Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon
Gotthold Ephraim Lessing

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Ich empfinde sehr wohl, wieviel dieser Wahrscheinlichkeit zur historischen Gewißheit mangelt. Aber da ich auch nichts Historisches weiter daraus schließen will, so glaube ich wenigstens, daß man sie als eine Hypothesis kann gelten lassen, nach welcher der Kritikus seine Betrachtungen anstellen darf. Bewiesen oder nicht bewiesen, daß die Bildhauer dem Virgil nachgearbeitet haben, ich will es bloß annehmen, um zu sehen, wie sie ihm sodann nachgearbeitet hätten. Über das Geschrei habe ich mich schon erklärt. Vielleicht, daß mich die weitere Vergleichung auf nicht weniger unterrichtende Bemerkungen leitet.

Der Einfall, den Vater mit seinen beiden Söhnen durch die mördrischen Schlangen in einen Knoten zu schürzen, ist ohnstreitig ein sehr glücklicher Einfall, der von einer ungemein malerischen Phantasie zeuget. Wem gehört er? Dem Dichter, oder den Künstlern? Montfaucon will ihn bei dem Dichter nicht findenSuppl. aux Antiq. Expl. T. I. p. 243. Il y a quelque petite différence entre ce que dit Virgile, et ce que le marbre représente. Il semble, selon ce que dit le poète, que les serpents quittèrent les deux enfants pour venir entortiller le père, au lieu que dans ce marbre ils lient en même temps les enfants et leur père.. Aber ich meine, Montfaucon hat den Dichter nicht aufmerksam genug gelesen.

– – – illi agmine certo
Laocoonta petunt, et primum parva duorum
Corpora natorum serpens amplexus uterque
Implicat et miseros morsu depascitur artus.
Post ipsum, auxilio subeuntem et tela ferentem
Corripiunt, spirisque ligant ingentibus – –

Der Dichter hat die Schlangen von einer wunderbaren Länge geschildert. Sie haben die Knaben umstrickt, und da der Vater ihnen zu Hilfe kömmt, ergreifen sie auch ihn (corripiunt). Nach ihrer Größe konnten sie sich nicht auf einmal von den Knaben loswinden; es mußte also einen Augenblick geben, da sie den Vater mit ihren Köpfen und Vorderteilen schon angefallen hatten, und mit ihren Hinterteilen die Knaben noch verschlungen hielten. Dieser Augenblick ist in der Fortschreitung des poetischen Gemäldes notwendig; der Dichter läßt ihn sattsam empfinden; nur ihn auszumalen, dazu war itzt die Zeit nicht. Daß ihn die alten Ausleger auch wirklich empfunden haben, scheinet eine Stelle des DonatusDonatus ad v. 227. lib. II. Aeneid. Mirandum non est, clipeo et simulacri vestigiis tegi potuisse, quos supra et longos et validos dixit, et multiplici ambitu circumdedisse Laocoontis corpus ac liberorum, et fuisse superfluam partem. Mich dünkt übrigens, daß in dieser Stelle aus den Worten mirandum non est entweder das non wegfallen muß oder am Ende der ganze Nachsatz mangelt. Denn da die Schlangen so außerordentlich groß waren, so ist es allerdings zu verwundern, daß sie sich unter dem Schilde der Göttin verbergen können, wenn dieses Schild nicht selbst sehr groß war und zu einer kolossalischen Figur gehörte. Und die Versicherung hievon mußte der mangelnde Nachsatz sein; oder das non hat keinen Sinn. zu bezeigen. Wieviel weniger wird er den Künstlern entwischt sein, in deren verständiges Auge alles, was ihnen vorteilhaft werden kann, so schnell und deutlich einleuchtet?

In den Windungen selbst, mit welchen der Dichter die Schlangen um den Laokoon führet, vermeidet er sehr sorgfältig die Arme, um den Händen alle ihre Wirksamkeit zu lassen.

Ille simul manibus tendit divellere nodos.

Hierin mußten ihm die Künstler notwendig folgen. Nichts gibt mehr Ausdruck und Leben, als die Bewegung der Hände; im Affekte besonders, ist das sprechendste Gesicht ohne sie unbedeutend. Arme, durch die Ringe der Schlangen fest an den Körper geschlossen, würden Frost und Tod über die ganze Gruppe verbreitet haben. Also sehen wir sie, an der Hauptfigur sowohl als an den Nebenfiguren, in völliger Tätigkeit, und da am meisten beschäftiget, wo gegenwärtig der heftigste Schmerz ist.

