Meinrad Lienert
Der König von Euland
Meinrad Lienert

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II.

Vorfrühling. Aber schon standen die noch kahlen Ahorne und Bergkirschenbäume an der Sonnenhalde auf einem dichten, fast dunkeln Rasen und das Euthal war sonnenseitig ein frohgrünes Leuchten, während die umliegende Landschaft der Sihl, bis zu den weißen Ibergeralpen, noch ihr braunes Herbstgewand anhatten.

Vor dem hochgiebligen Hause auf der Sonnenhalde, auf dem morschen Brunnentrog, hockte das Bethli und strählte, ins spiegellautere Wasser sehend, seine braunen, binsenrot schimmernden Haare, die ihm eigenwillig, fast ungeberdig, um den Kopf hingen. Seine Augen blickten heut sehr verdrossen, ja, sie glichen ruhelosen blauen Schmiedefeuerlein, in denen man die Schwerter glüht und härtet.

Das kämmende Mädchen war umstanden von einem Schärlein Kinder, die seinem Tun aufmerksam zuschauten. In den Händen trugen alle rotscheinige Seidelbaststäudlein, von denen es um den Brunnen wundersam duftete.

»Bethli!«

Die Angerufene schaute rasch ans Haus hinauf.

Lunn, die Magd stand an einem Fenster.

»Ja, was hast du denn wieder, Zwängerin?« kam's verdrossen vom Brunnen.

28 »He, 'sdonners, was schnörzest du mich denn so an?« brummte es im Fenster. »Ich vermag mich nichts, daß du mit dem Großvater gehen mußt. Hab dir nur sagen wollen, daß er nun gleich herabkommen wird. Er läßt sich vom Sebeli und vom Bäneli nur noch die Bundschuhe anziehen.«

»Jaha, befleiß dich mit deiner Kämmerei,« sagte jetzt eine ernsthaft schreitende Männerstimme aus dem Ausguck des Stiegenbrückleins, »der Großvater kann jeden Augenblick unten sein.« Sebimaria, der Sonnenhaldenbauer, stand im halbmondförmigen Auslug. »Und daß du recht mit ihm bist, Maitli, du unruhiger Geist! Man sollte dir das eigentlich nicht noch besonders andingen müssen.«

»Ach, der Kuckuck«, machte das Bethli, »ich wollte, ich hockte oben in der Krummfluh hinterm Heitligeer und könnte das Echo ablösen. Es sollte mich gewiß kein Mensch mehr auffinden.«

»Er kommt, mach, mach!« rief nun die Magd wieder aus einem Fenster.

»Ich kann's und kann's nicht mehr tun!« schrie das Bethli auf. »Jetzt bin ich schon fast zwanzig Jahre alt und immer wieder soll ich, wie diese Laufhühnchen, die Springmaiteli da, den Umgang mit dem Großvater durchs Land machen. Es lachen mich ja hinterrücks gewiß alle Leute aus. So ein aufgeschossener Mensch, werden sie denken, und tut noch wie ein Kind. Ich bin aber schon lange kein Kind mehr!« Trotzig schaute sie zum Stiegenbrücklein auf.

29 »Allweg, Bethli, bist du noch ein Kind, durch und durch ein Kindskopf«, sagte der Bauer, »sonst würdest du dich nicht wegen etwas schämen, das doch allen Leuten im Tal Freude macht. Wie kannst du denn so gegen den Großvater sein? Er hat dich ja so lieb.«

»Und mehr als du's verdienst«, redete jetzt die Magd, die, wie um und um geschwollen, immer noch im Fenster stand. »Du machst ihm Verdruß haufensgenug mit deiner Hinterhältigkeit und deinen Schalkereien.«

»Das geht dich nichts an, du Babitotsch!« kam's bös vom Brunnen. »Du bist nicht meine Mutter, obwohl du's«, sie lachte kurz auf, »altershalber ganz wohl sein könntest.«

Die Lunn begann zu brummen, wie eine Hummel, die irgendwo angerannt ist.

»Maitli«, rief halblaut der Bauer, »wie tust du denn heute wieder! Ich komme immer weniger aus dir. So ein Maul zu haben ist sonst nicht deine Art. Immer wilder und wunderlicher wirst du. Und doch nennt man dich landum das Lachbethli. Uns aber machst du die letzte Zeit immer den Kopf und lassest deine Launen an uns aus. Was muß da«, der Senn sah forschend gegen den Stall hin, »der Vitus denken, dein Liebster.«

Das Bethli hatte seinen Kamm auf den frischgrünen Rasen fallen lassen und darnach eines der umstehenden Kinder zu sich auf den Trog gezogen. Mit zärtlicher, fast zitternder Hand fuhr sie ihm über den Scheitel. »Der 30 Vitus, mein Liebster«, redete sie jetzt nachdenklich vor sich hin, »ist er denn mein Liebster und hat er mich denn lieb? Weiß so ein Vitus, was liebhaben heißt?«

Die Lunn oben im Fenster, die ihr Selbstgespräch gehört haben mochte, brach in ein polterndes Gelächter aus.

»Lach nicht so dumm!« schnellte es vom Brunnen zu ihr hinauf. »Nein, nein, nein, nie und nimmermehr würde ich diese Narreteien mitmachen, täte ich's nicht dem Vitus zulieb. Nur weil er's noch haben will, tu ich's, sonst, ich sag's euch Vater«, sie sah flammend zum Stiegenbrücklein auf, »sonst liefe ich lieber davon, soweit mich die Beine trügen. Ich kann's, ich kann's nicht mehr! Die vielen Augen im Land, die alle durch einen hindurchgehen, die Leute, die sich totlachen wollen, daß ich, so ein Maitli, ein Geschöpf, das unter Kühen und Geißen aufgewachsen ist, die Königstochter spiele.«

»Aber Bethli, es ist ja nur zum Schein«, meinte Vitus Wiler, der Knecht, der jetzt, den überschäumenden Milcheimer in der Faust, vom Stall hergekommen war.

»Eben, du törichter Vitus«, redete sie ihm entgegen, »das ärgert mich ja, daß es nur Schein ist. Wäre es Wahrheit, ich wollte euch schon das Königstöchterlein zeigen, so gut als eine. Alsdann müßtest du mir ganz anders hofen, mein Bursche.« Sie lachte toll auf, doch gleich wieder sagte sie mit ernsten Augen: »Einmal, letztes Jahr, nach so einem Umzug mit dem Großvater am Sonnabend, ist's mir ganz wunderlich geworden, wie ich so durch's Tal 31 gezogen bin. Da habe ich mich, beim Strahl, eine Weile für ein wirkliches Königskind gehalten. Danach habe ich die ganze Nacht davon geträumt, wie ich eine Königstochter sei. Und als ich erwacht bin, ist's eine Weile gegangen, bis ich's geglaubt habe, daß ich nicht in einem vergoldeten Himmelbett, sondern bloß auf einem überjährigen Laubsack liege. So ein Huhn!« Sie lachte wieder auf. »Vitus«, sagte sie, »gib mir einen Schluck Milch!«

Das Kind, das sie im Schoß hielt, sprang vom Brunnen.

