Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon
Gotthold Ephraim Lessing

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XXII.

Zeuxis malte eine Helena, und hatte das Herz, jene berühmte Zeilen des Homers, in welchen die entzückten Greise ihre Empfindung bekennen, darunter zu setzen. Nie sind Malerei und Poesie in einen gleichern Wettstreit gezogen worden. Der Sieg blieb unentschieden, und beide verdienten gekrönt zu werden.

Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach nichts als ihren Bestandteilen, und hielt es seiner Kunst für unanständig, zu irgendeinem andern Hilfsmittel Zuflucht zu nehmen. Sein Gemälde bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend dastand. Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war, welche er für die zu Krotona malteVal. Maximus lib. III. cap. 7. Dionysius Halicarnass. Art. Rhet. cap. 12 περὶ λόγων εξετάσεως..

Man vergleiche hiermit, wundershalber, das Gemälde, welches Caylus dem neuern Künstler aus jenen Zeilen des Homers vorzeichnet: »Helena, mit einem weißen Schleier bedeckt, erscheinet mitten unter verschiedenen alten Männern, in deren Zahl sich auch Priamus befindet, der an den Zeichen seiner königlichen Würde zu erkennen ist. Der Artist muß sich besonders angelegen sein lassen, uns den Triumph der Schönheit in den gierigen Blicken und in allen den Äußerungen einer staunenden Bewunderung auf den Gesichtern dieser kalten Greise empfinden zu lassen. Die Szene ist über einem von den Toren der Stadt. Die Vertiefung des Gemäldes kann sich in den freien Himmel, oder gegen höhere Gebäude der Stadt verlieren; jenes würde kühner lassen, eines aber ist so schicklich wie das andere.«

Man denke sich dieses Gemälde von dem größten Meister unserer Zeit ausgeführet, und stelle es gegen das Werk des Zeuxis. Welches wird den wahren Triumph der Schönheit zeigen? Dieses, wo ich ihn selbst fühle, oder jenes, wo ich ihn aus den Grimassen gerührter Graubärte schließen soll? Turpe senilis amor; ein gieriger Blick macht das ehrwürdigste Gesicht lächerlich, und ein Greis, der jugendliche Begierden verrät, ist sogar ein ekler Gegenstand. Den Homerischen Greisen ist dieser Vorwurf nicht zu machen; denn der Affekt, den sie empfinden, ist ein augenblicklicher Funke, den ihre Weisheit sogleich erstickt; nur bestimmt, der Helena Ehre zu machen, aber nicht, sie selbst zu schänden. Sie bekennen ihr Gefühl, und fügen sogleich hinzu:

’Αλλὰ καὶ ω̃ς, τοιή περ εου̃σ', εν νηυσὶ νεέσθω,
Μηδ' ημι̃ν τεκέεσσί τ' οπίσσω πη̃μα λίποιτο

Ohne diesen Entschluß wären es alte Gecke; wären sie das, was sie in dem Gemälde des Caylus erscheinen. Und worauf richten sie denn da ihre gierigen Blicke? Auf eine vermummte, verschleierte Figur. Das ist Helena? Es ist mir unbegreiflich, wie ihr Caylus hier den Schleier lassen können. Zwar Homer gibt ihr denselben ausdrücklich:

