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Der Raz

Als das geistliche Gericht Gewißheit hatte, daß Lienhard noch lebe, handelte es rasch. Die Untersuchung bedurfte seiner Einvernahme, die einmal begonnene Sache mußte zum Abschluß kommen. Da die beiden Reiter, die nach dem Buben fahndeten, ihn im Dorfe nicht mehr antrafen und der Pfarrer jede Auskunft verweigerte, durchstreiften bald die Sbirren der Inquisition die Gegend.

Es war um die Mitte des dritten Tages, als Lienhard vor Müdigkeit nicht mehr weiter konnte und sich in einem Türkenfeld zur Rast niederließ. Die hohen Stangen mit den schilfigen Blättern, die niemand abgeerntet hatte, verbargen ihn gut. Trotz der Schattenstreifen, die sie über sein Gesicht legten, war es einschläfernd warm zwischen den Halmen. Das Oktoberende hatte sonnige, südlich milde Tage gebracht.

Er hielt sich krampfhaft wach; aber seine Gedanken begannen ihm zu entschlüpfen, sie taten in seinem Kopf, was sie wollten. Er war die drei Tage mühsame, versteckte Wege gegangen und war zu geschwächt, um sein Denken in eine bestimmte Richtung zu zwingen. In dem schmalen und dämmerigen Spalt zwischen Schlafen und Wachen rollte sein Leben wie ein rascher Bilderstreifen ab, manchmal ganz verdunkelt von Minuten wirklichen Schlafs, dann wieder bis zur Unerträglichkeit aufgehellt von Blitzen wachster Erinnerung, daß es schmerzte. Besonders die Tage seiner Wanderschaft kehrten in starken, farbigen Bildern zurück, sie waren sein einziges, eigenstes Eigentum; nun, da er wieder ausgebrochen war, fühlte er, daß er nie hätte so lange bleiben dürfen. Er war doch fort, um Franz zu finden; warum hatte er es so bald aufgegeben, ihn zu suchen! Es war nicht das Rechte gewesen, irgendwo haltzumachen und dort zu warten, bis der Alte von selber käme. Hier, im freien Acker liegend, der nicht seinem Bauern gehörte, der wahrscheinlich einem Toten gehörte, schon wieder fern von dem Dorf und seiner hegenden Gewalt entrückt, spürte er, wie fehl er gehandelt hatte, als er seine Wanderung abbrach und die ihm zugemessene Freiheit gegen das bißchen sichere Essen und Wohnen verkaufte.

Aber nun war er wieder frei, und das alte Glück, die alte Zuversicht kamen ihm wieder; sein eigenes Leben, das bunt und abenteuerlich an ihm vorbeizog, nährte ihn mit neuer Kraft, überredete ihn zu sich selber und verhieß ihm, daß alles wieder gut würde. Er fürchtete die Häscher nicht; er war überzeugt, ihnen zu entkommen. Seine Erfahrung im Sichverstecken, seine geübten Sinne, die die Angst noch schärfte, seine sichere Witterung für verborgene, wenig begangene Wege führten ihn sicher richtig. Er lag da, von allen verlassen, müde, aber langsam erstarkend an den hellen und dunklen Träumen seines ausgesetzten Lebens.

Da ist er damals bei schönstem Frühlingswetter aufgebrochen; aber schon mittags ziehen rasche Schneeschauer über die Hänge und durchblasen den Wanderer wie Novembersturm. Dazwischen bricht wieder eine grelle Sonne durch und trocknet ihm das Gesicht. Er verbringt die Nacht in einem fast leeren Heustadel abseits der Straße, frierend und immer wieder aufgeschreckt, wenn der Wind die lockere Tür auf- und zuschlägt. Er ist früh auf dem Weg. Die schmale Straße steigt. Die Talwände rücken näher zusammen, das Wasser wird kleiner, aber stürmischer, und der Weg zieht knapp neben ihm bachaufwärts. Der Wald stürzt die steilen Wände herab und verfinstert die enge Welt, in die der Bub, weitum allein, vorstößt.

