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Die Mutter

Aus den verschnörkelten Zeilen des Prozeßaktes »Lienhard Tenng«, den ein finsteres und abergläubisches Jahrhundert – das siebzehnte – mit seinem ausschweifenden Formelkram gefüllt hat, tritt ein Kind. Seine blasse Stirn ist nach den Schläfen hin fein gewölbt, sein Mund voll Weichheit und wieder voll Trotz, seine Augen sehen dich an, als suchten sie Vertrauen bei dir und zugleich eine Ferne hinter aller Umwelt. Sie lächeln dich an, aber ihr eisiges Blau ist von innen her wie von zurückgehaltenen Tränen erhellt. Das schmale Gesicht hat ein schattenloser Sommer gebräunt und viel durchgestandene Gefahr gefestigt, nur Kinn und Nase sind kindlich geblieben. Zwischen den Brauen aber ist alle Unschuld und Wildheit der Natur und darüber der wolkenlose Himmel eines ungeschändeten Lebens. Der schmächtige Leib steckt in Lumpen.

Was mag über diesen Knaben gekommen sein? Wir sehen nur so viel: alles war unaufhaltbar, sein eigenes Treiben und was ihm von außen verhängt war. Er lebte das kleine Dasein eines Kindes und das war so wie immer und überall: einsamer als die andern meinen, oft schwerer zu tragen als der Tod, unverschuldet und doch weiß Gott woher tief verschuldet, bedrängt von den Schatten jener, die es in die Welt setzten, und dennoch sehr bedürftig nach diesen Schatten, sie bilden ein kühles Daheim in der brennenden Fremdnis. Die Geschichte seines Lebens läßt sich aus dem aufgedonnerten Schwulst der Gerichtsakten kaum erraten, aber wenn durch das von Latein durchsetzte Geschwätz der Richter der helle, zeitlos lebendige Ton des Buben schlägt, wird uns zumute, als erhöben sich Tage und Nächte unserer eigenen Kindheit aus den alten Blättern, und wir fühlen, daß es immer ein vollgestrichenes Maß an Lust und Leid ausmacht, ein Kind und dabei allein zu sein. Seine Mutter war eine Bauernmagd. Sie lebte mit dem Knaben in einem Seitental des tirolischen Inntales und war mit einem viel älteren, einsiedlerischen Bergbauern verheiratet. Lienhard nannte ihn zwar Vater, war aber nicht sein Sohn. Es blieb unaufgeklärt, von wem sie das Kind hatte.

Die drei hausten in einer vernachlässigten Hütte, die beinahe am Abschluß des engen Hochtales stand. Bis zu seinem zwölften Jahr verging Lienhard das Leben ohne ungewöhnliches Ereignis; er half im Haus und auf dem Acker bei der Arbeit der Erwachsenen mit, hütete das einzige Stück Vieh, das sich der Bauer leisten konnte, trieb sich sonntags mit den Dorfbuben herum und gewahrte sich selbst so wenig wie der Bach, der das Tal hinausrann oder der Wind, der um die Hütte strich.

Doch in das zwölfte Jahr seines Lebens fiel ein Geschehnis, das mit einem Schlag alles verwandelte. Als hätte eine Macht, die bisher nicht zu spüren gewesen war, plötzlich in das stille, umhegte Dasein hereingelangt und mit einer unerbittlichen Hand nach dem Knaben gegriffen, folgte nun ein Tag dem andern, als hetzten sie sich, wurde nun alles, was ihm widerfuhr, bedeutend und folgenschwer. Welcher Art und Herkunft diese Macht war, läßt sich ebensowenig sagen wie etwa, warum sie sich gerade Lienhard ausersah. Doch muß sie seinem Wesen, das sich von dem anderer Bauernkinder damals nur undeutlich unterschied, gemäß gewesen sein, sonst hätte er sich ihr wohl nicht so blind und fast traumwandelnd gefügt. Sie muß sein Herz und seinen Willen unwiderstehlich angelockt haben, er muß ihre leisen Befehle mit einer Hellhörigkeit verstanden haben, die niemals irrte, er muß schon damals gefühlt haben, daß sie ihn verderben werde, um ihn ganz zu erlösen.

