Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Franz

Die Luft war kühl und stürzte wie ein Strahl frischen Wassers über ihn.

Das Dorf lag noch im Schlaf, doch stieg schon hier und dort dünner grauer Rauch zum Himmel. Lienhard fror. Dämmrig und öde lag das Tal vor ihm, kein Mensch war auf dem Weg, der Morgenwind fuhr ihm durch das Gewand, und die Angst, vom Bauern vermißt zu werden, trieb ihn immer schneller vorwärts. Das rasche Gehen erwärmte ihn. Ein Stück weit kannte er den Weg und die Bauernhöfe, die an den Hängen des Tales standen. Er wünschte sich heftig, niemandem zu begegnen, solange er nicht in unbekanntem Gebiet war.

Aber auch das oft Begegnete lag im Morgengrauen fremd da; es kümmerte sich nicht um den Buben, der an ihm vorüberfloh. Er dachte daran, daß die Leute nun aufstünden und ihrem Tagwerk nachgingen, das er in jeder Einzelheit kannte, und begann sich seines Planes zu schämen; schon griff das Unbekannte nach seinem Herzen. Und sein Herz wollte zurück.

Da ging die Sonne auf. Ein zarter Schein flog über die westseitigen Hänge des Tals, über den kalten Fels, die dunklen Wipfel des Waldes, er streifte die Wiesen und spielte über den Bach, immer heller und heiterer, bis das ganze Tal frei und fröhlich lachte. Und nun begann auch das Heben der Füße, das Schwenken der Arme und das Atemholen in Einklang zu kommen, sich zu einer einzigen lustvollen, ja berauschenden Bewegung zu vereinen, die ihn dahintrug, als schwebte er. Und je gleichmäßiger und damit freier sein Gehn wurde, desto mehr fühlte er Angst und Unsicherheit schwinden und den unbekümmerten Mut des Ausreißers an ihre Stelle treten. Er hatte keinen Hunger, den Durst löschte er an den Brunnen der Dörfer, durch die er zog; er verspürte keine Müdigkeit, vielmehr eine Sucht, unaufhörlich zu gehn und zu gehn. Die Luft blieb den ganzen Tag kühl, weiße Wolken zogen ihm voraus, das Wasser sprang neben ihm her, die Sonne wärmte ihm den Rücken und legte ihre Hand so fest auf ihn, daß er glaubte, sie schiebe ihn sachte vor sich her.

Auf einem Holzstoß, den der Winter nicht ganz aufgezehrt hatte, setzte er sich zu längerer Rast. Mit nie gekanntem Behagen aß er das Brot, es zum erstenmal vor jedem Bissen mit Liebe betrachtend. Er kaute es lange, da wurde es süß. Das letzte Drittel sparte er.

Als er sich wieder auf den Weg machte, meinte er, vor Müdigkeit nicht weiterzukommen. Aber er dachte an den zurückgelassenen Alten – und den vorausgeeilten. Die Leute, denen er begegnete, wagte er nicht anzusehn, als wüßten sie um sein Vorhaben und verheimlichten dieses Wissen nur, um ihn desto sicherer zu fangen.

Es mochte gegen vier Uhr nachmittags gehn, als er das Tal sich verbreitern und in ein viel offeneres münden sah, das quer zu seinem durchs Land zog. Er mußte den Bach, der ihm längst aus den Augen gekommen war, übersetzen und sah, daß er inzwischen beträchtlich gewachsen war. Jenseits des Baches, inmitten einer sanften grünen Halde, stand ein gewaltiger Bauernhof, vielleicht für längere Zeit der letzte. Über dem Wiesenhang stieg der Wald an, mit einzelnen Lärchen beginnend, unter denen das Gras noch falb war. Dort ruhte er aus, bis die Schatten immer dunkler vom Talboden heraufstiegen. Im Bauernhof wurde ein Licht entzündet, das einladend zu ihm hersah. Er erhob sich langsam und mit einem tiefen, erstmaligen Seufzer; denn mit dem Zunachten war wieder das Gefühl der Verlassenheit gekommen, der Wald starrte ihm schwarz entgegen, die Welt entglitt ihm, sie schloß sich vor ihm ab, von allen Seiten wuchsen die Schatten und traten drohend auf ihn zu.

