Meinrad Lienert
Der König von Euland
Meinrad Lienert

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VI.

Zachris Ruhstaller, der König von Euland, war beerdigt. Seine Enkelin, das Bethli, war lange nachher wie nicht recht bei Trost. Sie schien sich völlig hintersinnen zu wollen. Stundenlang verweilte sie in des Verstorbenen Kammer und spielte mit den Steinen, die darin zu Hügeln aufgebaut waren. Sie versuchte Burgen und Paläste draus zu gestalten. Sogar königliche Gräber baute sie, in die sie dann bald sich, bald das Marieli legte; denn ihr Schwesterlein, das immer wieder um den Großvater weinte, war ihr in allem zu Willen. Aber auch das Trutli, des Holzschuhmachers heiterfarbiges Kind und des Hornputzers behendes Wiseli waren jetzt gar oft auf der Sonnenhalde, um, wie die Lunn hinterrücks sagte, das halbnärrische Geschöpf zu verkurzweilen, das aus einem Lachbethli ein Achbethli geworden sei und immer, wie die Nachtschatten, in allen Winkeln des Hauses herumhocke.

Und, wußte die Magd zu erzählen, aus dem Achbethli sei nun gar noch ein Wachbethli geworden. Es scheine, sie könne es nicht mehr zu einem rechten Schlaf bringen. Nachts stehe sie die halbe Zeit durch am Fenster und staune ins Land hinaus. Zuweilen höre man sie in ihrem 178 Guckauskämmerlein laut reden, ja predigen und lärmen. Und einmal sei sie im Mondschein mutterseelenallein auf die Hagelfluh gegangen. Während des Tages sei sie aber nicht mehr die Unruhe wie sonst. Da habe es stark geändert. Sie spinne jetzt wieder fleißig in der Stube und das Marieli, das Trutli und das Wiseli sitzen bei ihr. Es sei schon vorgekommen, daß sie zusammen gesungen hätten. Aber zu trauen sei ihr nicht; jedwede Stunde habe eben bei diesem Bethli ein anderes Gesicht, und daß die noch richtig im Kopf sei, das täte sie dem stärksten Mann nicht glauben, eine die sich oft ganze halbe Tage, ja besonders Nachts, für eine Königstochter halte. Freilich, zuweilen komme es vor, daß sie sich selber dieser Einbildung wegen fürchterlich auslache, sogar wütend beschimpfe. Ja, sie habe deswegen schon geheult und sich die Haare zerzaust und das Gesicht zerkratzt. Aber am Tag darnach spiele sie wieder die Königliche. Das werde sie, gläublich, von ihrem Großvater selig, dem Zachris haben.

Die Leute des Euthals aber sahen erst mit Verwunderung und allmählich recht giltmirgleich, daß das Sonnenhaldenbethli nun auch ohne ihren Ahnen, hin und wieder an einem Sonnabend, sich allein und so verstohlen als möglich, ob dem Tal durch Holz und Weid, nach der Hagelfluh schlich. Dort sah sie dann der Schafhirte im Windbruch auf dem Bänklein unter der Wettertanne kauern und ins Tal hinab und darüber hinaus ins Weite staunen, stunden- und stundenlang.

179 Eines Nachmittags, als die beiden Tagner, der dreikropfige Langresl und der krummbeinige Buckel, der Gängeli, im versumpften Riedland des Sonnenhaldenbauers an der Sihl, sich damit plagten, die geschlagenen Birken abzuasten und ins Trockene zu bringen, sahen sie zu ihrer Überraschung das Bethli von der nahen Hagelfluh herabsteigen und darnach geradenwegs auf sich zukommen.

Nein, 'sDonners doch auch, wohin sollte es denn da gehen? Sie hielten in ihrer Arbeit inne. Und als nun das Mädchen mit freundlichem Kopfnicken, schweigend an ihnen vorbeigehen wollte, fragte der Gängeli: »Ja, nichts für ungut! aber sag, Bethli, wo willst du denn hin? Du wirst, denk wohl, nicht über die hochgehende Sihl wollen. Die Wildwasser haben ja den Steg vertragen.«

»Eben, mein guter Mann«, antwortete sie, stehen bleibend, »just deswegen bin ich jetzt von der Hagelfluh hinuntergestiegen, um meinem Liebsten entgegenzugehen. Nämlich, müßt ihr wissen, er steht am andern Ufer der Sihl und sehnt sich darnach, zu mir hinüber zu kommen, aber weil nun der Steg fortgeschwemmt worden ist, kann er nicht herüber. Also ist's doch an mir, denk ich, ihn zu holen, ihm ans ersehnte Bord zu helfen und mit tausend Freuden will ich das tun. Jedoch«, sie sah bedächtig, forschend zurück, »aber hört, ihr dürft es niemand sagen. Die auf der Sonnenhalden sollen keine Ahnung davon haben, da ich sie überraschen möchte. Heioho, werden die Augen machen, wenn ich mit meinem Liebsten so 180 unversehens durch die Stubentüre komme. Ach«, seufzte sie, »ich möchte meinem Vater diese Freude so gerne gönnen. Wie viel Schweres hat er doch mit mir schon gehabt!«

»Aha, so so«, machte, seine Verwunderung unter einem freudigen Getue verbergend, der Gängeli, »deinen Liebsten hast du dort drüben über der Sihl. Ja, das freut uns jetzt, daß er endlich wieder anrückt. Wäre er bei Sinnen gewesen, wäre er nie von dir fort. Aber«, setzte er hinzu, sie am Rock zurückhaltend, da sie weitergehen wollte, »aber sag, schöne Jungfer, wie willst du denn über das Wasser kommen, dem doch der Steg fehlt?«

»Heja, und zudem«, sagte jetzt der hagladenschmale Langresl, einen weißrindigen Ast, den er eben abgeschlagen, zu Haufen werfend, »so viel ich sehe, steht ja kein Mensch am andern Sihlbord. Kein Bein kann ich erblicken, als allenfalls den Fischreiher dort in den Birken und Erlen. Du mußt dich heute auf der Hagelfluh versehen haben.«

»O, gar nicht«, entgegnete sie mit überlegenem Lächeln. »Ich weiß es ganz sicher und heilig, daß er drüben an der Sihl steht. Wißt«, machte sie mit listigen Blinzäuglein, »mein Liebster ist ein rechter Schalk. Ich habe es immer gedacht, er sei nur so zum Schein weggegangen. In Wirklichkeit wartet er mir schon lange auf dem andern Bachufer. Ja, ja, dort in den Erlenstauden, unter jenen hohen weißen Birken wartet er auf mich.«

Mitgenommen vom seherischen, völlig sichern Blick des Mädchens, schauten die Tagner über die Sihl hin.