 

Den hintersten Winkel des Tales füllte blauschwarzes Gewölk. Auf allen Feldern hasteten die Bauern, das letzte Heu unter Dach zu bringen, ehe das Wetter da war. Lienhard stand neben der Kalbin und wehrte mit einem Büschel Weidenruten die Bremsen ab, die, geladen mit elektrisch summender Gereiztheit, das Vieh umschwirrten und von allen Seiten überfielen.

Der Bauer gabelte das Heu auf den Wagen, in stumm verbissenem Wettlauf mit dem sich nähernden Gewitter. In seinem mageren Gesicht blieb der dumpfe Zorn fast unsichtbar, mit dem er schuftete. Auf seiner schmalen, bleichen Stirn stand in hellen Tropfen der Schweiß und hoben sich blauschwarz die Adern. Seine kleine, verkümmerte Gestalt schien unter den übermäßigen Heuballen, die er sich auflud, zusammenzuknicken; aber der Bauer war zäh und schwere Lasten gewohnt.

Auf dem wachsenden Fuder stand die Mutter. Ihr hellrotes Haar glomm vor dem düsteren Himmel, ihr weißer Hals leuchtete wunderbar vor den schwarzen Wolken. Ihre Arme griffen kraftvoll und flink nach den Heubündeln, die der Alte herauflangte und die sie mit den Füßen feststampfte. Der Schwung ihrer Arbeit war hinreißend – kaum, daß ihr der Atem höher ging – und trieb den Bauern zur äußersten Leistung an. Sie sah, wie schwer es ihm wurde, da mitzuhalten. Als hätte er nicht bloß dem unaufhaltbaren Gewitter noch die letzten Minuten trockenen Himmels abzujagen, sondern auch dem jungen Weib zu beweisen, daß er noch auf der Welt war, hielt er keinen Augenblick im Aufgabeln und Zureichen inne, obwohl ihm der Atem knapp wurde und das Herz bis in die Schläfen hämmerte.

Er sah, wie sie sich spielte, und erkannte, daß er seine letzte Kraft einsetzen mußte, um ihr nur nachzukommen. Er fühlte dumpf, daß diesmal seine Herrschaft, sein Mannstum, ja sein Leben auf dem Spiel stand. Ob sie merkte, wie kurz ihm der Atem ging? Er hielt die Lippen aufeinandergepreßt, und die Adern an den Schläfen schwollen ihm noch höher.

Sie spürte ihre Kraft wie einen Rausch und gab sich ihm hin mit allem, was sie besaß. Ihr ging es nicht um das Fuderchen Heu – mochte es der Teufel holen! – sie wollte nichts als sich hergeben, sich austoben, sich verschwenden. Jede Gabel voll raffte sie an sich, als stiege ein Mann nach dem andern zu ihr auf den Wagen; sie zerriß die Bündel und stampfte über sie hin als ging es über den Tanzboden.

Blendend flog der erste Blitz. Die Berge donnerten, und der Wind fuhr ihr ins Haar, daß es flammte.

Der Bauer fluchte; noch eine Zeile und er war fertig.

Lienhard hatte mit der Kuh zu tun, die sich ängstigte. Sie zerrte, den Kopf scheu hin und her drehend, ruckweis an der Deichsel, machte einen Anlauf zur Flucht; aber er hatte sie fest in der Hand, gab ihr eins aufs Maul und beschwichtigte sie gleich darauf mit sich überstürzenden Liebkosungen.