.

Vorsichtig und so geschickt, als handle ein Klügerer in ihm, schlüpfte er in die Scheune des Gehöfts, fand im Finstern einen noch halbvollen Heustock und grub sich rasch ein. Es war die letzte Minute für ihn, denn kaum lag er still, hörte er schwere Tritte durch die Tenne hallen – der Bauer, der von innen das Tor schloß. Hatte er etwas vergessen? Die Schritte kamen auf ihn zu. Lienhard schloß die Augen mit solcher Kraft, daß sie ihn schmerzten; er spürte, wie sich seine Schultern von selbst nach vorne zogen, als wollten sie ihn schützen, und er verharrte regungslos in dieser Stellung des Schrecks. Der Bauer tappte herum, brummte und schien etwas zu suchen. Lienhard fürchtete, er werde sein Herz klopfen hören; er atmete nicht, aber es klopfte nur um so lauter; bis hinauf unters Haar fühlte er sein Gehämmer. Endlich entfernte sich der Bauer. Seine Schritte klangen noch lange, als erstreckte sich die Tenne endlos in die Nacht hinaus. Langsam löste sich die Spannung des Lauschenden, und eine schmerzhafte Müdigkeit blieb zurück. Erst als nach dem Schließen der Tür eine geraume Zeit verstrichen und auch der letzte Laut verhallt war, wagte es Lienhard, dieser Ermattung nachzugeben und sich bequemer auszustrecken. Er war schweißgebadet. Doch schlief er trotz des ausgestandenen Schreckens bald ein. Kein Traum suchte ihn heim.

 

Gegen Morgen erhob sich ein Wind, der frostig durch die Ritzen des Stadels strich. Er blies einen Stern nach dem andern aus, flog über den Schläfer hin und nahm mit jedem Darüberstreichen eine Hülle mit, bis der Schlaf so dünn wurde, daß die entlasteten Lider sich plötzlich von selber hoben.

Lienhard wurde es schwer, die warme Grube zu verlassen, obwohl ihn auf der einen Seite fror. Als er aber durch die Spalten der Wand den Himmel in trübem Grau sah, erhob er sich vorsichtig, tat sich das Heu aus Haar und Kleidern und schlich auf den Zehenspitzen zum Tennentor. Er öffnete es leise und erschrak, als er noch Sterne flimmern sah. So früh war es noch!

Einen Augenblick überlegte er, bedürftig nach Wärme, Sicherheit und freundlichen Menschen, ob er nicht dableiben, sich am Morgen dem Bauern stellen und ihn um eine Schale warmer Milch bitten solle. Alles Anheimelnde stand ihm lebhaft lockend vor Augen: die Küche, in der bald das Feuer schnalzen und prasseln würde, die Schüssel voll weißer, rahmiger Milch, das rote Kupfergeschirr, Knechte und Dirnen, die vom Brunnen kamen, noch nassen Haars und Gesichts, um sich am großen Handtuch zu trocknen, Lachen und morgendliche Fröhlichkeit, Rauch und Duft der Einbrenn für die Milchsuppe, Duft des Brotes und der frischen Butter.

Er glaubte es nicht auszuhalten vor Verlangen nach diesen Dingen. Da ging im Haus eine Tür, und lautlos wie ein Schatten glitt er ins Freie.

Nun erst begann seine Wanderschaft. Das Tal seiner Heimat lag hinter ihm; die Welt wurde weit, fremd und maßlos. Der Hunger trieb ihn dazu, in Bauernhäusern zu betteln; manche Nacht verbrachte er wie die erste in Scheunen und Schuppen, andere wieder im Freien unter Gebüsch, alten Strohschöbern, neben Holzstößen, eine sogar in einem gedeckten Wagen, den man ins Haus zu ziehen vergessen hatte.

Es läßt sich nicht recht sagen, was ihm eigentlich den Weg wies. Er hatte das Gefühl, als ginge er aufs Geratewohl und werde dennoch heimlich geführt; er kam durch Dörfer, die ihn zu bleiben verlockten, aber es trieb ihn am andern Morgen wieder weiter; er traf liebevoll bekümmerte Frauen, an die er sich gern geschmiegt hätte, aber wenn sie nach seiner Herkunft und nach seinen Absichten fragten, verstummte er und ging. Als wäre ihm ein bestimmtes Maß an Wanderschaft aufgetragen, empfand er jede längere Rast verfrüht. Dies war um so seltsamer, als er die Hoffnung, in dieser weiten Welt Franz zu finden, bald verlor.

