Meinrad Lienert
Der Pfeiferkönig
Meinrad Lienert

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Zwölftes Kapitel.

Meiner Frauen Namenstag.

Die offenen Scheiblein in der großen Stube der Abtei zitterten leise im lauen Sommermorgenwind. Und auch die Rosen zitterten mit, die sich in leuchtenden Kränzen um die Mittelpfosten der Bogenfenster wanden.

Auf dem Boden der Stube lagen die goldenen Scheiben der Morgensonne und an den braunen Wänden rankten sich überall Epheugewinde empor bis zu den fünf Blumenkörben, die in Abständen von der geschnitzten Decke hingen.

Die Stube duftete wie ein Rosengarten, denn auch über den Teppich, der von der Türe zum thronartigen Lehnstuhl der Fürstin führte, hatte man ein Füllhorn von Rosen ausgeschüttet.

Man feierte heute das Fest der hl. Anna, Mutter Mariä und Namenstag der Äbtissin Anna von Hewen.

Da hatten es sich die Frauen der Abtei trotz der kriegerischen Zeit, nicht nehmen lassen, in aller Morgenfrühe die Gärten des Klosters für ihre gnädige Frau Mutter zu plündern.

Eben war sie eingetreten und sah sich flüchtig, aber mit freundlichem Lächeln, in der hochgeschmückten Hofstube um. Sie nahm eine Rose vom Teppich auf, roch daran, ließ sie wieder fallen und trat an ein Fenster.

Mit langem Blick schaute sie erst über den blauen See hinauf und dann in die Stadt hinein. Ihre Züge wurden ernster und erschienen in der Morgensonne etwas blaß und übernächtig.

Lange hatte sie nicht einschlafen können. Der alles vorweisende dunkle Spiegel der Nacht zeigte ihr immerfort den blutüberströmten, zerschlagenen Pfeiferkönig, ihren treuen Kundschafter. Als sie endlich einschlummerte, folterten sie, wie die Krallen des blutsaugenden Nachtgevögels, unheimliche Träume. Zweimal mußte sie ihre Kammerfrau anrufen. Aber als der Morgen mit goldenen Fingern an ihrem Himmelbett herumtastete, ging der bleiche Schatten des Kundschafters still fort und statt seiner lagen die Schatten des toten Stüssi und seiner Freunde vor ihrem Bette und durch die Tore der Stadt sah sie die Eidgenossen hereinrasen.

Da war sie hastig aufgestanden und in den Chor des Münsters geeilt, der hl. Anna zu danken für dies Namensfest, das ihre heftigsten Feinde tot sah und sie so Großes hoffen ließ.

Lange staunte sie über die Stadt. Das war die Stadt ihrer fürstlichen Vorgängerinnen, vielleicht bald auch die ihrige.

Schritte ließen sich hören und nun klopfte es.

Aufgeräumt wandte sich die gnädige Frau. Da ging die Türe und ihre Hofkapläne traten ein, gefolgt von den alten Chorherren aus den Pfrundhäusern. Und eben als die Äbtissin sich in ihrem Thronsessel niederließ, erschien auch noch des Gotteshauses Ammann, Herr Edlibach, mit bekümmertem Antlitz, und die ersten Beamteten der Abtei. Sie alle beglückwünschten die Äbtissin zu ihrem heiligen Namenstage, wünschten ihr eine recht lange Herrschaft und alles was sie sich selber wünsche.

Stehend und wohlwollend lächelnd, ließ sich die hochgewachsene Herrin huldigen und entließ dann alle auf's gnädigste. »Wenn wir den langen Tisch gedeckt haben werden, erwarte ich euch wieder,« rief sie den alten Chorherren nach.

»Wir werden den ganzen Vormittag nach dem Wendelstein zu St. Peter hinaufhorchen,« gab im Hinausgehen ihr schneeweißer Senior scherzend zurück, »und wie's Mittag schlägt hereinstürmen. Aha!« sagte er, hurtig zur Seite tretend, »die haben das Stürmen besser los als wir.«

Die Tischtöchter der Äbtissin eilten herein, erst die beiden blonden Elsbeth von Wißenburg, dann die braunlockige Anna von Thengen und zuletzt kam, aber ganz langsam und totenbleich, an der Türe das Weihwasser nehmend und den armen Seelen spritzend, Verena von Monsax.

Trugen alle, außer Verena, Rosenkränzlein in den Locken.