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Jesus, Marie! Der Bauer ließ die volle Gabel sinken und bekreuzigte sich. Ein furchtbarer Donnerschlag knallte nieder und zerkollerte in tausend Brocken, der Blitz hatte in die Esche geschlagen, die etwa fünfzig Schritt gegen den Berg zu stand. Die Luft schmeckte metallig und schien violett zu verbrennen. In dem Augenblick, als der Blitz in einer langen Flamme in die Krone des Baumes fuhr, schrie das Weib auf dem Wagen:

»Teufel! – Bist du's?!«

Aber das grauenhafte Gekrach hatte den Aufschrei überdröhnt. Mit dem rosigen Feuer war er wieder dagewesen, schwarz, fremd und gewaltig wie damals. Sie spürte seine Arme, sein Keuchen, sein zermalmendes Gewicht. Alles um sie verging vor der lodernden Wiederkehr seiner wilden, treulosen Liebe.

Als der Alte die letzte Gabel voll seinem jungen Weib hinaufreichte – keuchend und schweißgebadet, von einem Windstoß fast umgeworfen – glaubte er in ihren Augen einen wilden Glanz und um ihren Mund ein unheimlich fremdes Lächeln zu sehen. Er fürchtete sich, was zu sagen, warf die Gabel über die Schulter und hieß den Buben, zu fahren.

Mit rasender Gewalt stürmte das Gewitter über das flüchtende Fuhrwerk dahin. Das Heu flog in großen Fetzen auf das Feld zurück, die Blitze peitschten die Wolke vorwärts, daß sie plötzlich zerplatzte und sich in schrägen Wasserstürzen ergoß, eisklare Luft brach aus den Höhen, und der Donner dröhnte ohne Pausen.

Auf dem wankenden Wagen stand das Weib und lachte; die kühlen Güsse trafen sie bis ins Mark, der ganze Leib trank sie in einem wilden Durst hinein, als hätte er eine Feuersbrunst zu löschen; das nasse Haar hing ihr verkohlt in die Stirn, der rote Mund stand offen, und sein Lachen war ein blendender Blitz, um ihre zuchtlose Gestalt war Feuer, Flut und Sturm.

Als Lienhard, rücklings gehend, die Kalbin die letzte kurze Steigung hinaufzog, sah er es senkrecht niederfahren. Aus weißen Güssen leuchtete es bläulich auf. Einen Augenblick lang stand seine Mutter in überirdischer Helle – dann sah er sie nicht mehr. Er starrte auf die leere Stelle, bis ihn das entsetzte Zugtier fast niederstieß. Der Bauer lag neben dem Wagen und rührte sich nicht.

Nach dem schrecklichen Donner war es tief still. Dann schrie Lienhard, besinnungslos, ohne aufzuhören.

Der Nachbar führte das Fuhrwerk nach Hause. Der Himmel hellte sich auf, die Felder dampften, der Regen rauschte erlöst, ein Vogellied stieg schmetternd aus der Verwüstung, und während der Wagen die Tennenbrücke hinauffuhr, streifte ein kurzer Sonnenblick die eingebrachte Feldfrucht und das tote Weib.

 

Die erste Nacht, in der die Leiche der Mutter in der Kammer lag – Lienhard wunderte sich, daß sie völlig angekleidet im Bett lag, er hatte noch nie einen Toten gesehen – war zugleich die kürzeste Nacht des Jahres. Der Bauer war früh zu Bett gegangen und überließ den Knaben sich selbst. In der Stube war es finster; im winzigen Fenster stand schwarz und es fast ganz ausfüllend der Berg. Darüber ging ein schmaler, oft hellerer, oft noch dunklerer Streifen. Nach ihm hielt der Bauer, ehe er zu Bett ging, Ausschau. Da zog sich den einen Abend ein blaues, sterngesticktes Band quer durchs Fenster, den andern ein Strom schwarzen Gewölks, aus dem die Blitze weiß in die Stube schossen; das eine Mal kam ein milchiges Licht von dort, das andere Mal jagten brennende Wolken den Mond vor sich her, als wollten sie ihn fressen.

