Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon
Gotthold Ephraim Lessing

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI.

Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten.

Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen.

Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.

Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.

Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen, und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.

Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. Insofern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.

Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.

Ebenso kann auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen, und muß daher diejenige wählen, welche das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite erwecket, von welcher sie ihn braucht.

Hieraus fließt die Regel von der Einheit der malerischen Beiwörter, und der Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände.

Ich würde in diese trockene Schlußkette weniger Vertrauen setzen, wenn ich sie nicht durch die Praxis des Homers vollkommen bestätiget fände, oder wenn es nicht vielmehr die Praxis des Homers selbst wäre, die mich darauf gebracht hätte. Nur aus diesen Grundsätzen läßt sich die große Manier des Griechen bestimmen und erklären, sowie der entgegengesetzten Manier so vieler neuern Dichter ihr Recht erteilen, die in einem Stücke mit dem Maler wetteifern wollen, in welchem sie notwendig von ihm überwunden werden müssen.

Ich finde, Homer malet nichts als fortschreitende Handlungen, und alle Körper, alle einzelne Dinge malet er nur durch ihren Anteil an diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit einem Zuge. Was Wunder also, daß der Maler, da wo Homer malet, wenig oder nichts für sich zu tun siehet, und daß seine Ernte nur da ist, wo die Geschichte eine Menge schöner Körper, in schönen Stellungen, in einem der Kunst vorteilhaften Raume zusammenbringt, der Dichter selbst mag diese Körper, diese Stellungen, diesen Raum so wenig malen, als er will? Man gehe die ganze Folge der Gemälde, wie sie Caylus aus ihm vorschlägt, Stück vor Stück durch, und man wird in jedem den Beweis von dieser Anmerkung finden.

Ich lasse also hier den Grafen, der den Farbenstein des Malers zum Probiersteine des Dichters machen will, um die Manier des Homers näher zu erklären.

Für ein Ding, sage ich, hat Homer gemeiniglich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff. Weiter läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein. Aber wohl das Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes, macht er zu einem ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf, sechs besondere Gemälde machen müßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte.

Zwingen den Homer ja besondere Umstände, unsern Blick auf einen einzeln körperlichen Gegenstand länger zu heften: so wird demohngeachtet kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte; sondern er weiß durch unzählige Kunstgriffe diesen einzeln Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu setzen, in deren jedem er anders erscheinet, und in deren letztem ihn der Maler erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter entstehen sehn. Z. E. Will Homer uns den Wagen der Juno sehen lassen, so muß ihn Hebe vor unsern Augen Stück vor Stück zusammensetzen. Wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel und Riemen und Stränge, nicht sowohl wie es beisammen ist, als wie es unter den Händen der Hebe zusammenkommt. Auf die Räder allein verwendet der Dichter mehr als einen Zug, und weiset uns die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die Schienen von Erzt, die silberne Nabe, alles insbesondere. Man sollte sagen: da der Räder mehr als eines war, so mußte in der Beschreibung ebensoviel Zeit mehr auf sie gehen, als ihre besondere Anlegung deren in der Natur selbst mehr erforderteIliad. E. v. 722-731..

‛Ήβη δ' αμφ' οχέεσσι θοω̃ς βάλε καμπύλα κύκλα
Χάλκεα, οκτάκνημα, σιδηρέω άξονι αμφίς·
Τω̃ν η̃ τοι χρυσέη ίτυς άφθιτος, αυτὰρ ύπερθεν
Χάλκε επίσσωτρα, προσαρηρότα, θαυ̃μα ιδέσθαι·
Πλη̃μναι δ' αργύρου εισὶ περίδρομοι αμφοτέρωθεν·
Δίφρος δὲ χρυσέοισι καὶ αργυρέοισιν ιμα̃σιν
’Εντέταται· δοιαὶ δὲ περίδρομοι άντυγές εισιν·
Του̃ δ' εξ αργύρεος ρυμὸς πέλεν· αυτὰρ επ' άκρω
Δη̃σε χρύσειον καλὸν ζυγόν, εν δὲ λέπαδνα
Κάλ' έβαλε, χρύσεια· – – – –

Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück vor Stück umtun; das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den Degen; und so ist er fertig, und ergreift das Zepter. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet; ein anderer würde die Kleider bis auf die geringste Franze gemalet haben, und von der Handlung hätten wir nichts zu sehen bekommenIliad. B. v. 43-47..

