ein Signal: »Vorwärts« . . . Da dringts, da singts in unser Ohr. Wir hören deutlich unser Reitersignal »Galopp« und wieder und wieder . . . Großer Karl, hast dus vernommen? . . . Und um die Biegung des Weges braust der General, und hinter ihm das Husarenregiment!

Wir sind gerettet.

Der General, bei uns angekommen, ließ absitzen und sandte einen Teil der Husaren zum Gefecht zu Fuß rechts und links ins Holz. Wir hörten keinen Schuß mehr. Die Franktireurs waren, wie von der Erde aufgesogen, verschwunden.

Der General umarmte und küßte mich. Dann stellte ich ihm den Portepeefähnrich Schadius vor, zugleich hervorhebend, wie ausgezeichnet der Junker sich im Gefecht benommen habe.

Nun ging es vor allen Dingen an das Aufsuchen der Verwundeten. Die Dunkelheit wollte schon einsetzen. Die Schwerverwundeten wurden getragen – der Weg nach Sérancourt war kaum noch eine halbe Stunde entfernt –, die Leichtangeschossenen gingen zu Fuß. Am schwersten getroffen schien Leutnant Behrens zu sein. Zwei Kugeln hatten ihm den rechten Oberarm und die linke Schulter zerschmettert, eine dritte ihm den Hals gestreift. Wir reichten ihm in tiefer Bewegung die Hand. Er konnte noch leise sprechen: »Wirklich famoses Draufgehen unsrer Leute; stark angekratzt; wird schon besser gehen . . .« Wir setzten ihn mit vieler Mühe und größter Vorsicht auf ein Pferd zwischen zwei ihn stützende Husaren. »Wirklich lächerlich . . . solche Umstände . . .« Dann hörte ich ihn nicht mehr sprechen. Seine Schulterwunde schien mir die gefährlichste zu sein.

Nachdem der General Appell und ich Sammeln hatte blasen lassen, setzte sich der Zug in Bewegung. Die Toten mußten wir, wegen der eintretenden Finsternis, vorläufig liegen lassen.

Auf dem Heimwege erzählte mir der General, daß ihn den ganzen Tag eine Unruhe geplagt habe, den Wagen zum Empfang der Liebesgaben ein zu kleines Bedeckungskommando mitgegeben zu haben. Endlich, am Nachmittage, hätte er es nicht mehr ertragen können; er wäre uns mit den Husaren entgegengekommen. Gleich beim Abritt von Sérancourt wären ihm in wahnsinniger Flucht die beiden Wagen entgegengeschossen. Da hätte er alles gewußt. Mein Signal Ruf sei von ihm, trotz des Gewehrgeknatters, deutlich gehört worden. Daraufhin habe er unaufhörlich das Signal Galopp zu mir hingeschickt.

Am andern Morgen marschierte unsre ganze zusammengesetzte Abteilung, die Verwundeten in der Mitte, nach Brettonville, um diese dort abzugeben. Das zweite Bataillon meines Regiments blieb an der Stelle zurück, wo wir gestern das Gefecht gehabt hatten. Es sollte die Toten in ein Massengrab legen. Auf unserm Rückmarsch schloß sich dies Bataillon uns wieder an, und mit klingendem Spiel, mit lustigen Märschen rückten wir ins Quartier ein. Statt des schwerverwundeten Leutnants Behrens war mir Schadius als Offizierdiensttuender zugeteilt. Statt meines Leutnants saß nun mein kleiner zarter Junker bei Tisch an meiner Seite.

Ein großer Rachezug wurde beschlossen. Aber auf diesem, wie auf einigen folgenden, wurde nichts erreicht. Die Batterie kam nicht zum Abprotzen, die Husaren nicht zum Angriff, wir nicht zum Schuß. Es war eigentlich eine recht klägliche Geschichte. Die Städte und Dörfer, die wir durchzogen, zeigten immer nur die größte Stille. Nur wo von uns eine einzelne Kompagnie oder Schwadron auf den Wegen, war sie sogleich von allen Seiten gefährdet und bedroht.

Ärgerlich berichtete darüber der General seiner vorgesetzten Behörde. Es kam die Antwort zurück, daß der Zweck völlig erreicht sei; er möge so lange in seiner Stellung dort ausharren, bis ihn weitere Befehle träfen. Seine Streifzüge habe er nach wie vor zu unternehmen.