Auch Lienhard schaute fast jeden Abend von der Ofenbank aus noch einmal zu diesem schmalen Streifen hinauf. Bauernbuben nehmen frühzeitig die Gewohnheiten der Alten an, sie spüren sich schneller wachsen so; und der Streifen da draußen zog die Blicke aus der dicken Dunkelheit magnetisch auf sich.

Es wollte gar nicht Nacht werden. Über dem Berg, dem schwarzen Dreieck mit den zwei feinen, schneeweißen Adern, wurde es nicht dunkler; ein silbriger Rand umriß ihn, als schimmerte von weit hinten schon der neue Tag. Das Geklirr der Grillen vibrierte so mächtig, daß es durch das geschlossene Fenster hereindrang. Wachsende Betäubung umfing den Kopf des Buben, die ihn zugleich lähmte und erregte. Es war drückend heiß in der Stube.

Lienhard war übermüde von der harten Feldarbeit unter der heißen Sonne, die wie festgenagelt über dem Heufuder gestanden und doch plötzlich verschwunden war, als er zum letztenmal mit der Kalbin aufs Feld zog. Der Staub des Heustocks, vom Schweiß an seine Haut geklebt, juckte ihn, noch immer fühlte er seine Stirne feucht werden vor Hitze. Er fühlte sich an allen Gliedern zerschlagen vom Erlebnis des heutigen Nachmittags und konnte sich nicht wiederholen, wie alles gekommen war. Er brachte das Bild der Mutter nicht mehr zustande, nicht, wie sie auf dem Fuder stand und mit entrücktem Gesicht den Blitz empfing, aber auch nicht, wie sie jetzt in der Kammer lag, zur Unkenntlichkeit verfärbt und angesengt wie ein nasses Stück Holz.

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Als er vor seinem Lager kniend die Decken breitete und den Kopfpolster umdrehte, war ihm dumpf, schwül und so eigen zumute, als müsse heut noch etwas geschehen. Eine Spannung, die zugleich Schwäche war, verzog sein Gesicht zu weinerlichen Grimassen, er tat jeden Handgriff zweimal, dreimal und doch so, als täte er ihn gar nicht. Er wäre am liebsten noch weit gelaufen, fort aus dem weichen, beklemmenden Dunkel, der surrenden Stille, die sich ins Ohr fraß und ihm das Atmen schwer machte.

Er hörte ein kaum wahrnehmbares Tappen und schrak zusammen. War sie es? Kam sie doch noch gute Nacht sagen wie alle Tage? Nun fehlte sie ihm plötzlich; und war dennoch unheimlich da, überall: in der Kammer, in der Stube, in der Küche, sie bewohnte das ganze leere Haus und war doch nirgends zu treffen, man konnte nicht rufen nach ihr, aber das Dunkel war voll von ihrer Nähe. Regungslos lag Lienhard auf den Knien und starrte zum Fenster; die Katze war vom Holzstoß aufs äußere Fensterbrett gesprungen, rieb sich, den Rücken langsam nachziehend, am Fensterkreuz, streckte die Vorderbeine steif, gähnte und sprang hinab.

Lienhard kroch, seltsam enttäuscht, auf seinen Polster zu, legte den Arm unters Gesicht, betete mit festgeschlossenen Augen sein Nachtgebet und zwang sich zum Einschlafen.

Das glühende Leben der kürzesten Sommernacht aber – das Trillern der Grillen, die duftschwere Luft, die samtne Schwärze des Berges – drängte sich durch alle Fugen der Holzwand herein in die Stube, fing an, sich langsam zu drehen und den schlaflosen Buben immer enger zu umkreisen. Er horchte mit angehaltenem Atem und krampfhaft stillen Gliedern in den schwingenden Raum, hörte den Puls in seinem Arm pochen, fühlte ihn stoßen und hielt ihn nicht aus; er mußte sich umdrehen. Er fürchtete sich nicht, da er voll unbestimmter Erwartung war, aber sein ganzer Körper war aufs tiefste geängstigt. Die Stille wurde heißer und unerträglicher, je gespannter er lauschte. Wieder brach ihm der Schweiß aus. Gequält warf er sich von einer Seite zur andern, streifte die Decke von sich, drehte immer wieder das Kissen um, bis er auf dem Rücken liegend, beide Hände unter dem Kopf, einige Erleichterung fand. In seinen dünnen, oberflächlichen Schlummer mischte sich das dichte Leben der schlaflosen Natur.