181 »Nein«, meinten aber jetzt der Langresli, den Kopf samt seinen drei Kröpfen bedenklich schüttelnd, »ich sehe dort, beim Eidhagel, immer noch nichts anderes als den Reiher, der nun allundeintag, seit wir hier werken, dadrüben auf einem Bein steht und ins Wasser guckt.«

Sie lachte auf. »O ihr Einfältigen, ihr Unmerkigen«, rief sie aus, »das ist ihn ja eben, das ist mein Geliebter, so wahr ich lebe!«

»Ja, Bethli, nichts für ungut!« sagte der Gängeli, sein Beil in die herumliegenden Birkenreiser fallen lassend, »aber das haben wir nicht wissen können, daß du nun einen Fischreiher zum Schatz hast; früher, ist's mir, sei dein lustiger Friedel ein wohlgewachsener Geselle aus dem Tiefland gewesen, von . . .«

»O ja, ja«, unterbrach sie ihn glühend, »ein Lediger, angriffig wie ein Luchs und mit einem Handgelenk, das weißer und linder war als Schlagrahm. Aber«, raunte sie ihnen geheimnisträchtig zu, »eines sündigen Schwures wegen ist er dann in einen Reiher verwandelt worden.«

Die Tagner mußten nur so aufhorchen und Augen machen.

Doch als sie nun doch auf die Sihl zu wollte, griff der Gängeli gleich wieder nach ihrem Rock und hielt sie fest. »Hör Bethli«, redete er, »wenn denn dein Liebster wirklich im Reiher steckt, der da über dem Wildwasser steht, so hat er doch, beim Strahl, Flügel. Da kann unsereins nicht begreifen, weswegen er sie nicht schon lange 182 hätte brauchen sollen. Er muß ja faul und verrückt sein, daß er dir nicht schon lange auf die Sonnenhalde und ins Guckauskämmerlein zugeflogen ist.«

»Wißt«, antwortete sie schnell, erregter, den Schelm in ihren Augen mit keinem Blick gewahrend, »als mein Herzallerliebster fortgegangen ist von mir, hat er den Schwur getan, er komme nicht mehr zu mir zurück, bevor ich ihn rufe.« Sie ließ den Kopf sinken und starrte einen Augenblick ins Riedgras hinein. »Es war ein schrecklicher Schwur«, machte sie fast unhörbar, »er fiel, wie jene feurige Kugel, von der die alten Leute erzählen, daß sie einst nachts vom Himmel gefallen sei, in mein Herz hinein.« Aber als sie wieder aufsah, sagte sie ernst: »Er hätte es nicht so leichthin tun sollen, wie ein Büblein, das mit Steinen in ein Wasser wirft, von dem man nicht weiß, ob darin Kröten, blaue Forellen oder gar zutiefst ein Nixlein mit heimweherischen Augen schwimmt. Zur Strafe ist er dann eben in diesen Vogel verwandelt worden, der immer tagein und -aus so nachdenklich am Wasser stehen muß. Ja, da steht er nun und wartet bis ich komme und ihn erlöse. Wohl hat er Flügel, das weiß ich auch, aber obwohl er damit fliegen könnte bis ans Ende der Welt, über dieses wilde Wasser darf er nicht. Sagt, ist das nicht traurig?«

»Allweg«, meinte der Langresl, »besonders wenn einem eine so anmächelige Jungfer wartet, wie du es bist, Bethli. Ich, wenn ich der Reiher wäre . . .«

183 »Ach«, rief sie stöhnend aus, »ich könnte mir die Augen aus dem Kopf kratzen, daß ich's so ewiglange nicht gemerkt habe. Und der Reiher ist doch schon drüben gestanden, als ich mit meinem seligen Großvater noch auf die Hagelfluh gegangen bin.«^

»Ja, das können wir dir schon verargen«, sagte der Langresl, »wir hätten den Reiher da drüben auch nicht für deinen Freier gehalten.«

»Nicht wahr? Aber jetzt ist's höchstmächtige Zeit, daß ich mich beeile, ihn zu erlösen und ihn also in Gottesnamen selber rufe, wie er's hat haben wollen.«

»Ja, Bethli, ja, gewiß, das wäre alles recht und gut«, machte der Gängeli, ihr Gewand noch fester haltend, »obwohl ich's, beim Donner, nicht begreife; aber nun sag mir einmal, wie willst du denn über das bösgewordene Wasser kommen?«

»Heja, heja«, lachte sie auf, »das ist doch ein leichtes. Ich gehe einfach ans Wasser, dann nehme ich einen tüchtigen Anlauf und springe hinüber, in meines Liebsten Arme. Für eine Königstochter ist das doch nichts Besonderes, da hat mir der Großvater in seinen Märlein noch ganz anderes – ach was«, rief sie aus, »wenn ich wollte, könnte ich mitten in den Himmel hineinspringen, denn«, raunte sie den Tagnern zu, »ich kann hexen, aber sagt es ja keiner Seele! Ich hab's dem Großvater abgelernt, der's einst am fränkischen Hofe in der Stadt Paris einem Manne, der Verse machen konnte, ablauschte. Ich weiß aber nicht mehr, wie er geheißen hat.«

184 Plötzlich riß sie dem Gängeli aus und rannte auf die hochgehende Sihl zu. Aber da hatten sie die zwei erschrockenen Tagner doch noch einzuholen vermocht, denn sie war über das offene Wurzelgewinde einer Sumpferle gestrauchelt. Sie wollte sich aber, trotzdem die beiden Hühnerbäuerlein sie fast auf den Knien baten, nicht weiterzugehen, nicht ergeben. Mit Gewalt suchte sie loszukommen, also daß es einen grimmigen Kampf absetzte. Die alternden Tagner hatten die größte Mühe, sich ihrer zu erwehren, sie zurückzuhalten. Sie schwitzten und dämpften und riefen heimlich alle Heiligen zu Hilfe.