In unserm täglichen Leben hatte sich, wenn wir nicht auf dem Marsche waren, nichts geändert. Bei Tisch klang das Gespräch heiterer als früher. Selbst Herr Bourdon scherzte und lachte. Seit einiger Zeit schien er wie umgewandelt. Seine kleine dicke runde Frau sprudelte. Nur Fanchette blieb gleichmäßig ruhig. Ihre Augen aber spielten öfter als zuvor zu ihrem schönen Nachbarn hin. Das Benehmen des Generals gegen sie schien mir anfangs unerklärlich. Bald behandelte er sie mit ausgesuchtester Höflichkeit, bald mit einer bis zur Schroffheit gehenden Kälte. Nun merkte ichs: er war in das fremdartige Mädchen »sternhagel« verliebt.

Aber auch ein andrer, mein kleiner Schadius, wie ich nachts aus seinen lauten Träumen erfuhr, fand die Augen Fanchettes als die schönsten im Himmel und auf der Erde. Zum ersten Male griff mit süßen Klängen die Liebe in die Saiten seines Knabenherzens.

Eines Morgens, als Schadius und ich durch eine Zimmerflucht gingen, und ich die Thür zum Saale geöffnet hatte, prallten wir bestürzt und wie beschämt zurück. Der kurze Augenblick hatte uns alles erklärt: Fanchette saß im Sofa, neben ihr, zu ihr hingebeugt, auf einem Lehnstuhl der General. Seine linke Hand umspannte den Knöchel der Rechten Fanchettes. Er sah ihr lächelnd ins Gesicht. Aber auch ihre Augen verkündeten seinen Sieg.

Schnell traten Schadius und ich zurück, schlossen leise die Thür und suchten andre Wege. Der General und Fanchette hatten uns nicht bemerkt.

Am Abend desselben Tages, nach dem Mittagessen, bat der General seinen Adjutanten, meinen Oberst und mich in sein Zimmer. Kaum saßen wir, als der Bursche einen Unteroffizier aus Sérancourt meldete. Der Unteroffizier trat ein, machte Kehrt, Gewehr ab, Thür zu, Front, Gewehr auf, und trat an den General, ihm ein geschlossenes Schreiben überreichend. Der Befehlshaber erbrach es hastig, überflog es und sagte dann dem Unteroffizier: »Es ist gut. Warten Sie draußen.«

Als sich dieser entfernt hatte, las der General laut:

Sérancourt, am 9. Januar 1871.
Abgang: 5 Uhr 35 Minuten.
Meldung.

Seit heute Nachmittag drei Uhr treffen einzeln, oder zu zweien und dreien, junge Leute, meistens Bewohner der Ortschaft, hier ein. Ich habe Befehl gegeben, daß jeder Neuankommende sofort nach Waffen untersucht werde. Verdacht habe ich, daß diese jungen Leute Franctireurs aus den Wäldern sind.

von Langfeldt,
Major und Bataillonskommandeur,
Garnisonältester.

Der General gab hierauf, ohne zu zögern, seinem Adjutanten folgendes in die Bleifeder:

Abteilungsbefehl.

Sämtliche Wachen, Patrouillen und Posten sind nach Bekanntmachung dieses Befehls bis auf weiteres zu verdreifachen. Von heut an legen sich die Herren Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften unausgekleidet zur Ruhe. Morgen früh neun Uhr findet überall eine scharfe Durchsuchung nach Waffen statt. Das Gefundene ist hierher abzuliefern. In jedem Quartier hat von nun an ein Mann zu wachen.

p. p.

Der Adjutant eilte von dannen, um das Weitere zu veranlassen.

Der General wandte sich mit den Worten zu uns: »Fast scheint die eben eingetroffene Mitteilung eine Bestätigung zu sein. Denn ich wollte Sie fragen . . . Halten Sie, Herr Oberst, es für möglich, daß unser unfreiwilliger Wirt, Herr Bourdon, uns verraten könnte? Ja, halten Sie ihn für fähig, daß er sein Leben, seine Familie, sein Haus, seine ganze Zukunft zu opfern imstande wäre, wenn nur uns dabei die Gurgel abgeschnitten würde? Sein Benehmen in den letzten Tagen, seine übergroße Heiterkeit haben mir Argwohn gegeben.«

»Ja,« antwortete mein stiller, immer ernster Oberst, »ich halte Herrn Bourdon zu dem allen für fähig. Er ist – Franzose.«

»Nun denn,« entgegnete der General, »dann müssen wir von diesem Augenblick an lauschen wie die Katzen und sehen wie die Luchse.«

Als ich in der auf diesen Abend folgenden Nacht einmal erwachte, hörte ich Schadius, der im Bette des Leutnants Behrens schlief, heftig schluchzen. Es war jenes Weinen, das wir ersticken wollen und es nicht fertig bringen, vergraben wir auch noch so sehr den Kopf in die Kissen.

