Detlev von Liliencron
Kriegsnovellen
Detlev von Liliencron

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Wärterhäuschen

Als ich zur Kundschaft in Begleitung von sechs Ulanen fortgeritten war, hatte ich beim Austritt aus einem Gehölz, an dessen jenseitigem Rande, plötzlich in geringer Entfernung eine Schienenlinie vor mir gesehen. Wohl war es mir aus meinen Karten bekannt, daß in der Nähe die Eisenbahn von Beauchamps nach Telfort liege. Und der Hauptzweck auch meines Rittes war der, diesen Strang zu suchen und ihn näher zu betrachten. Besonders war mir von meinem General der Auftrag geworden, genauer zu erforschen, ob Bahnkörper und Telegraph zerstört seien oder nicht; ob hinter dem Wall der Feind Verteidigungsmaßregeln getroffen, und im Nichtfall, ob es sich lohne, dort vor Beginn des morgen zu erwartenden Gefechtes durch flüchtige Verschanzungen die gegebene Lage zu verstärken..

Ich war daher rasch entschlossen, hinzusprengen. Meine Ulanen ließ ich zurück. Mit gespanntem Revolver galoppierte ich drauf los. Kein Schuß empfing mich. Auch, als ich auf den Damm hinaufkletterte, wie ich mit Recht auf meinem kleinen behenden, ausdauernden Pferde sagen konnte, sah ich in unmittelbarer Nähe nichts vom Feinde. Nur in der Entfernung einer Meile etwa – aber das war uns allen bekannt – bemerkte ich die gegnerischen Vorposten. Von einer Schleichpatrouille, deren Standpunkt ich nicht genau entdecken konnte, fielen Schüsse auf mich. Die Kugeln zischten mir in großer Nähe vorbei. Ich nahm artig meinem Helm ab, grüßte, ihn schwenkend, zwei, dreimal hinüber und »kletterte« wieder hinunter. Aber unten, nun gedeckt, hielt ich an und winkte meine Ulanen heran. Bald waren diese zur Stelle. Dem einen mein Pferd übergebend, schritt ich, wieder allein, vorsichtig drei Minuten weiter, immer die Innenseite des Bahnkörpers benutzend. Nun hatte ich mein Ziel erreicht, ein Wärterhäuschen, das ich vorhin erblickt.

Dieses Wärterhäuschen stand an einem Übergange. Fünf, sechs hier zusammenstoßende Telegraphenpfähle, Signalvorrichtungen, rote und grüne Laternen mit ihren Blendungen und Verschiebungen auf hohen Staugen waren hier zu sehen. Dann auf jeder Seite zwei durch eine Kurbel zu schließende und zu öffnende Wegeschranken.

In der Bude selbst, die aus vier Räumen: einer Küche, zwei Familienzimmern und dem kleinen Raume für den Wächter bestand, fand sich im Raume des Wächters eine nach unten gekehrte glockenartige Metallschüssel, in der Höhe des Gemachs, angebracht, an die im gegebenen Falle ein Hammer anschlug: das Läutwerk. Kurz, es zeigten sich jene Einrichtungen, die wir alle schon an oder in Wärterhäuschen beobachtet haben.

Der Aufseher, ein hart blickender, noch junger Mann, antwortete mir mürrisch und immer erst nach einiger Überlegung. Augenscheinlich belog er mich stark. Dies blieb mir ziemlich gleichgültig, da ich über Zahl und Stellung gut unterrichtet war.

Außer dem Befragten saß in einer der Stuben seine junge Ehefrau. Sie hatte ein Kind an der Brust. Ängstlich, und doch in dieser Minute ihr Mutterglück nicht verbergend, forschte sie in meinen Zügen.