Es geht einem Paß zu, die Luft wird kühler, der Wind schärfer, die Häuser bleiben tief unten zurück. Nie hat er die Wolke so geschwind daherfliegen sehn, im Nu ist der Nebel so dicht, daß er nichts mehr sieht als ein Wegstück vor sich und ein gleich langes hinter sich. Aber da fährt ein wütender Wind in die weiße Masse und zerreißt sie zu Millionen Flocken. Die Straße steigt in den Altschnee hinein, Lienhard überlegt, ob er zu den letzten Häusern zurück soll; aber es wird hier langsam eben, er muß die Höhe erreicht haben. Und er weiß, droben auf dem Paß steht ein Haus, ein Haus mit warmen Stuben und einem Teller heißer Suppe auf dem Tisch. Es wäre zum Lachen, jetzt umzukehren, in einer Viertelstunde ist er am Ziel. Das Gesicht brennt, die Wimpern sind immer wieder von Schnee verklebt. Aber die Beine tun um so wilder ihren Dienst, je schneller und ängstlicher das Herz klopft. Schon hört er seinen Atem stoßweise keuchen, das Gehen wird mühsamer mit jedem Schritt, der Sturm beutelt riesige Säcke voll Schnee vor ihn hin, ein weißer, heulender Wirbel umrast ihn, die Ränder der Straße verschwinden im undurchdringlichen Weiß, die Beine versinken darin, und wenn er zurückschaut, sind ihre Löcher schon zugeweht. Es wird eben; die Straße ist verschwunden, mit dreifacher Gewalt kommt der Sturm übers Joch.

Dann ist es Nacht, und er hört die alte Wirtin das Haustor sperren und die Stiege hinauftappen. Er legt sich auf der Bank zurecht. Plötzlich kommt der Hunger. Er hätte sie doch um ein Stück Brot bitten sollen, sie hätte es ihm sicher gegeben. Einen Augenblick denkt er daran, im Kasten nachzuschauen; aber es ist stockdunkel und er fürchtet sich, Lärm zu machen. Dann kommt die Angst. Dumme Geschichten fallen ihm ein: Da ist einmal ein reicher Kaufmann in eine Herberge geraten, sie haben ihn freundlich aufgenommen, aber wie er der Wirtin gute Nacht sagte, hat sie nur was gebrummt, und dann hörte er ein Schloß einschnappen, das ging ihm durch Mark und Bein. Mitten in der Nacht war plötzlich Licht über ihm und laute Stimmen, dann haben sie ihn umgebracht. Daß er selbst kein reicher Kaufmann ist, auf den Gedanken kommt Lienhard nicht.

Er kriecht tiefer unter den Mantel; das Messer blitzt, mit dem sie in der Stadt dem heiligen Johannes den Kopf abgehackt haben. Sein Hals zuckt, als spürte er die Schneide über sich. Er betet hastig. Um das Haus fährt der Sturm – das Wetter muß wieder losgebrochen sein. Er horcht: die Lüfte sausen und heulen, ans Fenster prasselt der Schnee. Von Minute zu Minute wächst das Getöse. Es hebt ihn auf, weht ihn fort, umschließt ihn von allen Seiten – aber es schützt ihn. Es ist stärker als die bösen Menschen, es hält sie fern von ihm. Er fühlt sich sicher, er ist nicht allein; der Wind ist bei ihm, der Schnee, der Himmel. Er triumphiert wie ein Bub, der einen großen starken Bruder hat, vor dem sich alle ducken, der alle bestraft, die ihm wehtun.

Der Mittag stand über dem Träumenden. Die hohen, dürrgelben Schäfte schnitten das blasse Blau in schöne Streifen, Spinnfaden zogen goldschimmernd durch die Luft, die Berge waren aus hellblauem Glas; aber Lienhard ist daheim beim Stiefvater, schnitzend über die Kalbin gebeugt, und draußen sinkt der Schnee nieder. Schon häuft er sich auf dem Balken zur halben Höhe des Fensters, die Wege liegen tief verschneit, und kein Laut stört das stumme Niedergehen der Flocken. Ihr unerschöpfliches Herabsinken stillt das Herz. Weihnachten ist nahe. Man kann sich nichts Schöneres wünschen, als daß es immer so Nachmittag bliebe und so weiterschneie. Die Welt wird weiß und friedvoll, man ist geborgen, aufgehoben, daheim. Wenn eine Amsel durch den Birnbaum streicht, stäubt der Schnee in feinen Schleiern herab; wenn im Haus irgendwo eine Tür geht, fällt vom Fensterkreuz ein schmaler Streifen Schnee und versinkt lautlos. Franz sitzt auf der Ofenbank und blättert in seinem Kalender.