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Da ist Mittag, und die Fliegen summen durch die offene Stalltür. Die Luft über den Feldern flimmert, das heiße Blau zerkocht in silberne Flocken. Hinter dem Haus schreit zweimal der Hahn und sträubt die Federn; dann tritt er die gelbe Henne, die unter ihm in die Breite geht, faßt mit dem Schnabel ihren blutroten Kamm und zaust sie; ihr Auge wird groß und verglast. Der Bub sitzt auf dem Dengelstock, einen Grashalm zwischen den Zähnen, und blinzelt. Er sieht das nicht zum erstenmal, aber nie ist es ihm so bis ins Mark gegangen. Er fühlt in den Armen ein schmerzlich süßes Ziehen, eine Lockung, die er nicht begreift. Langsam läßt er sich vom Sitz gleiten und ohne daß er's will, schlendert er in den Stall. Bedächtig dreht ihm die Kalbin den Kopf zu und schnauft in langen Zügen rauschend durch die Nüstern. Wie warm und glatt ist ihre Haut! Ihr breiter Hals verführt dazu, die Wange an ihn zu legen, den rechten Arm um ihn zu schlingen und ihn fester herzudrücken. Wie wohlig riecht ihre Haut nach Gras und Milch, wie still und kühl ist's im Stall und wie –

Da vertieft sich der Traum:

Was der Schlafende umschlingt, ist der weiße Hals der Mutter, und sein Gesicht liegt auf der oberen Schwellung der Brust, die das aufgegangene Hemd freigibt. Nie war er ihr so nah, und die Wärme ihres Atems, der mit dem seinen in gleichen Stößen auf und ab geht, zieht ihn immer tiefer in eine wohlige Betäubung. Er fühlt seinen Willen von Atemzug zu Atemzug ohnmächtiger werden, die Wollust der Kreatur greift nach ihm, er läßt sich zuckend fallen und sinkt in tiefen, erlösenden Schlaf.

 

Der Winter war für den Buben kaum auszuhalten. Das Haus bekam fast sechs Wochen keinen Streifen Sonne; es stand fast sechs Wochen lang im eiskalten Schatten des Berges, und erst nach Weihnachten wuchsen ihm die Zapfen von der Dachkante herunter, ein glitzernder Vorhang, wenn der Mond über dem Tal stand. Es war noch am schönsten, vom warmen Nest hinterm Ofen hinauszuschauen durch das gefrorene Fenster und zu sehen, wie die Nadeln an den Rändern zauberhaft erglommen, funkelten, sprühten und der Reihe nach erloschen, wenn der Mond auf die andere Seite zog. In den Augen der Katze, die neben Lienhard lag, irrte der Schein, grün und manchmal feuerrot, daß es ihn wohlig durchgruselte.

Der Bauer war seit dem Unglück noch verschlossener geworden, er sprach oft viele Tage nichts und kümmerte sich wenig um den Buben. »Er geht mir nur im Weg um« – hätte Lienhard von ihm hören können, wenn er das Gebrumm verstanden hätte.

Es gab viel harte Holzarbeit, und er kam oft mit blaurot gefrorenen Händen in die Stube, wo sie so furchtbar zu schmerzen anfingen, als zuckte in ihnen das höllische Feuer.