Der Bursche trat zu ihr und hob den Eimer zu ihrem roten Mund. Aber bevor sie trank, sah sie ihn eine Weile mit ihren blauen Augen über den feinen, seidenlinden Schaum hin an, als sähe sie ihn zum erstenmal, als wollte sie ihn jetzt gleich für eine ganze Ewigkeit in sich hineinsehen. »Wenn ich ein Königskind wäre«, machte sie flüsternd, »Vitus, red, würdest du dich da freuen?«

»Allweg, gewiß«, antwortete er lächelnd, »aber dann wolltest du mich vielleicht nicht mehr, so groß und gutgründig meines Vaters Heimwesen im Tiefland ist.«

»Hättest du mich dann lieber, so lieb wie nur ein Königskind liebgehabt werden will?«

»Das kann ich jetzt nicht wissen«, machte er mit verlegenem Lächeln, verwundert, »ich bin ja kein Königssohn.«

»Nicht?« Sie hob ihre Augen wie im Traum vom Eimer, ohne auch nur den überquellenden Schaum berührt zu haben. »Ich hätte es aber so gern. Könntest du 32 es nicht am Ende werden, Vitus? Probier's einmal! Was meinst?«

»Nein«, sagte er fast ungehalten, »jetzt tu doch nicht so närrisch. Du mußt mich halt nehmen wie ich bin. Aber du lachst mich wohl nur aus und machst dich über mich lustig, wie über alles, was um dich ist, sogar über den eigenen Großvater, was ich gar nicht gern sehe und nicht begreifen kann. Und jetzt«, er ließ den Eimer sinken, »rüst dich und mach rasch, denn nun kommt der Ahne gewiß gleich herunter und«, raunte er ihr zu, »und heute hast du mir nicht einmal einen Kuß gegeben, obwohl wir beim Morgenessen allein waren.«

Sie schaute ihn kühl an, aber dann lachte sie auf und sich den Kranz goldener Dotterblumen, der an der krummen, hölzernen Brunnenröhre hing, aufs rötliche Braungelock setzend, sagte sie ganz laut: »Und da ist denn einmal ein Büblein unter einem Baum gestanden, der über und über voll roter Kirschen war. Und da stand es und stand es und wollte warten, bis ihm die Kirschen auf die Kappe fallen würden. Und vielleicht steht das dumme Büblein heute noch unterm Baum und wartet und wartet.«

»Ei, du Donnershexe«, fuhr's ihm heraus, »das will ich mir für ein andermal merken. Aber nun spute dich! Siehst du, hinter den Fenstern regt sich's. Der König von Euland steigt gewiß gleich herab.«

Der Knecht machte sich, nur halbwegs zufrieden mit sich und seiner Geliebten, mit seiner Milch über Vortreppe 33 und Stiegenbrücklein hinauf, um in die Küche zu kommen. Im Hause ward es lebendig.

»Er kommt«, redete das Bethli vor sich hin. »Was will ich machen? Ich muß mit ihm. Und ich tät's ihm ja so gern zulieb, dem königlichen Großvater. Aber es plagt mich. Ich weiß nicht, was mich hierin für ein Kobold reitet, daß ich gerade ihm immer etwas antun, entgegen sein muß. Es ist mir oft, ich müsse über ihn herfallen und ihn erwürgen, weil er kein rechter König ist, weil er bloß ein alter Bauer mit einem vergoldeten Pergamentdeckel auf dem Kopf ist. Ja, wenn ich, wie das Marieli, an ihn glauben könnte!«

Die schwere, graue Katze strich schmeichlerisch, sich zärtlich anschmiegend, um des Mädchens vom Brunnen hängende bloße Füße und Waden. Und jetzt stolzierte gar der Hahn mit ein paar Hühnern daher und schwang sich neben sie auf den Trog.

Da kreischte sie auf, gab der Katze einen Tritt und den aufgeschreckten Hühnern schleuderte sie gar das Holznäpflein nach, das auf dem Brunnenstock gestanden hatte. »Ach, ach, Himmelherrgott abeinander, ich kann's einfach nicht mehr tun. So eine Torheit!«

Verwundert, schier erschrocken, schauten die Kinder, die sich aus der Nachbarschaft hier versammelt hatten, um mit ihren roten Zilandenstäudlein dem Alten das Geleite durchs Tal zu geben, zum wildgewordenen Bethli auf. Was mochte es denn auf einmal haben, daß es so grimmig 34 tat? Sie konnten es sich sonst doch nur lachend denken. Und da war's dem Kind des Holzschuh- und Rechenmachers aus dem Weiler des Euthals, dem Trutli, es müsse, um die Große zu besänftigen, etwas Freundliches zu ihr sagen. »Lachbethli«, redete es, »du bist aber heute ein schönes. Und mein Vater hat gesagt, so ein gutfärbiges und hoffärtiges Maitli gebe es im ganzen Tal und noch weit drüber hinaus, nirgends. Wenn er seine lachenden Glöcklein in der Stube hätte, wollte er gern das ganze Dutzend Klosterglocken von Mariä Einsiedlen dran vertauschen.«

Aufhorchend, sinnend und ein wenig aufhellend, schaute Bethli das Kind an. Aber als nun die wellige Magd wieder in einem Fenster erschien und herunterrief: »Rüst dich, Beth, er kommt!« griff sie blitzgeschwind ein paar Tannzapfen neben dem Trog auf und schleuderte sie nach der Magd, also heftig, daß sie an ihr vorbei in die Stube hineinfuhren.

»Jesus, Jesus, was für eine Wildkatze!« rief die Lunn aus.

Das Bethli war vom Brunnen gesprungen und stand nun still, mit brennenden Augen, unter den aufmerkenden Kindern.

Erst an einem Fenster und dann im halbrunden Ausguck des Stiegenbrückleins zeigte sich ein weißer Kopf und drauf die goldene Krone. Und nun stieg der alte Zachris Ruhstaller, im abgetragenen weinroten und goldfransigen Mantel, in seinen hirschledernen Bundschuhen, die Krone 35 auf dem schneeigen Haupt, das Vortrepplein herab, sich mit seinem schimmernden Hirtenstab von Tritt zu Tritt tastend.