– – – μαλακὸν δ' ένδυνε χιτω̃να,
Καλὸν, νηγάτεον, περὶ δ' αυ̃ μέγα βάλλετο φα̃ρος·
Ποσσὶ δ' υπαὶ λιπαροι̃σιν εδήσατο καλὰ πέδιλα·
’Αμφὶ δ' άρ' ώμοισιν βάλετο ξίφος αργυρόηλον,
Είλετο δὲ σκη̃πτρον πατρώϊον, άφθιτον αιεί.

Und wenn wir von diesem Zepter, welches hier bloß das väterliche, unvergängliche Zepter heißt, so wie ein ähnliches ihm an einem andern Orte bloß χρουσείοις ήλοισι πεπαρμένον, das mit goldenen Stiften beschlagene Zepter ist, wenn wir, sage ich, von diesem wichtigen Zepter ein vollständigeres, genaueres Bild haben sollen: was tut sodann Homer? Malt er uns, außer den goldenen Nägeln, nun auch das Holz, den geschnitzten Knopf? Ja, wenn die Beschreibung in eine Heraldik sollte, damit einmal in den folgenden Zeiten ein anderes genau darnach gemacht werden könne. Und doch bin ich gewiß, daß mancher neuere Dichter eine solche Wappenkönigsbeschreibung daraus würde gemacht haben, in der treuherzigen Meinung, daß er wirklich selber gemalt habe, weil der Maler ihm nachmalen kann. Was bekümmert sich aber Homer, wie weit er den Maler hinter sich läßt? Statt einer Abbildung gibt er uns die Geschichte des Zepters: erst ist es unter der Arbeit des Vulkans; nun glänzt es in den Händen des Jupiters; nun bemerkt es die Würde Merkurs; nun ist es der Kommandostab des kriegerischen Pelops; nun der Hirtenstab des friedlichen Atreus usw.

– Σκη̃πτρον έχων· τὸ μὲν ‛Ήφαιστος κάμε τεύχων·
‛Ήφαιστος μὲν δω̃κε Διΐ Κρονίωνι άνακτι·
Αυτὰρ άρα Ζεὺς δω̃κε διακτόρω ’Αργεϊφόντη·
‛Ερμείας δὲ άναξ δω̃κεν Πέλοπι πληξίππω·
Αυτὰρ ο αυ̃τε Πέλοψ δω̃κ' ’Ατρέϊ, ποιμένι λαω̃ν·
’Ατρεὺς δέ θνήσκων έλιπε πολύαρνι Θυέστη·
Αυτὰρ ο αυ̃τε Θυέστ' ’Αγαμέμνονι λει̃πε φορη̃ναι,
Πολλη̃σι νήσοισι καὶ ’Άργεϊ παντὶ ανάσσεινIliad. B. v. 101-108.

So kenne ich endlich dieses Zepter besser, als mir es der Maler vor Augen legen, oder ein zweiter Vulkan in die Hände liefern könnte. – Es würde mich nicht befremden, wenn ich fände, daß einer von den alten Auslegern des Homers diese Stelle als die vollkommenste Allegorie von dem Ursprunge, dem Fortgange, der Befestigung und endlichen Beerbfolgung der königlichen Gewalt unter den Menschen bewundert hätte. Ich würde zwar lächeln, wenn ich läse, daß Vulkan, welcher das Zepter gearbeitet, als das Feuer, als das, was dem Menschen zu seiner Erhaltung das Unentbehrlichste ist, die Abstellung der Bedürfnisse überhaupt anzeige, welche die ersten Menschen, sich einem einzigen zu unterwerfen, bewogen; daß der erste König ein Sohn der Zeit, (Ζευ̃ς Κρονίων) ein ehrwürdiger Alte gewesen sei, welcher seine Macht mit einem beredten klugen Manne, mit einem Merkur, (Διακτόρω ’Αργειφόντη) teilen, oder gänzlich auf ihn übertragen wollen; daß der kluge Redner zur Zeit, als der junge Staat von auswärtigen Feinden bedrohet worden, seine oberste Gewalt dem tapfersten Krieger (Πέλοπι πληξίππω) überlassen habe; daß der tapfere Krieger, nachdem er die Feinde gedämpfet und das Reich gesichert, es seinem Sohne in die Hände spielen können, welcher als ein friedliebender Regent, als ein wohltätiger Hirte seiner Völker (ποιμὴν λαω̃ν), sie mit Wohlleben und Überfluß bekannt gemacht habe, wodurch nach seinem Tode dem reichsten seiner Anverwandten (πολύαρνι Θυέστη) der Weg gebahnet worden, das was bisher das Vertrauen erteilet, und das Verdienst mehr für eine Bürde als Würde gehalten hatte, durch Geschenke und Bestechungen an sich zu bringen, und es hernach als ein gleichsam erkauftes Gut seiner Familie auf immer zu versichern. Ich würde lächeln, ich würde aber demohngeachtet in meiner Achtung für den Dichter bestärket werden, dem man so vieles leihen kann. Doch dieses liegt außer meinem Wege, und ich betrachte itzt die Geschichte des Zepters bloß als einen Kunstgriff, uns bei einem einzeln Dinge verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Teile einzulassen. Auch wenn Achilles bei seinem Zepter schwöret, die Geringschätzung, mit welcher ihm Agamemnon begegnet, zu rächen, gibt uns Homer die Geschichte dieses Zepters. Wir sehen ihn auf den Bergen grünen, das Eisen trennet ihn von dem Stamme, entblättert und entrindet ihn, und macht ihn bequem, den Richtern des Volkes zum Zeichen ihrer göttlichen Würde zu dienenIliad. Α. v. 234-239..