»Glück und Segen und langes Leben, liebe Frau Mutter!« riefen die Fräulein und verbeugten sich tief vor der Äbtissin.

Sie aber gab einer jeden die Hand und sagte: »Auch ich, liebe Kinder, wünsche euch allen und besonders auch dir, übermütiges Ännchen – bist ja heute auch Namenstagskind, – alles Gute. Und dann danke ich für die prächtigen Rosen. Ihr habt die langweilige Hofstube wahrhaftig in eine Rosenlaube verwandelt. Ich danke euch!«

Jetzt war auch Verena zur Äbtissin getreten und hatte lautlos ihren Siegelring geküßt.

»Du bist krank, Vrenlein,« redete die Äbtissin sie an, »du bist sehr krank.«

»O ja,« sagte die ältere Elsbeth, »sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen und als sie meinte, wir schliefen, weinte sie überlaut in die Bettdecke hinein.

Die Äbtissin winkte, die andern entfernten sich.

Wie sie allein waren, fuhr Anna von Hewen der kleinen Monsax eine Weile liebkosend über das dunkle Haar, seufzte und fragte dann: »Vrenlein, was weinst du?«

Verena gab keine Antwort.

»Siehe, Maria Magdalena, die arme Sünderin steht vor dir, sag', warum weinst du?«

Verena blieb stumm, und keine Träne war in ihren Augen.

Da ging die Türe und Babeli, die ältere Kammerfrau und Agnes, die jüngere, mit ein paar Gesellen des Pfisters, trugen eine gewaltige Korbzeine voll Hofsemmel, Nonnenleckerli und Birnenfladen herein.

Verena von Monsax ging still, gesenkten Hauptes davon. Bekümmert staunte ihr die Äbtissin nach.

»Euer Frauen Gnad, hier haben wir die Geschenke,« redete die ältere Kammerfrau. »Der Kratzschreiber steht mit den armen Kindern aus dem Kratz und aus der Elenden Herberge schon im Gang. Soll ich sie hereinlassen?«

»Laß sie herein,« machte Anna von Hewen ruhig und setzte sich wieder in ihren Stuhl.

Wie die Kammerfrau öffnete und die Klosterknechte hinaus waren, zeigte sich im Heiligtagrust der magere Kratzschreiber in der Türe. Erst streckte er die gelbe Nase in die Stube und dann stelzte er herein und ihm nach drängten schüchtern eine Schar armseliger, verhudelter Büblein und Mägdlein mit durchsichtigen, blassen Gesichtern.

»Gott zum Gruß!« rief krähend der Kratzschreiber.

»Gott zum Gruß!« schrieen ihm die Kinder nach.

Er verbeugte sich vor der Äbtissin bis auf den Boden; dann schnellte er auf und stellte sich bolzgrad wie ein Tatzenstecken, vor die Kinderschar, hob die Hand hoch und krähte: »Laudate pueri nomen Dominae Annae de Hewen, monasterii turicensis abbatissae! Laudate, glorificate, juhubilate!«

Und jetzt brach die Schar gar gewaltig los:

        »Gegrüßt sei Euer Frauen Gnad
Zum heil'gen Namenstag!
Gott streu Euch Rosen auf den Pfad
Zu jedem Glockenschlag!

Das gebe Gott, daß Euer Herz
Weiß bleib' wie Eure Hand!
Er leit' Euch dran einst himmelwärts
In ein glückselig Land.

Still hörte die Äbtissin den Glückwunschgesang an, und als er zu Ende war, schlich ihr eine Träne über die Wange. Dann aber hieß sie schwermütig lächelnd, Kratzschreiber und Kinder herantreten, dankte ihnen und winkte ihren Kammerfrauen, die Körbe heranzutragen. Die glänzenden Augen der Kleinen hatten sie schon längst erspäht und ihr Gesang mochte mehr an sie gerichtet sein als an ihre Spenderin.

Jetzt bedeutete Babeli, die ältere Kammerfrau den Kindern, jedes dürfe eine Semmel aus dem Korb nehmen, welchen Wink sie sogleich und schön der Reihe nach befolgten.

Da kam aber ein Büblein mit einem Triefnäschen und das nahm zwei Semmel aus dem Korb.