Ich hatte genug gesehen und ritt zu meinem General zurück. Als ich ihm Meldung und ausführlichen Bericht gebracht hatte, beschloß er: schnell zwei aus Husaren und aufgesessenen Pionieren zu bestehende Abteilungen nach Norden und Süden hin – in dieser Richtung lief die Linie – zu senden, um den Bahnkörper zu zerstören. Eine dritte, ebenfalls aus Husaren und hinter diesen aufgesessenen Pionieren zu bildende Abteilung sollte, unter meiner Führung, sofort an den Teil des Schienenstranges geschickt werden, von wo ich hergekommen war, um diesen in möglichster Weise durch rasch aufgeworfne Erdbefestigungen zu befestigen. Ich machte, es war über Mitternacht hinaus, auf die Entfernung aufmerksam. Doch der General wiederholte nur seinen Befehl; und so ritten die Abteilungen, die mittelste unter meinem Kommando, schon nach einer Viertelstunde ab.

Als wir um drei Uhr morgens – wir waren im September und hatten deshalb, bei schon untergegangnem Monde, noch dunkle Nacht – an Ort und Stelle anlangten, wurden wir von einem wütenden Feuer empfangen. Der Feind, dem sicher meine Auskundschaft gemeldet, war an die Schienen mit starken Vortruppen herangerückt und hatte sich dort eingenistet.

Obgleich viel zu schwach, den Platz zu erzwingen, that ich doch, was jeder deutsche Offizier in meiner Lage thut: ich zog meinen Säbel und preschte mit meinen Leuten zum Angriff vor. Vergebens. Gleich zu Anfang stürzte ich mit meinem erschossenen Pferde. Die Hälfte meiner Mannschaft fiel. Feindliche Infanterie drang in dicken Haufen vor. Ich warf mich auf einen ledigen Gaul und schrie: »Vorwärts, Vorwärts! . .« Vergebens. Mit einem leichten Schrammschuß am linken Arm, mit meinem sehr gelichteten Kommando traf ich wieder beim General ein, um ihm Bericht zu geben. Dieser nun befahl den sofortigen Anmarsch, um durch einen gewaltsamen Vorstoß auf alle Fälle die wichtige Bahnlinie in die Hände zu bekommen.

Auch die beiden nach Norden und Süden entsandten Abteilungen hatten, durch große Übermacht überrascht, zurückgehen müssen.

* * *

Gegen fünf Uhr rückten wir ab. Noch hatte die Dämmerung dem Tage nicht erlaubt, sein großes Lichtauge aufzuschlagen. Bald aber siegte dieser. Es war ein windiger, doch warmer Herbstmorgen. Gleichmäßig bedeckte ein einziges Grau den ganzen Himmel.

Unsre Vorhut – die Feldwachen, die Vorposten überhaupt, hatten den Befehl erhalten sich nicht vom Gros aufnehmen zu lassen, sondern ohne Verzug vorzugehen – stand bald in ihrer ganzen Ausdehnung an der Bahnlinie im Feuer. Doch sie erreichte nichts. Sie mußte unsre Massen abwarten. Durch unsre Krimstecher konnten wir von einer Höhe aus den Kampf verfolgen. Deutlich bemerkte ich, wie in schnellster Gangart feindliche Batterieen und Reiterregimenter ihren Kameraden zu Hilfe eilten. Augenscheinlich mußte der Bahnkörper zum Brennpunkt des Tages werden. Der General trieb deshalb zur möglichsten Beschleunigung an. Und in der That: wir waren bald »heran«, so schnell heran, daß der Feind, wie es offenbar in seiner Absicht gelegen hatte, nicht mehr wagte, uns über den Schienenstrang hinaus anzugreifen. Das Gefecht war zum Stehen gekommen. Von beiden Seiten – unsre Truppenkörper mochten hüben und drüben je ein Armeekorps bilden – wurde zäh festgehalten, was zu halten war. Als wir einige Male unter ungeheuern Verlusten versucht hatten, den Gegner aus seiner Stellung zu vertreiben, ging das Feuern in Schnellfeuer, in einen Feuerregen über.

Ich entsinne mich aus diesen schweren Stunden einiger Einzelheiten.