Ihm nach aber trippelte, seines Mantels Schleppe tragend, sorgsam das barfüßige Marieli, das ein aus rosigen Maßliebchen und dunkelblauen Frühlingsenzianen geflochtenes Kränzlein auf dem reistenfarbenen Scheitel hatte.

»Der Herr König kommt!« rief des Holzschuhmachers Trutli überlaut aus. »Der König von Euland, unser König!« schrien aufjubelnd die Kinder. Und obschon sie eigentlich nicht so recht wußten, was sie von seinem Königtum zu halten hatten, da sie bei ihren erwachsenen Leuten zuhause immer etwa wieder hinterrücksige, lächerige Augen gewahrten, wenn von ihm die Rede war, so wollten sie doch an ihn glauben. Und die es doch nicht so recht konnten, glaubten immerhin noch an ihn, wie an den St. Nikolaus, von dem man ihnen zugeflüstert hatte, er komme aus der Elternkammer.

Und als jetzt der Alte, wahrhaft majestätisch und das Sonnenhaldenmarieli in heiligem Glauben ihm nachfolgend, hinter ihm die Brüderlein, der Sebeli und der Bäneli, in Hirthemden, Föhrenzweige in den Händen, auf denen die Sprossen wie Kerzen standen, das Vorstieglein herunterkamen, mußten sie alle wieder an ihn glauben. Und da er nun auf dem Rasen vor der Hausmauer stand, der als ein zartgrüner mit Maßliebchen feingeblümter Teppich 36 über die Sonnenhalde bis an den Eubach hinunterhing, machten sich die Kinder auf den Greis zu und aus all den kleinen Händen gingen die wunderschön duftenden Seidelbaststäudlein zu seinem weißen Bart hinauf. Und siehe, seine Majestät neigte sich mit freundlichem, gnädigem Lächeln und sog den Vorfrühling aus diesem roten Blumengeleuchte fast gierig in sich hinein.

Aus dem Ausguck des Stiegenbrückleins schauten Sebimaria, der Bauer, und Vitus, der Knecht, und aus einem Fenster, vom Lädlein fast verdeckt, gaffte Lunn, die Magd, dem Gebaren der Kinder zu.

Das Bethli aber stand, völlig gefangen von dem Bilde, stumm, straff, ein herzliches Lächeln in den Augen, das allmählich sein ganzes Wesen übersonnte, am Brunnen.

Doch als nun der Alte sein Haupt ihr zuwandte und fast raschen Schrittes auf sie zuhielt, verflog ihr Lächeln, wie das letzte wärmste Abendgold vom Firn, und die Lunn bekam, zu ihrer Empörung, noch blitzschnell Bethlis geschwindes Zünglein und einen bösen Blick zu sehen. Wie aber der königliche Großvater vor dem Mädchen stand, zeigte sie wieder eine völlig heitere Miene, nur war sie über und über rot, als wäre in ihrem Herzen eben die Sonne untergegangen und ließe nun das Abendrot über ihr Angesicht leuchten.

Der König von Euland mochte es wohl auch dafür nehmen, denn nun neigte er das Haupt vor Bethli, was sie mit einer tiefen, ebenso königlichen Verbeugung, über 37 welche die Zuschauer erstaunten, verdankte. Und nun nahm er, freundlich lächelnd, ihre Hand und sagte mit zitteriger Stimme:

»Mignonne, allons voir si la rose
Qui ce matin avait déclose
Sa robe de pourpre au soleil
A point perdu, cette vesprée,
Les pecs de sa robe pourprée,
Et son teint au vôtre pareil...
«

Und also hob er ihre Hand hoch und ging, Bethli zu seiner Rechten, feierlichen Schrittes vom Hause weg und alsdann das steinplattenbelegte Fußweglein, über die Sonnenhalde hinunter, talwärts, gefolgt vom schleppentragenden, andächtigen Marieli, den Enkelbüblein mit ihren Föhrenkerzen und zweireihig, von den barfüßigen Kindern der Nachbarschaft, die ihre roten Seidelbastlichter hochhielten.

»Er hat wieder welsch geredet«, flüsterte des Holzschuhmachers Kind, das Trutli, dem Wiseli, dem Töchterlein des Hornputzers zu.

»Heja, natürlich, du Dumme«, gab das leise zurück, »er muß doch gewiß mit der Königin reden können, wenn sie aus dem Welschland kommt.«

»Aber vielleicht kommt sie ja gar nicht. Ich bin doch mit dem alten Zachris Ruhstaller schon den ganzen Sommer hindurch, fast jeden Sonnabend, auf die Hagelfluh gegangen. Und meine Mutter hat gesagt, sie sei auch 38 schon als Kind mit ihm dorthin im Umgang gewesen. Und nie ist die Königin gekommen.«

»Ja, aber meine Mutter, die auch schon mit dem Zachris gegangen ist, hat gesagt, ich solle ihm nur immer auf die Hagelfluh nachfolgen. Es sei wohl möglich, daß diese welsche Königin eines schönen Abends doch noch ins Tal hereinziehe, denn wenn nicht etwas dran wäre, so würde der Zachris . . .«

»Der König von Euland muß man sagen«, verwies das andere.

»Heja, so würde der König von Euland nicht so heilig dran glauben und das Warten auf der Fluh wäre ihm gewiß schon lange verleidet.«

Sie kamen bald über die sonnige Berghalde ins Tal hinab.

Wie sie nun gegen den Eubach gingen, wo ein winziges Kapellchen, ein Schutzheiligtum gegen Wasser- und Nachtschaden, gegen Wolf und Geier, stand und wie ihnen die dunkelbraunen, steinbeschwerten Tätschhäuschen des Euthals entgegenzuwandern schienen, entzog das Bethli dem Großvater sänftiglich, unmerkbar, seine Hand. Und als er nun, als erster, den schmalen Steg über den Bach betrat, gefolgt von Marieli, blieb sie zurück und kniete vor das Kapellchen hin, als wollte sie zum hl. Wendel, der drin ein paar rohgeschnitzte Lämmer hütete, beten.

Arglos, ohne sich auch nur umzusehen, trippelten die Kinder dem Greise über den Steg nach.

39 Als dieser sich aber, durchs Tal wandernd, nach seiner Großtochter umschaute, vermochte er sie nirgends mehr zu erblicken. Eine Weile hielt er an. Wie sich jedoch das Bethli nicht mehr zeigte, schüttelte er traurig den weißen Bart und setzte seinen Umgang fort. Wohl sah er sich noch einigemal um, doch umsonst, aber weil ihn dabei jedesmal das schleppentragende Marieli gar lieb anlächelte, schien ihm die zurückgebliebene Enkelin allmählich aus dem Sinn zu kommen.

Immer mehr verwitterte, dunkelbraune Hütten kamen ihnen entgegen.