Geschwind putzte ihm die Kammerfrau mit dem Schürzenzipfel das Triefnäschen und fragte: »Kleiner, sag', warum hast du denn zwei Semmel herausgenommen?«

»He,« sagte das Büblein, »eine will ich halt der Mutter heimbringen.«

»Wie heißest du denn?«

»Ruodi.«

»Und dein Vater?«

»Ich habe keinen Vater.«

»Wie heißt aber dein Pathe?«

»Auch Ruodi.«

»Ja, ihr scheint mir eine rechte Ruodifamilie zu sein. Heißt denn dein Pathe nicht noch anders?«

»He, Bürgermeister heißt er noch.«

Die Äbtissin horchte auf.

»Was für ein Bürgermeister?« fragte sie.

»He, Herr Stüssi, der tote Bürgermeister.«

Erstaunt sah die Äbtissin auf das Büblein. »Stüssi?« Zögernd, schier widerwillig sprach sie den Namen aus.

»Ei freilich,« machte jetzt der Kratzschreiber wichtig, »Herr Stüssi war wohl ein rauher, kurzgebundener Mann, aber er meinte es gut mit dem niedern Volk und war vielen armen und verlassenen Kindern Pathe.«

Jetzt senkte Anna von Hewen für einen Moment wie in Beschämung die Augen. Dann aber kam ein strenger Zug um ihren Mund. Kalt blickte sie auf die Kinder.

Hurtig teilten die Kammerfrauen erst die Semmel, dann einen Teil des süßen Gebäckes aus.

Bald waren die Körbe leer und der Kratzschreiber zog, ebenfalls mit Süßigkeiten für sieben bittere Kinder und eine räße Gattin beladen, mit seiner beglückten Schar ab.

Dann erschienen in der Hofstube trotz den Kriegszeiten, einige Herren und Frauen der eidgenössisch gesinnten Geschlechter und nach ihnen, mit ihrem Scholasticus, die ebenfalls nach Süßigkeiten züngelnden Schüler der Abtei.

Noch bevor aber der letzte der Lateinschüler wieder draußen war, stand der Torwart in der Türe und brummte zu einem Mann, der hinter ihm stand:

»Hier ist meine Frau. Sie wird aber heut kaum viel Zeit für fahrendes Volk haben, drum mach kurz, wir haben Namenstag.«

Damit trampte er, in den Weihbrunn langend und sich bekreuzend, davon. Vor dem Thronsessel der Äbtissin aber stand ein hochgewachsener Mann.

»Gott gebe Euch ein langes Leben und ein rasches, seliges Ende!«

»Wer bist du?« fragte kurz die Äbtissin.

»Ich bin Itelschalk, der Gugelpfeifer, Marschalk des Pfeiferkönigtums.«

In der Frauen Mundwinkel zuckte es erst wie Spott, dann wie Mitleid.

»Ja, ich erkenne dich. Was willst du von mir? Du willst wohl euern toten König sehen. Laß dich vom Torwärter führen. Mein treuer, lieber Spielmann ist vor m. L. Frauen Kapelle aufgebahrt.«

»Euer Frauen Gnad, ich komme soeben vom Bürgermeister Schwarzmurer. Er hat mir bewilligt, Ulmann, den Lützelpfeifer, aus der Abtei fortzunehmen, falls Ihr Euern Willen hiezu gebt. Wir möchten ihn nach der Lützelau bringen, denn wo unser König einsam Hof hielt, da soll er auch sein einsames Grab finden. Seid uns die Bitte nicht ab, gnädige Frau, die Spielleutenbruderschaft wird es Euch gedenken.«

Anna von Hewen blickte eine Zeitlang trübe, schier düster, vor sich hin. Dann sagte sie so leise, daß sie der Gugelpfeifer fast nicht zu verstehen vermochte: »So führt ihn denn in sein märchenhaftes Reich. Euch war er ein stolzer König und mir ein getreuer Knecht. Geht mit Gott!«

Itelschalk wollte noch etwas sagen, aber die Äbtissin hatte sich abgewandt und gebot fast heftig: »Geht!«

Da machte sich der Gugelpfeifer davon.

Sie konnte aber ihren trüben Gedanken nicht lange nachhängen. In die Hofstube wankte, geführt von beiden Kammerfrauen, die alte Frau Mutter des Frauenklosters in der Seldenau. Die Eidgenossen hatten ihr außerhalb der Stadt liegendes Kloster vollständig ausgeraubt und in der Kirche alles kurz und klein geschlagen. Sie war darüber vor Schmerz fast kindisch geworden. Tränenlos, ohne ein Wort zur Begrüßung finden zu können, legte sie die Arme über der Äbtissin Schultern und küßte sie mit welkem zitterndem Munde. Endlich aber berichtete sie mit leiser Stimme das Unglück ihres Gotteshauses.