Soll ich Schadius rufen? Ich unterließ es: wußt ich doch nur zu gut, daß ich hier nicht helfen konnte, daß erster Liebeskummer und erste Eifersucht sein junges Herz zerwühlten und quälten.

Ich that, als wenn ich schliefe.

Nach wenigen Minuten beobachtete ich, wie sich Schadius im Bette aufrichtete und mit thränengefüllten Augen in den Mond starrte.

Am andern Morgen verriet ich natürlich durch nichts, daß ich ohne zu wollen ihn belauscht hatte. Aber ich zog ihn einmal an mich, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte zu ihm: »Wir alle haben im Leben unaufhörlich zu kämpfen, lieber Schadius, keinem wird das Dasein nur mit frohen Stunden erlaubt. Wir dürfen uns unserm Schmerz unter keinen Umständen hingeben, sondern müssen uns immer wieder herausreißen aus allem, was uns drückt.«

Er sah mich etwas verwundert mit seinen großen Augen an und sagte nur im dienstlichen Tone: »Sehr wohl, Herr Hauptmann.«

Die nächsten zwei, drei Tage schwanden, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet hätte. Die Haussuchung nach Waffen hatte wenig erzielt. Die Wachen, Posten und Patrouillen waren verdreifacht. Unsere Nerven litten durch das ewige Annehmenmüssen eines Überfalles.

In der vierten Nacht konnte ich durchaus nicht schlafen; ich lag, wie immer, fast ganz angekleidet, abgespannt auf meinem Bett. Endlich konnte ich meine Unruhe nicht mehr bemeistern, stand auf und trat ans Fenster. Eine dunkle, windige Nacht glotzte mich an. Einsam zu mir her klang nur das fortwährende Anrufen der Posten und Patrouillen.

Auch der Fähnrich hatte keinen Schlaf finden können. Ich ließ ihn zu mir treten. Eine große schwarze Wolke gab in diesem Augenblicke das Sternbild des Großen Bären frei. »Wie merkwürdig, Herr Hauptmann, daß bei mir zu Hause der Große Bär in ganz andrer Stellung steht.« Ich lachte laut auf und bemerkte Schadius, daß diese seine Beobachtung auf irgend einer Täuschung beruhen müsse.

Mir fiel bei der kindlichen Äußerung eine Stelle aus einem Trauerspiel: »Pokahontas« ein, das ich unmittelbar vorm Ausbruch des Krieges gelesen. Sie hatte sich mir genau eingeprägt: Ein Offizier erzählt, wie er mit seinem Freunde Lord de la Ware auf den Wällen Jamestowns in Virginia einen mutmaßlichen Angriff der Indianer erwartet habe:

. . . Der Himmel schwarz bedeckt
War aufgeregt durch eines Sturmes Toben,
Der wie ein Stier mit eingestemmtem Nacken
Die Wolken vor sich trieb wie feige Hunde.
Nur einmal, schnell, als wärs ein Gruß aus England,
Sah ich des Großen Bären Sterne blitzen.
Dann blieb es dunkel.
                                    De la Ware und ich,
Beisammenstehend, lauschten, hohl die Hand
Am Ohr, hinaus in Nacht und Wetterlärm.
Doch nur der Blätter Rauschen und das Pfeifen
Des Windes, wenn er unsern Helmturm stieß,
Ein leises Werdarufen, ab und zu, war hörbar.
Da plötzlich klangs wie ferner Falkenschrei.
Und dann, als wär es das Signal gewesen,
Schoß, wie vom Blitz entzündet, auf uns zu
Ein ungeheurer Schwarm von heißen Pfeilen.

»Hörten Sie nichts, Schadius?«

»Nein, Herr Hauptmann.«

»Klang es nicht wie Eulenruf?«

»Ich hörte wirklich nichts, Herr Hauptmann.«

Nun riß ich das Fenster auf und rief die unten hin und hergehende Schildwache an:

»He, Posten!«

»Herr Hauptmann?«

»Schrie nicht eben eine Eule?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann, die sind hier jede Nacht zu gange.«

Schadius und ich starrten schweigend hinaus.