Das Bethli aber hatte den lämmerhütenden St. Wendel rasch im Stiche gelassen, denn kaum war der Alte mit den Kindern auf dem Steg, huschte sie ins Gesträuch der Erlen und Haselbüsche. Also machte sie sich durch eine kleine Schlucht wieder in ihres Vaters Heimwesen hinauf.

Dort kam sie jedoch übel an. Man hatte auf dem Stiegenbrücklein und in der Stube wohlgemerkt, wie sie sich drückte. Wie sie nun aufs Haus zu hastete, rief Lunn, die Magd, aus einem Fenster: »Da kommt das Lachbethli schon wieder. Sie ist dem Großvater wahrhaftig durchgegangen.«

»Maitli«, herrschte sie ihr Vater an, als sie ein Vorstieglein hinauf war und an ihm und Vitus hurtig, blutrot, vorbeihuschen wollte, »was fällt dir denn ein, daß du dem Großvater davonläufst?!«

40 »Ach was«, beschied sie kurzgebunden, »ich bin jetzt erwachsen und kann diese Kindereien nicht mehr mitmachen. Ich kann's einfach nicht mehr!« schrie sie auf.

»Ist's denn eine so schwere Sache, dem geisteswirren Ahnen ein Zeitchen zu Gefallen zu leben?«

»Ja, Vater«, gab sie herum, »eine schwere Sache ist's jetzt auf einmal für mich. Warum, weiß ich nicht, aber es ist so. Kurzum, ich mag dem Narren nicht länger die Närrin machen.«

»Maitli!«

Der Sonnenhalder bekam einen ganz roten Kopf. Vitus, der Knecht, aber sagte, das Mädchen fast erschrocken anstaunend: »Bethli, ich kann dich nicht verstehen. Du kommst mir immer wunderlicher vor. Wie kannst du denn so sein? Was machst du dir denn soviel aus diesem Umgang durchs Tal, du, die doch sonst alles so federleicht nimmt und über alles lacht.«

»Lache ich über alles, nehme ich alles so leicht? Meinst du das wirklich, Vitus?« machte sie, sich hart vor ihren Geliebten hinstellend und ihn seltsam aus tiefen blauen Augen ansehend.

Es überlief ihn, es wurde ihm fast unheimlich und es war ihm, er schaue in eine ihm unbekannte, völlig fremde Welt hinein. »Ich komme immer weniger aus dir«, sagte er leise, bedrückt.

Da packte sie ihn um den Hals, küßte ihn auf die Augen und ihn gleich wieder fahren lassend, schrill 41 auflachend, wie eine abstreichende Elster, sagte sie zu ihm, vor ihrem unmutig blickenden Vater: »Bursche, ich weiß eigentlich nicht, warum ich dich so gern habe. Aber glaub's oder glaub's nicht, Vitus, ich sage dir: Wild, fuchsteufelswild bin ich über mich, daß ich dich so lieb haben muß. Es spukt gewiß irgendein verwunschener Nachtbutz oder sonst etwas Teufelsüchtiges, Besessenes in mir, das dir auf Leben und Sterben nachhält, dir fremder Fetzel, du St. Galler Hirsch! Und ich möchte dich doch am liebsten in ein tiefes Tobel hinein zutode hetzen.«

»Herrgott, Herrgott!« ächzte der Bauer, völlig fassungslos, »was ist nun das wieder?«

Vitus Wiler aber schritt trüb, verdrossen über das Vorstieglein hinab und dem Stall zu.

Einen Augenblick stutzte sie. Aber gleich sprang sie ebenfalls vors Haus hinunter, hob ein loses, erdkrustiges Rasenstück neben dem Brunnen auf und schleuderte es ihm nach, daß es stob. Und als er sich wahrhaft erschrocken umschaute, war sie schon, wild auflachend, das Stieglein hinauf und an ihrem Vater vorbei ins Haus hineingerannt.

Donnernd flog die Haustüre hinter ihr zu.

Mit starren Augen, bedenklich den Kopf schüttelnd, staunte der Bauer immer auf die Türe. Der Knecht aber ging herabgestimmt, bekümmerten Angesichts in den Stall hinein.

Unterdessen war der Zug des Alten ab der Sonnenhalde immer näher an den Weiler Euthal herangekommen.

42 »Aha, seht, seht«, rief ein Weiblein ans Fenster tretend, »da kommt ja unser König!«

»Ach, was ist doch der Mensch!« rief ihr halblaut die alte wackelköpfige Grabbeterin aus ihrem Tätschhäuschen über die Gasse zu. »Jetzt hab' ich diesen Sonnenbaldenzachris noch als einen übermütigen Nachtbuben gekannt, vor dem keine Scheiterbeige sicher war, ob der er etwas Junges, Zeitiges wußte und nun hat er sich aufs Alter völlig in einen Narren verkehrt. O Welt!«

Aber die Bauern, die auf den Matten allerlei arbeiteten, hielten in ihrem Tun inne und wandten sich von allerwärts dem Zug zu. So oft schon hatten sie den Greis durchs Tal ziehen sehen und doch mußten sie ihm immer wieder nachschauen, denn allemal war es ihnen, sie erblicken einen wirklichen König. So gut konnte es dieser alte Reisläufer geben. Das hatte ihm ja wohl die Stadt Paris, die Stadt der fränkischen Könige, angetan und beigebracht. Er soll ja dort gar am Hofe gedient haben.

So erwiderten denn die Hirten des Alten allseitiges, herablassendes Lächeln freundlich. Sprach er gar einen aus ihnen an, antwortete er ihm, beim Strahl, wie einem rechtmäßigen König, so übernahm's ihn.

Wie oft schon hatten sie über diesen Aufzug hinterrücks, kaum war er vorbei, ihre gröbliche Lustbarkeit, wobei sie sich selber auslachten, aber wenn er dann wieder daherkam, standen sie immer wieder bescheidentlich und ebenso bereit zu Rede und Antwort um den Weg. Sie 43 brachten es einfach nicht über sich, dem so königlich aufziehenden Greise wehzutun.

Wie er jetzt an der windschiefen, ärmlichen Hütte des Holzschuhmachers vorbeikam, stand der in seinem schmalen Gerstenacker vor der Türe. Und sich an seiner Hacke aufrichtend und ein erstauntes Gesicht zeigend, fragte er den Alten: »Ja, weswegen habt ihr heut denn das Lachbethli, euer schönes Königstöchterlein, nicht bei euch? Es wird doch nicht gar krank sein?«

»Bläsi«, machte der Greis, den weißen Bart einen Augenblick den rohgeschnitzten Rechen an der Hauswand zuwendend, »das Bethli, meine Großtochter, ist auf der Suche nach einem Königssohn. Da hat es jetzt keine rechte Lust mehr, mit mir auszurücken.«

»So, so«, meinte des Holzschuhmachers Weib, aus einem dürrbirnenfurchigen Gesicht heraus, »wir haben geglaubt, das Lachbethli habe schon einen Schatz gefunden.«

»Weib«, bekam sie zur Antwort, »das kannst du doch nicht im Ernst meinen, daß mein Großkind mit einem Knecht Hochzeit hält.«

Und ruhigen Schrittes ging er mit seinem Gefolge fürbas.