Αυτίκα δ' αργεννη̃σι καλυψαμένη οθόνησιν
’Ωρμα̃τ' εκ θαλάμοιο – –

aber, um über die Straßen damit zu gehen; und wenn auch schon bei ihm die Alten ihre Bewunderung zeigen, noch ehe sie den Schleier wieder abgenommen oder zurückgeworfen zu haben scheinet, so war es nicht das erstemal, daß sie die Alten sahen; ihr Bekenntnis durfte also nicht aus dem itzigen augenblicklichen Anschauen entstehen, sondern sie konnten schon oft empfunden haben, was sie zu empfinden, bei dieser Gelegenheit nur zum erstenmal bekannten. In dem Gemälde findet so etwas nicht statt. Wenn ich hier entzückte Alte sehe, so will ich auch zugleich sehen, was sie in Entzückung setzt; und ich werde äußerst betroffen, wenn ich weiter nichts, als, wie gesagt, eine vermummte, verschleierte Figur wahrnehme, die sie brünstig angaffen. Was hat dieses Ding von der Helena? Ihren weißen Schleier, und etwas von ihrem proportionierten Umrisse, soweit Umriß unter Gewändern sichtbar werden kann. Doch vielleicht war es auch des Grafen Meinung nicht, daß ihr Gesicht verdeckt sein sollte, und er nennet den Schleier bloß als ein Stück ihres Anzuges. Ist dieses (seine Worte sind einer solchen Auslegung zwar nicht wohl fähig: Hélène couverte d'un voile blanc), so entstehet eine andere Verwunderung bei mir: er empfiehlt dem Artisten so sorgfältig den Ausdruck auf den Gesichtern der Alten; nur über die Schönheit in dem Gesichte der Helena verliert er kein Wort. Diese sittsame Schönheit, im Auge den feuchten Schimmer einer reuenden Träne, furchtsam sich nähernd – Wie? Ist die höchste Schönheit unsern Künstlern so etwas Geläufiges, daß sie auch nicht daran erinnert zu werden brauchen? Oder ist Ausdruck mehr als Schönheit? Und sind wir auch in Gemälden schon gewohnt, so wie auf der Bühne, die häßlichste Schauspielerin für eine entzückende Prinzessin gelten zu lassen, wenn ihr Prinz nur recht warme Liebe gegen sie zu empfinden äußert?

In Wahrheit: das Gemälde des Caylus würde sich gegen das Gemälde des Zeuxis wie Pantomime zur erhabensten Poesie verhalten.

Homer ward vor alters ohnstreitig fleißiger gelesen, als itzt. Dennoch findet man so gar vieler Gemälde nicht erwähnet, welche die alten Künstler aus ihm gezogen hättenFabricii Biblioth. Graec. Lib. II. cap. 6. p. 345.. Nur den Fingerzeig des Dichters auf besondere körperliche Schönheiten scheinen sie fleißig genutzt zu haben; diese malten sie; und in diesen Gegenständen, fühlten sie wohl, war es ihnen allein vergönnet, mit dem Dichter wetteifern zu wollen. Außer der Helena, hatte Zeuxis auch die Penelope gemalt; und des Apelles Diana war die Homerische in Begleitung ihrer Nymphen. Bei dieser Gelegenheit will ich erinnern, daß die Stelle des Plinius, in welcher von der letztern die Rede ist, einer Verbesserung bedarfPlinius sagt von dem Apelles (Libr. XXXV. sect. 36. p. 698. Edit. Hard.): Fecit et Dianam sacrificantium virginum choro mixtam: quibus vicisse Homeri versus videtur id ipsum describentis. Nichts kann wahrer, als dieser Lobspruch gewesen sein. Schöne Nymphen um eine schöne Göttin her, die mit der ganzen majestätischen Stirne über sie hervorragt, sind freilich ein Vorwurf, der der Malerei angemessener ist, als der Poesie. Das sacrificantium nur ist mir höchst verdächtig. Was macht die Göttin unter opfernden Jungfrauen? Und ist dieses die Beschäftigung, die Homer den Gespielinnen der Diana gibt? Mit nichten; sie durchstreifen mit ihr Berge und Wälder, sie jagen, sie spielen, sie tanzen (Odyss. Z. v. 102-106):

Οίη δ' ’Άρτεμις ει̃σι κατ' ούρεος ιοχέαιρα
’Ὴ κατὰ Τηΰγετον περιμήκετον, ὴ ’Ερύμανθον
Τερπομένη κάπροισι καὶ ωκείης ελάφοισι·
Τη̃ δέ θ' άμα Νύμφαι, κου̃ραι Διὸς Αιγιόχοιο,
’Αγρονόμοι παίζουσι· – – – –

Plinius wird also nicht sacrificantium, er wird venantium, oder etwas Ähnliches geschrieben haben; vielleicht silvis vagantium, welche Verbesserung die Anzahl der veränderten Buchstaben ohngefähr hätte. Dem παίζουσι beim Homer würde saltantium am nächsten kommen, und auch Virgil läßt, in seiner Nachahmung dieser Stelle, die Diana mit ihren Nymphen tanzen (Aeneid. I. v. 497. 498):