Er war zuversichtlich, wenn die Sonne schien, bekümmert, wenn sich der Himmel eintrübte und es zu regnen begann. Als aber einmal die Berge drei Tage lang überhaupt nicht mehr zum Vorschein kamen und der nahe Wald vom starken Regen rauschte, fühlte sich Lienhard so sehr ins endlose Grau verloren, daß er immer schneller dem Fuhrwerk nachlief, das vor ihm als dunkler Fleck im Nebel schwankte.

.

Es war der plachenüberzogene Wagen eines Boten, ein schweres, ächzendes Fuhrwerk, das nach obenhin hufeisenförmig in die Breite ging. Die Leinwand, die es gegen Regen schützte, war so triefend naß, daß sie schwärzlich glänzte; ein starker zottiger Hund lief bald vorn, bald hinten um den Wagen herum und sprang von Zeit zu Zeit an den Pferden hoch, denen das Wasser in gleichmäßigen Streifen über die Schenkel rann. Neben ihnen schritt der Fuhrmann im kurzen blauen Kittel; die Peitsche stak neben dem Bock.

Lienhard war schon vielen großen Hunden begegnet; er fürchtete sich auch vor diesem nicht. Aber wie er sich dem Fuhrmann nähern sollte, wußte er nicht. So trottete er hinter ihm drein, beruhigt und umschlossen von dieser kleinen warmen Welt im großen naßkalten Grau. Er war nun schon so lange unterwegs, daß ihn auch das fremdeste Leben, wenn es nur Leben war, anheimelte. Er empfand sich geborgen in der Nähe des Fuhrmanns und seiner drei Tiere; ihr Dunstkreis war ihm schon so viel Daheim, daß er sich geschützt und behaglich fühlte.

Obwohl er größeren Ortschaften mit viel Verkehr lieber auswich, konnte er doch diesmal nicht widerstehen, beim Fuhrwerk zu bleiben und mit ihm in die Stadt einzuziehen, die sich gegen Abend mit Mauern und Türmen aus dem Nebel hob. Sie lag an einem breiten Fluß; der Dunst des Regentages zog in weißgrauen Schwaden über dem Wasser; aus den Uferhäusern blinkte hier und dort ein trübes Licht in die zunehmende Dämmerung.

Der Wagen fuhr über eine Brücke, die war so breit und lang wie noch keine; dann blieb er vor dem Stadttor stehn. Ein Mann trat aus dem Torturm, und der Fuhrmann begann mit ihm zu verhandeln. Lienhard bereute es, nicht vor der Brücke zurückgeblieben zu sein; aber zugleich hielt ihn noch immer die Nähe warmen Lebens gefangen, und überdies begann er neugierig zu werden, wie es in einer Stadt wohl aussehe und was ihm der Abend noch bringen werde. Sein Vertrauen in den Sinn seiner Wanderschaft war grenzenlos.

 

Erst als er den Ort gefunden hatte, an dem er bleiben sollte und die lange Wanderschaft hinter ihm lag, hob sie sich stückweise in sein Bewußtsein. Auf den leeren grünen Böden der Alm, auf der er die Schafe hütete, allein im grauen Nebel, der den ganzen Tag bald sich verdichtete, bald lockerte und mit diesem lautlosen Spiel den Knaben leicht berauschte, sah er – in den wunderbar hellen Farben der Erinnerung – Dörfer, durch die er gezogen, Menschen, denen er begegnet, kleine Abenteuer, die er bestanden hatte. Sein merkwürdiges Geschick hatte ihn dazu befähigt, früher als andere sich zu »erinnern«. Früher als andere wendete er sein Gesicht zurück und sah sich selbst; er hatte sonst niemanden. Der Salzbote, mit dem er an jenem regendunklen Abend in die Stadt eingezogen war, verschmolz ihm allmählich mit Franz; er nahm seine Züge an, schritt in seiner Haltung aus – warum hatte er ihn dann verlassen? Zwei Wochen nur war er bei ihm geblieben, hatte das Haus gehütet, wenn der Alte mit dem Wagen zur Stadt zog und die zwei Geißen die steilen Hänge hinter dem Marktflecken hinaufgetrieben.