Verwundert schauten ihm der Holzschuher, sein verdorrtes Weib und ihre drei Ziegen über den Hag hinweg nach.

Es schlossen sich dem Umgang noch einige Kinder aus dem Weiler an, sodaß es ein recht ansehnlicher Zug war, 44 der durchs Euthal ging. Und die Leute schauten ihm nach, wie er sich nun in die Windbruchweid hinaufmachte, bis er unter den Tannen verschwand.

Nicht lange dauerte es jedoch, so kam er wieder aus dem Hochwald zum Vorschein. Und also gelangte nun Zachris, der König von Euland, allmählig mit seiner Kinderschar auf den samtweichen Moosboden der Hagelfluh hinaus, die ins weitum sich auftuende Tal der Sihl und Minster vorspringt.

Etwas ermüdet ließ er sich aufs Bänklein nieder, das er sich auf diesem Felsen, unter einer mächtigen Wettertanne, hatte aufschlagen lassen.

Und nun sah er mit suchenden, verträumten Augen ins Land hinaus.

Seine kleine Enkelin aber, das Marieli, nahm die Euthaler Kinder zusammen und also machten sie um den Alten und die Wettertanne Ringelreihen, wobei ihre Seidelbaststäudlein einen gar hellen Schein gaben, da sie als ein rotes Band rundumgingen. Und weithin jauchzte ihr Frühlingslied ins Land:

Heijuppedihee, im Schwyzerbiet!
Dr Lanzig chunt, dr Lanzig chunt!
Dr Gugger sait, dr heig ä gseh,
Und lue wie's sunnt, und lue wie's sunnt!
D'Schneeglöggli rohded si im Riet.
          Heijuppedihee, heijuppedihee!

Heijuppedihee, schöin i dr Schwyz!
O chönnti das rot Wüchli si, 45
Wo det dä Höichene hät no!
I spannti Föihn und Byswind i,
Und fiehr dur d'Wält us wie dr Blitz.
          Heijuppedihee, heijuppedihee!

Aber als nun der Reigen zu Ende getanzt war, ließ sich alles wieder zusammen. Und nun nahm das Marieli seine Brüderchen, den Sebeli und den Bäneli, die mit ihren Föhrenzweigen die Mägdlein auseinanderzuschrecken suchten, an der Hand und schritt mit ihnen hochheiligen Ernstes, wie immer gefolgt von der ganzen Jugend, auf den Großvater zu, der über ihr Spiel hinweg den roten Abendwolken nachzuschauen schien.

»Guten Abend, Herr König von Euland!« sagte es.

Und als er, erwachend, auf die vor ihm stehenden Kinder schaute, ließ das Marieli die Hände seiner Brüder fahren und machte vor dem Alten eine tiefe Verbeugung, wie sie's ihrer Schwester, dem Lachbethli, abgeguckt haben mochte.

Der König aber neigte sich mit freundlichem Lächeln zu seiner Enkelin und sprach: »Gott grüß euch, Prinzeßlein und seid mir herzlich willkommen, ihr lieben Kleinen meines Hofes! Die Frau Königin Katharina, meine schöne Herrin, die bald kommt, wird euch gewiß euere Treue reichlich lohnen.«

Nun ging das Marieli auf seinen Großvater zu und küßte andächtig das kleine Holzkreuz, das ihm an einer Kette buntfarbiger Heidelschnecken unterm weißen Bart 46 herabhing. Und ein Kind nach dem andern machte es ihm ehrfürchtig nach. Der Greis lächelte ein jedes an. Als er aber bemerkte, daß seine Enkelbüblein, irgend etwas spielend, abseits blieben, winkte er sie zu sich. Wie sie nun bei ihm waren, streichelte er ihre hellhaarigen Köpfe, zog sie an sich und raunte ihnen zu: »Sebeli, Bäneli, wer sollte es heut für möglich halten, daß ihr eines Tages auf stolzen Rossen zum Kampf gegen die falschen Spanier und die ketzerischen Hugenotten ausziehen werdet.«

Die Knaben sahen verständnislos, giltmirgleich, zu ihrem Großvater auf und gleich waren sie auch wieder weg, denn das Marieli hatte sich voll Eifers dem Alten in den Schoß gesetzt. Mit großen Augen sah's zu ihm auf und sagte: »Herr König, seid so gut und erzählt uns doch wieder einmal eine Geschichte.«

»Kind, Heiterschöpfchen, siehst du, ich muß Ausschau halten. Jeden Augenblick könnte meine Königin anrücken. Was müßte sie da von mir denken, wenn ich sie unten unbegrüßt vorbeireiten oder -fahren ließe und ihr nicht entgegenkäme! Eben war's mir, ich habe im Fernen, ja schon hinter den Waldhöhen ihre Trompeten blasen hören. Glaub mir's Marieli, im Umsehen kann sie von der nahen Waldstatt Einsiedlen her zu uns kommen.«

»Großvater«, antwortete das Kind, »kommt doch mit uns, wie letzthin, ein Zeitchen dahinüber auf den windstillen Rasenplatz! Wir sind doch schon einigemal mit euch dort gewesen und dann war's so schön, wie ihr uns erzählt habt.«

47 »Liebes Kind, ich kann euch auch hier eine Geschichte erzählen, denn an Geschichten fehlt's mir gar nicht. Wartet immer eine hinter der andern, bis auch sie erlöst wird.«

»Herr König«, meinte aber das Marieli zähwillig, »wißt, hier habt ihr uns ja auch schon erzählt, freilich, aber dann habt ihr die Geschichte und uns alle immer wieder vergessen, weil ihr allezeit ins Land hinaus und nach den Bergfirsten geschaut habt, hinter denen der blaue See liegt. Und bei jedem Jauchzer zu Berg und Tal, ja bei jedem Falkenschrei, habt ihr aufgehorcht und danach die Geschichte nicht mehr recht gewußt und erzählen können. Seid so gut, Großvater, und kommt da aufs Rasenplätzlein hinüber! Es ist ja so nahebei.«

»Zwängerlein!« sagte er, »bist ein rechtes Zwängmäulchen. Aber, wer wollte dir, du liebes Auge, etwas absein können? So kommt denn, Kinder!« rief er aus. »Aber das sage ich euch, sobald ihr das mindeste hört, das meiner schönen Freundin Herannahen anzeigen könnte, so sagt's mir ja gleich! Meine Sinne sind nicht mehr jung; aber lieber wollte ich mich vom Blitz erschlagen lassen, als ihre Ankunft versäumen. Kommt!«

Also nahm er das freudig aufleuchtende Marieli an der Hand und mit ihm das zunächststehende, mit gewunderigen Augen zu ihm aufschauende Trutli, des Holzschuhmachers ärmliches Kind. Und würdigen Schrittes ging er mit ihnen auf ein recht nahe in der Weid liegendes, besonders sonniges Rasenplätzlein.