Dann brauste wieder der Schneesturm durchs Tal, daß man zwei, drei Tage lang nicht aus dem Haus kam. Der Bauer war geizig und sparte mit dem Holz, daß es eine Schande war. Wenn er aber auf der Ofenbank lag und schlief, begann Lienhard an einem Stück Lindenholz, das er vom Sommer her besaß und sorgsam verheimlichte, eifrig zu schnitzeln. Dann fühlte er sich in das Geheul des Windes wie in einen weiten und doch heimeligen Mantel gehüllt, versank tief in sich selbst und schnitt selig und traumtrunken in das duftende Holz. Um Weihnachten hatte er schon zwei klobige Beine und den Kopf; der trug statt der Hörner freilich noch einen Brocken widerspenstigen Holzes; aber er zweifelte nicht daran, daß es eine gut getroffene Kalbin werde.

Am schlimmsten war's, wenn ihn der Bauer ohne Beschäftigung sah, auch wenn es gar keine gab. Ob er denn nichts Besseres wisse, als Ochsen zu melken? Und plötzlich pfiff der Stecken durch die Luft und hörte oft lange nicht auf zu pfeifen; denn der Bauer konnte es nicht leiden, wenn er den Buben nicht zum Schreien brachte. Der aber preßte die Fäuste zusammen, bis die Fingernägel weiß wurden, und gab keinen Laut von sich.

Die Kost war erbärmlich, denn der Alte kochte selbst. Ganz neuartige Speisen kamen auf den Tisch, unerklärlich, woraus sie bestanden. Beim Essen ging's schweigsam zu, der Bauer löffelte den Brei hinein, als schlänge er Feuer, und Lienhard hatte das Maul zu halten.

Nur die Sonntage brachten ihn mit den Dorfbuben zusammen; aber sie mochten ihn nicht. War es die überaus weiße Haut auf der gewölbten Stirn, die sie nicht vertrugen, oder der große, eisblaue Blick, der ihren dunklen Augen fremd war; war es sein eigentümliches Schicksal – die Mutter hatte der Blitz erschlagen und der Alte behauptete, sie hätte dazu gelacht – oder war es seine gelassene Kraft, mit der er jeden verprügelte, der auch nur andeutungsweise von seiner Mutter übel zu reden anfing? Sie wußten, Sticheleien auch der harmlosesten Art würden augenblicklich mit Hieben vergolten und konnten es doch nicht lassen, ihm aus dem Hinterhalt die Frage hinzuwerfen, was ihm daheim besser schmecke, der Stock oder der Riemen. Wenn er sich gegen die Spötter wandte, stob der Schwarm schreiend auseinander wie Spatzen, unter die eine Amsel schießt.

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Am stärksten zog es ihn zum alten, halbtauben Franz, den der Bauer Ende Jänner ins Quartier genommen hatte.

Franz war ein weitgereister Viehhändler und besaß einen Stoß zerlesener Kalender mit merkwürdigen Geschichten und groben, aber erschreckend eindringlichen Holzschnitten. Er saß an den Feiertagen stundenlang auf der Ofenbank und las, die Lippen lautlos bewegend, in den Heften, die er längst auswendig wissen mußte. Dabei behielt er immer den Hut auf, einen grau verwitterten Hut, ohne den sich Lienhard den Alten nicht denken konnte. Neben ihm hing am Rahmengestäng des Ofens der Stock. So war es dem Buben, als sei der Alte nur zu kurzer Rast hier eingekehrt und rüste sich schon wieder zu neuer Wanderschaft. Die Luft der Ferne umwitterte ihn und gab seinen Worten eine schimmernde Unbestimmtheit. Aus seinen Augen leuchteten fremde Länder, als spiegelten sie sich mit Städten, Dörfern, Menschen und Tieren in hellem Wasser. Seine Erzählungen waren Meisterstücke der Erzählkunst: sie waren rund, obwohl sie weit ausholten und nie zu Ende gingen, und von sinnlicher Anschauung so durchsetzt, daß sich in der elenden Bauernstube buntes Land mit Straßen, Strömen und Städten, Burgen und Märkten entfaltete, erfüllt von unübersehbarem Menschengewimmel, durch das der Alte so groß und sicher seinen Weg nahm, daß ihm alles Platz machte.