Die Seele des Knaben war heimgekehrt; sie durfte noch eine Weile um die Dinge ihrer Liebe sein, ehe sie verging. Sie hatte den Körper zwischen den dürren Halmen irgendeines Getreidefeldes zurückgelassen und ihn nie mehr gefunden. Wenn sie ihm in den nächsten Tagen auch manchmal sehr nahe kommt, einzudringen in den betäubten, verwirrten, geschreckten und immerzu bebenden Leib, wird ihr nicht gelingen. Lienhard wird nie mehr zur vollen Besinnung seiner selbst kommen, er ist fortgegangen wie so oft, aber diesmal so weit, daß er sich ganz aus den Augen verliert und seine eigene Stimme ihn nicht mehr erreicht. Wäre er ein Mann, dann würde er sich wehren, sich verwandeln; er müßte ein Wahnsinniger oder ein Weiser werden, ein Held oder ein armer Teufel. Er ist aber noch ein Kind, und so kann er nur zerbrechen, wie etwas Feines in einer rohen Hand.

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Sie fanden ihn schlafend, die Hände unter dem Kopf gekreuzt, die Augen von den Wimpern friedlich zugedeckt, den Mund ein wenig geöffnet, das ganze Gesicht voll Traum.

Sie banden ihn und schleppten ihn in die Stadt.

Das erste Verhör vor dem Inquisitor brachte nicht mehr zutage, als schon der Pfarrer berichtet hatte. Am Morgen des nächsten Tages wurde er neuerdings vernommen. Er blieb bei seinen Aussagen, zeigte sich erschreckt, scheu und manchmal ganz abwesend.

Man schritt zur Folter. Er fiel an diesem Vormittag dreimal in tiefe, anhaltende Bewußtlosigkeit. Er verstand von den Fragen des Richters, die sich auf die Art und Weise seines Umganges mit dem Teufel bezogen, kein Wort. Seine Schreie waren wild und gellend, dann gingen sie in ein unausgesetztes Wimmern über; sein Gesicht war in Tränen gebadet. Er hatte bis Mittag nichts gestanden. Man mußte unterbrechen, da man fürchtete, ihn nicht mehr lebend aus der Kammer zu bringen.

Nachmittags bedrohte man ihn mit härterer Folter. Er bat mit aufgehobenen Händen um Verzeihung für alle seine Sünden und daß man ihm sage, was er noch getan habe und was er tun solle. Man wiederholte ihm die Anklagen der Bauern. Er schüttelte den Kopf und weinte. Er war zu schwach, um zu erwidern, die Bauern hätten ihm alles verziehen und ihn liebgewonnen; Ganz flüchtig ging ihm das Gesicht der Leichenmena durch den Sinn, er spürte einen Augenblick lang fast körperlich ihre streichelnde, zittrige, totengelbe Hand an seinem Arm. Man versicherte ihm, die Folter nicht mehr zu gebrauchen, wenn er seine Untaten bekenne und ja sage. Schon auf die erste Frage: »Ist der Teufel oft zu dir gekommen?« sagte er nein. Man band ihm die Arme auf dem Rücken, kettete die Kugel an seine Füße und zog ihn hoch. Ehe er in Ohnmacht fiel, schrie er ja. Man mußte warten, bis er wieder zu sich kam. Dann zeigten ihm die Männer Beinzwingen und Zangen, die sie auf einer kleinen Esse glühend machten. Er sagte mit einer Stimme, die er selbst von weither vernahm und nicht wieder erkannte, auf alles ja, was ihn der Inquisitor fragte.

Damit war das Verhör beendet, und das geistliche Gericht übergab den Schuldigbefundenen der weltlichen Gerechtigkeit. Die Akten wurden geschlossen; die Liebe, deren vornehmster Gegenstand das Heil der Seele ist, überlieferte den Leib der peinlichen Halsordnung; sie hatte ihr Äußerstes getan. Die irdische Gerechtigkeit aber, die wenigstens ein Schattenbild der göttlichen sein müßte, sobald sie daran geht, über Wert oder Unwert eines Menschenlebens den Mund aufzutun, und die vor einem Kinde verstummen müßte, sobald dieses nur die Augen aufschlägt, hatte

»zurecht Erkennt, daß Vorbemelter loterpueb Leonhart Tenng durch seine obenangezaigte zauberische missetaten das Leben verwirckht und den Tott verschuldet habe, auch dem Scharffrichter yberantwortet, von demselben an gewohnliche Richtstath beglaitet, daselbsten mit dem Schwert enthaupt und alsdann der totte Cörpl auf ainem Scheiterhauffen Verprennt und der Aschen in das Wasser geworffen, also dises ybl zu meingeliches abscheichen gestrafft werden solle. Meran, den driten Novembris 1679.«

Es waren nicht viele Kammern auf der weiten Welt, die das Kind Lienhard, den kleinen Nirgendsdaheim, beherbergt hatten; und alle waren ärmlich, düster und eng gewesen.