Anna von Hewen versuchte sie auf bessere Tage zu vertrösten, doch sie wollte nicht darauf eingehen und sagte, Gott habe ihr dieses Strafgericht für ihre einstige Sündhaftigkeit geschickt. Sie habe einst zu sehr an irdischem Wohlleben gehangen und zu spät sehe sie jetzt ein, daß die Gnade Gottes im Herzen ein tausendmal größerer Schatz sei, als alle Kronen der Erde. »Bedenkt es, meiner lieben Frauen Gnad,« machte sie zuletzt schweratmend, »bedenkt es! Die gläubige Wimper eines Bettlerkindes ist mehr wert, als ein golddurchwirkter Purpurmantel. Das kleinste Mückenflügelchen, das sich im Staub dieser Erde rein erhält, wiegt schwerer vor Gott als der Krönungsschatz zu Aachen. Bedenkt es, Fürstin, bedenkt es und lebt wohl!«

Die Äbtissin geleitete die Greisin zur Türe. Da ging diese knarrend auf und in voller Rüstung stampfte Freiherr von Hewen, der gnädigen Frauen Bruder, in die Stube. Jetzt überließ sie die Frau Mutter ihren Kammerfrauen und wie sie nun mit ihrem Bruder allein war, machte er rasch: »Es tut mir beigott leid, Schwester, aber ich muß fort, geradewegs muß ich verreiten. Mein Gaul steht schon im Hof. Also komm her!«

»Ein Kuß zu deinem Namenstag. Damit mußt du heute bei mir vorlieb nehmen. Ich muß mich beeilen, wichtige Dinge, die ich dir noch schnell melden wollte, denn dich, ich weiß es, gehen sie auch an, – rufen mich ab. Eben suchte mich ein Bote der Eidgenossen, in Begleitung Hansens von Rechberg und des Markgrafen auf. Sie kamen aus dem Rathaus und baten mich, nach Konstanz, zum Bischof, unserm Bruder Heinrich, zu reiten, auf daß er zwischen Zürich-Österreich einen Teils und den Schwyzern und ihren Eidgenossen andern Teils einen ehrlichen Frieden vermittle, denn auch die Eidgenossen seien des ewigen Herumschlagens und Kriegens fast müde. Sie seien mittlerweile schon gen Baden abgezogen. Also nun weißt du's, Schwester. Du bist kein Schilfrohr und wirst es klug bedenken. Ich durfte den Eidgenossen nicht zuwider sein und mit Österreich darf ich's nun auch nicht verderben, denn bis jetzt bemühten sich mein Bruder, der Bischof und ich, schon um deinetwillen, weise die goldene Mitte zu halten und zu warten, wohin es Gott lenke. Er führt es zu einem Frieden und nun wäre es töricht, den Friedensboten nicht machen zu wollen. Es kann uns nützen. Flink noch einen Kuß! Und nun, leb wohl!«

Und fort stampfte der Freiherr.

Noch lange lauschte Anna von Hewen seinen in den Gängen hallenden Eisentritten. Wie gebrochen lag sie in ihrem Lehnstuhl und starrte ein Blumenkörbchen, das über ihr hing, unverwandt an. Aber sie sah die Rosen nicht. Es wirbelte ihr vor den Augen wie ein Feuerfunkentanz. Was hatte sie da vernommen? Die Eidgenossen abgezogen nach einem solchen Sieg, der ihnen die Stadt schon fast gestern und in einigen Tagen sicher, in die Hände gegeben hätte. Sogar die Schwyzer sollten kampfmüde sein und nach einem wohlfeilen Frieden züngeln und das ohne ihrer gedenken zu wollen. Sie hätte doch zum wenigsten erwartet, der Friedensbote der Eidgenossen käme zuerst zu ihr, um sie zu versichern, daß man ihre fürstlichen Ansprüche bei den Friedensunterhandlungen nicht außer Acht lassen werde. Nun nichts von alledem. Sie war schnöde vergessen und übergangen!

