Gustav Leutelt
Schilderungen aus dem Isergebirge
Gustav Leutelt

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Vorfrühling.

Wenn der Bewohner des flachen Landes bereits den Pflug über die Scholle führt, dann beginnt im Isergebirge die Schneeschmelze, welche vom Einheimischen treffend die Zeit der Schneeteige genannt wird. Wochenlang müssen in den Hochtälern Sonnenstrahlen und Regengüsse, muß der warme Südwind an der metertiefen Schneeschicht nagen, bis endlich an den steilsten Südabhängen die ersten »Sommerflecke« entstehen. Mit der steigenden Tageswärme mehren sich diese schneefreien Stellen, werden zusehends größer, indem sie einander scheinbar näherrücken, und endlich ist die südwärts gerichtete Talseite bis zur Waldgrenze bloßgelegt. Der gegenüberliegende Nordabhang freilich starrt noch im winterlichen Weiß, je nach Umständen acht bis vierzehn Tage länger seine Schneedecke festhaltend; aber auch dieses Bollwerk 8 des Winters fällt und er muß hinauf flüchten unter die Bäume des Waldes, die ihren Schatten schirmend über ihn breiten.

In diesen Zeiten sind selten andere Menschen in den Forsten anzutreffen, als die berufsmäßigen Waldgeher. Der Gebirgsbewohner hat nunmehr unter den Stämmen nichts zu suchen, denn das am Schlagorte von ihm gekaufte Holz ist bereits während des Winters »hereingerückt« worden; der städtische Tourist aber meidet jetzt in der Regel den Wald, weil die weiche Schneedecke den Fuß knietief einsinken läßt und das Ersteigen der Aussichtspunkte bedeutend erschwert. Und doch ist der Wald auch in dieser Jahreszeit sehenswert und zeigt dem sinnenden Naturfreunde ein eigenartiges Gepräge.

Da ist vorerst der aus der Waldespforte hervorkommende Weg. Er scheint schneefrei, ist es aber nicht; denn unter einer dichten Decke von Fichtennadeln, Pferdemist, Holzsplittern und Rindenstückchen birgt er eine während der Winterszeit festgefahrene, stellenweise vereiste Schneeschicht. Würde dem Fußwanderer nicht das durch die Schuhsohlen heraufsteigende Kältegefühl dies verraten, so würden ihn die zahlreichen Wasseradern, die sich aus dem braunen Wulste der Wegmitte hervorschlängeln, bald belehren, daß er auf einer solchen Schicht einhergeht.

Zwischen den Stämmen des Vorgehölzes ist bereits der nackte Waldgrund sichtbar; aber schon vom jenseitigen Hange blinken Reste der alten Winterdecke, und höher hinauf, wo der Wald geschlossen steht, ist die ununterbrochene Breite des Schnees. Derselbe zeigt freilich nicht das reine Weiß des Neuschnees, er erscheint eher schmutzig gefärbt von den über seine Oberfläche hingestreuten Pflanzenresten: abgerissenen Zweiglein, verschrumpften Nadeln, Borkenstückchen und Baumflechten. In seiner Art trägt dieser dunkle Überzug von 9 Pflanzenleichen sicherlich zum rascheren Schmelzen der unter ihm lagernden Schichte bei, wie ja auch der Gebirgsbewohner Asche an jenen Stellen ausstreut, die er zeitig schneefrei sehen will. Auf diese Weise unterstützt die Natur den kärglichen Sonnenstrahl, der durch das Gezweige den Weg herein findet.

Hier und da stecken größere Asttrümmer lotrecht in der weichen Decke, wie sie sich, losgerissen durch Eislasten, im Niederstürzen eingebohrt haben; auch mancher durch den Winter gebeugte junge Wipfel, manche dünne Gerte hat sich bereits aus der eisigen Umarmung losgerungen und beginnt wieder langsam dem Lichte entgegenzustreben. Freilich ist auch manches Stämmchen hoffnungslos geknickt, und mancher große, zapfenbeschwerte Wipfel ist aus seiner luftigen Höhe herabgestürzt. Ungunst der Verhältnisse, Unterliegen des Schwächeren, hier wie überall.

Es braucht nicht die Augen des Waldgängers, um in der Runde Spuren einer kurzvergangenen, regen Tätigkeit zu entdecken. Das geborstene Glied einer Kette, das aufgedröselte Ende eines Strickes, der vergessene Hebebaum hier, die Reste der zertrümmerten Tabakspfeife dort, wie das zerbrochene Hufeisen am Wege und jene Topfscherben unter der vom Eisenbeschlage der Schlittenkufen arg zerfetzten Bohlenbrücke, sie erzählen vom mühsalvollen Tagwerke der Waldleute. Klötze und Scheiter, ja ganze Baumstämme haben diese während des Winters ins Dorf hinabgeschleift, eine Arbeit, die Sehnen von Stahl und eine Gewandtheit erfordert, wie man sie den ungeschlachten Gesellen beim ersten Blick nicht zutraut.

Da und dort zweigen halbverwischte Winterfahrbahnen vom Wege ab. Sie endigen hoch oben auf irgend einem Holzplan, und viereckige Gruben im Schnee zeigen dort die 10 Stellen an, wo die geschichteten Holzstöße standen. Hier herauf ist, der Steile des Hanges wegen, kein Pferd gekommen und nur die nervigen Arme der »Holzrücker« steuerten den hochbeladenen Handschlitten, einige »Hunde« (Holzscheite) nachschleifend, eine Hemmkette unter den Kufen, zwischen den Fährnissen der aufragenden Stämme und Felsklötze hinunter. Ob es wohl gefährlich ist, das sausende Gefährt in den vielen scharfen Krümmungen richtig zu lenken? Ei nun, Gefahr ist wohl dabei; es kommt auch ab und zu ein Unglücksfall vor, glücklicherweise selten.