Die schlimmste aber war die letzte. Eine dunkle Zelle, feuchte Wände, auf denen der Schimmel wuchs, ein winziges Fenster mit dichtem Eisengitter, kein Bett, kein Stuhl, nichts als der steinharte Boden. Es war so finster darin, als man ihn hineinsperrte, daß er den Mann zuerst nicht sah, der in der Ecke kauerte; erst nachdem er sich an das Halblicht etwas gewöhnt hatte, merkte er, daß er nicht allein war. Hätten ihn nicht die Folter und all das ausgestandene Leid der letzten Tage völlig zerbrochen, betäubt und bis zum Ersterben geschwächt, er wäre sicherlich mit einem Schreckensschrei zur Tür gestürzt und ohnmächtig zusammengefallen, da er sie verschlossen gefunden hätte. So aber setzte er sich, unaufhörlich zitternd, in die andere Ecke der Kammer, machte langsam und als begäbe er sich nun ein für allemal in himmlischen Schutz, das Kreuz und schloß die vom Weinen müden Augen.

Ihm gegenüber saß der Raz. War es Zufall oder teuflische Absicht der Behörde, der Henker und sein Opfer mußten die letzte Nacht miteinander verbringen, jener ganz im unklaren darüber, warum man ihn überhaupt gefangenhielt, dieses dem Alpdruck einer Begegnung ausgesetzt, die es schon zweimal bis ins Innerste erschreckt hatte. Der Inquisitor, von der Unschuld des Raz durchaus nicht überzeugt, sah im Amt des Henkers die passendste Strafe und im Zusammensein mit dem zu Richtenden eine Verschärfung, die in hohem Maße erzieherisch wirken mußte.

Lange starrte der Raz den Buben schweigend an. Dann fragte er ihn:

»Bist du der Lienhard?«

Der Knabe schreckte auf; er hatte gehofft, der Unheimliche werde ihn in Ruhe lassen. Er sah bebend nach der Ecke; das Weiß der großen Augen war das einzig Helle und Deutliche, das er im Finstern wahrnehmen konnte. Wenn er nur sitzenbleibt, ging es als letzter heißer Wunsch durch sein verwüstetes Gemüt. Er wünschte es so sehr, daß er gar nicht imstande war, zu antworten.

Nach einer Weile hörte er die tiefe Stimme wieder:

»Ob du der Lienhard bist?«

Nun kam er ihr nicht mehr aus. Fast vergehend vor Angst flüsterte er: Ja.

Der Raz machte seine Stimme so weich und freundlich wie er konnte. Auf das meiste, was er sagte, bekam er keine Antwort; aber nicht eine Spur von Ungeduld war seinen Fragen anzumerken. Er ließ lange Pausen zwischen den Sätzen, die durch das Dunkel kamen, als mühten sich grobe Hände, zärtlich zu sein. Lienhard, der im Umgang mit lauter fremden Leuten sein Ohr für das geschärft hatte, was hinter dem Sinn der Worte an Gewogenheit oder Feindschaft, an Güte oder Herzenshärte schwang, erlag allmählich der Werbung dieser Stimme, die sich zu solcher Behutsamkeit dämpfte, obwohl sie rauh und des Sprechens ungewohnt war. Sie fing an, ihm wohlzutun, ihn zu trösten, ihn zu beherbergen. Nachdem der Raz einiges über den Verlauf des Prozesses erfahren hatte – er kannte sich aus und wußte, daß es keine Rettung mehr gab –, suchte er den Knaben zu überzeugen, daß es noch gar nicht so schlimm um ihn stünde, daß er vielleicht morgen wieder freigelassen würde. Lienhard, an Leib und Seele wund, wünschte es sich gar nicht, Untersuchung und Folter hatten ihn so zerstört, so ganz und gar aus dem Gleichgewicht gebracht, daß ihm darnach kein Glück und keine Lust, zu wandern oder zu bleiben, mehr möglich schien. Und doch ließ er sich von den Trostsprüchen beruhigen und wärmen. Warum habe ich mich so gefürchtet vor diesem Mann; er tut mir nichts, er ist fein zu mir. Die Mena fiel ihm ein: es wird schon nicht so arg mit ihm sein, hatte sie gleich gesagt, als er ihr erzählte, wie ihn das schwarze Gesicht erschreckt habe.

