Meinrad Lienert
Der König von Euland
Meinrad Lienert

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V.

Am nächsten Sonnabend, als der alte Zachris Ruhstaller mit dem Marieli und den kleinen Enkeln Sebeli und Bäneli, nachmittags, in königlicher Aufmachung, über ein Vorstieglein des Sonnhaldenhauses herunterkam, stand, zu seiner freudigen Überraschung, das Bethli schon am Brunnen und wartete auf ihn. Sie war hochgeschmückt, denn sie trug auf dem dreifachen Kranz ihrer binsenfarbigen Haare noch ein Kränzlein blutroter Waldrosen.

Mit einem herzlichen Lächeln, das aber einen wehen Zug um ihre Augen nicht ganz auszulöschen vermochte, ging sie auf den Greis zu und sich vor ihm tief verneigend und ihn alsdann auf die welke Wange küssend und flüchtig eine der kleinen goldenen Kugeln hinter seinem weißen Bart mit den Lippen betupfend, sagte sie: »Herr König, lieber Großvater, nun will ich gerne mit euch kommen und immer will ich kommen, wenn ihr mich haben wollt.«

Der Alte wurde ganz bewegt, Tränen kamen in seine Augen. »Wessen Begleitung könnte mir mehr Vergnügen machen als die deine, liebes Kind«, gab er zurück, »du bist's doch, die mein Königtum einst fortsetzen soll und die mir ja auch besonders am Herzen liegt. Wie 144 freut's mich, daß du bei mir sein willst. Madame wird glücklich sein, wenn sie heute kommt und sieht, was wir in diesem Bergland für eine Nachfolgerin haben werden. Schau, ich habe es wohl gewußt, Bethli, daß du mich lieb hast, obschon du als ein übermütiger Lachvogel und Brausewind mir manche arge Schalkerei gespielt und«, er ward ernster, »und etwa auch ein wenig weh getan hast. Aber es ist mir«, machte er mit einem langwierigen Blick auf seine Großtochter, die nun neben ihm die Sonnenhalde hinab, talzu ging, »du seiest die letzte Zeit stiller, ja gar so still wie eine blätterloses Stäudlein, das auf den Winter wartet, geworden; so, wie man's an dir nie gewohnt war. Es ist mir deshalb, das Leben müsse dir schon ein Leides angetan haben, so jung du bist, denn deine Augen, Kind, die sonst so hellauf, maienhochzeitlich waren, sind jetzt in deinem immer weißer werdenden Gesicht, wie nistende Lerchen im Schnee, geduckt, verängstigt.« Er nahm ihre Hand: »Sag, Bethli, was fehlt dir?«

»Großvater«, sagte sie, vor sich hinsehend und den Greis behutsam über die Steinplatten des Fußweges hinabführend, »seid mir nicht bös, daß ich ein wenig hinterhältig bin, aber ich will es euch doch lieber zu wissen tun. Seht, ich komme nicht nur wegen euch auf einmal gerne auf die Hagelfluh, ich möchte auch meinetwegen hin. Es zieht auch mich mit hundert Armen hin, ich bin krank im Herzen wie ihr. Vielleicht habe ich das ja ein wenig von Euch geerbt, Großvater. Wißt, ich habe Heimweh nach 145 einem. So muß und muß ich auf die Hagelfluh, um Ausschau zu halten, ob er mir nicht bald zurückkomme.«

»Bethli«, machte er, sie warm anschauend, »das wundert mich nicht, gar nicht, Kind. Heimweh haben wir ja alle und wer weiß, ob es jemals von uns geht. Das Frauenvolk gar, kommt nie aus dem Heimweh heraus. Zeitlebens, von der Wiege bis zum Grab, sehnt es sich nach etwas, das es recht liebhaben und verzärteln kann. Und nie glücklicher sind diese Frauen, als wenn sie sich mit dem, was sie recht liebhaben, ihrer Lebtag abmartern und zu Tode schleppen können. Auf wen wartest du denn?«

»Auf einen Bräutigam«, antwortete sie leise.

»Kind«, redete er, »gedulde dich noch um ein Kurzes. Ich bin alt und sobald Madame, meine Königin Katharina, da sein wird, und ich erwarte sie sicher auf diesen Abend, so werde ich den Palast, von dem ich dir erzählt habe, auf der Hagelfluh erbauen lassen. Warte, gedulde dich noch ein wenig, meine Lachtaube! Da wirst du aus jedem Fenster seiner hundert Säle immer wieder einen andern Fürstensohn heranreiten sehen, der dich haben möchte. Sei dann nur recht wählerisch, denn es ist eine gar wichtige Stunde, die einem den König über das Land und gar über sein Herz bringt.«

»Ach«, sagte sie wehmütig lächelnd, »wie sollte ich nach vielen Freiern verlangen, Großvater. Ich habe ja schon einen gehabt. Hätte ich ihn nie ziehen lassen!«

Etwas befremdet, sinnend, schaute er sie, einen 146 Augenblick stehen bleibend, an. Dann ging er weiter. Aber wie sie nun zusammen ins Tal herabkamen, sagte er: »Ich kann mich nicht erinnern, Bethli, einen Bräutigam bei dir zu Licht gesehen zu haben, doch war da freilich ein junger Bursche aus dem Gebiet des Abtes von St. Gallen, der dir schön getan hat. Sag, hat er nicht Vitus geheißen?«

»Vitus, Großvater. Er war ein tüchtiger, ein guter Junge.«

»Ja, doch, doch, nun bekomme ich ihn allmählich vor Augen, ja, nun erinnere ich mich seiner«, redete er und nach einigem Schweigen setzte er bei: »Es war ein wohlgewachsener Feger und man hat ihn, ist's mir, auf dem Hof gut brauchen können. Wenn er dich aber recht liebgehabt hätte, Bethli, wäre er nicht davongegangen oder dann schon lange wieder da. Nein, er kann nicht von vornehmem Blut gewesen sein.« Er schüttelte nachdenklich das weiße Haupt und ihre Hand ergreifend, sprach er: »Wie magst du nur so einem nachsinnen, Kind. Gedulde dich! Bevor die Waldrosen in deinen Haaren Staub sind, kannst du vielleicht schon einem in die Augen sehen, der dir nicht davonläuft. Komm, wir wollen uns sputen, so sind wir bald auf der Hagelfluh! Es ist mir, ich höre schon irgendwoher Trompeten.«

»Ein Adler schreit über uns, Großvater.«

»Ja«, meinte er, sie nicht recht verstehend, »freilich ein alter Adler bin ich, mein Kind; da hast du recht. Da kann 147 die Adlerin, die aber jung und schwingenkräftig geblieben ist, nicht mehr weit weg sein. Komm, eilen wir, eilen wir!«

Sie zogen durch den Weiler des Euthals. Und nun folgten ihnen auch noch des Holzschuhmachers Trutli und des Hornputzers Wiseli mit einem Schärlein Kinder, die sie ja immer zusammenriefen. Sie waren alle blumenbekränzt, wie das schleppentragende Marieli. Es wollte aber dem Marieli vorkommen, die Leute um den Weg schauen heute nicht so freundlich wie sonst auf seinen königlichen Großvater. Das war wohl, weil die große Schwester mitging, denn seit sie die Euthaler Nachtbuben mit dem rauhen Tannreisbesen zur Sonnenhaldenstube hinausgefegt hatte, mochte man das Bethli im Lande nicht mehr wohlleiden. Gar vom Jungvolk war ja heute kein Bein zu erblicken. Die Burschen hatten sich wohl beim Herannahen des Umganges abseits gemacht.

