Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon
Gotthold Ephraim Lessing

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V.

Es gibt Kenner des Altertums, welche die Gruppe Laokoon zwar für ein Werk griechischer Meister, aber aus der Zeit der Kaiser halten, weil sie glauben, daß der Virgilische Laokoon dabei zum Vorbilde gedienet habe. Ich will von den ältern Gelehrten, die dieser Meinung gewesen sind, nur den Bartholomäus MarlianiTopographiae Urbis Romae libr. IV. cap. 14. Et quanquam hi (Agesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii) ex Virgilii descriptione statuam hanc formavisse videntur etc., und von den neuern den MontfauconSuppl. aux Ant. Expliq. T. I. p. 242. Il semble qu'Agésandre, Polydore et Athénodore, qui en furent les ouvriers, aient travaillé comme à l'envie, pour laisser un monument, qui répondait à l'incomparable description qu'a fait Virgile de Laocoon etc. nennen. Sie fanden ohne Zweifel zwischen dem Kunstwerke und der Beschreibung des Dichters eine so besondere Übereinstimmung, daß es ihnen unmöglich dünkte, daß beide von ohngefähr auf einerlei Umstände sollten gefallen sein, die sich nichts weniger, als von selbst darbieten. Dabei setzten sie voraus, daß wenn es auf die Ehre der Erfindung und des ersten Gedankens ankomme, die Wahrscheinlichkeit für den Dichter ungleich größer sei, als für den Künstler.

Nur scheinen sie vergessen zu haben, daß ein dritter Fall möglich sei. Denn vielleicht hat der Dichter ebensowenig den Künstler, als der Künstler den Dichter nachgeahmt, sondern beide haben aus einerlei älteren Quelle geschöpft. Nach dem Macrobius würde Pisander diese ältere Quelle sein könnenSaturnal. lib. V. cap. 2. Quae Virgilius traxit a Graecis, dicturumne me putetis quae vulgo nota sunt? quod Theocritum sibi fecerit pastoralis operis autorem, ruralis Hesiodum? et quod in ipsis Georgicis tempestatis serenitatisque signa de Arati Phaenomenis traxerit? vel quod eversionem Trojae, cum Sinone suo, et equo ligneo, ceterisque omnibus, quae librum secundum faciunt, a Pisandro paene ad verbum transcripserit? qui inter Graecos poetas eminet opere, quod a nuptiis Jovis et Junonis incipiens universas historias, quae mediis omnibus sacculis usque ad aetatem ipsius Pisandri contigerunt, in unam seriem coactas redegerit, et unum ex diversis hiatibus temporum corpus effecerit? in quo opere inter historias ceteras interitus quoque Trojae in hunc modum relatus est. Quae fideliter Maro interpretando, fabricatus est sibi Iliacae urbis ruinam. Sed et haec et talia ut pueris decantata praetereo.. Denn als die Werke dieses griechischen Dichters noch vorhanden waren, war es schulkundig, pueris decantatum, daß der Römer die ganze Eroberung und Zerstörung Iliums, sein ganzes zweites Buch, aus ihm nicht sowohl nachgeahmt, als treulich übersetzt habe. Wäre nun also Pisander auch in der Geschichte des Laokoon Virgils Vorgänger gewesen, so brauchten die griechischen Künstler ihre Anleitung nicht aus einem lateinischen Dichter zu holen, und die Mutmaßung von ihrem Zeitalter gründet sich auf nichts.

Indes wenn ich notwendig die Meinung des Marliani und Montfaucon behaupten müßte, so würde ich ihnen folgende Ausflucht leihen. Pisanders Gedichte sind verloren; wie die Geschichte des Laokoon von ihm erzählet worden, läßt sich mit Gewißheit nicht sagen; es ist aber wahrscheinlich, daß es mit eben den Umständen geschehen sei, von welchen wir noch itzt bei griechischen Schriftstellern Spuren finden. Nun kommen aber diese mit der Erzählung des Virgils im geringsten nicht überein, sondern der römische Dichter muß die griechische Tradition völlig nach seinem Gutdünken umgeschmolzen haben. Wie er das Unglück des Laokoon erzählet, so ist es seine eigene Erfindung; folglich, wenn die Künstler in ihrer Vorstellung mit ihm harmonieren, so können sie nicht wohl anders als nach seiner Zeit gelebt, und nach seinem Vorbilde gearbeitet haben.