Die Nacht war lang und kalt. Von Zeit zu Zeit hörten die beiden den Schritt der Wache draußen, einmal auch den Hornstoß des Nachtwächters.

Lienhard fror. Er stak in seinen dürftigen Lumpen und war barfuß. Er krümmte sich über seine hochgezogenen Knie, die er mit beiden Armen umschlungen hielt, als könnte er sich mit seinem eigenen Rücken wärmend zudecken. Aber in dem ausgehungerten und blutig gequälten Körperchen war keine Wärme mehr. Gegen Mitternacht wurde ihm so kalt, daß ihm die Zähne gegeneinander schlugen; er stützte das Kinn auf die Knie, aber es nützte nichts. Noch immer war zuviel Scheu vor dem schwarzen Mann in ihm, als daß er es gewagt hätte, ihn um seinen Rock zu bitten. Ob er schlief? Er hatte schon lange nichts mehr geredet, und aus der Ecke kam nur das schwere Schnaufen seines Atems.

Aber er schlief nicht. Sein ungefüger Kopf quälte sich damit ab, wie er den Buben herüberbringen könnte, ohne ihn zu erschrecken. Er wüßte die Worte nicht, mit denen man ein so Scheues lockt, er brachte das Herz nicht auf die Zunge, es steckte zu tief in ihm drinnen. Mit einem Hund wäre er fertig geworden, ein Weib hätte er in seinen Bann getan – über das Kind vermochte er nichts. Als er es aber mit den Zähnen klappern hörte und das herzzerreißende Frösteln nicht verstummen wollte, stand er geräuschvoll auf, räusperte sich und meinte leichthin:

»Kalt ist's da herinnen, gelt, Lienhard?«

Und nach einer Weile: »Soll ich zu dir hinkommen?«

Lienhard schauderte. Aber es war ihm so elend, daß er kein Wort herausbrachte.

Mit schweren, absichtlich lauten und langsamen Schritten kam der Raz auf ihn zu. Lienhard konnte ihn nicht sehen, es war stockdunkel in der Zelle. Plötzlich fühlte er eine große warme Hand auf seinem Haar. Sie legte sich lind und behutsam auf den Kopf, und dann kam eine zweite, die griff ein wenig zitternd nach seinem Gesicht, und die andere fuhr sachte die Schläfe herab, und nun lagen die Wangen in beiden wie in einem warmen, weichen Nest.

Der schwere Mann ging laut schnaufend in die Knie. Und dann fühlte das Kind den warmen Atem des Mannes und hörte seine Stimme – sie kam stockend aus der tiefsten Tiefe herauf: »Bist du's oder bist du's nicht, Bub, lieber, feiner?!«

Und Lienhard, der vom folgenden wenig verstand, gab sein Gesicht dem Manne hin, der es an seine breite, dunkle Brust nahm, und dort ruhte nun Lienhard und hörte die Stimme weit heraufkommen, er legte sein Ohr an die tönende Brust und spürte das leise Dröhnen durch seine Schläfe gehen, als lehnte er an einer Orgel. Der Mann hatte sich gesetzt und den Knaben in den Schoß genommen, er sah nichts von ihm, aber seine Arme hielten den. kleinen Körper umspannt, und seine Hand lag auf dem weichen Haar. Die Stimme aber erklang wohlig durch den stockdunklen Raum:

»Sie ist so jung und fein gewesen. Die gleichen Augen hat sie gehabt wie du. Ich weiß nicht, wie es ihr gegangen ist; ich hab' sie nie mehr gesehn. Ich mein', sie ist schon tot, Lienhard. Es kann auch sein, daß sie es gar nicht war; es ist so viel los auf der Welt, und das Leben ist bald so, bald so. Mir ist viel über den Weg gelaufen, ich kann mir nichts merken; aber alles ist gut, was kommt: es geht vorbei. Wie hat sie wohl geheißen, Lienhard, du könntest mir's vielleicht sagen, aber es ist gleich. Nein, nein, sie werden dir nichts tun, und morgen gehn wir ihnen beide durch, ich und du. Und dann suchen wir den Franz, wir werden ihn bald haben. Er kann nicht weit sein, die Welt ist nicht gar so groß, und um diese Zeit kommt er gern in unsere Gegend herein. Dann ist alles gut, Lienhard.«

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So schön kommt diese tiefe Stimme aus der breiten Brust heraus, und in den mächtigen Armen ist es warm und fein. Da hört Lienhard die Worte von immer weiter her und versteht ihren Sinn nicht recht, da ist ein großes schützendes Bett, und der Kopf wird schwer und liegt gut; da schläft er ein.