Weder der Alte, noch seine Enkelin neben ihm schienen das zu bemerken. Sie mochten wohl tief in Gedanken versunken sein und ihre Sehnsüchte ließen sie nichts mehr sehen als ihr heutiges Ziel, den weit ins Tal vorstehenden Felsen, die Hagelfluh.

Und als sie nun durch die Windbruchweid hinaufstiegen, sagte der Greis, der seine Großtochter nachdenklich, aber mit immer wärmeren Augen, angesehen hatte: »Bethli, hör, es ist mir, je länger ich dich anschaue, du kommest mehr und mehr meiner erlauchten Liebsten, der Königin im Frankenland, gleichzusehen.«

148 Da ward die Maid wie ein Hochsommertag so strahlendschön, und es war, als wolle sie in alle Himmel hinauf jauchzen, aber gleich senkte sie die Augen wieder, und es war als verschatteten ihre dunklen Wimpern ihr ganzes Wesen. Sie neigte sich über des Großvaters Brust, schlug einen Arm um ihn und stieg so, ihn halbziehend, schweigend, weidauf.

Aber der war jetzt guter Dinge. Er ward gesprächig und nun raunte er seiner Enkelin ins Ohr: »Und der dir kommt, Bethli, glaub mir's, der wird der adeligste Herrensohn der Welt sein. Es ist mir«, setzte er laut, nachdenklich bei, »jene Maria Stuart, von der man sich erzählt hat, sie sei neben meiner Mediceerin die anmutigste Jungfrau am Hofe zu Paris gewesen, könnte jetzt einen Enkel haben, der just in deinem Alter wäre. Aber heiße den Prinz, der da im Gefolge meiner Herrin ja wohl mitreitet, wie er will, er wird dich sicher alles, was dir ans Herz gekommen ist, doch deiner nicht wert war, vergessen machen. Und meinst du gleichwohl einen Wunsch begraben zu müssen, so wird das sein, wie der abfallende Samen einer Frucht. Denn sei getrost, Bethli, wer immer ein Samenkorn begräbt, glaubt an die Auferstehung vom Toten.«

Also kamen sie auf die Hagelfluh. Und nun saßen sie im Schirm der mächtigen Wettertanne auf der kleinen Bank, erwartungsfroh, sehnsüchtig über das Tal der stillen Sihl hin nach den dämmerblauen Höhenzügen schauend.

149 Und der Ringelreihen der Kinder umjubelte sie und das Gejohle und der Lärm Sebelis und Bänelis, die Steine über die Fluh hinunterrollen ließen. Das Marieli aber lagerte zu Füßen ihres Großvaters und ihrer Schwester auf dem feingeblümten Rasen. Fast verwundert schaute es zu ihnen auf, denn es wollte ihm vorkommen, ihre blauen Augen, die nun sehnsüchtig ins Weite staunten, gleichen sich heute gar so sehr. Aber als es nun ob ihm immer still blieb, legte es sein Köpfchen auf seines Großvaters Füße und schlummerte, trotz dem Geschrei der spielenden Kinder, ein.

Von da an zog das Bethli mit seinem Großvater alle Sonnabende nach der Hagelfluh. Die Leute, die sie sahen, wie sie so still, fast kopfhängerisch, dahinschritt und die sonstwie bei Begegnungen im Tal kaum den Guttaggruß erwidert bekamen, hielten sich darüber immer mehr auf. Das Lachbethli, sagten sie zueinander, verdiene seinen schönen Übernamen nicht mehr. Kein Mensch habe sie lachen hören, seit ihres Vaters Knecht, der Vitus Wiler, fort sei. Es hätte sich aber auch niemand denken können, daß das bei diesem übermütigen Maitli, bei diesem Hollediho also umschlagen könnte, bei so einem Lachstrudel. Da sehe man wieder einmal, wie tief wilde Wasser graben. Vielleicht auch, setzte man schadenfreudig bei, reue es die tolle Jungfer doch, daß sie mit dem eigenen Jungvolk, eines Spaßes wegen, so völlig landesunbräuchlich abgefahren sei. Sie müsse es ja jetzt erleben, daß ihr kein einziger Nachtbub mehr ums Haus und auf die Scheiter 150 komme. Auch auf ihren Vitus werde sie wohl lange warten können, den sehe sie nie wieder; man kenne ja das Mannsvolk.

Die Lunn aber, die Magd auf der Sonnenhalden, die das willwänkische Bethli nie besonders hatte leiden mögen, raunte den Weibern überall zu, des Sebimarias Große werde immer trübseliger. Sie hintersinne sich am End noch. Nun klebe sie miteinemmale am verstörten Großvater, wie Tannenharz, obwohl sie ihn doch früher genug geplagt und ausgespielt habe. Jetzt lasse sie ihn nie mehr allein. Das Marieli, das eben das zehnmal bessere Geschöpf sei und immer, treu wie sein Bart, am Alten gehangen habe, werde nun fast eifersüchtig. Es sei doch gewiß mehr als merkwürdig. Früher sei das ein Getue, ein Holla und Heijuppedihee im ganzen Haus und drum herum gewesen, daß man immer wie in einer Haspel gelebt habe. Nun sei's grad das Gegenteil. Sie wandle jetzt herum wie der Schatten an der Wand, rede nichts und möge einen kaum anschauen. Aber je stiller sie werde, desto mehr Rauch scheine sie zu bekommen, wie das Feuer im Herd. Allundein Abend rücke sie nun ihr Spinnrad auf den untern Ofenumgang und lausche dort dem alten Zachris seine Geschichten ab, in denen es von Königen und Herrensöhnen nur so wimmle. Das gute Marieli komme einfach nicht mehr so recht zu Platz auf dem Ofen und beim Großvater. Doch sei es ja ein geduldiges und am End auch zufrieden, wenn es nur irgendwie um den Alten sein 151 könne, den es, beim wahrhaftigen Gott, immer noch für einen König halte. Wenn er aber zu Bett sei, kauere darnach das Lachbethli oft noch lange hinterm Spinnrad, ohne auch nur einen Fingernagel oder eine Zehe zu rühren und staune alleweil vor sich hin oder in die Nacht hinaus. Letzthin sei sie, zu aller Überraschung, während des Morgenessens unversehens aufgesprungen und aufs Stiegenbrücklein hinausgerannt und habe gelärmt: »Er kommt, er kommt, heilige Muttergottes im Himmel oben, endlich kommt er!« Aber statt des Vitus, auf den sie doch wohl warte, ein Kind könnte das merken, sei nur der Langresl mit seinen drei Sentenschellen am Hals und der Sense auf dem Rücken, aufs Haus zugetrampt. Nein, es werde zu wunderlich mit ihr. Oft verberge sie sich am hellen heitern Tag im Ofenwinkel und seufze in sich hinein. Der Alte auf dem Ofen sei dann ganz unglücklich und gebe keine Ruhe, bis er sie wieder bei sich auf dem Ofen habe. Da wisse er sie immer wieder so wohl zu trösten, wie man's von einem, der doch selber den Hexentanz im Kopf habe, nie für möglich halten würde. Er komme ihr dann alleweil mit den Königssöhnen, als könnte er sie nur so, wie die heillosen Steine, mit der er ihr das ganze Haus und alle Kammern verlege und versaue, vom Boden auflesen. Aber das Bethli lausche ihm immer wieder, ja, immer andächtiger. Man kenne diesen einstigen Plaggeist und Hollediho gar nicht mehr.