Bald hierhin, bald dorthin von meinem so klugen und ruhigen wie energischen General gesandt, suchte ich einmal den Obersten eines Infanterie-Regiments, um diesem den Befehl zu bringen, durch eine Umgehung nach Norden hin zu versuchen, dem Feinde in die Flanke zu kommen. Das ganze, in Reserve stehende Regiment, das Schutz und Deckung in einem Tannenhölzchen gefunden hatte, stand dort, der Enge wegen, in Bataillonskolonnen hintereinander, mit Gewehr ab. Der Oberst, einige Stabsoffiziere und Adjutanten hielten zu Pferde vor dem Wäldchen: der Aussicht wegen und um so schnell wie möglich bei der Hand zu sein, wenn ihnen Befehle geschickt wurden. Als ich mich den Herren, ventre à terre, näherte, raste mir, unterwegs den Degen herausreißend, der Oberst schon entgegen. Grade, als wir mit weit zurückgebogenen Oberkörpern, beim Zusammentreffen, unsre Gäule zum Stehen bringen wollten, platzte zwischen uns eine Granate. Sie hatte – sehr wunderlich sind oft die Launen dieser unangenehmen Schwerenöter – im Vorbeifliegen den Kopf und ein Stück des Halses des Braunen des Regimentskommandeurs völlig abgerissen. An Kopf und Hals des Pferdes, hier den ersten Widerstand findend, war sie zersprungen. Aber außer dem sofort tot zusammenbrechenden Tiere waren weder der Oberst noch ich auch nur in der geringsten Weise verletzt. Der Oberst, der geschickt und rechtzeitig den Sattel verlassen hatte, stand schon, noch fast in der Staubwolke verschwunden, neben mir und hörte gelassen, indem er sich nur wie im gleichgültigen Nebenher mit dem Zeigefinger der Rechten etwas angesprungenen Sand wegknipste, meinem mir gewordnen Auftrage zu.

Ein andermal hatt ich den Befehl, in die vorderste, dichtest gekettete Schützenlinie zu reiten, um dort, ohne erst Zeit zu verlieren, den kommandierenden Offizier zu finden, die nächsten Hauptleute und Leutnants zu ersuchen, sprungweise vorzugehen. Das war, was man einen Todesritt nennt. Alle Offiziere waren zu Fuß dort; die meisten aus dem Grunde, weil ihnen die Pferde schon gefallen, die übrigen, um nicht sofort heruntergeschossen zu werden. »Dat mut hindör,« wie wir Holsteiner sagen. Also ohne Besinnen (davon kann überhaupt, wenn der Befehl gegeben ist, nie die Rede sein) vorwärts. Es war ein grausiger Ritt; bis heute ist es mir völlig unerklärlich, wie ich ohne jede Verwundung, ja selbst ohne ein Loch, ohne einen Riß in meiner Uniform, und ohne daß selbst mein Fuchs gestreift wurde, »durch« gekommen bin. Ich also an den nächsten Offizier heran! Im Kürzernehmen meines Tempos rief ich ihm zu . . . und so zum zweiten, zum dritten . . . In den Ohren klingt mir noch das gellende Kommando der Offiziere, der Führer: »Auf! Marsch, Marsch! Hurra! . . .« Die Nebenzüge folgen. Alles ist in der Vorwärtsbewegung. Ich wende mein Pferd zum Zurückreiten; muß wenden, der raschen Gangart wegen, im Bogen. Aber der Bogen ist zu kurz: mein Pferd gleitet in einem Bluttümpel aus; ich stürze mit ihm ins Gras. Aber gleich sind wir beide wieder auf den Beinen. Neben mir, über alle Maßen grauenhaft durch den Unterleib geschossen, liegt mit verzerrten Lippen, kurze, fast wie Wiehern klingende Schmerzenstöne ausstoßend, ein mir sehr lieber Freund. Es ist mein alter guter Kamerad aus der Garnison. Seine weitaufgerissenen Augen flehen mich um etwas an; seine Worte, die er sprechen will, sind ein Gurgeln. Er hebt den linken Arm schwach nach seinem Revolver, der ihm entfallen ist. Er sieht mich bittend-entsetzt an. O mein Gott, ich verstehe . . . Einen Augenblick kämpfe ich mit der größten Versuchung. Schon will ich die Waffe heben. Aber ich bücke mich nicht über sie; ich bücke mich über den Schwerverwundeten: »Bleib Du im ewigen Leben, mein guter Kamerad . . .« und ich bin wieder im Sattel und sprenge zurück.