Qualis in Eurotae ripis, aut per juga Cynthi
Exercet Diana choros – –

Spence hat hierbei einen seltsamen Einfall (Polymetis Dial. VIII. p. 102.): This Diana, sagt er, both in the picture and in the descriptions, was the Diana Venatrix, tho' she was not represented either by Virgil, or Apelles, or Homer, as hunting with her nymphs; bot as employed with them in that sort of dances, which of old were regarded as very solemn acts of devotion. In seiner Anmerkung fügt er hinzu: The expression of παίζειν, used by Homer on this occasion, is scarce proper for hunting; as that of, choros exercere in Virgil, should be understood of the religious dances of old, because dancing, in the old Roman idea of it, was indecent even for men, in public; unless it were the sort of dances used in honour of Mars, or Bacchus, or some other of their gods. Spence will nämlich jene feierliche Tänze verstanden wissen, welche bei den Alten mit unter die gottesdienstlichen Handlungen gerechnet wurden. Und daher, meinet er, brauche denn auch Plinius das Wort sacrificare: It is in consequence of this that Pliny, in speaking of Diana's nymphs on this very occasion, uses the word, sacrificare, of them; which quite determines these dances of theirs to have been of the religious kind. Er vergißt, daß bei dem Virgil die Diana selbst mittanzet: exercet Diana choros. Sollte nun dieser Tanz ein gottesdienstlicher Tanz sein: zu wessen Verehrung tanzte ihn die Diana? Zu ihrer eignen? Oder zur Verehrung einer andern Gottheit? Beides ist widersinnig. Und wenn die alten Römer das Tanzen überhaupt einer ernsthaften Person nicht für sehr anständig hielten, mußten darum ihre Dichter die Gravität ihres Volkes auch in die Sitten der Götter übertragen, die von den ältern griechischen Dichtern ganz anders festgesetzet waren? Wenn Horaz von der Venus sagt (Od. IV. lib. 1):

Jam Cytherea choros ducit Venus, imminente luna:
    Junctaeque Nymphis Gratiae decentes.
Alterno terram quatiunt pede –
. Handlungen aber aus dem Homer zu malen, bloß weil sie eine reiche Komposition, vorzügliche Kontraste, künstliche Beleuchtungen darbieten, schien der alten Artisten ihr Geschmack nicht zu sein; und konnte es nicht sein, solange sich noch die Kunst in den engern Grenzen ihrer höchsten Bestimmung hielt. Sie nährten sich dafür mit dem Geiste des Dichters; sie füllten ihre Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen; das Feuer seines Enthusiasmus entflammte den ihrigen; sie sahen und empfanden wie er: und so wurden ihre Werke Abdrücke der Homerischen, nicht in dem Verhältnisse eines Porträts zu seinem Originale, sondern in dem Verhältnisse eines Sohnes zu seinem Vater; ähnlich, aber verschieden. Die Ähnlichkeit liegt öfters nur in einem einzigen Zuge; die übrigen alle haben unter sich nichts Gleiches, als daß sie mit dem ähnlichen Zuge, in dem einen sowohl als in dem andern harmonieren.

Da übrigens die Homerischen Meisterstücke der Poesie älter waren als irgendein Meisterstück der Kunst; da Homer die Natur eher mit einem malerischen Auge betrachtet hatte, als ein Phidias und Apelles: so ist es nicht zu verwundern, daß die Artisten verschiedene ihnen besonders nützliche Bemerkungen, ehe sie Zeit hatten, sie in der Natur selbst zu machen, schon bei dem Homer gemacht fanden, wo sie dieselben begierig ergriffen, um durch den Homer die Natur nachzuahmen. Phidias bekannte, daß die ZeilenIliad. A. v. 528. Valerius Maximus lib. III. cap. 7.:

’Η̃, καὶ κυανέησιν επ' οφρύσι νευ̃σε Κρονίων·
’Αμβρόσιαι δ' άρα χαι̃ται επερρώσαντο άνακτος,
Κρατὸς απ' αθανάτοιο· μέγαν δ' ελέλιξεν ’Όλυμπον·