Das Merkwürdigste hätte sie ihr jedoch noch gar nicht 152 berichtet, flüsterte die Magd eines Tages dem armmütigen Weib des krummbeinigen Gängeli zu, das in der Küche aushalf. Letzthin sei das Bethli den ganzen Morgen hindurch gewesen wie früher. Es habe gelacht und geneckt und die beiden kleinen Buben, den Sebeli und den Bäneli, in der Stube herumgehetzt und sie umarmt und gedrückt, daß sie Fürijo und Mordijo geschrien hätten und darnach habe es gar getanzt, muttergottsseelenallein, wie die gottlose Salome vor dem König Herodes. Der Alte auf dem Ofen sei vor Freude ganz wirblig geworden und habe dazu gesummt, wie die Bienen im blühenden Wald, und gar mit den alten Beinen gestrampelt, wie ein Kind im warmen Wasser. Sie habe das alles durch einen Türspalt in der Küche sehen können. Aber wie sie nun wieder am Herd gestanden sei und an nichts Böses gedacht habe, sei auf einmal das Bethli hinter ihr gestanden. Fast ängstlich habe es sich nach allen Seiten umgesehen und pst, pst! gemacht und ihr alsdann ins Ohr geraunt: »Lunn, nun will ich es dir auch anvertrauen, denn du mußt ja das Haus zum Empfang aufräumen und Herausputzen helfen. So hör also: Nächsten Sonnabend kommt die Königin von Frankenland endlich ins Euthal und mit ihr mein Geliebter, denn ich bin eine Königstochter.«

Gar mancherlei noch wußte die Lunn aus dem Sonnenhaldenhaus zu berichten.

Die Leute schüttelten darüber die Köpfe und dachten sich ihre Sache. Nur noch neugieriger als vorher schauten 153 sie sich den Umzug des Königs von Euland an, wenn er, nun immer auch mit dem Bethli, durchs Tal ging.

Es kamen dann die Herbsttage, in denen man im Tale der Alp, hinter den Waldhöhen des Toppelsberges, am Wallfahrtsort Maria Einsiedeln, auf das Fest der großen Engelweihe rüstete, zu dem die Pilger aus aller Herren Länder zu Unserer Lieben Frauen der Meinradszelle zusammenzuströmen pflegten.

Da ward der Alte auf der Sonnenhalde immer unruhiger. Angelegentlicher, sehnsüchtiger, schaute er von seinem felsigen Hochsitz aus über die roten Rieder der stillen Sihl hin nach den Grattannen des Toppelsberges, hinter dem er das Kloster und die Gnadenkapelle Unserer Lieben Frauen zu den Einsiedlen wußte. Und als nun gar ein Kapuziner, der auf der Sonnenhalde um eine Gabe für sein Klösterlein anhielt, berichtete, wie viel Volk auf die Engelweihe im Tale der Alp schon angekommen sei und wie die Wallfahrer immer noch von allen Seiten über die Pässe zu Einsiedlen scharenweise eintreffen, ja, daß gar eine Pilgerfahrt aus dem Frankenreich, ja aus der Stadt Paris, angekündigt sei, kam der Greis ganz aus dem Alltagsgeleise.

Kaum war der Kapuziner weg, wollte er durchaus auf den nahen Vorabend des hohen Festtages der Engelweihe nach der Waldstatt Einsiedlen ziehen. Alle Einreden Sebimarias, seines Sohnes, der ihm den für sein Alter doch recht beschwerlichen Weg vor Augen hielt und 154 ihm verdeutete, man könnte vielleicht bei dem gewaltigen Andrang der Pilger kein Nachtlager mehr finden, vermochten ihn von seiner Absicht nicht abzubringen. Man mochte sagen, was man wollte, allem und jedem hielt er entgegen, nun werde ganz gewiß und heilig seine geliebte Katharina, die allerchristlichste Königinwitwe des Frankenlandes, auch nach Maria Einsiedlen kommen. Ja, er sei jetzt völlig sicher, daß sie ihn auf die Vesper am Vorabend dort zu begegnen hoffe. Sie sei ihm im Traume erschienen und habe ihm das kundgetan. Der heilige Denisius, der Patron der fränkischen Könige, sei noch bei ihr gewesen. Sie habe ihm mitgeteilt, daß es ihr nur durch den Vorwand dieser Wallfahrt möglich geworden sei, aus Paris fortzukommen. Ihr königlicher Sohn hätte sie niemals ziehen lassen, wenn sie nicht vorgegeben hätte, diese Pilgerreise nach Notre Dame des Hermites sei ein Gelöbnis von ihr, als Dank für ihre einstige wunderbare Rettung aus den Fängen der Hugenotten bei Meaux. Und nun sei sie schon lange auf dem Weg ins Schwyzer Hochland mit einem ansehnlichen, ihr auf Leben und Sterben ergebenen Teil ihres Hofes, um endlich einmal in seine Arme eilen zu können.

Zachris Ruhstaller, der alte Sonnenhalder, setzte denn auch seinen Kopf mit echtem Herrenwillen durch, umsomehr, als er an Bethli eine zähe Helferin hatte, denn auch sie machte sich von dieser Wallfahrt nach dem nicht fernen Maria Einsiedlen Hoffnungen.

155 Als nun der Vorabend der großen Engelweihe gekommen war, brach eine beträchtliche Schar Hirtenvolkes aus dem Euthal und aus dem Tal der Minster nach der Waldstatt Einsiedlen auf. Der Alte auf der Sonnenhalde gedachte, dort noch auf die hochfeierliche Vesper, welche die heilige Oktave eröffnen sollte, einzutreffen.