Ναὶ μὰ τόδε σκη̃πτρον, τὸ μὲν ούποτε φύλλα καὶ όζους
Φύσει, επεὶ δὴ πρω̃τα τομὴν εν όρεσσι λέλοιπεν,
Ουδ' αναθηλήσει· περὶ γάρ ρά ε χαλκὸς έλεψε,
Φύλλα τε καὶ φλοιόν· νυ̃ν αυ̃τέ μιν υι̃ες ’Αχαιω̃ν
’Εν παλάμης φορέουσι δικασπόλοι, οί τε θέμιστας
Πρὸς Διὸς ειρύαται· – – – –

Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei Stäbe von verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein sinnliches Bild zu machen. Jener, ein Werk des Vulkans; dieser, von einer unbekannten Hand auf den Bergen geschnitten: jener der alte Besitz eines edeln Hauses; dieser bestimmt, die erste die beste Faust zu füllen: jener, von einem Monarchen über viele Inseln und über ganz Argos erstrecket; dieser, von einem aus dem Mittel der Griechen geführet, dem man nebst andern die Bewahrung der Gesetze anvertrauet hatte. Dieses war wirklich der Abstand, in welchem sich Agamemnon und Achill voneinander befanden; ein Abstand, den Achill selbst, bei allem seinem blinden Zorne, einzugestehen, nicht umhin konnte.

Doch nicht bloß da, wo Homer mit seinen Beschreibungen dergleichen weitere Absichten verbindet, sondern auch da, wo es ihm um das bloße Bild zu tun ist, wird er dieses Bild in eine Art von Geschichte des Gegenstandes verstreuen, um die Teile desselben, die wir in der Natur nebeneinander sehen, in seinem Gemälde ebenso natürlich aufeinander folgen, und mit dem Flusse der Rede gleichsam Schritt halten zu lassen. Z. E. Er will uns den Bogen des Pandarus malen; einen Bogen von Horn, von der und der Länge, wohl polieret, und an beiden Spitzen mit Goldblech beschlagen. Was tut er? Zählt er uns alle diese Eigenschaften so trocken eine nach der andern vor? Mit nichten; das würde einen solchen Bogen angeben, vorschreiben, aber nicht malen heißen. Er fängt mit der Jagd des Steinbockes an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht worden; Pandarus hatte ihm in den Felsen aufgepaßt, und ihn erlegt; die Hörner waren von außerordentlicher Größe, deswegen bestimmte er sie zu einem Bogen; sie kommen in die Arbeit, der Künstler verbindet sie, polieret sie, beschlägt sie. Und so, wie gesagt, sehen wir bei dem Dichter entstehen, was wir bei dem Maler nicht anders als entstanden sehen könnenIliad. Δ. v. 105-111..

– – – τόξον, εΰξοον, ιξάλου αιγός
’Αγρίου, όν ρά ποτ' αυτὸς, υπὸ στέρνοιο τυχήσας,
Πέτρης εκβαίνοντα δεδεγμένος εν προδοκη̃σιν,
Βεβλήκει πρὸς στη̃θος· ο δ' ύπτιος έμπεσε πέτρη·
Του̃ κέρα εκ κεφαλη̃ς εκκαιδεκάδωρα πεφύκαι.
Καὶ τὰ μὲν ασκήσας κεραοξόος ήραρε τέκτων,
Πα̃ν δ' ευ̃ λειήνας, κρυσέην επέθηκε κορώνην.

Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alle Exempel dieser Art ausschreiben wollte. Sie werden jedem, der seinen Homer innehat, in Menge beifallen.


 << zurück weiter >>