»Wie könnt ihr euch denn erfrechen, ihr Lumpenkerle«, schrie sie auf, »mich niederzwingen und meinen Weg versperren zu wollen, mich gar so grob anzupacken! Du bist ja nur meines seligen Großvaters Reiteroberst, du krummbeiniger Nachtbutz, du Buckel!« machte sie zähneknirschend, den Gängeli in den Haaren packend und ihn hinundherläutend. Und als sie der Langresl an beiden Armen faßte und drückte, um seinem argbedrängten Genossen zu helfen, fuhr sie ihn an: »Wie hat denn nur der König von Euland ein solch dreikropfiges Ungeheuer zum Haushofmeister haben wollen! Jetzt laßt mich einmal aus«, fauchte sie, »ihr Knechte, ihr Knechte, oder ich lasse euch beide zuoberst in die Wettertanne auf der Hagelfluh hinanfhängen, daß euch die Raben und die Geier die falschen Augen aushacken. Wartet nur, wartet nur!«

Jetzt hatte sich aber der Bauer von der nahen 185 Sattelhalde her mit seinen zwei Söhnen, auf den Lärm hin, herangemacht. Also gelang es den vereinten Mühen, das rasende Bethli zu bändigen und nach und nach auf die Sonnenhalde zu schleppen.

Sebimaria, ihr Vater, erschrak ins tiefste Herz hinein, als man ihm die Tochter also, zerfetzt und zerzaust, totenbleich und mit Gespensteraugen ins Haus brachte. War denn da wirklich noch etwas vom Lachbethli, das einst mit seiner Überfröhlichkeit die Sonnenhalde, ja das ganze Land festtäglich gestimmt hatte.

»Vater, Vater!« lärmte sie verzweifelt, als man sie in die Stube hineinzerrte, »seht Vater, so springt man hierlands mit einem Königskind um. Helft mir, der Tausendgottswillen!«

Man schaffte sie in ihre Kammer hinauf, in der sie, auf dem Laubsack liegend, endlich in ein wildes Schluchzen ausbrach bis sie nach langem einschlief.

An ihrem Bett kniete das Marieli, der Schwester herabhängende Hand haltend und leise in sich hineinweinend, bis es allmählich zu einem Knäuelchen zusammengehend, ebenfalls einschlummerte und auf den Boden hinsank.

Aber in der Nacht sprang das Bethli aus dem Bett und wollte, fürijo und mordijo schreiend, fort. Der Sonnenhaldenbauer hatte mit seinen Leuten gewaltig zu tun, sie wieder in ihren Guckaus hinaufzubringen.

Es ward dann immer schlimmer und schließlich wußte sich der schwergeplagte und völlig niedergeschlagene Hirte 186 nicht anders mehr zu helfen, als dadurch, daß er ihren Luginsland, ihr Dachkämmerlein, vergittern ließ und sie dort eingesperrt hielt. Aber es ward nicht besser. Sie raste und tobte, daß es im Lande ein gar böses Echo gab und die Leute sich bekreuzten. Tag und Nacht ging's so fort, also, daß man sich zuraunte, wenn's wieder so schaurig von der Sonnenhalde herab jammerte und schrie: »Das narrchtig Bethli kommt wieder ab! Heilige Muttergottes, bitt für uns und erhalte uns den Verstand!« Immer wieder flehte es gar erbärmlich den Vater, das Marieli und auf den Knien sogar die Lunn an, man möge sie doch auf die Hagelfluh gehen lassen. Sie wisse nun ganz sicher, daß ihr Liebster komme. Er sei jetzt nicht mehr verhext, da er ihren guten Willen, ihn zu rufen, habe erkennen können. Aber wenn er auf die Fluh komme und sie dort nicht antreffe, laufe er ihr noch einmal davon.

Endlich, nach einiger Zeit schien sie sich doch zu ergeben. Sie ward ruhiger und zuletzt so still, daß sie der Sonnenhaldenbauer, dem es schier das Herz abwürgte, seine einst so lebenstolle Tochter wie in einem Käfig gefangen halten zu müssen, wieder in die Stube heruntersteigen ließ.

Dort kauerte sie nun den ganzen Tag am Spinnrad, sinnend, grübelnd und in sich hineinmurmelnd. Zuletzt seufzte und stöhnte sie nur noch. Immer war das Marieli um sie und suchte ihr so gut als christenmenschenmöglich zu Gefallen zu leben.

Eines Tages kam der Kapuziner, den der Bauer 187 hatte rufen lassen, ins Haus auf der Sonnenhalde. Er sollte seine Tochter beschwören; denn die Leute im Tal meinten, es könnte ja sein, daß sie am End von einem bösen Geiste besessen und gemartert sei. Wenn's so sei, so würde ihn der Geistliche gewiß auszutreiben verstehen.

Als sie nun, kurz nach des Kapuziners Ankunft, um den Tisch lagerten und zu Mittag aßen, war auch das Bethli da. Doch hielt es nicht mit. Mit stillen, unheimlich blauen Augen schaute es zu, wie man gemeinsam eine Mutte voll Vorbruchmolken auslöffelte. Und wie ihr nun der Kapuziner, seinen Löffel weglegend, gar freundlich, gütig, ja mit großer Wärme zuzusprechen anfing, erhob sie sich mit einem Male. Und die Hände wie zum Gebet im Schoß faltend, sang sie mit reiner, schwermütiger Stimme:

Oh, wäni au vo nümeh wüßt,
Und's niemeh gsächt wie's tagti!
Es isch sä trurig uf dr Wält;
Und woni stoh und wohni goh,
Sän isch mer, 's chäm ä Chilchgang no.

Tru keine bloe Auge nüd!
Sind trogli wie blos Wasser.
Mi meint, dr Himel liggi dri.
I ha mi au driabe glo,
Is gäälig Hellfüür bini cho.

Di bloe Auge, oh, sind schöin,
Wie bloi Schmidtefüürli,
Wo heimli us dä Glüete chönd.
Sie hend eim wie Fyfaltre no
Mit ihrne Fäklene chnistblo. 188

Hend ihr vo änem Vogel köirt,
Wo flüttered i d'Flamme
Und wohluf wider use chunt?
Wär ich där Vogel, wurd nüd froh,
's Füür luf mer bis i Himmel no.

Oh, wäni au kei Sinn meh hett,
Und lyti neime unne!
Oh, wüßti nüd vo Lüt und Wält!
Oh, müeßti nümme 's Dorff usgoh,
I niem'rem, as im Tod verko!

Als sie mit ihrem Lied zu Ende gekommen war, ging sie still, allen freundlich zunickend und den Geistlichen warm ansehend, hinaus und in ihr Kämmerlein hinauf.