Weiter aber auch nichts, als diese Freiheit der Arme, fanden die Künstler zuträglich, in Ansehung der Verstrickung der Schlangen, von dem Dichter zu entlehnen. Virgil läßt die Schlangen doppelt um den Leib, und doppelt um den Hals des Laokoon sich winden, und hoch mit ihren Köpfen über ihn herausragen.

Bis medium amplexi, bis collo squamea circum
Terga dati, superant capite er cervicibus altis.

Dieses Bild füllet unsere Einbildungskraft vortrefflich; die edelsten Teile sind bis zum Ersticken gepreßt, und das Gift gehet gerade nach dem Gesichte. Demohngeachtet war es kein Bild für Künstler, welche die Wirkungen des Giftes und des Schmerzes in dem Körper zeigen wollten. Denn um diese bemerken zu können, mußten die Hauptteile so frei sein als möglich, und durchaus mußte kein äußrer Druck auf sie wirken, welcher das Spiel der leidenden Nerven und arbeitenden Muskeln verändern und schwächen könnte. Die doppelten Windungen der Schlangen würden den ganzen Leib verdeckt haben, und jene schmerzliche Einziehung des Unterleibes, welche so sehr ausdrückend ist, würde unsichtbar geblieben sein. Was man über, oder unter, oder zwischen den Windungen, von dem Leibe noch erblickt hätte, würde unter Pressungen und Aufschwellungen erschienen sein, die nicht von dem innern Schmerze, sondern von der äußern Last gewirket worden. Der ebenso oft umschlungene Hals würde die pyramidalische Zuspitzung der Gruppe, welche dem Auge so angenehm ist, gänzlich verdorben haben; und die aus dieser Wulst ins Freie hinausragende spitze Schlangenköpfe hätten einen so plötzlichen Abfall von Mensur gehabt, daß die Form des Ganzen äußerst anstößig geworden wäre. Es gibt Zeichner, welche unverständig genug gewesen sind, sich demohngeachtet an den Dichter zu binden. Was denn aber auch daraus geworden, läßt sich unter andern aus einem Blatte des Franz CleynIn der prächtigen Ausgabe von Drydens englischem Virgil. (London 1697 in groß Folio.) Und doch hat auch dieser die Windungen der Schlangen um den Leib nur einfach, und um den Hals fast gar nicht geführt. Wenn ein so mittelmäßiger Künstler anders eine Entschuldigung verdient, so könnte ihm nur die zustatten kommen, daß Kupfer zu einem Buche als bloße Erläuterungen, nicht aber als für sich bestehende Kunstwerke zu betrachten sind. mit Abscheu erkennen. Die alten Bildhauer übersahen es mit einem Blicke, daß ihre Kunst hier eine gänzliche Abänderung erfordere. Sie verlegten alle Windungen von dem Leibe und Halse, um die Schenkel und Füße. Hier konnten diese Windungen, dem Ausdrucke unbeschadet, so viel decken und pressen, als nötig war. Hier erregten sie zugleich die Idee der gehemmten Flucht und einer Art von Unbeweglichkeit, die der künstlichen Fortdauer des nämlichen Zustandes sehr vorteilhaft ist.

Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß die Kunstrichter diese Verschiedenheit, welche sich in den Windungen der Schlangen zwischen dem Kunstwerke und der Beschreibung des Dichters so deutlich zeiget, gänzlich mit Stillschweigen übergangen haben. Sie erhebet die Weisheit der Künstler ebensosehr als die andre, auf die sie alle fallen, die sie aber nicht sowohl anzupreisen wagen, als vielmehr nur zu entschuldigen suchen. Ich meine die Verschiedenheit in der Bekleidung. Virgils Laokoon ist in seinem priesterlichen Ornate, und in der Gruppe erscheinet er, mit beiden seinen Söhnen, völlig nackend. Man sagt, es gebe Leute, welche eine große Ungereimtheit darin fänden, daß ein Königssohn, ein Priester, bei einem Opfer, nackend vorgestellet werde. Und diesen Leuten antworten Kenner der Kunst in allem Ernste, daß es allerdings ein Fehler wider das übliche sei, daß aber die Künstler dazu gezwungen worden, weil sie ihren Figuren keine anständige Kleidung geben können. Die Bildhauerei, sagen sie, könne keine Stoffe nachahmen; dicke Falten machten ein üble Wirkung; aus zwei Unbequemlichkeiten habe man also die geringste wählen, und lieber gegen die Wahrheit selbst verstoßen, als in den Gewändern tadelhaft werden müssenSo urteilet selbst De Piles in seinen Anmerkungen über den Du Fresnoy v. 210. Remarquez, s'il vous plaît, que les draperies tendres et légères n'étant données qu'au sexe féminin, les anciens sculpteurs ont évité autant qu'ils ont pu, d'habiller les figures d'hommes; parce qu'ils ont pensé, comme nous l'avons déjà dit, qu'en sculpture on ne pouvait imiter les étoffes et que les gros plis faisaient un mauvais effet. Il y a presque autant d'exemples de cette vérité, qu'il y a parmi les antiques de figures d'hommes nus. Je rapporterai seulement celui du Laocoon, lequel selon la vraisemblance devrait être vêtu. En effet, quelle apparence y-a-t-il qu'un fils de roi, qu'un prêtre d'Apollon se trouvât tout nu dans la cérémonie actuelle d'un sacrifice; car les serpents passèrent de l'île de Ténédos au rivage de Troie, et surprirent Laocoon et ses fils dans le temps même qu'il sacrifiait à Neptune sur le bord de la mer, comme le marque Virgile dans le second livre de son Enéide. Cependant les artistes, qui sont les auteurs de ce bel ouvrage, ont bien vu, qu'ils ne pouvaient pas leur donner de vêtements convenables à leur qualité, sans faire comme un amas de pierres, dont la masse ressemblerait à un rocher, au lieu des trois admirables figures, qui ont été et qui sont toujours l'admiration des siècles. C'est pour cela que de deux inconvénients, ils ont jugé celui des draperies beaucoup plus fâcheux, que celui d'aller contre la vérité même.. Wenn die alten Artisten bei dem Einwurfe lachen würden, so weiß ich nicht, was sie zu der Beantwortung sagen dürften. Man kann die Kunst nicht tiefer herabsetzen, als es dadurch geschiehet. Denn gesetzt, die Skulptur könnte die verschiednen Stoffe ebensogut nachahmen, als die Malerei: würde sodann Laokoon notwendig bekleidet sein müssen? Würden wir unter dieser Bekleidung nichts verlieren? Hat ein Gewand, das Werk sklavischer Hände, ebensoviel Schönheit als das Werk der ewigen Weisheit, ein organisierter Körper? Erfordert es einerlei Fähigkeiten, ist es einerlei Verdienst, bringt es einerlei Ehre, jenes oder diesen nachzuahmen? Wollen unsere Augen nur getäuscht sein, und ist es ihnen gleich viel, womit sie getäuscht werden?

Bei dem Dichter ist ein Gewand kein Gewand; es verdeckt nichts; unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch. Laokoon habe es bei dem Virgil, oder habe es nicht, sein Leiden ist ihr an jedem Teile seines Körpers einmal so sichtbar, wie das andere. Die Stirne ist mit der priesterlichen Binde für sie umbunden, aber nicht umhüllet. Ja sie hindert nicht allein nicht, diese Binde; sie verstärkt auch noch den Begriff, den wir uns von dem Unglücke des Leidenden machen.

Perfusus sanie vittas atroque veneno.

Nichts hilft ihm seine priesterliche Würde; selbst das Zeichen derselben, das ihm überall Ansehen und Verehrung verschafft, wird von dem giftigen Geifer durchnetzt und entheiliget.

Aber diesen Nebenbegriff mußte der Artist aufgeben, wenn das Hauptwerk nicht leiden sollte. Hätte er dem Laokoon auch nur diese Binde gelassen, so würde er den Ausdruck um ein Großes geschwächt haben. Die Stirne wäre zum Teil verdeckt worden, und die Stirne ist der Sitz des Ausdruckes. Wie er also dort, bei dem Schreien, den Ausdruck der Schönheit aufopferte, so opferte er hier das Übliche dem Ausdrucke auf. Überhaupt war das Übliche bei den Alten eine sehr geringschätzige Sache. Sie fühlten, daß die höchste Bestimmung ihrer Kunst sie auf die völlige Entbehrung desselben führte. Schönheit ist diese höchste Bestimmung; Not erfand die Kleider, und was hat die Kunst mit der Not zu tun? Ich gebe es zu, daß es auch eine Schönheit der Bekleidung gibt; aber was ist sie, gegen die Schönheit der menschlichen Form? Und wird der, der das Größere erreichen kann, sich mit dem Kleinern begnügen? Ich fürchte sehr, der vollkommenste Meister in Gewändern zeigt durch diese Geschicklichkeit selbst, woran es ihm fehlt.


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