Wieder bin ich unterwegs. Diesmal gilt als Ziel ein Dragonerregiment, das der General näher nach vorn haben will. Ich soll mit dem Regiment vorreiten, um den Punkt zu zeigen, wo es halten soll. Bald bin ich da und entledige mich meines Auftrages. Der Regimentskommandeur, von seinem Adjutanten und zwei Trompetern begleitet, galoppiert mit mir vor. An die Höhe, hinter der die Dragoner bleiben sollen, ist schwer heranzukommen Eine ganze Batterie, die dort hinaus gesollt, ist dorthin gar nicht hinaus gelangt. Ein Platzregen von Granaten muß hier über sie niedergegangen sein. Es ist alles ein matschiger, in einander gewühlter Haufen. Als das Dragonerregiment sich nähert, muß es sich, die Durchgangsstelle ist zu schmal, fast einzeln durchwinden. Dies langsame Vorrücken hat abermals eine feindliche Batterie bemerkt, und wieder geht ein Granatenplatzregen nieder. Aus den kleinen grauen Wölkchen entwickeln sich, wenn sie zerflossen sind, schreckliche Bilder von Verstümmelten, von zerfetzten Menschen und Pferden. Durch, wer durchkommt. Und ein Drittel des alten berühmten Regiments ist durch. Rasch sammeln sich die Schwadronen. Ein zweiter Adjutant des Generals ist zur Stelle: Das Regiment soll unverzüglich auf über den Damm vorgebrochne Infanterie losgehn. Und unverzüglich reiten die gelichteten Dragoner an. Sie gehen, fast vom Fleck aus, zur Attacke über und in die Vierecke und Knäuel hinein. Ich werde mit dem Strudel fortgerissen. Wir sind mitten in der Infanterie. Jeder haut auf Bajonette, vorgehaltne Kolben, Käppis, Schnurrbärte, Milchgesichter mit aller Lebenskraft ein. Die Standarte, hoch über dem tanzenden Gewoge sichtbar, fängt Lorbeerkränze auf, die ihm die Siegesgöttin lächelnd über die vergoldete Spitze wirft. Was nicht niedergeritten, niedergehauen wird, löst sich in Flucht auf. Ewigen Ruhm hat das herrliche Reiterregiment errungen . . . Ich melde mich wieder bei meinem General.

Nach diesem Angriff ließ der Oberbefehlshaber zum allgemeinen letzten Vorstoß blasen. Er gelingt! Wir haben den Eisenbahndamm. Als der General und ich durch den Übergang am Wärterhäuschen reiten wollen, fühl ich, aber ohne jeden Schmerz, als wenn mich einer ganz leicht mit der Handfläche geschlagen hätte, einen Ruck am linken Knie. Einige Schritte noch reit ich weiter, ohne etwas zu merken. Der General bietet mir eine Cigarette an. Es wird eine Wohlthat sein nach den heißen Stunden. Ich will die Zündhölzer aus meiner Hosentasche nehmen. Es will nicht recht. Ei, was ist denn das! Plötzlich blitzt und leuchtet es mit tausend Feuerkugeln vor meinen Augen. Aber ich möchte mir die Cigarette anzünden. Wie denn, wer denn, ich selbst etwa? Das ist ja merkwürdig. Ich krabbele mit meiner linken Hand in der Mähne meines Pferdes umher. Ich schwanke, kann mich – zum Donner auch, was ist das – nicht mehr im Sattel halten . . . Räder um mich her, glühende Räder . . . Mir wird sehr leicht . . . Der Arm des Generals langt nach mir . . . stärkstes Ohrensausen . . . und ich erwache im Wärterhäuschen.

* * *

Ich erwachte. Wie lange hab ich geschlafen? Wie bin ich hierher gekommen? Wer hat mich hergebracht?