In tiefstem Schweigen saßen alle um den Tisch, auf die Türe staunend, durch die das Bethli verschwunden war. Das Marieli hatte ein Hängmäulchen bekommen und fing nun leise zu weinen an. Gleich machten auch der Sebeli und der Bäneli Gesichter, wie die Sonne, wenn sie Wasser zieht und mit einem Male heulten sie drauflos wie die Glocken bei Nachtschadenfeuer. Der Bauer biß die Zähne zusammen; aber auch er hatte die Augen voll Tränen, während die beiden Tagner, der Langresl und Gängeli, die erst verwundert auf das singende Bethli und dann von einem zum andern geglotzt hatten, nun von all der Traurigkeit um sie geduckt, demütig, den Rest der Molken aus der Holzmutte auslöffelten. Lunn, die Magd, aber gab dem Schafhirt des Bauers, der heute von der Sattelalp mit seiner Herde zu Tal gefahren war, eins 189 ans Bein und raunte ihm zu: »Siehst du, Balz, es hat sie wieder!«

Der alte Kapuziner hatte sich erhoben, er versuchte umsonst seine Rührung hinter einem Lächeln zu verbergen und indem er seine Hände auf der Kinder Köpfe legte, ihnen freundlich, väterlich zusprach und allmählich ihren Jammer still machte. Und als jetzt der Bauer aufstand, wandte er sich zu dem und sagte, er wolle nun wieder zu Tal ins Tiefland und in sein Kloster wandern. Was er da gesehen habe, lasse sich durch keine Beschwörungen wegtun; Hexenwerk sei da auch nicht im Spiel. Das Bethli, das eben kein Hackbrett, wohl aber eine feinbesaitete Laute sei, habe Schweres erlebt, sein Herz sei eben krank. Er wolle für sie beten. Man solle sie nur ruhig ihren Weg ziehen und auf die Hagelfluh gehen lassen, ihren Liebsten zu erwarten. Er hoffe zu Gott, es bessere ihr doch wieder, wenn sie ungestört ihren Gedanken nachleben und ihren Gang ungehindert machen könne. Sie sei jetzt freilich verworrener als ein verknäueltes Garn, aber der Schöpfer, der die starke Hand habe, auf der er die Welt trage, habe auch die feinen Finger des Christkindes, das auch das verwickeltste Gespinst zu lösen vermöge. »Habt nur Geduld mit dem armen Geschöpf, viel Geduld, immer Geduld! Die Geduld ist ein Schlüssel, mit dem schon die schwersten Tore und gewiß und heilig auch die Himmelspforte aufgetan worden sind.«

Alsdann verließ der Kapuziner die Sonnenhalde.

190 Von diesem Tage an ließ man das narrchtige Bethli, wie man im Tale Sebimarias Tochter nannte, nach ihrem Belieben schalten und walten.

So machte sie denn, sorgfältiger geschmückt als jemals, ihren Umgang nach der Hagelfluh, völlig offen durchs Tal. An ihren blassen Wangen aber flimmerte und glitzerte das Ohrgehänge ihres Großvaters, die Ringe mit den kleinen goldenen Kugeln.

Das erstemal begleiteten sie das Marieli und ihre Brüderchen. Sie hatte ihnen allerlei Gefäße, Körblein und Eimer, mit Steinen aus des Alten Kammer angefüllt. Diese nun verteilte sie im Tal unter die Leute, die um den Weg waren. Einer armen Witwe legte sie die gewichtigsten Steine, die sie mithatten, eigenhändig auf die Schwelle ihrer windschiefen Hütte. »Ihr müßt mir's nicht für ungut nehmen«, sagte sie dabei zu ihren kleinen Geschwistern, »aber ich mag und darf die Schätze, die der Ahne uns angesammelt hat, nicht behalten. Ich will nun machen, daß es keine armen Leute mehr im Lande gibt; denn die Armut ist wie ein Sträuchlein, das im leeren trockenen Sand steht: jeder Wind kann ihm weh tun.«

Die Leute, die das alles sahen und vernahmen, verwunderten sich darüber. Sie wußten nicht recht, ob das nun mehr zum Lachen oder zum Weinen sei.

Aber die Kinder des Tales gesellten sich dem narrchtigen Bethli nicht mehr so zahlreich zu wie einst ihrem Großvater; denn an die Königstochter wollten sie nicht 191 glauben. Nur noch des Holzschuhmachers Trutli und das Kind des Hornputzers, das Wiseli, begleiteten sie, wenn auch mit scheuen, geschämigen Augen und der Hund ihres zu Tal gekommenen Schafhirten, der das still dahin wandernde Grüpplein in einem fort sorglich umkreiste, als gedächte er es, wie die Schafherde auf der Alp, vor den Wölfen zu behüten.

Das nächstemal wollte das Bethli niemand mehr mit sich haben. Sie verlangte durchaus, allein auf die Hagelfluh zu gehen. So ließ sie Sebimaria, ihr Vater, bekümmerten Herzens ziehen. Es herbstete sehr. Die Bergkirschenbäume hatten ihre goldhellen Krausköpfe nicht mehr. Welkes Laub trieb im kalten Nordwind durchs Land und mit ihm abziehende Geier, Adler und Falken. Der Bauer schaute, solang er's vermochte, vom Hochrain ob dem Haus seiner Tochter nach und das Marieli folgte ihr heimlich. Doch im Tal ward es von Bethli gesehen, als es, hinter einer Scheiterbeige am Weg ihr nachguckend, sich nicht rasch genug zu verbergen vermochte. Mit guten Worten aber bestimmt, schickte sie das weinende Kind heim.

Aber am Abend, in tiefer Dämmerung, kehrte das Bethli still und ohne jemand anzusehen, durchs Tal auf die Sonnenhalde zurück.

Bis der Wintermonat den ersten Schnee über die Berge gehen ließ, bis davon die Grattannen der Schräh, des Hummels und des Heitligeers aufstanden wie weiße 192 Haarborsten, ging nun des Sebimarias Tochter jeden Sonnabend ganz allein auf die Hagelfluh.

Da kam eines Nachmittags, als alles schon steinpickelhart gefroren war, ein Bursche bedächtigen Schrittes über das steinplattenbelegte Weglein gen das Sonnenhaldenhaus heraufgestiegen.

Der Bauer Sebimaria, der eben seinen dunkelbraunen Stier im Brunnen vor dem Stall saufen ließ, hatte ihn schon seit einer Weile bemerkt. Es wunderte ihn, was ihm um diese vorwinterliche Zeit wohl noch Fremdes zu Gast kommen möchte. Aber jetzt erkannte er den Wanderer. Es packte ihn am Herzen; einen Jauchzer hätte er in alle Himmel hinein tun mögen. Da stieg ja wahrhaftig sein voriger Knecht, der Vitus Wiler, das Fußweglein herauf. So hatte es diesen im st. gallischen Tiefland doch nicht länger mehr gelitten. Lang atmete er auf; da kam ja der Hexenmeister, der allein seine Tochter noch retten konnte. Gott hatte sein Gewissen geweckt, Gott mußte ihn gesandt haben. Da ward ja wohl das Licht wieder zurückgebracht, das dem Bethli eines Tages weggekommen war.