48 Dort setzte er sich auf einen von knisterndblauen Enzianensternlein umblühten Faulstrunk. Das Marieli aber ließ sich, ein wenig über die sich im kurzen Frühgras lagernden Kinder erhöht, auf einen bemoosten großen Stein nieder. Sorglich hielt es den vergoldeten Hirtenstab in den Armen, den ihm der König von Euland anvertraut hatte.

»Marieli, liebe Kinder«, begann der Greis, nachdem er nochmals angestrengt ins Weite gehorcht hatte, »so will ich euch auch heute eine Geschichte erzählen. Ich will euch erzählen, wo ich einst war und warum es so gekommen ist, daß ich immer wieder mit euch, meine lieben kleinen Hofleute, hier auf der Hagelfluh auf meine königliche Frau warte. Aber«, er lauschte wieder ins Ferne, »aber, daß ihr mir ja die Trompeten nicht überhört!«

»Nein, nein, nein!« schrie es um ihn.

»O ihr lieben Kinder, wie schön war's doch, als ich noch jung war und zu Paris im Solde der allerchristlichsten Könige stand. Wenn ich nur nicht so ein grimmiges Heimweh gehabt hätte. Gierig nach Ruhm und Gold, war ich dem Vater und meiner blutjungen Frau mit dem Handgeld des Schwyzer Hirtenkönigs Dietrich Inderhalden davongelaufen. Aber dann kam es, daß ich die Heimat eine Zeitlang vergaß. Eine lange, lange Zeit ist seither vergangen. Alles, was damals mit mir lebte, ist tot oder alt und mürbe geworden, wie ich selber; die Berge und die Wettertanne da auf der Hagelfluh 49 ausgenommen und meine königliche Liebste, Frau Katharina, die hundert Jahre lang jung bleibt, wie es ihr ein Sterngucker geweissagt hat. Da kämpfte ich denn unter unserm Schwyzerfähnlein, aber im Dienste der goldenen Lilien des Königs von Frankenland. Fast immer lagen wir um die große Stadt Paris zu Felde. Das war ein rauhes, ein wildschönes Leben. Da waren unsere Schwerter und Hallebarden immer wie die Blitze in einer schweren Wolke und war niemand vor ihnen sicher.

Wir standen aber im Solde der Königin Katharina, der Mediceerin, der einst eine ihrer Hofdamen, die schlaue Diana von Poitiers, ihren König abwendig gemacht und gestohlen hatte. Aber nun war ja dieser untreue Fürst gestorben und Katharina regierte das große Reich für ihr Büblein Karlchen. Und da ward ich eines Tages aus dem Feldlager an ihren Hof kommandiert, weil ich sie bei einem Rückzug aus einer kleinen Stadt nach Paris von ihren Feinden retten half, indem ich ihr verrücktes Roß bändigte. So war ich nun einer ihrer Leibwächter und gar der vorderste Türhüter an ihrem Schlafgemach. Sie traute eben nicht einem jeden und hatte viel Beängstigung der Guisen und der Ketzer wegen, obwohl sie eine stolze Frau war, welche die Krone auf dem Kopfe hatte, auch wenn sie keine trug. Aber mit uns Schweizern tat sie fast zutunlich und nie ging sie an mir vorbei, ohne mich freundlich, nach und nach gar herzlich, anzuschauen, also daß ich völlig verliebt in sie ward und meinte, ob ihr 50 den Verstand verlieren zu müssen. O Kinder, das war eine Zeit! Da machte sie Ausritte mit glänzender Gefolgschaft, wobei ich oft als Roßachter mit ihr durfte. Und dann gar die Feste, die sie in ihrem neuen Palaste in der Stadt Paris gab. Was war das für eine Pracht in den Sälen, wenn nachts tausende von Kerzenlichtern auf den kristallenen, goldigen Kronleuchtern brannten und die vornehmsten und schönsten Herren und Damen des Frankenlandes darin tafelten und tanzten. Und das alles bekam ich zu sehen, da mich die Frau Königin, trotz ihren Pagen, immer zunächst an ihren Türen wollte stehen haben. Da kamen auch hohe Kirchenfürsten und Herzoge und Herren aller Länder. Und hundertundfünfzig Ehrendamen gab es aus den hochadeligsten Häusern. Auch allerlei wunderliches Volk aus Paris. Aus diesem zeichnete die Königin einen Mann, der Verse machen konnte und Ronsard hieß, besonders aus, denn von seinen Liedern und seinem Lob war die Stadt voll. Über alledem vergaß sie mich nicht und ihre Augen kehrten alleweil wieder, wie Bienen, die um tausend Blumen geflogen, mit all ihrem Honig in mein Herz zurück, wie in den Einschlupf eines Bergahorns. Und niemand durfte ich in ihre Gemächer lassen als ihr Büblein mit seinem alten Kammerdiener.

Aber eines Nachts übernahm's mich. Ich fiel vor der Königin nieder, als sie an mir vorbei, in ihre Schlafgemächer ging. Augen, Arme und Herz hob ich zu ihr auf und raunte ihr alles zu, was mir die Liebe eingab. 51 Da ward ich unversehens gepackt und vor Schreck und Verzweiflung verlor ich fast die Sinne. Wißt Kinder«, machte der Alte flüsternd, »meine Feinde, die vornehmen Herren am Hof, die selber nach der Königin-Witwe trachteten, hatten alles durch ein Kammermädchen, von dem ich nichts wissen wollte, vernommen und mir auflauern lassen. Nun warf man mich zuerst ins Gefängnis und alsdann schaffte man mich heimlich ins Bergland zurück. Die Königin vermochte es, trotz ihrer großen Liebe zu mir, nicht zu verhindern. Da sie in ihres Bübleins Namen herrschte, hätten ihr die mächtigen Herren des Adelsstandes sonst leicht die Krone rauben und sie als unwürdige Reichsverweserin einkerkern lassen können. So hat sie alsdann gewiß beschlossen, zu warten, bis ihr Büblein Karlchen groß sei und selber zu regieren vermöge, um danach aus der Stadt Paris fort, über Berg und Tal mir zuzuziehen und mit mir Hochzeit zu halten, denn Kinder, wißt«, redete er geheimnisvoll in die Schar hinein, »der Königin allein war's bekannt, daß ich, ihr fremdländischer Türhüter, mehr sei als eine Menschenseele in der Stadt Paris ahnen könnte, daß ich eben, wie ihr's ja alle seht, der König von Euland sei.«