Im Geleite Sebimarias, des Sonnenhaldenbauers, gingen auch seine Leute, sogar der dreikropfige Langresl und der buckelige Gängeli auf seinen krummen Beinen, mit. Der König von Euland wollte, wie er sagte, auch seinen Reiterobersten und den Haushofmeister dabeisehen. Seine königliche Geliebte sollte nichts vermissen, was zu einem höfischen Aufzug gehörte. Alles war mit, nur den Sebeli und den Bäneli hatte das Bethli unter der Obhut einer alten Base zuhause gelassen.

Es war um Mittag, als sich diese bergbäuerlichen Wallfahrer aufmachten und durchs Tal der Sihl wanderten.

Allen voraus schritt, so hurtig er's bei seinem Alter und dem rauhen Weg konnte, der Alte ab der Sonnenhalde in seinem vollen königlichen Aufrust. Das Lachbethli, seine Enkelin, die auf dem rötlichschimmernden Braunhaar einen Kranz blauer vielglockiger Enzianen trug, führte ihn.

Wie sie nun zum langen, über eine Steinwüste gehenden Holzsteg kamen, machte sich das Bethli voran, am Hirtenstab den Alten behutsam nachziehend, dessen Mantelschleppe das nachtrippelnde Marieli mit ernsten Augen 156 betreute. Aber des Holzschuhmachers Trutli und des Hornputzers Wiseli, die ihnen mit leisen Barfüßchen folgten, schauten etwas ängstlich ins schmutziggelbe Hochwasser, das von einem nächtlichen Gewitter her unter dem Steg hinwegrauschte. Das Trutli hatte ein weißes und das Wiseli ein schwarzes Lämmlein auf den Armen. Sie sollten das erste Willkommnungsgeschenk des Königs von Euland an seine langersehnte geliebte Herrin sein. Er hatte die Schäfchen hiefür schon vor ein paar Tagen von der Sattelalp herabholen lassen. Jetzt tastete sich auch ein Geläuf Weibervolks der unsichern Lehne nach über den schwankenden Steg und hinterher trampten unverzagt eine ansehnliche Schar bestandener und grauer Hirten, in allem möglichen, sogar in abgetragenem soldatischen Aufrust. Nicht ein einziger junger Bursche war unter ihnen. Nein, die hatten nicht mitkommen wollen. Nein, hatten sie gesagt, wenn sie nach Maria Einsiedlen zur Engelweihe pilgern werden, dürfe ihnen weder ein Narrenkönig, noch eine hochnäsige Närrin vorangehen. Aber ihre Alten hatten sie ausgelacht und waren ruhig mit dem König von Euland gegangen, der sie feierlich durch eine Schar das Land auslaufender Schellenträger hatte aufbieten und zusammenläuten lassen. Sie hatten eine heimliche Scheu davor, dem schwergeprüften Greisen entgegenzusein, auch mochten sie ihm seine Krone wohl gönnen.

Es war gewitterig, schwül. Irgendwo hinter den Bergen wetterleuchtete es. Aber die Sonne folgte, hoch 157 ob dem Stäubrig, dem Zug der Wallfahrer und verblieb bei ihm, der's nun auf dem holperigen, steinigen Weg, der mehr einer Bachrunse glich, nur langsam vorwärts brachte.

Zuerst hatten alle laut gebetet, darnach sangen sie, mit immer müder werdenden Stimmen, geistliche Lieder.

Schweigend, grüblerisch war Bethli lange neben ihrem Großvater dahingegangen. Aber nun drückte sie seine Hand und fragte ihn mit leiser Stimme: »Großvater, seid mir nicht bös, daß ich gerne etwas von euch wissen möchte. Ich muß die letzte Zeit so oft dran herumsinnen, wie es denn gekommen ist, daß ihr und wie ihr euer Königtum innegeworden seid. Ja, tief in meine Nächte hinein hat mir das zu denken gegeben, wie aus einem einfachen Hirten ein König sollte werden können. Nun ich aber weiß, daß ihr's wahrhaftig, vor Gott und Menschen seid, müßt ihr mir auch sagen, wie ihr dazu gekommen seid. Nicht wahr, Großvater, ihr erzählt's mir!«

Der Greis blieb stehen, seine Enkelin erst verwundert, dann aufleuchtend, freudig ansehend. Er tat einen langen Blick an die einsam aufragende Schrähhöhe zurück, alsdann antwortete er: »Ja, Mignonne, ich will dir's erzählen; du bist ja meine Nachfolgerin, so Gott will. Aber behalt es für dich, denn was dir Leben sein kann, ist andern vielleicht nur Luft und kein Mund ist klüger als der schweigsame.« Er schritt, ziemlich schwerfällig, weiter und begann zu erzählen:

158 »Ich war noch ein junges Bürschlein, als ich meines Vaters Schafherde in der Ahornweid hütete. Eines Abends nun vermißte ich ein Schaf, wohl das weißeste der ganzen Herde. Ich machte mich nach ihm auf, aber ich vermochte es nicht zu finden. Endlich geriet ich unter die Bergtannen der Schräh. Und als ich meinte, ein klägliches Pläären zu hören, kam ich völlig in die unwegsame Waldwildnis hinauf. Von meinem Lämmlein fand ich jedoch keine Spur. Die Eulen begannen zu puhuen und als ich unter den Urtannen heraus in die hochgelegene Schrähalp hineintrat, war's Nacht geworden, aber der Mond beschien die einsame Hochweid. Und da erblickte ich auf einmal, zu meiner Überraschung, zuhöchst auf der Weid ein Haus, das im Mondlicht ganz weiß erschien. Obwohl es mir etwas unheimlich ward, ging ich doch draufzu, es wunderte mich, was das wohl für ein Haus sein möchte. Immer mächtiger hob es sich gegen den nächtlichen Himmel ab. Und nun stand es vor mir als ein gewaltiges, langes Gebäude, mit einem an beiden Enden abgeschrägten Schindeldach. Es hatte zu beiden Seiten nichts als eine Reihe eiförmiger Ausgucke unter dem Dach. Nur auf der Schmalseite, auf die ich zögernd zuschritt, war eine große Bogentür und hoch darüber neben einer schmalen länglichen Scharte wieder zwei schiefliegende Langlöcher, also daß es mich fast ansah wie ein Gesicht.

Neugierig, auch etwas unruhig, betrachtete ich das 159 stille Haus, das mit seinen hohlen Augen nach den dämmerhaften Schneebergen auszuschauen schien.

Ich bekreuzte mich und wie ich nun auf die fallenlose Türe zuging, tat sie sich lautlos auf. Und siehe, da war ich nun miteinemmale in einer hohen Halle, deren Wänden entlang rotgepolsterte Stühle standen. Sonst vermochte ich in der blauen Dämmerung nichts zu gewahren. Es ward mir völlig unheimlich, ich wagte kaum zu atmen und leise wollte ich mich zur Türe zurückschleichen, die sich wieder geschlossen hatte.