Mir ist sehr dumpf im Kopf. Meine Gedanken sind nicht ganz klar. Es ist das Gefühl, das der deutsche Mann kennt, das Gefühl des Katers. Wüst, wüst . . . Ich liege vollkommen ausgestreckt, ohne Kopfunterlage. Rechts und links von mir, hart an mich herangelegt, schlafen? zwei schwer verwundete Franzosen. Wir sind im Dienstraume des Wärters. Die Hausthür, die unmittelbar in dies Zimmer geht, steht weit auf nach außen. Ich sehe nur den gleichgrauen Himmel. Gegen diesen hebt sich, wohl über den Pfosten losgerissen, eine im Winde schaukelnde Weinranke ab; an dieser sitzt ein einziges großes grünes, fast durchsichtiges Blatt, das sich fortwährend dreht. Dieser Anblick vermehrt zuerst meinen Schwindel, dann aber beruhigt er mich: die grüne Farbe, von der grauen abgehoben, thut mir wohl.

Ich versuche den Kopf zu heben: Der ganze Raum ist angefüllt mit Toten, Sterbenden, Verwundeten. Alles ist dicht wie Heringe an einander gerückt. Ans der rechten Schulter eines bewußtlosen, verwundeten Dragoners hockt eine schwarze Katze. Sie macht einen Buckel, als sie einen Hühnerhund erblickt, der sekundenlang, Luft einziehend, durch die Thür, wie suchend, ins Innere äugt. Durch die Thüre hör ich draußen: »Nein, nein, nein, ich will nicht, Herr Stabsarzt.« Eine andre Stimme, sicher die des Doktors: »So beruhigen Sie sich endlich. Ich will Ihnen doch helfen; Sie sehen doch . . .« Und die gleiche Stimme, wahrscheinlich zu einem Lazarettgehilfen, brüllend: »Zum Kuckuck auch, Ehmke, so packen Sie doch zu . . .« Dann gräßliche einzelne Schreie, drei-, viermal hintereinander; dann Stille.

In der Ferne hörte ich das Gefecht. Ich hatte das köstliche Bewußtsein, daß wir den Feind geschlagen.

Einmal erschienen im Rahmen der offnen Thür, sich scharf vom Himmel ausschneidend, drei preußische Lazarettgehilfen. Sie schienen sich ganz gemütlich zu unterhalten. Wollten sie sich etwa zu einem Skat niederlassen? Dieses heilige Nationalspiel nimmt der Deutsche, wie bekannt, in alle Lagen des Lebens mit . . . Die drei Lazarettgehilfen verschwanden. Nur die Ranke mit dem schönen großen grünen Weinblatt schaukelte . . .

Weshalb bin ich denn eigentlich hier? Nun erst fällts mir ein: ich muß verwundet sein. Aber wo? Ich fühle nirgends einen Schmerz. Ich taste, taste, taste. Plötzlich bemerk ich, daß bei meinem linken Knie die Hand sehr warm wird. Ich ziehe sie weg; sie ist blutig über und über. Ich versuche, das Bein zu krümmen. Ein. stechender Schmerz geht mir durch den Körper. Ich entsinne mich des leichten Schlages auf Knie. Dort also traf mich das Blei. Mühsam erlang ich mein Taschentuch. Mühsam richt ich mich ein wenig in die Höh. Mühsam sehr mühsam, mach ich mir einen Notverband. Weiter komm ich nicht. Die Sinne werden dunkler und dunkler. Das letzte Bild: durch die Thür ein auffallend kleiner, zum Kriege eingezogner Oberstabsarzt. Er trägt einen kurzgehaltenen feuerroten Schnurrbart. Ich kenne den Herrn vom Stabe; auch aus der Garnison war er mir erinnerlich. Er genießt als Arzt wie als Mensch eines ausgezeichneten Rufes.

Der kleine Oberstabsarzt hatte den Arm eines baumlangen jungen Unterarztes gefaßt wie in großer Ermüdung.. Von seinen Augen aus geht ein freundlicher sanfter Zug. »Nun hier an die Arbeit, lieber Schmidt. An eine Pause dürfen wir nicht denken.«

Ich verlor die Besinnung.