Wildfährten sind überall zu sehen. Wie wir aber jetzt einem bergan führenden schmalem Steige folgen, mehren sich diese. Sie scheinen alle aus einer bestimmten Richtung herzukommen und bei einigem Umherschauen entdecken wir bald den verlassen daliegenden Futterplatz. Eine roh zusammengeschlagene reisigüberdachte Raufe steht inmitten desselben, verzettelte Futterreste und entrindete Zweige von Laubhölzern liegen umher. An die nahe Felswand lehnt sich eine Bretterhütte, die außen durch aufgenagelte Fichtenäste verdeckt ist und von deren Guckloch aus der Waldheger, der die Wildfütterung besorgt, das Treiben seiner Pfleglinge ungesehen beobachten konnte. Vielleicht zuckte auch aus jener Öffnung durch das abendliche Düster der Blitz eines Gewehrschusses, und dem Fuchs, dem schleichenden Räuber, ward sein Lohn. Jetzt liegt das alles öde und verlassen da, und von der Anwesenheit der Waldtiere erzählen nur die ringsum stehenden abgeschälten Stämmchen des Jungwuchses und ihre benagten Zweigstumpfe.

Weiter schreitend fesseln unser Auge die unter manchem Hochstamme in großer Anzahl liegenden Zapfenschuppen, zwischen denen wir auch einzelne abgenagte Spindeln dieser Baumfrucht bemerken. Ein lüsternes Eichhörnchen war der 11 Urheber. Hoch oben im schaukelnden Wipfel kauerte es vergnüglich, und die scharfen Zähnchen rissen hastig an der mit den Vorderpfoten gehaltenen Frucht, um zu dem leckeren Flügelsamen zu gelangen, indes die gelösten Schuppen durch das Gezweige herabrieselten. Sind wir aufmerksam, so können wir wohl solch' ein schmausendes Geschöpfchen beobachten, das heißt, wenn wir uns recht ruhig verhalten; denn beim 12 geringsten Geräusch folgen einige polternde Angsttöne, ein Schwanken der Zweige und der kleine, braune Kobold hat sich empfohlen. Der müßte gut zu Fuße sein, der solch' ein aufgescheuchtes Eichkätzlein auf seiner tollen Fahrt von Wipfel zu Wipfel im Auge behalten wollte. »Glückliche Reise!« rufen wir ihm launigerweise nach, indes der von dem Tierchen im Stiche gelassene Zapfen zu unseren Füßen niederfällt.

Das wiedererwachte Rauschen und Brausen um uns und über uns ist ebenfalls ein Zeichen der Frühlingseinkehr. Dem Orgelklang im gotischen Dome ist das Rauschen des Fichtenwaldes vergleichbar. Den Winter über, wenn die weißen Polster des Schnees über all' die ungezählten Äste hingebreitet sind, ist es verstummt oder doch klanglos geworden. Der Sonnenkuß, die warmen Lüfte haben die Saiten der Riesenharfe wieder gelöst und Spielmann Wind greift wacker in dieselben. Auch in der Schlucht ist es lebendig geworden. Der Bach hat seine Eisesbande noch nicht völlig gesprengt, aber zwischen den Steinklötzen seines Bettes ist die Schneedecke schon eingesunken, und an mancher Stelle gischt der Schwall der Wasser hervor, unablässig an den Rändern der weißen Hülle nagend und so an seiner Befreiung arbeitend. Das klare Bergwasser, das im Sommer jeden Kiesel seines Grundes heraufschimmern ließ, ist nicht wiederzuerkennen. Trübe brodelt und quirlt es unter dem Schnee hervor und schmutziger Schaum jagt an seiner Oberfläche dahin. Die kleinen Erdlawinen, die über die Schneehänge der Schlucht als braune Streifen gegen den Bach hinabziehen, belehren uns über den Ursprung seiner Farbe.

Nun haben wir auch das Ziel unserer Wanderung: die Schneide des Waldrückens, erklommen. Vor Jahren war hier ein Holzschlag und wir wissen, daß er bereits mit meterhohem Jungwuchse bestanden sein muß. Von allen 13 den Bäumchen ist jedoch nichts zu erblicken; sie ruhen noch tief unter der Schneedecke, einige dürftige Ebereschen ausgenommen, die vom Holzfäller als wertlos verschont worden sind. Jenseits der Dehnung steigt, schwarz wie der Magnetberg der Sage, eine waldbestandene Kuppe aus dem Weiß empor, während auf der Höhe des linksseitigen Bergrückens das spinnwebartige feine Gitterwerk eines Aussichtsturmes schwebt. Wenden wir uns rückwärts, so überfliegt unser Blick das Tal mit seinen häuserbesäten Abhängen und deutlich sehen wir von hier aus die Wolkenschatten über die Gegend hingleiten. Um uns ist heilige Ruhe; nicht einmal der schwache Laut einer Vogelkehle ist vernehmbar. Sinnendem Träumen ist Tür und Tor geöffnet in der Waldeinsamkeit dieser Höhe. Nichts als der scharfe Sonnenglanz ist über der weißen Öde ausgebreitet, und unser eigener Schatten der einzige, schweigende Genosse. Steigen wir deshalb wieder hinab zu den Menschen und versuchen dort zu erzählen, was uns gezeigt hat der Vorfrühling im Isergebirge. 14

 


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