Da pochte es daran, sie ging auf und die Halle erhellte sich bis in ihr schweres, goldigschimmerndes Balkenwerk hinauf. Ein Mann trat über die Schwelle. Der hatte einen Mantel um, den ein schöner Knabe trug. Drüber aber, um die Schultern, hatte er ein gewöhnliches Hirthemd und auf dessen Kapuze eine Krone. Ich suchte ängstlich sein Gesicht, doch er hatte eine hölzerne Maske davor.

An seinem langen Hirtenstab schritt er nun feierlich durch die Halle. Aber gleich ihm nach kam ein häßlicher Kobold, ein Nachtbutz, der an einer roten Schnur ein schneetaubenweißes Schaf nachzog. Es war das meinige, ich erkannte es sogleich. Drauf ritt jetzt ein gehörnter Butz, der ein Spieglein in der Hand hielt. Wohin er auch immer damit zielte, da taten sich die Wände auf, also daß man für einen Augenblick unten tief im Tal das silberige Sihlflüßlein und darüber hinweg aber eine ferne 160 unbekannte Welt aufscheinen sah. Das Lamm trieb ein dritter Kobold an, der über die zottige Schulter ein Schlachtbeil trug.

Ach, dachte ich, da bin ich wohl in das Geisterhaus geraten, von dem mir eine alte Base erzählt hatte, daß es auf der Schrähhöhe alle hundert Jahre einmal sich zeige.

Aber ich konnte nicht weiter darüber nachdenken. Ein Zug scheußlicher, langohriger Kobolde, die alle Ziegenschellen am Rücken hatten, machten sich wackelnd, die großen Köpfe wiegend, an mir vorbei. Das waren doch wohl die Butzen vom nahen Butzistock. Ein lustiges Völklein Erdmännchen und Erdweiblein, in braunen Kapuzen folgten ihnen, die alle Hände voll Buntsteine hochwarfen und wieder auffingen, was ein gar köstliches Farbenspiel gab. Das mochten die Erdleutchen aus den Schluchten der Krummfluh sein, deren Lichter man nachts oft dort umgehen sieht. Aber die schwarzgekleideten Männer, die ihnen mit ernsten totenbleichen Gesichtern unter den hohen schwarzen Hüten langsam, wie im Leichengang, folgten, verteilten sich nach beiden Seiten der Halle, wo sie sich auf die glühendroten Stühle niederließen. Sicherlich waren das die gespenstigen Waldherren von der Hirzegg.

Ach, da kamen sie ja alle, die Gespenster des ganzen Landes. Und als ich hinter ihnen durch nach der Türe schleichen wollte, kamen lautlos die drei weißen Frauen aus der Ahornweid herein. Eine jede trug in ihren 161 Händen ein goldbebändertes schwarzes Kissen. Auf einem lag ein goldenes Kästlein, auf dem andern ein dunkelgrüner Lorbeerzweig und auf dem dritten eine blutrote Waldrose.

Jetzt hornte es draußen in der Nacht und als ich vor Angst zu vergehen meinte, stürmte der nackte, zottige, Wilde Mann vom Tuliwald, wer denn hätte es sonst sein können, zur Türe herein. In der Faust hatte er ein gewaltiges Horn. Und er stürmte weiter. Und wie ich ihm nachschaute, sah ich, daß sich der König mit der Krone auf dem Hirthemd, zuvorderst in der hellerleuchteten Halle auf einem Hochsitz niedergelassen hatte. Auf dessen Stufen aber setzten sich eben die drei weißen Frauen, und weit um das alles herum lagerte sich das ganze Volk der Gespenster.

Als nun der Wilde Mann in der Mitte der Halle angekommen war, wandte er sich und stieß in sein Horn, daß die Wände bebten.

Da eilten gar leichtfüßig ein ganzer Flug feiner Mägdlein, in sonnengoldluftigen, schleierhaften Gewändern in die Halle hinein. Ob den hellen Augen trugen sie blühende Erikakränze und in den Händen hatte jede eine kleine goldene Schale. Und als nun der wilde Mann nochmals ins Horn stieß, umtanzten sie ihn in einem zierlichen Reigen. Es wurde mir auf einmal so wohl, so morgenfreudig zumut, denn von irgendwoher, es schien mir aus den Wänden zu kommen, floß eine Tanzmusik, wie ich sie so wundersam meiner Lebtag nie mehr vernommen 162 habe. Und jedesmal, wenn die tanzenden Mägdlein ihre niedlichen Goldschalen plötzlich hochhielten, vermochte man alles zu hören, was im Bergland allüberall, ja sogar was im Traum gesprochen ward.

Das waren ja gewiß und heilig die verwunschenen Seelen schöner Mädchen, die Bergechos aus dem Freisenwald, von der Bärlaui und aus der ganzen Hochwelt.

Aber wie schrak ich zusammen! Das erbärmliche, das jämmerliche Klagen meines Schafes pläärte in die Tanzmusik herein. Und nun sah ich, wie man mein weißes Lamm vor den Hochsitz des wunderlichen Königs zerrte und wie der Nachtbutz sein Beil erhob. Ach, gewiß wollte man es töten. Es packte mich, all meine Furcht fiel völlig von mir ab. ›He du dort vorne, du Staudenteufel, was machst du?!‹ lärmte ich, ›du solltest dich erfrechen, mein schönes Schaf totzuschlagen. Es ist mein Schaf!‹

Nun rannte ich, alles vergessend, durch die lange Halle bis zum Hochsitz des verlarvten Königs. Ich warf mich auf den Butz, um ihm das Schlachtbeil zu entreißen, obschon mich der gehörnte Kobold daneben mit seinem Spieglein zu blenden suchte. Aber da sagte eine grabestiefe Stimme: ›Wie kannst du's wagen, das Opfer, das die Berggeister dem König dieses Landes, der nun unter ihnen weilt, bringen wollen, zu verwehren?‹

›Deswegen‹, fuhr's mir heraus, ›weil ich der Zachris ab der Sonnenhalde bin und weil also das Schaf mir gehört. Es ist mir entlaufen und die Nachtbutzen müssen es 163 mir gestohlen haben. Die Mutter hat es mir geschenkt und wäre mein Vater nicht vor ein paar Tagen gestorben, hätte ich es ihm zur Freude schlachten wollen, wenn er wieder gesund geworden wäre. Wer, sag, bist denn aber du und für was hast du eine Larve an?‹

Da lachten ringsum die häßlichen Butzen und die Erdleutchen. Der König aber winkte. Es ward mäuschenstill. Und nun nahm er die Maske vom Gesicht und redete: ›Wisse, ich bin der König von Euland und dein . . .‹

›Vater!‹ schrie ich auf. Die ernsten Augen und das bleiche Angesicht meines eben verstorbenen Vaters sahen mich an.