Am liebsten hörte ihn Lienhard von südlichen Ländern berichten, wo der Himmel blauer und der Winter so mild sei, daß schon jetzt, im Februar, die Mandeln und Pfirsiche blühten. Von dort käme auch der Wein, und es gäbe dort Fässer, die in unserer Stube gar nicht Platz hätten; die Trauben wüchsen einem fast in den Mund hinein und seien mindestens so groß wie ein ordentlicher Bienenschwarm; wenn man noch weiterzöge, käme man an das Meer, das jenseits keine Grenze habe und von dem niemand wisse, wo es aufhöre.

Der frühe Abend drang in die Stube, in der sich das Meer zu dehnen begann, bekränzt von Weintrauben und Pfirsichblüten. Der Alte nahm seinen Stock und stieg hinauf in die Kammer; sein Hut machte, daß es aussah, als führte ihn die Stiege einen Schloßhügel empor. Lienhard starrte ihm nach, bis er durch das dunkle Tor der riesigen Burgmauer seinen Blicken entschwand.

 

Mitte März war Franz verschwunden. So vertraut er mit dem Buben auch umgegangen war und so sehr dieser an dem alten Wanderer hing, Lienhard hatte keine Ahnung, daß er wieder ziehen wollte und liebte ihn nur noch heimlicher und inständiger, seit er so abschiedlos fort war. Die Stunden, in denen der Alte erzählt hatte, wurden zu einem wunderbaren Traum; aber das Bild des lesenden Freundes blieb dem Knaben unverschwommen im Gedächtnis.

Er fühlte sich sehr verlassen, viel verlassener als nach dem Tode der Mutter, mit der ihn etwas verknüpfte, was er nie und noch immer nicht verstand und was ihm auch ihr plötzliches Hinscheiden nicht enthüllte. So nahe wie in jenem Traum, da er ihr an der nackten Brust lag – in ihrer ersten Leichennacht – war er ihr im Wachsein nie gekommen; die Worte, die sie wechselten, dienten den einfachsten Bedürfnissen des täglichen Lebens. Ihre Blicke, die manchmal strahlend über ihn hinflogen, hatte er nie bemerkt und ihr fremdes Lachen in der Sekunde, da sie der Blitz erschlug, war ihm unheimlich, ja grausig ins Innerste gefahren, ohne sein Bewußtsein zu streifen.

Doch der alte Franz, dem er ins Ohr schreien mußte, wenn er sich begreiflich machen wollte, war ihm in allen seinen Worten und Handlungen so freundlich nah, er erriet ihn ohne Mühe und wußte sich von ihm auch dann ganz erraten, wenn seine Taubheit das vermittelnde Wort nicht einließ. Er fühlte sich bei ihm geborgen und genoß ein Glücksgefühl, das er von Seiten seiner Mutter nie erfahren hatte, nicht einmal in jenem Traum.

Seit der Freund fort war, änderte sich auch das Verhalten des Stiefvaters zu ihm. Er hatte immer gespürt, daß dem Bauern das viele Zusammensein mit dem Viehhändler nicht paßte, ohne recht zu begreifen, warum; aber jetzt sah er, daß der Bauer den Alten nicht leiden mochte, denn er vertrug auch nicht das kleinste Liebeswort, das dem Buben entschlüpfte, ja, wenn Lienhard mit der Wendung: Franz hat es mir erzählt, sich zu verteidigen suchte, kam der Alte so in Wut, daß er ihn besinnungslos verprügelte. Die Hiebe, die selten geworden waren, solange Franz im Haus wohnte, nahmen wieder zu und machten ihn trübselig und trotzig, öfters sogar unsicher und furchtsam.