* * *

Als ich zum zweiten Male erwachte, fand ich mich in der gleichen Lage wie vorhin. Aber ich fühlte mich sehr erfrischt. Meinem Kopfe ist ein zusammengelegter Uniformrock untergelegt. Ich fühlte weder Schwindel noch Schmerzen. Ich konnte klar denken. Mein erster Blick fiel auf die noch immer sperrangelweit geöffnete Hausthür. Ich sah wieder die Ranke und das schöne grüne Blatt schaukeln. Dann glitt mein Auge auf mein linkes Bein. Die Wunde war mit Binden stramm umwickelt. Nur einige durch die Leinwand gedrungne Blutstropfen bemerkte ich.

Ich stellte weitere Beobachtungen im Zimmer an: Der Franzose links von mir war gestorben. Seinem Haupte war ein Tornister untergestellt. Aber dieser hatte sich durch irgend einen Umstand verschoben. Der Kopf, nach mir gewendet, war abgeglitten, nach hinten gefallen. Ich schaute in die gebrochnen Augen des Mannes, dicht, dicht neben mir. Der Mund stand groß geöffnet. Der linke Arm zeigte sich, erstarrt, im rechten Winkel erhoben; die Hand dieses Armes scharf gekrallt.

Rechts von mir, ebenso dicht wie meinem linken Nebenmann fand ich einen französischen Gardekapitän. Aus dem sehr blassen, länglichen Gesicht sahen mich groß, fragend zwei dunkelbraune Augen an. Ein schwarzer Henriquatre, wie ihn fast allgemein der französische Offizier trägt, stand dem bleichen Gesichte gut. Dieser Franzose atmete noch. Nur die linke Hand, die er schwer auf die Brust drückte, als wolle er einen sprudelnden Quell aufhalten, verriet mir, daß ihn hier die Kugel erreicht hatte. Auch er war, wie die andern im Raume Anwesenden, verbunden. Trotzdem sickerte unaufhörlich Blut durch seine Finger.

Ich konnte meine Uhr aus der Tasche ziehen. Sie zeigte drei Minuten nach fünf nachmittags.

»Mein Kamerad,« sagte leise zu mir der französische Kapitän. Ich wähnte, daß er die Zeit wissen wollte, ich drehte ihm die Uhr hin. Er lächelte, nickte schwach und schloß die Augen.

Ich sah mich, mich ein wenig aufstützend, nach allen Seiten um. Das Wärterhäuschen trug überall die Spuren eines hier heftig getobt habenden Kampfes. Gewehrkugeln waren in die Wände geschlagen oder hatten den Putz abgerissen. Vor dem Fenster hing ein halb heruntergezerrter, zerfetzter Vorhang. Möbel und Gerätschaften lagen, das wenige, das noch von diesen vorhanden, in Trümmern. Vor meinen Füßen ruhte eine zerbrochne Lampe; nur der Cylinder war merkwürdigerweise heil geblieben. Unversehrt auch hing unter der Decke das Läutwerk. Der elektrische Strom mußte jedenfalls durch Zerstörung während des Gefechtes aufgehört haben, zu arbeiten, und doch immer klang es mir, als wenn der Hammer ganz seine Töne an der Metallglocke in Schwingung setzte: Bim, bim, bim . . . Das schien mir das einzige Geräusch, denn sonst war es still um mich. Im ganzen mochten wir zu zehn, zwölf beisammen hier sein. Von diesen schliefen aus Erschöpfung und Blutverlust die meisten, die andern waren Leichen. Es herrschte gleichsam eine Grabesstille, eine feierliche Stille. Von außen, außer dem Schießen aus großer Entfernung, kam kein Klang. Die Insassen des Häuschens blieben verschwunden. Die Ärzte und Lazarettgehilfen schnitten und sägten und bepflasterten und klebten und verbanden längst an andern Plätzen. Ja, so still war es zeitweise, daß ich die Weinranke an den Thürpfosten schlagen hören konnte. Und dann das mir fortwährend ins Ohr klingende – war es Täuschung? nur durch meine erregten Nerven hervorgerufen? – feine Bim, bim, bim des Läutwerks.