›Bist du denn ein König, Vater?‹ fragte ich ihn erstaunt.

›Ja‹, antwortete er, ›ich bin königlichen Blutes und ein König. Aber zeitlebens habe ich das mit dem Hirthemd verhüllt und es ängstlich hinter einer Maske zu verbergen gesucht. Immer machte ich mich mit dem Volke gemein. Und doch hätte es den Leuten so wohlgetan, einen Starken, einen der ob ihnen stand, zu wissen, zu dem sie mit Vertrauen hätten emporsehen, an dem sie selber hätten aufstehen können. Sie ahnten mich aber wohl und große Mühe hatte ich, es ihnen so gut als möglich zu verbergen. Und deswegen, mein Sohn, muß ich nun bis zu meiner Erlösung eine Maske tragen, weil ich mein wahres Gesicht und gottverliehenes Wesen verdeckte. So zeig dich denn dein Leben lang als das, was du bist, mit Licht und 164 Schatten, auf daß ich durch dich zur Ruhe komme. Und weil du nun einmal da bist und weil du dein Lamm so treu gesucht hast bis in die dunkle Nacht hinein, darfst du dir aus den kostbaren Gaben der weißen Frauen eine auslesen. Sie wird mit dir durchs Leben gehen. So bedenk's denn wohl, welche du wählst!‹

Und schon hatten sich die drei weißen Frauen erhoben und nun hielten sie mir ihre dunkelsamtenen Kissen hin. Aber ich besah die drei Gaben nicht lange: Ein goldenes Kästlein, ein Lorbeerzweig, – schon hatte ich die wilde, blutrote Rose in der Hand.

Da ging unter den Nachtbutzen und den Erdleutchen wieder ein Kichern um. Aber die schwarzgewandeten Waldherren erhoben sich von ihren brandroten Stühlen und verneigten sich tief vor mir, während die Echos ihre Goldschalen hochhielten, sodaß ich aus dem ganzen Land das freudetrunkene Aufjauchzen der heimkehrenden Nachtbuben vernehmen konnte.

Der König winkte. Alles wurde still, wie das Herz eines selig Verstorbenen. Auch die weißen Frauen saßen wieder auf den Stufen des Hochsitzes. ›Und nun, mein Sohn‹, sagte mein königlicher Vater, ›nimm auch dein Schäflein wieder!‹

Aber wie ich nach dem Schaf greifen wollte, ertönte das Horn des Wildmanns. Es ward stockdunkel, doch durch die Gucklöcher hochoben schien der Morgen zu schauen. Ein gewaltiger Windstoß schlug die Türe auf und sausend 165 und brausend fuhr's durch die Halle. Die Sinne vergingen mir.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Höhe der wilden Schräh im Weidgras. Das Geisterhaus war spurlos verschwunden. Aber im dämmernden Morgen konnte ich die sich rötenden Schneeberge sehen und gewaltig tosten in der Tiefe die hochgehenden Wildwasser des Wellkessi- und Steinkastenbaches. Und dann erhob sich neben mir etwas aus dem feuchten Gras. Es war mein verlaufenes weißes Schaf.

Da lockte ich's und es lief mir weidlich nach, denn ich jagte, wie der Biswind alpab. Und trotzdem es noch dämmerdunkel war, kam ich nicht zu Fall. Ich hatte eine Waldrose in der Hand, die mir einen roten Lichtschein vorauswarf. Und als ich daheim anlangte, auf der Sonnhalde, sagte mir die Mutter, sie hätten eine große Angst um mich ausgestanden, um so mehr als ein heftiges Gewitter über die Schräh niedergegangen sei.

Also, mein liebes Kind, bin ich mein Königtum innegeworden.«

Der Alte ward still. Seine Enkelin aber hatte seine Hand ergriffen und so gingen sie schweigend, in tiefes Nachdenken versunken, durchs Hochtal weiter.

Der Weg ward immer mühsamer. Die Wallfahrer hatten es nicht leicht, über die hochgehenden Wildwasser zu kommen, die jetzt aus den Urwäldern der Großerrunsen herabrasten. Hätte Sebimaria, der Sonnenhaldenbauer, 166 nicht seinen Vater rittlings auf dem Nacken über den langen, von der Gewalt heranrollenden Gesteins argbedrohten Steg getragen und wäre ihnen das Lachbethli, das Marieli auf den Armen, nicht ruhig und sicher wie eine Traumwandlerin gefolgt, würden die Talleute hinter ihnen wohl wieder heimgegangen sein. So aber scheuten sie sich zurückzubleiben, um so mehr als nun auch des Holzschuhmachers Trutli mit seinem weißen und des Hornputzers Wiseli mit seinem schwarzen Lämmlein in den Armen, dem Bethli nachgingen. Und nun machten sich die Wallfahrer alle ziemlich hastig über den Steg, über den das braune, unheimliche Wildwasser hinausgischtete. Es war auch höchste Zeit, denn kaum waren sie jenseits in den Tannen und Birken angelangt, riß der Großbach den Steg los und nahm ihn mit. Fast wäre auch der buckelige Gängeli, als letzter, noch mit weggeführt worden, hätte ihn nicht ein verzweifelter Sprung ans Ufer gebracht.

Und weiter ging's über Stock und Stein, durch versumpfte, mit Birken und Zwergföhren überstandene Rieder, aus denen Reiher, Kibitze und Wasserhühner, aber auch hundertfältig die Heidelerchen, aufstiegen. Als sie aber endlich an den Toppelsberg und gar um seinen ins Tal der Schachensihl vorstehenden Ausläufer kamen, tat sich vor ihnen das Tal der Alp mit den Dorfweiden der Waldleute von Einsiedlen auf und miteinemmale hoben alle Glocken des großen grauen Klosters, das nun hart vor ihnen stand, zu läuten an. Gewiß läuteten sie eben 167 das Fest der Engelweihe und also die hochfeierliche Vesper ein.

Der König von Euland hielt an. Seine Augen leuchteten. Nun war es ja sicher und heilig gewonnen. Da kam das heißersehnte Ziel seiner Träume, die Vereinigung mit seiner Geliebten. Hier an der heiligen Gnadenstätte der Meinradszelle sollten seine Leiden für immer ein Ende finden. Er fühlte sich so müde. Es war wohl hohe Zeit, daß sie kam; nein, länger hätte er nicht mehr warten können. »In Gottes und aller Heiligen Namen, endlich, endlich«, rief er mit merkwürdig schwacher Stimme aus, »endlich am Port! Komm, Bethli, komm, Königskind!«

Es war als ob er aus langem, schwerem Schlaf auferwachte. Er ward unruhig, hastig und begann nun fast rüstig auszuziehen. Ja, das Bethli schien ihm zu langsam. Aber auch sie, deren Augen eben noch im Schatten lagen, strahlten jetzt. Die Kinder, mit den Leuten hinter ihnen verwunderten sich über die plötzliche Hast, mit der nun Großvater und Enkelin über die grünen Matten der Waldstatt Einsiedlen zustrebten. Aber sie beeilten sich, mit ihnen Schritt zu halten.