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Der Schnee schmolz. Der Wald brauste und rauschte wie ein großer Strom, der Berg bekam schwarze Flecken, daß er ganz zerfetzt aussah; nach zwei, drei warmen Regennächten standen die Wiesen grün, und Lienhard mußte täglich mit der Kuh hinaus, denn das Heu ging zu Ende.

Er lehnte am Zaun und ließ das Tier gegen den Wald hin weiden. Es war kühl und windig, am Himmel zogen helle, weiche Wolken, tiefer als im Sommer, und die Flecken dazwischen brannten in dunklerem Blau. Er hatte keine Lust, an seiner Kalbin weiterzuschnitzen, die er immer auf die Weide mitnahm.

Wenn die Sonne aus dem unruhigen Gewölk brach, legte sie ihr warmes Gesicht an das seine. Er dachte an Franz und sann darüber nach, wo er jetzt wohl umgehe; er konnte sich seine Züge nicht vorstellen, so sehr er sich bemühte; er sehnte sich nach ihm und dachte alle Geschichten, die er von ihm hatte, der Reihe nach durch, sah den Alten mit weitausholenden Schritten im Gewimmel der Märkte, sah ihn am Wirtshaustisch sitzen und vor riesigen Fässern stehen, aber was er sah, war immer nur ein verwitterter Hut und ein Stock, dem man die weiten Reisen anmerkte.

Es stieg heiß in ihm auf, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, den Alten suchen zu gehen. Er war im ersten Augenblick verblüfft darüber, wie einfach es wäre, dieses erbärmliche Leben hier fahren zu lassen; man brauchte nur immerfort zu gehen, Menschen gäbe es allerorten, hatte Franz versichert, das Wasser ränne immerzu abwärts und fände ohne Begleiter den Fluß, den Strom und sein unabsehbar fernes Ziel; folgte man nur dem Wasser, dann käme man in immer breitere Täler, in immer offenere Länder und schließlich mit ihm ans Meer; die Menschen hätten seit ewigen Zeiten ihre Wohnstätten ans Wasser gebaut, flußabwärts lägen die Städte, schwämmen die Schiffe von Markt zu Markt, stromabwärts ergössen sich die Schätze des Landes, das Erz der Berge, das Holz der Wälder und die Frucht der Äcker.

Sein Kopf glühte, als er ein ihm fremdes Leben mächtig und wachsend dahinströmen sah, er zitterte vor Angst, jemand könnte seine Gedanken lesen, er könnte sie unversehens verraten, er bebte vor Ungeduld, nach Hause zu kommen, denn nur im Dunkel der Nacht, in seinem Nest hinter dem Ofen, hinter geschlossenen Türen und Fenstern, wußte er sie in Sicherheit. Hier auf der Wiese fühlte er sie zerflattern, jeder Vorübergehende könnte sie auffangen und unter die Leute bringen. Ein unerhörter Fund war ihm zugefallen; er wußte sich mit ihm nicht zu helfen.

Früher als sonst trieb er die Kuh heim. Je näher er aber der Hütte kam, je mehr längst vertraute Dinge ihm in den Weg traten, desto schwächer wurde der Glanz seiner Gedanken, desto mehr entglitt ihm sein Traum. Es war zum Weinen, wie lächerlich alles wurde, als er den Bauer wiedersah, der den Zaun flickte. In seinen düsteren Blicken fühlte er sich für ewig gefangen.

Länger als jemals zögerte die Nacht. Das Stück Brot, das es zur Abendmilch gab, hatte Lienhard nicht gegessen; er spürte keinen Hunger. Doch nahm er es zu sich auf sein Lager. Er schlief sehr unruhig, öfters brach ihm der Schweiß aus.

Als es leicht zu dämmern begann, fuhr er überwach auf, steckte das Brot zu sich, nahm seinen Wettermantel und stieg durch das Fenster hinaus; die Katze schlüpfte ihm nach und verschwand um die Ecke.

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