Quintus Calaber läßt zwar den Laokoon einen gleichen Verdacht, wie Virgil, wider das hölzerne Pferd bezeigen; allein der Zorn der Minerva, welchen sich dieser dadurch zuziehet, äußert sich bei ihm ganz anders. Die Erde erbebt unter dem warnenden Trojaner; Schrecken und Angst überfallen ihn; ein brennender Schmerz tobet in seinen Augen; sein Gehirn leidet; er raset; er verblindet. Erst, da er blind noch nicht aufhört, die Verbrennung des hölzernen Pferdes anzuraten, sendet Minerva zwei schreckliche Drachen, die aber bloß die Kinder des Laokoon ergreifen. Umsonst strecken diese die Hände nach ihrem Vater aus; der arme blinde Mann kann ihnen nicht helfen; sie werden zerfleischt, und die Schlangen schlupfen in die Erde. Dem Laokoon selbst geschieht von ihnen nichts; und daß dieser Umstand dem QuintusParalip. lib. XII. v. 398-408 et v. 439-474. nicht eigen, sondern vielmehr allgemein angenommen müsse gewesen sein, bezeiget eine Stelle des Lykophron, wo diese SchlangenOder vielmehr Schlange: denn Lykophron scheinet nur eine angenommen zu haben:

Καὶ παιδοβρω̃τος πόρκεως νήσους διπλα̃ς.

das Beiwort der Kinderfresser führen.

War er aber, dieser Umstand, bei den Griechen allgemein angenommen, so würden sich griechische Künstler schwerlich erkühnt haben, von ihm abzuweichen, und schwerlich würde es sich getroffen haben, daß sie auf eben die Art wie ein römischer Dichter abgewichen wären, wenn sie diesen Dichter nicht gekannt hätten, wenn sie vielleicht nicht den ausdrücklichen Auftrag gehabt hätten, nach ihm zu arbeiten. Auf diesem Punkte, meine ich, müßte man bestehen, wenn man den Marliani und Montfaucon verteidigen wollte. Virgil ist der erste und einzigeIch erinnere mich, daß man das Gemälde hierwider anführen könnte, welches Eumolp bei dem Petron auslegt. Es stellte die Zerstörung von Troja, und besonders die Geschichte des Laokoon, vollkommen so vor, als sie Virgil erzählet; und da in der nämlichen Galerie zu Neapel, in der es stand, andere alte Gemälde vom Zeuxis, Protogenes, Apelles waren, so ließe sich vermuten, daß es gleichfalls ein altes griechisches Gemälde gewesen sei. Allein man erlaube mir, einen Romandichter für keinen Historikus halten zu dürfen. Diese Galerie, und dieses Gemälde, und dieser Eumolp haben, allem Ansehen nach, nirgends als in der Phantasie des Petrons existieret. Nichts verrät ihre gänzliche Erdichtung deutlicher, als die offenbaren Spuren einer beinahe schülermäßigen Nachahmung der Virgilischen Beschreibung. Es wird sich der Mühe verlohnen, die Vergleichung anzustellen. So Virgil: (Aeneid. lib. II. 199-224.)

Hic aliud majus miseris multoque tremendum
Objicitur magis, atque improvida pectora turbat.
Laocoon, ductus Neptuno sorte sacerdos,
Solemnis taurum ingentem mactabat ad aras.
Ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta
(Horresco referens) immensis orbibus angues
Incumbunt pelago, pariterque ad litora tendunt:
Pectora quorum inter fluctus arrecta, jubaeque
Sanguineae exsuperant undas: pars cetera pontum
Pone legit, sinuatque immensa volumine terga.
Fit sonitus spumante salo: jamque arva tenebant,
Ardentesque oculos suffecti sanguine et igni
Sibila lambebant linguis vibrantibus ora.
Diffugimus visu exsangues. Illi agmine certo
Laocoonta petunt, et primum parva duorum
Corpora natorum serpens amplexus uterque
Implicat, et miseros morsu depascitur artus.
Post ipsum, auxilio subeuntem ac tela ferentem,
Corripiunt, spirisque ligant ingentibus: et jam
Bis medium amplexi, bis collo squamea circum
Terga dati, superant capite et cervicibus altis.
Ille simul manibus tendit divellere nodos,
Perfusus sanie vittas atroque veneno:
Clamores simul horrendos ad sidera tollit.
Quales mugitus, fugit cum saucius aram
Taurus et incertam excussit cervice securim.