»Großvater«, fragte das Marieli, »weswegen hat sie denn all den bösen Herren am Hofe nicht gleich ins Gesicht gesagt, daß ihr ein rechtmäßiger König seid? Dann hätten sie euch doch nicht fortjagen und einsperren dürfen.«

52 »Kind«, antwortete der Greis, »sie wird eben gedacht haben, sie wolle lieber vorsichtig sein, sonst komme die Hexenkünstlerin, die schlaue, feine Diana von Poitiers wieder und stehle ihr auch den neuen Freund. Aber nun ist gewiß alles gut. Jetzt wird ihr Knäblein, der König, die Krone schon lange tragen und nichts kann Katharina mehr zurückhalten, zu mir in mein Land zu reisen. Gewiß und heilig, Kinder, bald, vielleicht heute schon, kommt sie. Wie ihr also einen goldenen Wagen, mit einer goldenen Krone darüber und acht weißen Pferden davor, heranziehen seht oder einen glänzenden Reiterzug, so ist's meine Geliebte, die königliche Wittfrau des Frankenreiches. Alsdann halten wir Hochzeit. Danach aber lasse ich auf der Hagelfluh ein Schloß mit hundert Sälen bauen. Da wohnen wir. Und das Bethli, unser Lachbethli«, machte er leise, »das wird Kronprinzessin und hat alsdann all die weiten Kammern in Ordnung zu halten. Und wo«, redete er mit erhobener Stimme, »wo ist der Fürst, der eine solche Königstochter hat, wie's unser Bethli ist. Die ganze Bergwelt unserer Lande hat sich da zusammengenommen, um in ihm einmal etwas Seltenfeines zu erschaffen.«

»Ja«, fragte das Marieli, etwas bedrückt zu ihrem Großvater aufsehend, »was darf denn ich im großen Schloß auf der Hagelfluh machen, wenn doch das Bethli die Königstochter ist und alle Kammern unter sich hat?«

»Du?« Er sah das Kind fast ein wenig verlegen an, aber dann antwortete er: »Weißt du, Marieli, du kannst 53 die Blumenstöcke, die vor allen Fenstern stehen, alltäglich wässern. Auch sollst du die Weihwasserschälchen neben all den unzähligen Türen des Palastes immer wieder nachfüllen. Denk dir, hundert Säle wird es haben! Da bekommst du wohl genug zu tun.«

»O«, rief es schnell aus, »das will ich alles gerne machen!« Und mit leuchtenden Augen: »Wenn's doch der Gottswillen sein könnte, daß die Königin Katharina heute noch käme!«

All die Euthaler Kinder schauten schier ehrfürchtig aufs Marieli, das schon sein Amt am Hof weghatte.

»Ja, es wäre ein unerhörtes Glück für mich«, sagte der Greis, »aber ihr Kleinen alle hättet auch einen guten Tag, denn die Kammerfrauen der Königin würden euch ganze Säcke voll Leckereien mitbringen.«

Die Kinder erröteten vor Freude. Des Holzschuhmachers sommersprossiges Trutli rief aus, es werde nächstesmal, falls heute die Königin nicht kommen sollte, ein ganzes Körblein voll Kuckucksblumen auf die Hagelfluh mitbringen. Gewiß werde sie ihm dafür sein Zainlein dann mit Süßigkeiten anfüllen. Auf das hin wollten sie alle ganze Eimer, Holzgelten und Milchtansen voll Blumen auf den nächsten Umgang mitnehmen.

Aber der Alte wehrte lächelnd ab. Das brauchen sie nicht zu tun, meinte er. Man werde sie auch ohne das mit Geschenken aller Art und Näschereien erfreuen, denn im Frankenland wachse das Süße wild, aus allen Wiegen 54 heraus wachse es. Drum gebe es dort auch kein einziges Kind, das nicht schon mit einem honigsüßen Mund zur Welt komme.

»Die Königin, die Königin kommt!« schrie's von der Hagelfluh her.

Überrascht, fast erschrocken, schauten die Kinder, aber auch der Greis, nach dem Bänklein auf der nahen Fluh.

Kein Mensch war zu erblicken. Woher mochten denn aber die gellenden Aufschreie gekommen sein? Etwa gar aus den Lüften? Ging's denn um, kündigte sich die Königin gespenstig an?

»Sie kommt, die Königin kommt!« lärmte es wieder.

»Oha«, rief jetzt das Trutli aus, »jetzt weiß ich's! Das war doch des Hornputzers Wiselis Stimme und gewiß . . .«

»Sie kommt, sie kommt!« gellte es nun gar dreistimmig über die Windbruchweid hin.

»Oha, oha!« sagte das Marieli, »habt ihr's gehört: aus der Wettertanne ob dem Bänklein ruft's.«

Und schon stoben die Kinder, allen voraus das Trutli, auf und davon, auf die große Tanne der Hagelfluh los.

»Die Königin kommt, die Königin Katharina kommt!« schrie es wieder von der Fluh her und aus der ganzen, über die Weid jagenden Jugend widerhallte es: »Sie kommt, sie kommt!«

Jetzt hatte sich auch der König von Euland von seinem Faulstrunk erhoben. Die kleinen Goldkugeln, die aus seinen Ohrenringen hingen, zitterten ineinemfort. Und 55 nun schritt er, ziemlich hurtig, den Kleinen nach, zur Hagelfluh hinüber.

Und wie er nun auf dem weithinschauenden Felsen stand, staunte er, und mit ihm das gesamte Kindervölklein, hinunter ins Tal der stillen Sihl und hinaus nach den Höhen des finstern Waldes von Maria Einsiedlen.

Aber wie sie auch alle ihre Augen und Äuglein wandern und fliegen ließen, sie bekamen nichts zu sehen, als die braune, noch wenig begrünte Talschaft und ein Adlerpaar, das drüber seine Kreise zog.

»Ihr Lügner!« schrie jetzt das Holzschuhmacher Trutli in heiliger Entrüstung in die Wettertanne hinauf, die sich mächtig über ihnen ausbreitete. »Es ist ja gar nicht wahr, daß die Königin kommt!«

Die Tanne blieb mäuschenstill, kein Zweig regte sich.

Doch war jetzt irgendwo oben in ihrem Dickicht ein schwerverhaltenes Kichern.