Also das war der Lohn ihrer unablässigen Arbeit. – Sie hatte alles, selbst ihr Leben für ihre fürstlichen Rechtsamen gewagt und nun dies Ende! Lebwohl, Fürstin von Zürich! Nun wird die österreichische Partei, die Partei der Volksherrschaft, erst recht wieder aufleben. Stüssis Wille steckt nun dem Volke im Blut, und seine Getreuen schweißt die Not fester zusammen als je. – Sie lächelte bitter, unheimlich. – Und diese kurzsichtigen Edelleute aus den österreichischen Vorlanden werden den ungeschlachten Zünftern wieder aufhelfen soviel sie können. O diese adeligen Toren! Die angriffigen Fäuste der Ledergerber, Grempler und Leineweber dieser Stadt, die ihnen heute voll Angst, Vertrauen heuchelnd, die Schlüssel ihrer Tore übergeben haben sollen, werden sie ihnen bald genug wieder aus den Fingern ziehen und ihnen dafür eines Tages diejenigen ihrer eigenen Burgställe abverlangen. Haben sie denn vom Schicksal der Fürstäbtissinnen von Zürich, vom traurigen Ende der Regensberger und anderer Herren nichts gelernt?

»Weh' mir!« machte sie seufzend. »Nun hat der tote Bauer aus dem Glarnerlande doch gesiegt. Umsonst habe ich meinen lieben Meiß geopfert, vergeblich den treuen braunlockigen Spielmann einen grausigen Tod sterben sehen.«

Ihr blaues Auge wurde wie ein Schatten im Firn. Sie klopfte sich an die Brust und murmelte: »Parce nobis Domine!«

Plötzlich aber schoß sie aus ihrem trübseligen Hinstarren auf, schritt durch die Stube und stellte sich an einer Wand unter ihr rosenumwundenes Bildnis, das mit hoffnungsfrohen blauen Augen hochmütig auf sie herablächelte.

Eine Weile schaute sie mit scharfen, prüfenden Augen an das Gemälde herauf. Dann redete sie's an: »Ei, wie man doch so hochmütige Augen haben kann, obwohl man nur die gnädige Frau an der Abtei ist. Ja, meine liebe Anna, wenn du die Fürstin wärest in Zürich! Aber mein Märlein ging anders aus, als es bei meiner alten Amme auszugehen pflegte, die Prinzen kamen wohl, aber das ersehnte Krönlein brachten sie nicht mit. Nun denn,« machte sie, richtete sich bolzgrad auf und rümpfte die schöne Adlernase: »Konnt' ich's nicht ändern, kann's niemand ändern.«

Und stolz und aufrecht, mit gewitternächtigen blauen Augen, rauschte sie aus der großen Hofstube.

Nach einer Weile ging die Türe wieder. Die Stubenfrau mit ihren Mägden trat ein. Sie hatte soeben Weisung erhalten, die Epheukräuze und Rosen abzunehmen und sie dem toten Spielmann ins Totenschiff mitzugeben.

Am späten Abend hockten auf dem Mäuerchen bei der Wasserkirche, der Limmat entlang, eine Schar Knaben und Mägdlein, wie die Frösche auf einem Grabenbord und ließen ihre bloßen Füße in den stillziehenden Fluß baumeln.

Es begann eine laue Sommernacht.

»Ich sehe einen Stern ob dem Uetliberg!« rief ein Knabe.

»He, ich auch,« machten alle und einer setzte bei:

»Das ist ja bloß der Abendstern.«

»Ich sehe noch einen!« schrie jetzt ein Mägdlein. »Und ich auch noch einen!« rief gleich ein anderes. »Und ich noch drei!« – »Und ich zehn!«

Nun wollte ein jedes mehr Sterne sehen als alle andern, denn der Himmel füllte sich damit allmählich an. So zählten sie weiter und rechneten und rechneten, vermochten aber das Einmaleins ebensowenig zu erschöpfen als den Sternenhimmel. Da hielten sie ermüdet und gelangweilt inne.

Nur ein Büblein, das schon bis auf Fünfe zählen konnte, ergab sich nicht so rasch. Wie alle verstummten, streckte es den Finger gen Himmel und hob zu zählen an. »Eins, zwei, drei, vier, fünf!« Und gellend jauchzte es: »Fünf Sterne sind im Himmel!« Sehr zufrieden mit sich, daß es die Sternenzahl so flink herausgebracht hatte, fluderte das Büblein mit seinem Barfüßchen dem neben ihm sitzenden Kinde Wasser auf's Röcklein.

»O du dummer Hansheini!« machte das erzürnt. »Es ist ja gar nicht wahr, daß bloß fünf Sterne im Himmel sind, es hat ja mehr als hundert.«

»Nein, fünf,« behauptete das Büblein.