So geschwind als tunlich, mit rotem Kopf, stallte er seinen Stier wieder, alsdann schritt er langsam, mit einem langen beobachtenden Blick aufs Haus, indem sich jedoch nichts regte, dem herankommenden Burschen entgegen.

Und als sie zusammentrafen, bewillkommnete er ihn so herzlich als es seiner schlichten Art möglich war. 193 Kräftig drückte er die dargebotene Hand und dem Besucher warm und offen in die Augen schauend, fragte er, was ihn denn so spät im Jahr noch ins Hochland und gar auf die Sonnenhalde treibe. Ob er vielleicht doch einwenig Heimweh nach dem Bethli bekommen habe.

»Ja, Sebimaria«, antwortete Vitus, rot und etwas verlegen, »ja, bei Gott, es ist wahr, ich will's grad frei bekennen, das Heimweh nach dem Bethli hat mir keine Ruhe mehr gelassen, es hat mich wieder dahinauf zurückgebracht.«

»Bursche«, machte jetzt aber, zudunkelnd, der völlig grau gewordene Bauer, »es will mich bedünken, es sei doch recht lange gegangen, bis du den Rückweg auf die Sonnenhalde gefunden hast. So besonders muß sich das Heimweh mit dir wohl nicht angestrengt haben. Es wäre für mein Kind und uns alle wohl besser gewesen, du hättest dich zeitiger auf das, was sich gehört, besonnen und wärest also schon früher gekommen. Ich kann es dir ja sagen, du bist hier nicht vergessen worden und eine ist in meiner Hofstatt, die dich immer erwartet hat und die um dich viel Herzklopfen, vielzuviel sag ich dir, hat haben müssen.«

Der junge Bauer senkte ein wenig den Kopf und schritt schweigend neben dem Hirten her. »Sebimaria«, sagte er aber dann, ohne den ernsten Mann neben sich anzusehen, »es ist halt so, daß ich immer gemeint habe, das Lachbethli lasse mir Kundschaft zukommen, ob es mich 194 leiden möge, ob es mich erwarte. Als nun den ganzen langen Sommer hindurch kein Wort, nicht einmal ein Gruß, den Weg zu mir hat finden wollen, obwohl ja ein Bauer aus unserer Gegend zwei Kühe auf euerm Senten gekauft hat, ist's mir immer schwerer geworden und zuletzt habe ich gefürchtet, sie könnte mich ganz vergessen haben.«

»Vitus«, gab der Bauer zurück, »da hättest du noch lange warten können, wenn du dir einbildest, meine Tochter ließe dich bei gesunden Sinnen rufen. Das ist nicht unsere Art, gar nicht. Du hättest das ja wohl wissen können, wenn du die Augen offen gehabt hättest, als du bei uns warst, wenn deine Gedanken der Sonnenhalde und ihren Leuten genugsam nachgegangen wären. Ja, und wenn du das Bethli so lieb hättest, wie's ein solches Maitli verdient. Aber vergessen«, machte er weniger tiefsinnig, »nein, Bursch, das bist du gewiß nicht und froh bin ich, daß du endlich doch noch und ungerufen, gekommen bist. Zwar, vielleicht«, kam's zögernder, »das muß dir jetzt gleich auch noch gesagt sein, vielleicht bist du doch zu spät, denn, schau, das Bethli ist seit ihres Großvaters Tod immer schwerblütiger geworden und nun ist's nicht mehr ganz richtig im Kopf.«

Der Sonnenhaldenbauer sah Vitus seitlings scharf, forschend an, doch nichts veränderte sich an diesem; mit keiner Wimper zuckte er. »Sebimaria«, begann er zu reden, »das weiß ich alles schon und obwohl ich gewiß 195 auch sonst dahinauf gekommen wäre, ist doch das schuld, daß ich mich bälder auf die Beine gemacht habe.«

Der Hirte sah ihn verwundert an.

»Ja, ihr müßt euch nicht verwundern. Es ist vor kurzem ein Kapuziner zu uns auf den Hof gekommen; der hat uns alles erzählt, was da bei euch gegangen ist und wie das Bethli immer noch auf ihren Liebsten warte und wie sie nun sogar auf der Hagelfluh alleweil nach ihm ausschaue, grad wie vorher ihr Großvater, der sich für einen König gehalten hat.«

»Ja, das alles ist wahr«, machte ziemlich mißmutig, aber doch innerlich befreiter, ja erlöst, der Bauer. »Alle Sonnabende ist sie, bis vor einer Woche, auf die Hagelfluh gegangen, um auf ihren Liebsten zu warten. Aber als nun der Frost und der Winter ins Land gekommen sind, haben wir sie doch mit Bitten und Beten zurückzuhalten vermocht. Es ist mir aber immer, sie könnte uns hinterrücks doch, Winter hin, Winter her, einmal auf die Fluh davongehen; denn, beim Strahl, das kann ich wohl sagen: ihr Heimweh nach dem Liebsten hat nicht abgenommen, gar nicht. Es ist eben mit dieser Art Heimweh bei uns andern daoben in dieser rauhen Welt, wie mit den Alpenrosenstauden auf den Felsennasen: je verfluchter der Sturm über sie kommt, desto zäher klammern sie sich an und desto stärker werden sie.«

»Nun denn, gottlob«, sagte der Bursche, erfreut, auch einwenig stolz, den Kopf hebend: »Jetzt kann ja wohl 196 alles noch gut werden; denn ich habe das Bethli gern, vielleicht lieber als ich's selber gewußt habe. Es ist mir, das Leben täte mich ohne sie nie mehr recht freuen. Ich hätte wohl nicht von ihr gehen sollen, aber«, ein trotziger, fast verbissener Zug war um seinen Mund, »wißt, Sebimaria, ich habe es halt nicht verstehen können, wie man einen Verlobten so verächtlich behandeln und ihn gar einen Narren und Torenbub schelten kann.«

Der Bauer schaute ihn fast düster an, dann redete er dumpf: »Du hättest sie verstanden, Bursche, wenn du sie so lieb gehabt hättest, wie sie dich.«

Vitus Wiler antwortete nicht. Sie standen jetzt vor dem Sonnenhaldenhaus. Um den Brunnen hockten die Kinder, der Sebeli, der Bäneli, das Trutli und das Wiseli und schauten der grauen Katze zu, die vor dem Trog, zu ihren Füßen, ein Mäuslein totspielte. Sie waren so gefesselt von dem grausamen Spiel und so vergnügt dabei, daß sie die zwei Männer nicht einmal in acht nahmen, die mit schweren Schritten übers krachende Vortrepplein hinauf und übers Stiegenbrücklein hinweg, ins Haus hineingingen.