Da fiel ein Schuß, ganz fern, unendlich fern.

»Nun haben Sie doch den Schuß gehört, Schadius?«

»Sehr wohl, Herr Hauptmann, ganz deutlich.«

»Kommen Sie, wir wollen hinunter gehen. Ich will den Feldwebel wecken. Irgend etwas ist nicht in Ordnung.«

Unten auf dem Hofe horchten wir gespannt. Aber nur das Rauschen der Bäume und das Pfeifen des Windes um unsern Helmturm hörten wir. Sonst wars still. Ich konnte meine Unruhe nicht los werden.

»Glitt nicht dort ein Schatten um die Ecke, Schadius?«

»Sehr wohl, Herr Hauptmann. Ich habe auch den Schatten erkannt; es war Herr Bourdon.«

»Kommen Sie, wir wollen zum Feldwebel.«

Bald standen wir drei draußen. Bruns trug eine kleine Diebeslaterne. Wir horchten und horchten. Alles blieb still.

Plötzlich heftiges Gewehrfeuer. Es kam von den äußersten Posten. Dann ein Geheul wie von zehntausend Teufeln, die, den Tomahawk über den Köpfen schwingend, wie ein reißender Bergstrom herandonnern.

Im Nu wirbelten unsre Trommeln, riefen unsre Hörner und Trompeten. Nach drei Minuten schon hatte meine Kompagnie – wie oft wars blind durchgemacht – ihre bestimmte Stellung hinter der Wagenburg eingenommen. Auch der General und die übrigen Offiziere aus unserm Hause erschienen sofort.

Der Überfall.

»Hätte ich doch Herrn Bourdon, den Halunken, gleich festnehmen lassen, als uns der Verdacht kam. Nun ists zu spät,« sagte der General.

Nach kurzer Zeit waren wir umzingelt. Auch Sérancourt und die Fabrik standen schon im Kampfe.

Die ersten Angriffe sind abgeschlagen.

Aber was ist das? Hinter uns steht, wie durch eine Zauberformel, als wenn es von oben bis unten mit Petroleum begossen sei, das ganze Schloß in Flammen. Sollt es ein Zeichen sein? War es zu früh, war es zu spät angezündet?

Frau Bourdon stürmt heraus. Sie fällt mir ohnmächtig in die Arme. Aber ich kann, ich darf sie nicht halten. Ich habe nur meinen Dienst zu versehen. Während ich sie sanft auf die Erde gleiten lasse, erblicke ich zu meinem Entsetzen ihre Tochter in einem der Fenster. Alles um sie her brennt. Fanchette ringt die Hände. Vor dem wüsten Geschrei der Stürmer und vor dem furchtbaren Geknalle hör ich ihr Rufen nicht; ich seh es nur. Schon will ich selbst ins Schloß, als mir der General mit mächtigem Sprunge zuvorkommt. Aber unmittelbar vor dem Eingange ereilt ihn die tödtliche Kugel. In den Hinterkopf getroffen, überschlägt er sich nach rückwärts, beide Arme nach den Seiten lang ausstreckend. Kein Glied bei ihm rührt sich mehr.

Noch ist es Zeit, Fanchette zu retten. Sie steht an einem Mittelfenster, das noch nicht im Feuer knistert. Da stürzt sich mein kleiner Fähnrich in die Lohe. Mit Blitzesschnelle ist er oben. Er umfängt das ohnmächtig werdende Mädchen. Doch statt sie wegzuschleppen, küßt er wütend ihren Hals, ihre Lippen, ihre Augen, ihre Stirn . . . Zu spät . . . Prasselnd schießt das Dach herunter . . .

Das flammende Herz ist durch Flammen ausgelöscht für immerdar.

Wir hatten auf allen Seiten den rasenden Sturm abgeschlagen. Das alte gute deutsche Soldatensignal »Vorwärts!« hat wieder gesiegt. Die Franktireurs sind verschwunden.

Herrn Bourdon finden wir erschossen im Garten.

Am andern Morgen erhielten wir den Befehl, in Eilmärschen an die Somme zu marschieren, um uns dort mit der Nordarmee zu vereinigen. Dann schlugen wir am 19. Januar unter Goeben General Faidherbe vernichtend bei St. Quentin.

Und dann kam der Waffenstillstand.

Und dann kam der Friede und verschenkte auf den zerstampften Äckern Spaten und Pflüge. Seine kühlenden Palmen aber senkte er auf die heißen Augen der Hinterbliebenen.


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