»Nein, mehr als tausend,« neckte das Mägdlein.

»Nein, fünf.«

»Nein, soviel als Gott zählen mag.«

Jetzt ward der Kleine wild, fing zu pläären an und wollte eben das höhnende Jüngferlein am Flachsschopf zupfen, da schwamm in voller Pracht und Sommernachtsherrlichkeit der Mond im Wasser und im gleichen Augenblicke stach gegenüber beim Fraumünster im Kratz ein Nauen in den Fluß.

Sogleich verhielten sich die Kinder mäuschenstill und schauten nach dem großen Fahrzeug.

»Jetzt kommen sie mit dem toten Pfeiferkönig!« rief halblaut ein Mägdlein aus.

Auch die obere Brücke war voll von neugierigem Volk und österreichischen Reisigen und auf dem Umgang der Wasserkirche hockten, wie zwitschernde Spatzen, eine Reihe Buben.

Aber droben, in der Erkerstube des Hauses der Äbtissin, stand Anna von Hewen mit ihren Frauen im offenen Bogenfenster und schaute ruhig, einen krankhaft herben Zug um den Mund, hinab auf das abstoßende Herrenschiff der Abtei.

Nur undeutlich war in der Dämmernacht der tote Pfeiferkönig zu sehen, aber sein Spielmannsschild, den er im Arm hielt, flimmerte und schimmerte im Vollmondschein und es war, als erfüllte sein Rosenbett die ganze Nacht mit Wohlgeruch.

Ein halbunterdrücktes Aufstöhnen war hinter der Äbtissin.

Rasch wandte sie sich.

Verena von Monsax stand hinter ihr. Die dunklen Haare fluteten über ihr Gesicht, das sie mit beiden Händen bedeckt hielt und ein verhaltenes, krampfhaftes Schluchzen schüttelte sie wie ein Aspenzweiglein in stürmischer Winternacht.

Leise schloß die Äbtissin das Scheiblein, legte die Hand auf das tiefgesenkte Haupt ihrer trostlosen Tischtochter und flüsterte ihr zu: »Weine nicht, Vrenlein! Er wartet auf dich im Himmel!«

Da schüttelte Verena von Monsax traurig ihre dunklen Locken. »Auf mich nicht,« sagte sie leise und ihre Stimme war wie ein singendes Rotkehlchen im verschneiten Busch. Dann wandte sie sich und schlich sich, still weinend, aus der Erkerstube.

Jetzt sank die Äbtissin wie totmüde in einen Stuhl und flüsterte vor sich hin: »Heilige Muttergottes, welch ein Namensfest!«

Drunten im Fluß suchte der klösterliche Nauen die Mitte der starkströmenden Wasser zu gewinnen und bald fuhr er gegen den mitten in der Limmat stehenden Wellenbergturm.

Da kam ein Singen aus dem Schiff:

Und wo im Herzen eine Klag
Nicht weichen will und schwinden,
Fleug hin, mein Lied, wie Lerchenschlag
Auf maienfrischen Winden!

Dann glitt das Schiff um den Turm und die Zünfter und Bürger der Stadt, die allerwärts vom Ufer und aus ihren Trinkstuben nach dem seltsamen Schiff wunderten, und die ehrsamen Frauen an ihren Stuben und Kammerfenstern lobten in ihren Herzen Gott und die Stadtheiligen, daß sie mit diesem losen Pfeifervolk in keiner Gemeinschaft standen.

Als aber der Nauen am Finkenstad vorbeitrieb, begann auf einmal am Ufer ein lärmendes Musizieren. Das pfeifende Schnarren einer Sackpfeife überwinselte das jämmerliche Stöhnen eines Brummbaßes und das betäubende Getute einer Posaune.

»Habt Dank, ihr lieben Gesellen!« machte mit wehmütigem Lachen Itelschalk, der Gugelpfeifer, der auf dem Schiffsschnabel hockte. »Es ist gut gemeint und kommt euch von Herzen.«

Bald fuhr das Schiff durch die Grendel in den See hinaus und die drei wunderlichen Spielleute aus dem finstern Wald, der Glückhütlein, der Lamphütlein und der Lumpenhütlein, die noch allein beieinander am Bord standen, schauten dem stillen Totenschiff ihres Königs nach, bis es in der dämmernden Nacht verschwand.

 

Ende.


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