Aber in der offenen Stubentüre blieb Vitus, fast zaghaft geworden, stehen.

Sebimarias Tochter, das Bethli, saß am Spinnrad, mit dem Rücken gegen die Türe. Sie spann eilfertig drauflos; das Füßlein ging ihr wie verhext. Im wirren, etwas krausen Haar trug sie einen Stachelpalmenkranz, 197 dessen feuerrote Beeren aus der Dämmerung herausleuchteten. Eben netzte sie den Reistenfaden an, ein wenig den Kopf neigend, wovon die kleinen goldenen Kugeln, die im roten Schimmer ihrer Wangen hingen, in ein zitterndes Glitzern kamen. Zu der Spinnerin Füßen lagerte das Marieli, das drei in seinem Schoße spielende junge Kätzchen liebkoste. Auf dem obern Umgang des großen grünen Kachelofens aber sah der Bursche die Krone stehen, die der König von Euland getragen hatte. Sie war rot wie Feuer, denn der obere Teil des Ofens war noch von der untergehenden Sonne beschienen.

Vitus Wiler überflog das alles wie im Traum. Und war es denn nicht ein Traum? Ängstlich hasteten seine Augen wieder nach der Spinnerin. Nein, o nein, da saß ja das schöne Lachbethli und spann. Es spann und es war ihm, er sei nie recht von ihm gegangen, nur so schnell hinüber in den Stall. Da saß sie, die ihm doch keine Ruhe gelassen hatte; mit der Hand konnte er sie erlangen. Und sie schien noch schöner, zarter, ein wenig blasser freilich, fast durchsichtig geworden zu sein. Sein Herz frohlockte.

»Bethli!«

Die Spinnerin hob den binsenroten Kopf und schaute verwundert auf den Burschen an der Türe.

Aber das Marieli war aufgeschossen und die Kätzlein fallen lassend, schrie es jubelnd auf: »Der Vitus, unser Vitus!«

198 Blutrot, bolzgrad dastehend, sah es mit leuchtenden Augen an dem Burschen hinauf.

Doch der schritt auf das Spinnrad zu. »Bethli«, fragte er mit bebender Stimme, »Bethli, kennst du mich denn nicht mehr?«

Starr, fast ängstlich, schaute der Sonnenhaldenbauer, der immer noch in der Türe stand, auf seine Tochter.

»Bethli, Bethli!« Gar warm kam's aus des Burschen Mund.

Die Spinnerin schaute schweigend zu ihm auf, immer aufmerksamer. Und endlich sagte sie, ihn freundlich anlächelnd, ohne aber den Reistenfaden aus den Händen zu geben. »Ja, willkommen bei uns! Ja, ich meine dich zu kennen. Heja, du gleichst ganz einem Knecht, der einst vor langer, langer Zeit bei meinem Vater gedient hat.«

»Ja, ja«, machte er hastig, überlaut, in eine große Enttäuschung erwachend, aufgeschreckt, »ja, Bethli, ich bin der Vitus und den ganzen letzten Winter hindurch Sebimarias, deines Vaters Lehrjunge und Knecht gewesen, da auf der Sonnenhalde. Da, Bethli, Bethli, mußt du ja auch wissen, daß dieser Knecht dein Schatz ist vor Gott und Welt.«

Verwundert, ja hocherstaunt, schaute sie zu ihm auf; die kleinen goldenen Kugeln an ihren Ohren kamen in eine flimmernde Unruhe. »Du mein Schatz, du?« Sie lachte heraus, hellauf, die Welt vergoldend, wie es Vitus 199 Wiler in seinen besten Zeiten, mit ihr selbander hinterm Ofen, nie jubelnder gehört hatte. Ja, das war ja das Lachen wieder, das einst sein Herz ins Tanzen gebracht hatte. Es überflutete ihn heiß, es betäubte ihn fast.

»Heja, allweg, kann ich mich deiner erinnern. Ich weiß wohl, was für ein guter, wackerer Knecht du uns gewesen bist. Mein Vater hat oft gesagt, das was man dich tun hieße, das tuest du, da wo man dich hinstelle, da stehest du trotz einer Bachwuhr. Aber so weit«, ihre Lippen hoben sich für einen Augenblick eigentümlich, »ja, braucht meines Vaters Knecht seinen Witz nicht zu treiben, daß er sich für meinen Schatz ausgibt. Aber eben, du spaßest ja, ein rechter Schalksnarr bist du; denn du weißt es ja auch, daß ein Gockel kein Falke, nicht einmal ein Sperber ist. Mein Bursche, ich habe aber immer nur einen Falken geliebt und auch immer nur von einem Falken geliebt werden können. Denn, mußt du wissen, ein Falke kann die Wildtaube von der Krähe unterscheiden, auch wenn er himmelhoch über ihr kreist. So wirst du's ja wohl verstehen, daß mein Geliebter, der mir am nächsten Sonnabend ganz gewiß zurückkehrt, ein Königssohn ist. Dich aber, Vitus«, sie lächelte jetzt wie die Sonne um Martini, »dich kann ich mir doch nicht anders vorstellen, als mit einer Mistgabel oder mit der Hacke in den Fäusten und einem langweiligen, bösen Gesicht, das die Kinder und die Hühner zu den Haberäckern hinausscheucht. Sowieso«, sie stand auf, »nichts für ungut, Vitus, aber«, ein weher 200 Zug war um ihre Augen, »siehst du, ich kann dich nicht länger ansehen, denn es tut mir weh im Herzen, wenn ich dich anschaue. Ich weiß aber wohl genug, was es sein könnte. Ja, ja, es ist, weil du meinem Königssohn gleichst und doch nur ein Knecht bist. Es schmerzt mich, Geselle«, ihre Augen wurden schwermütig, charfreitagdüster, schwarzblau wie ein winterlicher Himmel gen Norden nach Sonnenuntergang, »es tut mir weh, sag' ich dir, daß ein Knecht es wagt, in der Maske meines edlen, lieben Herrn im Land herum zu wandern und gar zu mir heraufzusteigen. Nein, ich kann dich nicht mehr ansehen.« Und den Finger warnend aufhebend, sagte sie zu dem immer noch, nun stumm, unglücklich an der Türe stehenden Bauern: »Vater, wenn ihr mich wirklich lieb habt, so stellt diesen Fremdling nicht wieder als Knecht an, denn wißt, einst hat er mich mit der Zinke seiner Hacke ins Auge gestochen und deswegen war's, daß ich dann für lange Zeit geblendet ward! Hätten mich nicht die drei weißen Frauen in der Ahornweid gesund gehext, wäre ich's heute noch. Er hat es freilich nicht tun wollen, Vater, aber er hat es halt doch getan. Gute Nacht miteinander!«

Hochaufgerichtet, königlichen Schrittes, ging sie, das Weihwasser nehmend, zur Stube hinaus, die Türe offen lassend.