Und bald waren sie alle vor dem Kloster, das aus einer heimeligen Nische des tannenbestandenen Toppoberges ins Tal der Alp hinabschaute.

Die Euthaler Hirten und ihre Weiber und Kinder machten sich sogleich in die hochragende Kirche hinein, aus 168 der ein schönstimmiger Knabengesang kam. Gewiß hatte die feierliche Vesper schon angefangen. Von allen Seiten und in den vielfältigsten und kostbarsten Gewändern und Landestrachten stiegen die Pilger aller Welt zur Kirche auf.

Aber der Alte von der Sonnenhalde, der Zachris Ruhstaller, wollte noch nicht mithineingehen, trotzdem ihn Sebimaria, sein Sohn, dazu drängte. »Kommt, Vater!« redete er ihn an, »die Vesper hat begonnen. Es wird euch gewiß wohltun, in den Kirchenstühlen eine Zeitlang auszuruhen. Es will mir scheinen, ihr könntet es brauchen. Kommt jetzt, kommt!«

»Sebimaria«, antwortete der Greis mit schwacher Stimme, »laßt mich! Geht ihr alle nur ruhig hinein. Ich muß hier bleiben, an der Türe der Königin aller Königinnen, vor dem Hause der Muttergottes. Hier soll sie mir begegnen, hier mich zuerst erblicken, sie, vor deren Türen ich einst immer so sehnsüchtig auf ihr leises Brokatschühlein gelauscht und gewartet habe, Katharina, meine süße Herrin. Und nun heute, heute endlich – oh! Tausendmal sei mir willkommen, meine Getreue!«

»Vater, so hört doch! Ihr fallt ja vor Müdigkeit noch um, ihr . . .«

»Laßt den Großvater«, raunte jetzt das Bethli dem Bauern zu, »laßt ihn hier auf sie warten. Wie sollte er ihr nicht hier warten wollen? Über diese Stiege herauf muß sie ja kommen, das weiß er gewiß alles aus seinen 169 Träumen, von denen er uns ja erzählt hat. So laßt ihn in Gottesnamen, was zerrt ihr denn da an seiner Seele herum? Hier will er nun warten und ich, Vater«, redete sie vernehmlicher, »ich warte mit ihm. O Vater, auch ich erwarte heut einen, der mir das Lachen wiederbringen wird, das er eines Tages mit sich fortgenommen hat.«

»Jesusgott, Jesusgott!« machte stöhnend Sebimaria, »heilige Gnadenmutter zu den Einsiedlen, bittet für uns!«

»Vater«, sagte sie, ihn aus warmen Augen ansehend, »tretet jetzt nur in die Kirche hinein, seht, der Großvater und ich können noch nicht mitgehen. Das Herz würde uns zu schwer, es brächte es nicht über die Kirchentürenschwelle, bevor sie kommen, die wir erwarten. Seid aber getrost, Vater, sie kommen uns, sie kommen uns, glaubt es heilig! Und alles nimmt noch ein gutes Ende. Geht nur ruhig hinein, Vater!«

Zachris, der Alte, schien von dem allem nichts zu hören. Er schaute unverwandt die steinerne breite Treppe hinab, über die immer noch die Pilger aufstiegen.

Jetzt ging Sebimaria, der Bauer, gefolgt von den Tagnern Langresl und Gängeli und von der Lunn, der Magd, hängenden Kopfes, mit schweren Schritten, als müßte er durch hohe Schneewehen waten, in die Kirche hinein.

Der Greis aber stand, gestützt von seiner Großtochter, umgeben von Marieli und von Trutli und Wiseli, die sich mit ihren Schäfchen gesetzt hatten, oben auf dem 170 Treppenumgang, immer in die heraufsteigenden Pilger hineinschauend. Und wie nun ein paar Wallfahrer an ihm vorbei zur Kirche gingen, die in der welschen Sprache des Frankenreichs laut beteten, erzitterte ihm das Herz. Er hielt den nächsten Pilger aus welschen Landen an und fragte ihn, wo er die Königin Katharina gelassen habe und ob sie denn nicht gleich hinter ihm her durch das Dorf der Waldleute heraufkomme. Nämlich, er warte schon seit mehr als hundert Jahren auf sie. Aber heute komme sie endlich, es sei ihm eben gewesen, er höre ihre Trompeten.

Aber der Pilger aus dem Frankenland rückte scheu von ihm ab, wie all das heraufsteigende Volk der fremden Waller, dem er in seinem ungewohnten Aufrust vor Augen kam. Fast erschrocken glotzte auch der nächste Pilger, den er ansprach und nach seiner Königin fragte, ihn und sein weißes gekröntes Haupt an und die schöne, schwermütig blickende Maid, die ihn mit ihren Armen fast trug. Und flugs war auch er durch eine Nebenpforte der Kirche verschwunden.

Jedoch der Alte gab nicht nach. Immer aufgeregter, dringender ward er. Kein Pilger brachte es mehr an ihm vorbei, in dem er einen Welschen vermutete, den er nicht nach der Königin Katharina fragte. Aber auch das Bethli ließ keinen Menschen aus den Augen, der an ihr vorüberging.

Als nun ihr Großvater wieder einen bedächtig auf ihn zusteigenden, vornehmer gekleideten Welschen anredete 171 und angelegentlich auszufragen begann, blieb der ruhig vor ihm stehen, was bisan noch keiner getan hatte. Aufmerksam hörte er ihm zu, mit raschem Blick ihn und sein wunderliches Gewand umfassend. Und alsdann antwortete er, dem Greise in die gierig, fast ängstlich wartenden Augen schauend: »Monsieur, Verzeihung, ich komme nicht so recht aus euch und aus dem was ihr meint. Wenn ihr aber Katharina von Medici, Frankreichs Königin, erwartet, so muß ich euch sagen, daß sie schon lange tot ist und in den königlichen Gräbern von St. Denisius ruht und daß an ihres verstorbenen Sohnes Statt heute Heinrich IV. von Novara den Thron der allerchristlichsten Könige inne hat.«

Der Alte staunte den Pilger wie betäubt an und er staunte ihm, mit immer größer, gespenstig werdenden Augen nach, als er jetzt würdigen Ganges auf die große Kirchenpforte zuschritt.

Dann stöhnte er schwer, abgründig auf; die kleinen goldenen Kugeln zitterten in seinen weißen Bart hinein, das Haupt sank ihm, und bleich, wie der Mond im Nebel, brach er in den Armen seiner Enkelin zusammen.

Ein fürchterlicher Aufschrei machte all das fromme Volk bis tief in die Klosterkirche hinein, erschauern. »Der König ist tot, der König ist tot!« heulte das Bethli auf.