ihm bei seinem olympischen Jupiter zum Vorbilde gedienet, und daß ihm nur durch ihre Hilfe ein göttliches Antlitz, propemodum ex ipso coelo petitum, gelungen sei. Wem dieses nichts mehr gesagt heißt, als daß die Phantasie des Künstlers durch das erhabene Bild des Dichters befeuert, und ebenso erhabener Vorstellungen fähig gemacht worden, der, dünkt mich, übersieht das Wesentlichste, und begnügt sich mit etwas ganz Allgemeinem, wo sich, zu einer weit gründlichern Befriedigung, etwas sehr Spezielles angeben läßt. Soviel ich urteile, bekannte Phidias zugleich, daß er in dieser Stelle zuerst bemerkt habe, wie viel Ausdruck in den Augenbraunen liege, quanta pars animiPlinius lib. XI. sect. 51. p. 616. Edit. Hard. sich in ihnen zeige. Vielleicht, daß sie ihn auch auf das Haar mehr Fleiß zu wenden bewegte, um das einigermaßen auszudrücken, was Homer ambrosisches Haar nennet. Denn es ist gewiß, daß die alten Künstler vor dem Phidias das Sprechende und Bedeutende der Mienen wenig verstanden, und besonders das Haar sehr vernachlässiget hatten. Noch Myron war in beiden Stücken tadelhaft, wie Plinius anmerktIdem lib. XXXIV. sect. 19. p. 651. Ipse tamen corporum tenus curiosus, animi sensus non expressisse videtur, capillum quoque et pubem non emendatius fecisse, quam rudis antiquitas instituisset., und nach ebendemselben war Pythagoras Leontinus der erste, der sich durch ein zierliches Haar hervortatIbid. Hic primus nervos et venas expressit, capillumque diligentius.. Was Phidias aus dem Homer lernte, lernten die andern Künstler aus den Werken des Phidias.

Ich will noch ein Beispiel dieser Art anführen, welches mich allezeit sehr vergnügt hat. Man erinnere sich, was Hogarth über den Apollo zu Belvedere anmerkt»Zergliederung der Schönheit«. S. 47. Berl. Ausg.. »Dieser Apollo«, sagt er, »und der Antinous sind beide in ebendemselben Palaste zu Rom zu sehen. Wenn aber Antinous den Zuschauer mit Verwunderung erfüllet, so setzet ihn der Apollo in Erstaunen; und zwar, wie sich die Reisenden ausdrücken, durch einen Anblick, welcher etwas mehr als Menschliches zeiget, welches sie gemeiniglich gar nicht zu beschreiben imstande sind. Und diese Wirkung ist, sagen sie, um desto bewundernswürdiger, da, wenn man es untersucht, das Unproportionierliche daran auch einem gemeinen Auge klar ist. Einer der besten Bildhauer, welche wir in England haben, der neulich dahin reisete, diese Bildsäule zu sehen, bekräftigte mir das, was itzo gesagt worden, besonders, daß die Füße und Schenkel, in Ansehung der obern Teile, zu lang und zu breit sind. Und Andreas Sacchi, einer der größten italienischen Maler, scheinet eben dieser Meinung gewesen zu sein, sonst würde er schwerlich (in einem berühmten Gemälde, welches itzo in England ist) seinem Apollo, wie er den Tonkünstler Pasquilini krönet, das völlige Verhältnis des Antinous gegeben haben, da er übrigens wirklich eine Kopie von dem Apollo zu sein scheinet. Ob wir gleich an sehr großen Werken oft sehen, daß ein geringerer Teil aus der Acht gelassen worden, so kann dieses doch hier der Fall nicht sein; denn an einer schönen Bildsäule ist ein richtiges Verhältnis eine von ihren wesentlichen Schönheiten. Daher ist zu schließen, daß diese Glieder mit Fleiß müssen sein verlängert worden, sonst würde es leicht haben können vermieden werden. Wenn wir also die Schönheiten dieser Figur durch und durch untersuchen, so werden wir mit Grunde urteilen, daß das, was man bisher für unbeschreiblich vortrefflich an ihrem allgemeinen Anblicke gehalten, von dem hergerühret hat, was ein Fehler in einem Teile derselben zu sein geschienen.« – Alles dieses ist sehr einleuchtend; und schon Homer, füge ich hinzu, hat es empfunden und angedeutet, daß es ein erhabenes Ansehen gibt, welches bloß aus diesem Zusatze von Größe in den Abmessungen der Füße und Schenkel entspringet. Denn wenn Antenor die Gestalt des Ulysses mit der Gestalt des Menelaus vergleichen will, so läßt er ihn sagenIliad. Γ. 210. 211.:

Στάντων μὲν Μενέλαος υπείρεχεν ευρέας ώμους,
’Άμφω δ' εζομένω, γεραρώτερος η̃εν ’Οδυσσεύς.

»Wann beide standen, ragte Menelaus mit den breiten Schultern hoch hervor; wann aber beide saßen, war Ulysses der Ansehnlichere.« Da Ulysses also das Ansehen im Sitzen gewann, welches Menelaus im Sitzen verlor, so ist das Verhältnis leicht zu bestimmen, welches beider Oberleib zu den Füßen und Schenkeln gehabt. Ulysses hatte einen Zusatz von Größe in den Proportionen des erstern, Menelaus in den Proportionen der letztern.


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