»Bethli, Lachbethli, wohin gehst du? Was gehst du von mir weg?! Komm, schau mich doch nur recht an! Gewiß bin ich's, ich bin's ja, der Vitus!«

201 »Ja«, kam's von der Stiege herab, »du warst unser Knecht, ich weiß es wohl. Und siehst du, wenn du nun bald wieder gehst und dich nie mehr bei uns erblicken lassest, so will ich dich bei meinem Herzallerliebsten, dem treuesten Königssohn der Welt, nicht verklagen. Aber geh, Gesell, geh bald! Falls er nächsten Sonnabend kommt und du noch herum bist, muß ich's ihm gewiß und heilig sagen, schau, daß mir die Augen weh tun bis in die Wurzeln im Herzen hinab, wenn ich dich ansehe. Dann aber, nimm dich in acht, dann stehe ich dir für nichts. Drum mach dich fort, Knecht, mach dich fort!«

Vitus Wiler war völlig niedergeworfen. Er hätte gerne noch etwas in den Gang hinauf rufen mögen; er fand keine Worte, keinen Laut mehr. Oben im Hause aber vergingen die Schritte.

Da sank der Bursche auf eine Stabelle. Da lag er nun über den Tisch, den Kopf in den Armen verbergend und schluchzte vor sich hin. Und das Marieli stand, seine drei Kätzlein wieder im Schoß tragend, bei ihm und weinte mit ihm von ganzem Herzen.

Jetzt höckte sich Sebimaria zu ihm an den Tisch und sah schweigend in den sinkenden Tag hinaus. Er wollte den Sturm in seinem Gast vertoben lassen. Alsdann gedachte er ihn zu trösten und aufzurichten. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren, nach und nach vielleicht, wird das Bethli doch wieder dazukommen, ihren einstigen Freund ganz zu erkennen und ihm in die Arme zu sinken.

202 Und Vitus Wiler ließ sich leicht halten, er blieb. Er blieb eine Woche lang auf der Sonnenhalde, er blieb bis tief in den Winter hinein, bis die Kinder die weißen Frauen in der Ahornweid am hellen heitern Tag als Schneewirbelchen umgehen sahen und bis das Sturmhorn des Wildmanns von Tuliwald her durch die Täler der Minster, der stillen Sihl und des Eubachs, durchs ganze Euland ging. Aber das Bethli blieb in ihrem Guckauskämmerlein. Nicht ein einziges Mal stieg sie in die Stube herunter und totenstill ward das Kämmerlein, wenn Vitus mit dem schluchzenden Marieli davor stand und beide bei ihr flehentlich anhielten und sie bei allen Heiligen beschworen, ihnen doch aufzumachen oder endlich einmal herunterzukommen. Nur der Lunn tat sie im Zunachten immer die Türe halbwegs auf, nahm ihr rasch ihr Muttlein Habermus oder Molken ab und schloß sich wieder ein.

Als man ihr aber immer mehr zusetzte, als der Sonnenhaldenbauer gar drohte, sie auszuhungern, wenn sie nicht Vernunft annehme und herabkomme, ward sie unruhiger, laut. Sie rief ins Land hinab um Hilfe. Man reiße sie an der Seele Tag und Nacht herum. Die weißen Frauen in der Ahornweid können es wissen, wie man jetzt mit den Königskindern umgehe, da sie ihr ja ins Fenster sehen. »Hört, hört, hört!« lärmte sie in einer mondheitern Nacht in die verschneite Hochwelt hinaus, »hört ihr Echos allenthalben und fangt es auf in euern 203 goldenen Näpfen und bringt's zu meinem Ahnen, dem König, der die Krone auf der Hirthemdkapuze trägt, daß schon seit langem ein Knecht im Hause auf der Sonnenhalde sei, der mich meinem Liebsten untreu machen und rauben wolle. Und o Trug und Falschheit! Er hat sich hiefür verhexen und meines lieben Königssohns Augen nachmachen lassen. Aber obwohl sie mich bis ins Herz hinein brennen, habe ich's dennoch gemerkt, daß es nicht die richtigen sind. Des Großvaters Ohrenringe, müßt ihr wissen, haben mich goldsichtig gemacht. Wie kann man sich da erfrechen, mir Glimmer für Gold bringen zu wollen! Nun, da ich diesen Knecht von mir gewiesen habe, will man mir Gewalt antun, helft, eilt, erzählt's, ihr lieben verwunschenen Echos! Eilt hinauf zum Urahnen im Gespensterhaus auf der Schräh und erzählt es ihm!«

Da gab es Sebimaria, der von der Rückkehr Vitus Wilers so vieles, ja alles Gute gehofft hatte, auf. Aber auch der Bursche aus dem St. Gallischen wollte nicht länger warten. Eines Wintermorgens stieg er, auf das Gebot des Sennen Sebimaria Ruhstaller begleitet von den Tagnern Langresl und Gängeli und dem Schafhirten, zwischen den haghohen Schneewänden des Fußwegleins hinab, hängenden Kopfes, traurig, beschämt, in der gleichen Sonne, die ihn vor kurzem so zukunftssicher, freudvoll hatte heraufkommen sehen.

Der Sebeli und der Bäneli winkten und schrien ihm zu, bis sie ihn nicht mehr sahen. Das Marieli aber ging 204 ihm heimlich, weinend nach. Sah er zurück, und er tat es oft, so verschwand es blitzgeschwind hinter den Schneewehen des Fußsteigs. Als er jedoch ins Tal kam, blieb es hinter einem tiefverschneiten Hag stehen und sein frostrotes Gesicht und sein flachsfarbenes Schöpflein schauten drüber hinweg dem Vitus nach bis er mit seinen Begleitern um die Hagelfluh verschwand.