Ich sah wieder auf den mit ruhigen Atemzügen schlafenden Kapitän. Das Blut sickerte nicht mehr durch seine Finger. Der Quell schien versiegt. Aber es hatte wohl nur eine andre gefährlichere, schneller den Tod bringende Richtung genommen, die Richtung nach innen.

Mein Nachbar erwachte und schlug die großen braunen Augen zu mir auf. Und wieder war es mir, als oh er sie prüfend auf mich richtete. Er bat um einen Trunk. Ich konnte ihm zu meiner Freude dienlich sein; denn durch die Vorsorge des kleinen Oberstabsarztes standen bei jedem von uns Kochgeschirre mit schmutzigem Brunnenwasser. Anderes war nicht zu haben. Und auch im Kriege, in der Schlacht ist jedes noch so mit Schlamm durchsetzte Wasser ein klares Brünnlein. Als ich den Gardekapitän erlabt hatte – es gelang uns mit vereinten Kräften – drehte er sich langsam zu mir und sagte:

»Sie sind mein Kamerad. In ganz geringer Zeit werde ich sterben. Ich fühle noch so viele Kraft in mir, daß ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen kann. Es ist eine Beichte und eine Bitte. Ich weiß, Sie erlauben es; Sie sind mein Kamerad.«

Die einfachen Worten »Sie sind mein Kamerad,« und wie er sie so einzig vertrauensvoll sprach, hätten das härteste Herz erweicht. Wir bogen uns, so gut es gehen wollte, zu einander hin. Drei, vier Zoll nur trennten unsre Augen. Aber wie es sich in der Natur unsrer augenblicklichen Verhältnisse von selbst verstand, redeten wir zuerst vom heutigen Tage und von unsern Wunden. Dann erst begann er. Und während seiner ganzen scheinbar ohne Beschwerden geführten Aussprache klang es sehr fein, mit Pausen von etwa zwanzig, dreißig Sekunden, bim, bim, bim, bim, bim, bim vom Läutwerk her, schlug die Ranke an den Pfosten, hörten wir in der Ferne das allmählich schwächer werdende Schießen; und wie es mir vorkam: vom Winde herübergetragen das Ächzen, Stöhnen, Wimmern und Klagen der Verwundeten und Sterbenden.

Mit Anstrengung entnahm er einer Tasche im Futter seines Vorderschoßes zwei Schreiben, von denen das eine einen bedeutend größeren Umfang hatte als das andre. Zuerst übergab er mir das kleinere mit dem Ersuchen, es so bald wie möglich an seinen Bruder, den Vicomte Gautier de Perouse nach Lille gelangen zu lassen. Er erzählte mir, sein Bruder sei ein edler Mensch, der die Welt kenne und nicht kleinlich denke; daß dieser die Vermögensverhältnisse seiner (des Kapitäns) geliebten Frau und seiner Kinder ordnen, daß er – und der mit dem Tode Ringende neigte sich flüsternd an mein Ohr – auch für Manon Deuxpierres sorgen werde, wenn . . .

Ich konnte seine Worte, die sehr leise und hastig wurden, nicht verstehen; aber ich erriet, was er sagen wollte. Ich legte meine Hände auf seine Hände und gab ihm dadurch zu bedeuten, daß ich sein Vertrauen ehre. Ich sagte ihm, er könne sich darauf verlassen, daß ich den Brief so schnell wie möglich besorgen würde. Ein dankbarer Blick und ein dankbares Lächeln war seine Antwort.