Als ihn der Raz schlafen fühlte, beugte er sein umwuchertes Gesicht auf die zarte Stirn des Kindes hinab, und so kam es, daß in dieser Nacht des äußersten Elends der Henker sein Opfer küßte.

Das Böse ist nicht bös, das Gute nicht immer gut, in der Tiefe des Lebens wachsen viele Wurzeln unlösbar ineinander; wir sehen nicht weit hinab.

Lienhard schlief bis zum Morgengrauen. Hie und da zuckte er zusammen, dann bettete ihn der Mann bequemer und deckte ihn mit den Schößen seines langen Rockes zu.

In der Früh führte man den Raz aus der Zelle. Lienhard hängte sich an ihn, er wollte ihn nicht fortlassen. Man versprach ihm, daß er nicht lange ausbleiben werde. Dann kam ein Geistlicher und nahm ihm die Beichte ab. Er redete vom Sterben, Lienhard war es gewohnt, die Geistlichen vom Tode sprechen zu hören und bezog es nicht eigentlich auf sich. Als er aber gemahnt wurde, sich nicht allzusehr zu ängstigen, verließ ihn die Zuversicht, die ihm aus der Nähe des seltsamen Mannes erwachsen war. Alleingelassen, sank er in eine Abwesenheit, als ginge ihn alles nichts mehr an.

Der Viehhändler Franz hatte den ganzen Sommer umsonst nach dem Buben gesucht. Erst Anfang November führte ihn sein Handel in das Dorf hinauf, das Lienhard vor einer knappen Woche für immer verlassen hatte. Er kehrte zu Mittag ins Gasthaus ein. Am Tisch in der Ecke hockten vier Männer und spielten Karten. Franz setzte sich abseits auf die Ofenbank, stellte sein Weinglas neben sich, holte Speck und Brot aus der Manteltasche und begann zu essen. Die Spieler schenkten ihm keinerlei Beachtung.

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Während sie die Karten auf den Tisch schlugen, drehte sich ihr Gespräch um Lienhard. Nun hätte man den Ausreißer doch gefangen, in einem Türkenacker sei er eingeschlafen und nicht mehr rechtzeitig aufgewacht. Der Prozeß sei zu Ende, heute oder morgen koste es ihm den Kopf. Niemand verstehe die Härte des Urteils. In der Pestzeit sei keiner im Dorf mutiger und hilfsbereiter gewesen als er. Die Fürbitte zweier Männer bei der heiligen Inquisition habe nichts genützt; das gehöre auf ein anderes Blatt, hätten sie zur Antwort bekommen. Die meisten, die damals die Anklage eingebracht hätten, seien gestorben; die paar Überlebenden seien nicht befugt, die Klage zurückzuziehen. Der Wille der Toten sei dem Gerichte heilig; er müsse erfüllt werden, auch wenn sich der Knabe inzwischen vom Bösen abgekehrt hätte. Es sei übrigens nicht ohne Zweifel erwiesen, daß Lienhard am Ausbruch der schwarzen Seuche völlig schuldlos gewesen sei. Es müsse auffallen, daß er trotz des täglichen Beisammenseins mit Sterbenden und Toten selber unversehrt blieb. Man könnte an ein Wunder denken, wenn es nicht näherliege, jenen finstern Helfer verantwortlich zu machen, der schon einmal über den Knaben Gewalt geübt habe. Das sei die Meinung des Gerichts.

Sie schwiegen. Als sie nach einer Weile den Gegenstand ihres Gespräches wechselten, erhob sich Franz und ging auf sie zu; sein Gesicht war fahl, seine Stimme zitterte.

Er fragte die Männer nach dem Aussehen des Buben, und aus ihren Antworten erstand ihm Stück um Stück der Langgesuchte. Er wußte genug, nahm den Stock und ging.