»Buben, Sebeli, Bäneli!« rief das Marieli hinauf, »kommt nur herunter! Ich habe euere Stimmen vorhin schon erkannt. Weswegen seid ihr denn da in den Baum hinaufgeklettert, statt mit dem Großvater aufs Rasenplätzlein hinüber zu kommen?«

»Heja«, kam jetzt eines Knaben Stimme aus dem Tannendunkel herab, »halt weil des Hornputzers Wiseli uns verlockt hat. Es hat gesagt, wir wollen in die Tanne hinaufklettern und schauen, wer von uns dreien am höchsten hinaufkomme, ich oder es oder der Bäneli.«

56 »Ja«, schrie jetzt ein gellendes Stimmlein aus dem Wipfel der Wettertanne, »und da habe ich's zu alleroberst hinaufgebracht.«

»Ja, aber warum habt ihr uns denn gerufen, die Königin komme?« fragte der Alte. »Und dann ist's doch nicht wahr gewesen.«

»Wißt«, antwortete kleinlaut das Wiseli aus der Tanne herab, »wir haben dann halt schauen wollen, wer von euch allen am schnellsten laufen könne und zuerst beim Bänklein auf der Fluh ankomme. Und, und«, redete es zögernd, »und der Sebeli und der Bäneli haben gesagt, sie möchten gerne sehen, wie ihrem Großvater seine Krone hin- und herwackle, wenn er daherzulaufen und zu schnaufen komme.«

»Das Wiseli ist schuld!« lärmte es in der Tanne, »es hat uns aufgewiesen, es hat es haben wollen, Großvater, gewiß und heilig.«

»Macht euch herunter, Kinder«, sagte ruhigen Tones der Greis, »und gebt wohl acht, daß ihr nicht abfallt!«

Da rutschten auch schon die beiden Buben aus dem überhangenden Geäst und so selbstverständlich fielen sie ins Moos, als wären sie, wie die Tannzapfen, auf dem Baum gewachsen.

Des Hornputzers Wiseli aber wollte nicht herunterkommen, wie auch die Kinder hinauflärmten. Es blieb still, wie ein Läublein, im Tannendolden hangen.

»Wiseli, Maiteli«, rief ihm jetzt der Alte zu, »laß dich nur getrost herunter. Ich will dir dein Späßlein, das 57 mich freilich gewaltig aufgeweckt hat, gern nachsehen. Da nun meine liebe Großtochter, das Lachbethli, nicht mehr mit mir hat gehen wollen, muß ich doch in meinem Gefolge jemand haben, der das Hofnärrlein spielt und der mich ein wenig neckt und plagt. So ist's nun einmal an jedem Hof der Welt, sogar im Hühnerhof.« Er lächelte wohlwollend. Aber gleich erlosch alle Helle seiner Augen und halblaut redete er in sich hinein: »Bethli, Kind, warum tust du mir das an, daß du dich schämst, mich zu begleiten?« Er sah betrübt in den Moosboden hinein. »Wie kannst du denn glauben, ich merke das nicht. Und wie magst du mir immer wieder wehtun, wo ich dir doch einst die Krone meines Landes zu hinterlassen gedenke, da ich dich doch, neben meiner Königin, über alles liebhabe.«

Jetzt sank das Wiseli, fast wie ein Laubblatt so leicht, aus der Tanne zu seinen Füßen.

Aber wie ein abgefallenes Kätzlein war's gleich wieder auf den Beinen und schaute, mit zündrotem Gesicht, zum Alten auf: »Herr König«, machte es weinerlich, »ich will's auf Ehr und Seligkeit nicht wieder tun.«

Mit verträumten Augen schaute der König von Euland auf das zage Kind, aber freundlich, liebkosend fuhr er ihm über sein verwildertes Schöpfchen.

Alsdann ließ er sich aufs Bänklein unter der Tanne nieder und die Kinder, die wieder herumzutollen anfingen, völlig vergessend, staunte er mit suchenden Augen ins Tal hinab.

58 »Großvater«, redete, nach einer Weile, das Marieli, das keinen Augenblick von ihm gegangen war, »Herr König, es fängt schon zu dämmern an. Wollen wir nicht bald heimgehen?«

Er sah sein Enkelkind gedankenschwer an, dann hob er's auf seinen Schoß. »Marieli«, sagte er, »schau wie schön rot ist's über der Schrähhöhe und dem Stäubrig.«

»Ja«, meinte das Kind, »und die Sonne zieht Wasser.«

»Nun schaut Katharina, meine königliche Geliebte zu Paris wohl aus den Fenstern ihres Palastes«, redete er weiter, »und schaut, wie ich, in dies rote Leuchten hinein und denkt an mich. Ach, wenn sie doch endlich kommen wollte! Aber die Höflinge, die mächtigen Herren, suchen sie gewiß auf jede Weise zurückzuhalten und vielleicht will sie nun auch der König, ihr Sohn, nicht ziehen lassen. Es ist so traurig auf der Welt, Marieli, daß es gerade die am schwersten haben zusammenzukommen, die sich am stärksten nacheinander sehnen. Marieli«, er stöhnte tief auf, »Marieli, sie kommt mir heute wieder nicht.«

»Großvater«, raunte ihm das Kind zu, »gewiß und heilig, am nächsten Sonnabend kommt sie. Bis dann sind alle Matten voll Blumen und vielleicht haben die Bäume bis dahin schon Laub. Sicher, sicher, Großvater, dann kommt sie.«

»Am nächsten Sonnabend – Kind, eine ganze Woche ist's bis dann. Du kannst nicht wissen, was das für eine Ewigkeit ist für ein Herz, das wartet.«

59 Er ließ das weiße Haupt todtraurig sinken, also, daß das Marieli ihn mit schier ängstlichen Augen ansah. Aber er begann seine schmalen Hände zu streicheln und ein wenig aufhellend, sagte er: »Komm Kind, so wollen wir heimzu, heim zu Bethli, unserer lieben Spottdrossel. Sie wartet gewiß auf uns und freut sich, wenn sie uns kommen sieht.«

Das Abendrot erlosch. Aus den Hochwäldern des Heitligeers und aus den dunklen Ahornweiden herab krochen die lautlosen Wegbereiter der Nacht, lange unheimliche Schatten übers Tal.

Der Greis erhob sich. Eine Weile noch schaute er, über die dämmernde Landschaft hinweg, nach den fernen Höhenzügen. Dreimal verbeugte er sich nach Sonnenuntergang, wo er das Land seiner Sehnsucht wußte. Alsdann griff er nach seinem Hirtenstab und schritt, gefolgt vom schleppentragenden Marieli und der singenden Kinderschar, ernsten, schwermütigen Angesichts, über die Weiden hinab, heimzu. 60

 


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