Nun gab er mir das zweite größere Schreiben. »Dies schrieb ich,« so begann er wieder, »vor zwei Tagen, als wir einen Ruhetag in Belleville hatten. Ich übergebe es Ihnen mit dem Wunsche, daß Sie es, wenn Sie es in ruhigeren Zeiten gelesen haben, vernichten. Es ist eine Selbstanklage und Rechtfertigung, eine Rechtfertigung, so weit dies möglich ist. Bald stehe ich vor Gott dem Herrn, und Er, der alle Triebfedern unsres Herzens, alle Kämpfe unsrer Seele kennt, wird mir verzeihen.«

Weiter kam er nicht. Äußerst erschöpft lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Nur einzelne Worte und Sätze, Phantasieen, sprach er noch. Immer und immer wieder nannte er voller Liebe die Namen seiner Frau und seiner Kinder. Seine Brust hob sich schwerer, langsamer, und ohne Todeskampf ging er hinüber.

Ich drückte ihm, mich unter Schmerzen zu ihm beugend, die Augen zu. In dieser Minute fing das Läutwerk an zu rumoren, sehr laut, wie eine verrückt gewordne Wanduhr. Und unausgesetzt klang ein rasches Bim, bim, bim, bim, bim, bim, bim . . . Ich sah deutlich den Hammer schlagen.

Als die Dämmerung einsetzte, hörte ich Stimmen. Ein Trupp Leichtverwundeter, mit verbundnen Köpfen und Armen, ging an der Hausthür vorbei. Gleich darauf erschien eine Trainabteilung mit ihren Wagen, um die Beförderungsfähigen von uns abzuholen und nach rückwärts zu schaffen. Als ich hineingehoben wurde, entdeckte ich den guten, tröstenden Mond. Seine volle Scheibe stand dicht über dem einsamen Wärterhäuschen, das dem französischen Gardehauptmann und einigen andern Kameraden zum Leichenhaus geworden war.

* * *

Schon nach zwei Tagen fand ich Gelegenheit, den Brief sicher nach Lille in Bewegung zu setzen.

Das andre Schreiben öffnete ich erst während der Heilung meiner Wunde. Ich hatte eine Art Angst davor gehabt, es zu brechen. Endlich überwand ich mich. Kaum je eine Dichtung wüßte ich, die mich so erschüttert hätte, als die Lesung dieser Beichte. Die Thatsache selbst, die in ihr klar gelegt wurde, war die gewöhnlichste der Welt, täglich finden wir sie im Leben selbst wie in Romanen: Der Vicomte hatte elf Jahre in überaus glücklicher, kindergesegneter Ehe gelebt. Einige Monate vor Ausbruch des Krieges erscheint zum Besuch in seinem Hause eine Verwandte, ein junges Mädchen, die Gräfin Manon Deuxpierres. Er verliebt sich heiß und heftig in sie und wird wiedergeliebt. Und nun entsteht der furchtbare Kampf zwischen Pflicht und Natur.

Aber wie war dieser Kampf gegeben! als wenn einer der wenigen wirklichen Künstler, in diesem Falle Dichter, als wenn ein Shakespeare, Goethe, Heinrich von Kleist, Theodor Storm, Fontane, Dostojewski, Turgeniew, Tolstoi, Maupassant und wie die paar Großen, die paar Dichter- Künstler heißen, diesem Zwiespalt ihre Feder geschenkt hätten. Bis in den tiefsten Abgrund zeigte der Vicomte seine Seele. Ich war bis ins Innerste ergriffen. Ich habe aus dieser, wie soll ich sagen: Erzählung gelernt, daß wir Menschen milde urteilen sollen, milde, milde, denn wir kennen selten die Beweggründe und wissen nichts von den Kämpfen einer fremden Seele. Und milde am meisten sollten über ihre Mitmenschen die Moralprediger urteilen, die selbst nie in Versuchung gekommen sind.

Ich habe sofort das Schreiben, wie ich es versprochen hatte, vernichtet, und weder Frau von Perouse ahnt es, daß ein böser Prüssien das Geheimnis ihres Gatten kennt, noch die süße Manon Deuxpierres.

Es wäre eine Frage: wie konnte der Vicomte mir, dem ihm ganz fremden, seine Beichte, die das Heiligste enthielt aus seinem Leben, übergeben? Aber sagte er nicht einfach: »Sie sind mein Kamerad . . .«


 << zurück weiter >>