Am Abend des gleichen Tages saß das Bethli wieder still an seinem Spinnrad und gar summte sie ein Liedchen vor sich hin. Und als man zu Nacht gegessen hatte, stieg sie auf den Ofen und nahm des Großvaters Krone vom obern Umgang, auf den sie sich niederließ. Und als sie die Krone nun auf dem Kranze ihrer braunen, rötlich schimmernden Zöpfe hatte, redete sie: »Was sagt ihr, Vater, gefalle ich euch so?«

Aus tiefer Schwermut heraus kam's freundlich vom Tisch: »Jawohl, allweg Bethli, gefällst du mir. Du gefällst mir ja immer.«

»Ja, Schwester«, rief das Marieli aus, »du bist wie eine Königin!«

»Hört Ihr's, Vater? Wie sollte ich da nicht auf einen Königssohn warten.«

»Freilich, jawohl«, machte herzlich der Bauer, »warte nur, Bethli, warte, es kann schon noch einer kommen.«

»Ach Vater«, meinte die Tochter, die Krone wieder auf den Umgang abstellend und sich vom Ofen machend, »seht, es wäre jetzt so schön hell draußen, da ist's mir, 205 könnte man heute so weit ausschauen; denn im Winter sieht man ja, wie ihr auch wißt, noch einmal so weit als sonst. Deswegen, Vater hört, möchte ich heute wieder einmal auf die Hagelfluh gehen. Der Mond scheint ja über die ganze Welt hinaus, und gewiß und heilig wäre ich bald wieder zurück.«

Der Sebimaria ließ das graue Haupt sinken. Aber sich straffend, sagte er bedrückt: »Bethli, schau, du mußt dich noch ein Zeitchen gedulden. Warte noch bis der Winter im Abzug ist. Es liegt heute der Schnee über alle Hecken hinaus. Ein weißeres Gesicht hat die Welt noch nie gemacht und ein kälteres. Wie sollte ich dich da gehen lassen dürfen. Du könntest dich verirren und uns also umkommen. Auch wagen sich die Wölfe immer weiter zu Tal. Bethli, sei gut, sei lieb! Schau, bald muß die Sonne wieder höher hinauf. Unser lieber Landesheilige St. Meinrad wegt ihr ja schon an und bevor wir's denken, im Hui, Bethli, ist's über alle Höhen hinaus tauwindig und Frühling. Dann, ja dann magst du, in Gottesnamen, wieder auf die Hagelfluh gehen und auf deinen Liebsten warten.«

»Nicht, Vater, nicht?«

Der Hirte schüttelte den Kopf. Er erhob sich und ging schweren Schrittes hinaus, um die Tränen zu verbergen, von denen er die Augen voll hatte.

Schweigend, zudunkelnd, hatte sich das Bethli ans Spinnrad gesetzt. Nein, nun spann sie doch nicht. Sie 206 beachtete auch das Marieli und die kleinen Brüder kaum, die einen Ringelreihen um die nun mitten in der Stube stehende Zeine, in der die graue Katze mit ihren drei Jungen lag, tanzten, um ihre große Schwester etwas aufzuheitern. Aber ihre Augen gingen immer wieder in die zunehmende Dämmerung hinaus, über die verschneiten Weiden.

Es mochte gen Mitternacht gehen, als das Marieli in der Elternkammer erwachte. Es richtete sich lauschend auf. War denn da nicht jemand die Stiege heruntergegangen? Es war doch hin und wieder in einem der morschen Tritte ein Ächzen gewesen und einmal hatte gewiß etwas die Türe gestreift.

Es horchte mit Ohr und Auge. Nein, nichts war zu hören, als das einschläfernde Rauschen des vereisenden Eubachs, das Bellen eines Fuchses, der sich wohl in dieser grimmig kalten, mondhellen Nacht um die Hofstatt schlich. Nur aus den Wäldern und Flühen der Bärlaui und der Krummfluh herab kam das Heulen der hungrigen Wölfe.

Da wollten dem Marieli die Augen wieder zugehen. Es sank in sein Laubnest zurück und verschloff sich unter der schweren Bettdecke. Es wird ja wohl die graue Katze gewesen sein, dachte es im Einschlummern; sie tollt gewiß mit ihren Jungen im Stiegenhaus herum.

Am Morgen, die Sonne lag noch in ihrem Nebelbett und nur ein paar ihrer goldenen Strähnen hingen wie windverweht über den Aubrig hinein, stampften ein 207 Trüpplein Euthaler Holzschröter, mit Axt und Säge auf dem Rücken, die Windbruchweid hinauf zu Wald. Es war ein mühseliges Aufsteigen durch den hohen Schnee.

Als sie nun in die Nähe der Hagelfluh kamen, sahen sie zu ihrer Überraschung auf der kleinen Bank unter der Wettertanne jemand sitzen. »Heja«, sagte Bläsi, der Holzschuhmacher, der auch mit den Schrötern ging, »es ist mir, man werde da nicht lange dran herumraten und werweisen müssen, wer dort im Schnee auf dem Bänklein hockt. Es ist gewiß das wunderliche Maitli ab der Sonnenhalde, das Bethli.«

Ja, das meinten sie alle. Wie aber mochte es gekommen sein, daß des Sebimarias Tochter schon am frühen Morgen und gar bei diesem haghohen Schnee da drüben auf der eiskalten, zügigen Fluh saß?

Einer aus den Holzern jauchzte auf, daß es von Berg und Tal widerhallte.

Nichts regte sich auf der Hagelfluh.

»Bethli, Lachbethli!« lärmte der Bläsi.

Es blieb alles still.

Da ward es den Holzern unheimlich. Sie stapften, so rasch es sich etwa durch die mehligen Schneewehen tun ließ, zur Hagelfluh hinüber.

Sie fanden das Bethli ab der Sonnenhalde. Sie saß im Schnee, wie in einem wunderfeinen Polster, auf der kleinen Bank, an die Wettertanne angelehnt, deren schwerbeladenes Geäst tief herablampte. Und es war, als hätte sie der Herr aus einer roten Rose in eine weiße verwandelt. Ihre Hände lagen im Schoß und aus den steifen Fingern hingen, in der kommenden Sonne funkelnd, die kleinen goldenen Kugeln ihrer Ohrenringe. Auf ihrem bereiften Scheitel hatte sie den Stachelpalmenkranz mit den brennendroten Beeren. Die erloschenen Augen aber staunten über das Tal hinaus in die blaue Ferne.

 


 


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