Und so Eumolp, (von dem man sagen könnte, daß es ihm wie allen Poeten aus dem Stegreife ergangen sei: ihr Gedächtnis hat immer an ihren Versen ebensoviel Anteil, als ihre Einbildung):

Ecce alia monstra. Celsa qua Tenedos mare
Dorso repellit, tumida consurgunt freta,
Undaque resultat scissa tranquillo minor.
Qualis silenti nocte remorum sonus.
Longe refertur, cum premunt classes mare,
Pulsumque marmor abiete imposita gemit.
Respicimus, angues orbibus geminis ferunt
Ad saxa fluctus: tumida quorum pectora
Rates ut altae, lateribus spumas agunt:
Dant caudae sonitum; liberae ponto jubae
Coruscant luminibus, fulmineum jubar
Incendit aequor, sibilisque undae tremunt.
Stupuere mentes. Infulis stabant sacri
Phrygioque cultu gemina nati pignora
Laocoonte, quos repente tergoribus ligant
Angues corusci: parvulas illi manus
Ad ora referunt: neuter auxilio sibi
Uterque fratri transtulit pias vices,
Morsque ipsa miseros mutuo perdit metu.
Accumulat ecce liberûm funus parens,
Infirmus auxiliator; invadunt virum
Jam morte pasti, membraque ad terram trahunt.
Jacet sacerdos inter aras victima.

Die Hauptzüge sind in beiden Stellen eben dieselben, und verschiedenes ist mit den nämlichen Worten ausgedrückt. Doch das sind Kleinigkeiten, die von selbst in die Augen fallen. Es gibt andere Kennzeichen der Nachahmung, die feiner, aber nicht weniger sicher sind. Ist der Nachahmer ein Mann, der sich etwas zutrauet, so ahmet er selten nach, ohne verschönern zu wollen; und wenn ihm dieses Verschönern, nach seiner Meinung, geglückt ist, so ist er Fuchs genug, seine Fußtapfen, die den Weg, welchen er hergekommen, verraten würden, mit dem Schwanze zuzukehren. Aber eben diese eitle Begierde zu verschönern, und diese Behutsamkeit Original zu scheinen, entdeckt ihn. Denn sein Verschönern ist nichts als Übertreibung und unnatürliches Raffinieren. Virgil sagt, sanguineae jubae: Petron, liberae jubae luminibus coruscant. Virgil, ardentes oculos suffecti sanguine er igni: Petron, fulmineum jubar incendit aequor. Virgil, fit sonitus spumante salo: Petron, sibilis undae tremunt. So geht der Nachahmer immer aus dem Großen ins Ungeheuere; aus dem Wunderbaren ins Unmögliche. Die von den Schlangen umwundenen Knaben sind dem Virgil ein Parergon, das er mit wenigen bedeutenden Strichen hinsetzt, in welchen man nichts als ihr Unvermögen und ihren Jammer erkennet. Petron malt dieses Nebenwerk aus, und macht aus den Knaben ein Paar heldenmütige Seelen,

– – – – neuter auxilio sibi,
Uterque fratri transtulit pias vices,
Morsque ipsa miseros mutuo perdit metu.

Wer erwartet von Menschen, von Kindern, diese Selbstverleugnung? Wie viel besser kannte der Grieche die Natur, (Quintus Calaber lib. XII. v. 459-461.) welcher, bei Erscheinung der schrecklichen Schlangen, sogar die Mütter ihrer Kinder vergessen läßt, so sehr war jedes nur auf seine eigene Erhaltung bedacht.

– – – – ένθα γυναι̃κες
Οίμωζον, καὶ πού τις εω̃ν επελήσατο τέκνων,
Αυτὴ αλευομένη στυγερὸν μόρον – –

Zu verbergen sucht sich der Nachahmer gemeiniglich dadurch, daß er den Gegenständen eine andere Beleuchtung gibt, die Schatten des Originals heraus-, und die Lichter zurücktreibt. Virgil gibt sich Mühe, die Größe der Schlangen recht sichtbar zu machen, weil von dieser Größe die Wahrscheinlichkeit der folgenden Erscheinung abhängt; das Geräusche, welches sie verursachen, ist nur eine Nebenidee, und bestimmt, den Begriff der Größe auch dadurch lebhafter zu machen. Petron hingegen macht diese Nebenidee zur Hauptsache, beschreibt das Geräusch mit aller möglichen Üppigkeit, und vergißt die Schilderung der Größe so sehr, daß wir sie nur fast aus dem Geräusche schließen müssen. Es ist schwerlich zu glauben, daß er in diese Ungeschicklichkeit verfallen wäre, wenn er bloß aus seiner Einbildung geschildert, und kein Muster vor sich gehabt hätte, dem er nachzeichnen, dem er aber nachgezeichnet zu haben, nicht verraten wollen. So kann man zuverlässig jedes poetische Gemälde, das in kleinen Zögen überladen, und in den großen fehlerhaft ist, für eine verunglückte Nachahmung halten, es mag sonst so viele kleine Schönheiten haben als es will, und das Original mag sich lassen angeben können oder nicht.

, welcher sowohl Vater als Kinder von den Schlangen umbringen läßt; die Bildhauer tun dieses gleichfalls, da sie es doch als Griechen nicht hätten tun sollen: also ist es wahrscheinlich, daß sie es auf Veranlassung des Virgils getan haben.


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