Und aufschreiend ließ sie sich, den Großvater in den Armen, mit irren, brennenden Augen, auf dem steinernen Treppenumgang nieder.

172 Da saß sie nun, das weiße gekrönte Haupt im Schoß, immer wieder verzweifelt aufjammernd. Und zu des Großvaters Füßen knieten das Marieli, mit dem Trutli und dem Wiseli, die immer noch ihre Schäfchen in den Armen hatten. »Großvater, ach Großvater!« rief trostlos schluchzend das Marieli aus und die beiden andern Kinder weinten mit eintönigen Stimmen mit ihm. Sie fühlten sich alle drei von Gott und Welt verlassen.

Aus den Kramgaden herauf eilten die Einsiedler Waldfrauen und aus der Kirche Pilger und Pilgerinnen. Und sie alle entsetzten und bekreuzten sich angesichts der wilden Verzweiflung des bleichen Mädchens im Bauerngewand, das sich die Haare zerzauste, die ihm bald wie vom Sturm zerfetzt, um Hals und Schultern hingen, und das sich mit den Fäusten auf die Brust und auf die Stirne schlug. Und sie staunten scheu auf den toten Greis und es war ihnen, sie sehen den Winter im Schoße des stürmischen Vorfrühlings liegen.

Aber das Bethli beachtete sie nicht. Sie begann, das weiße Haupt, das an ihrem Herzen ruhte, wie wild abzuküssen. Sie küßte immer wieder die dräuenden, überhängenden Augenbrauen, den Mund, den Bart.

Nun hasteten aus der Kirche auch Sebimaria, der totenbleiche Bauer, seine beiden Tagner und Lunn, die Magd.

Die Fremden schienen den Alten erst jetzt recht gewahr zu werden, der da in einem seltsamen, fastnachtsköniglichen Aufputz der jungen Maid im Schoße lag.

173 »Holt den Pfarrer!« rief der Sonnenhaldenbauer seinen Leuten zu.

Der Langresl trampte aufs Kloster zu. Das Bethli aber hatte seinen Großvater auf die Treppe gebettet, also daß sein Haupt auf dem obersten Trittumgang ruhte. Und sich erhebend und gradauf dastehend, wie ein Tännling, hob sie die Hand hoch und rief über die Treppe hin ins Volk der Wallfahrer: »Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, des Herren über Leben und Tod, tue ich euch allen kund, daß Zachris Ruhstaller, unser König von Euland, gestorben ist. Und er ist gestorben aus Heimweh nach seiner vielgeliebten Herrin, der Königin Katharina. Und«, sie sah zum immer wolkiger werdenden Himmel auf »und Gott weiß es, daß er sein Heimweh niemand anderm hinterlassen hat als mir und daß ich tausendmal lieber seine Schatzkammer hergebe und den Palast mit den hundert Sälen, als dieses Heimweh; denn, müßt ihr wissen, mein Heimweh und das seine zusammengenommen, sind so stark, daß ihnen niemand zu widerstehen vermag. Sie werden meinen Liebsten zu mir heranziehen und wenn er mit all den unzählbaren Ketten, die es jemals in der Welt gegeben hat, im fremden Lande angeschmiedet wäre.« Zu aller Entsetzen lachte sie plötzlich also jauchzend auf, daß davon der zudunkelnde Himmel für einen Augenblick morgenhell zu werden schien. »Heijuppedihee!« schrie sie auf. »Er muß mir kommen, ihr Leute, und wenn er mir übers Meer, 174 ja über die Sündflut davongelaufen wäre. Glaubt mir's alle, glaubt mir's heilig, er kommt mir!«

Da saß sie wieder auf der Treppe und wiegte des toten Großvaters Haupt im Schoße als wär's ein Wiegenkindlein.

»Seht dieses Bergmädchen«, flüsterte ein greiser Pilger in die Umstehenden, »ist's jetzt nicht wie der Brombeerstrauch, der zu gleicher Zeit blüht und Früchte trägt?«

Aber der Tagner Gängeli machte halblaut: »Heilige Mutter St. Anna! Es ist grad als hätte der verstorbene alte Zachris Bethlis Verstand auch mitgenommen, als er mit Tod hat abgehen müssen.«

Jetzt schrie das Mädchen wieder so verzweifelt auf, daß die Wallfahrer fast erschrocken zurückwichen: »Unser König ist gestorben, der König von Euland ist gestorben!«

Als ihr aber Sebimaria, ihr Vater, mit Tränen in den Augen zuredete, ward sie still, ruhiger und sagte: »Seht, Vater, ich habe es selber gesehen, der Großvater war ein ganzer König. Und er ist einer geblieben, auch als er barfuß und nackt bis in die Seele hinein über die Äcker gegangen ist. Ja, glaubt mir's, ihr guten Leute«, sprach sie laut in die umstehende, sie anglotzende Menge, »es liegt nicht an der Krone. Ich weiß das, denk, wohl genug, daß Großvaters Krone nur von Pergament ist. Aber wenn sie aus lauter Blitzen geglüht wäre, könnte sie's nicht bester getroffen haben, denn es ist der Kopf, 175 der die Krone macht, und wenn sie nur eine Hirthemdkapuze wäre. Erzählt das zu Hause euern Kindern und sagt nur, ihr hättet es von der Königstochter von Euland vernommen, der man einst Lachbethli nachgerufen habe, als sie noch närrisch gewesen sei. Sie aber habe es von einem Mann, der so alt und kalt war, daß ihm der Rauhreif von den Wangen bis auf die Brust herabgehangen sei und daß er hätte erfrieren müssen, wenn nicht in seinem alten Herzen ein heimliches Feuer gebrannt hätte. Und nun geht, ihr Leute und betet für seine und euere armen Seelen!«

Sie ließ den Kopf traurig sinken und ihren Großvater alleweil ansehend, fuhr sie ihm mit stiller Hand über seinen weißen Bart und über die bleiche, dunkler gewordene Stirne.

Jetzt fingen wieder alle Klosterglocken zu läuten an und ihr heiliger Jubel schien alle Unruhe der Welt wie mit einer goldenen Kuppel zuzudecken. Der Pfarrer der Waldstatt eilte mit dem Sigristen, der das heilige Öl trug, heran. Der Langresl kam ihnen nach.

Da warfen sich die Wallfahrer und mit ihnen die Bergbauern von Euthal und die Weiber aus den Kramgaden, auf die Knie und mit ausgestreckten Armen beteten sie für die heimgegangene arme Seele des königlichen Hirten, wie landesüblich, fünf Vaterunser und den heiligen Glauben.

Hinten im Tale der Alp, den Mythen zu, donnerte 176 es aus einem völlig nachtdunklen Himmel, und über die tannengekrönten Berge stürzte sich mit einem Male, pfeifend, sausend, jauchzend, der Föhn und warf Haufen krächzender, gegen ihn ankämpfender Raben in die schwermütige Waldeinsamkeit der Meinradszelle hinein. 177

 


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