Nie in seinem Leben war er so gelaufen. Seine Augen standen weit offen, und ihr ins Drohende verlorener Blick ging durch Bäume, Häuser, Tiere und Menschen hindurch; er suchte hinter ihnen, starr vor Angst, die schmächtige Gestalt, notdürftig in Lumpen gehüllt, das liebe, bleiche Gesicht, die tiefen, unwissenden Augen. Wie mußte ihnen, die ohne Arg waren, die Welt dumm und erbärmlich erscheinen. War sie wirklich so? Gab es nicht Menschen in ihr, die ihr Leben opferten, um die Leiden der andern zu lindern? Er kannte so viele Leute; fast jeder hatte unter Neid, Grausamkeit und Rachsucht ein Quäntchen Güte in sich, das sich finden ließ, wenn man behutsam suchte. Muß er wirklich sterben, der so unschuldig ist wie keiner? Wollt ihr ihn mir wirklich nehmen, den ich so lange gesucht habe? Nichts habe ich in dieser Welt so gesucht wie ihn!

Tödlich beklommenen Gemüts lief er durch das Stadttor. Die Straßen waren leer, obwohl es noch nicht Abend war. Er durcheilte die Lauben; an den Verkaufsständen, in den Werkstätten, in den Weinstuben kein Mensch. Aber der Stadtplatz vor der Kirche war Kopf an Kopf besetzt. Er schob sich, das Gedränge von den Märkten her gewohnt, durch die hintersten Reihen, bis er den leeren Halbkreis vor den Stufen zur Kirche übersehen konnte.

Längs der Stufen war eine schmale Gasse freigehalten; zwei Reiter mit Hellebarden sperrten den Eingang in sie ab. Über der Menschenmasse lag gespannte Stille. Jetzt war es, als höbe sich der ganze dichte Haufen wie ein einziges Wesen, das den Hals streckt.

Sie kamen. Aus der Gasse heraus trat ein Mann auf den Platz, ganz in Rot gekleidet, selbst das Haupt von einer roten Kapuze völlig verhüllt; zwei schmale Schlitze für die Augen waren zu wenig, um ihm ein Gesicht zu geben. Er stellte sich breitbeinig hin und stützte beide Arme auf den Knauf seines Schwertes. Viele, die dem Schauspiel beiwohnten, waren später der Meinung, es sei der Raz gewesen, andere, die ihn vielleicht besser kannten, widersprachen dem; die Sache blieb unaufgeklärt.

Hinter dem Henker war Lienhard gekommen, die Hände auf dem Rücken gebunden, von einem Geistlichen begleitet. Eine Blutleere im Kopf ließ ihn so erschwächen, daß er alles wie hinter ziehenden Schleiern wahrnahm. Er hielt sich mühsam aufrecht, und doch war ihm, als schwebe er, von einem dunklen Brausen getragen, das nur in seinem Kopf war. Denn der Platz mit der harrenden Menge war zu steinerner Stille erstarrt.

Dem Viehhändler, der plötzlich tief erblaßte, schlug das Herz zum Bersten. Er hätte am liebsten geschrien; aber der Schreck und das Schweigen der Menge griffen ihm nach der Kehle. Er hörte nicht, was der Geistliche zum Buben sagte. Er hätte ihn anrufen mögen, damit ihn Lienhard finde, unter allen fremden Leuten ihn, den er kannte und der ihn liebte. Aber es war alles zu spät.

Der Knabe wollte niederknien, er taumelte, fiel hin und schlug mit der Stirn auf das Pflaster. Jemand schrie auf, daß es über den ganzen Platz hin hallte.

Der Geistliche beugte sich über den Hingestürzten und sprengte ihm Weihwasser ins Gesicht, bis er langsam die Augen aufschlug, große, eisblaue Augen, die nun irr über den Platz gehn, von weither, aus einem Traum vielleicht, der diesen Platz schon kennt und den Kreis der Menge, die etwas erwartet, auch die Fenster, in denen auf einmal die Sonne erlischt, und die Gesichter ringsum, die grau werden.

Lienhard kommt mühsam auf die Knie, der rote Mann tritt hinter ihn und hebt das Schwert.

Noch einmal schaut das Kind über die Dächer hin in die Bläue, die noch warm durchsonnt ist, dann beugt es sich vor, senkt den Kopf und schließt die Augen; unter den Wimpern treten die Tränen hervor und tropfen zur Erde.

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