Schon am nächsten Morgen hatten sie damals die Stadt verlassen. Es war noch tiefe Nacht, als sie anspannten. An der Deichsel baumelte die Laterne. Ihr Schwanken bildete im Dunkel einen Lichtkreis, der gleichmäßig auf- und niederschwang; es war schwer, aus ihm hinauszublicken, denn er machte das nähere Dunkel zur tiefsten Finsternis. Solange es Nacht war, gingen die drei – der Fuhrmann, Lienhard und der Hund – neben dem Wagen her; als aber dann nach einem langen, frostigen Morgengrauen die Sonne aufging, saßen die zwei auf, und der Hund sprang in engen Kreisen um das Fuhrwerk. Die Plache war noch immer nicht trocken; jetzt aber, da die Sonne sie immer steiler traf, stieg ein dünner, weißer Nebel von ihrer Wölbung auf, und da auch die Pferde nach einer längeren Steigung dampften, sah das Ganze von einiger Entfernung aus, als zöge es in der Silberwolke des eigenen Atems schimmernd dahin. So verlor es sich in der übermäßig großen Landschaft des Tales, das sich gebirgig schloß; tief unten schäumte ein grüner Fluß der Straße entgegen.

Am zweiten Samstag, den er beim Boten war, schnitzte er seiner Kalbin das rechte Horn weg; er hatte gehofft, es mit diesem letzten Schnitt noch etwas schlanker zu kriegen, da ging ihm das Messer durch und nahm das ganze Horn mit. Lienhard erschrak so sehr, daß er eine Weile gar nicht wagte, sich zu rühren, als fürchtete er, die ganze Figur könnte unter seinen Händen in Trümmer gehn. Dann brannte ihm ganz kurz ein Schmerz in der Kehle: das Horn ist verloren für immer.

Den nächsten Tag war Palmsonntag. Noch jetzt spürte er das erstickende Gefühl im Hals, das ihn damals mit verhaltenen Tränen quälte, als er die Kirche betrat. Sie war mit einem Wald kreuz- und schleifengeschmückter Stangen erfüllt; sie waren so lang und so reich aufgeputzt mit Bretzen, farbigen Bändern, Weidenruten und kleinen Äpfeln, daß sie sich bogen. Die Dorfbuben hielten sie mit beiden Händen stolz umspannt und schauten während der ganzen Messe in die schwankenden Wipfel hinauf, mit neidischen Blicken messend, wer den längeren Palm hätte. Lienhard hatte nichts als einen mageren Buschen Weidenzweige, die er beschämt und neiderfüllt zur Weihe trug. Warum hatte ihm der Bote nicht auch einen Palmbaum gerichtet?

.

Daheim hatte ihn der Alte mit einer Neuigkeit überrascht. Er habe einen Viehhändler getroffen, der den Buben kenne; er sei aus derselben Gemeinde und wenn er wolle, nähme er ihn mit nach Hause; aber es war nicht Franz.

.

Der Bote hatte das freundlich gesagt, ohne ihn zu drängen, aber doch so kühl, daß Lienhard spürte, wie er ihn fallen ließ. Er war nichts als der Zugelaufene. Aber er wollte nicht mehr zurück. Er sah den Stiefvater daheim, wie er den Haselstecken vom Ofen herunterlangte, er sah die Leute, die über die Zäune die Hälse nach ihm verdrehten – nein, nie mehr zurück! Ja, wenn der Franz käme! Aber wo ist Franz?

Nachmittags hatte es ihn nicht mehr in der Stube gelitten. Der Bote lag hinter dem Ofen und schlief, der Hund unter der Bank. Über den Himmel flogen schnelle weiße Wolken, bald schien die Sonne überhell ins Fenster, dann erlosch sie wieder.

Lienhard verließ leise die Stube und schlenderte durch den Anger hinterm Haus die Wiese hinauf, auf die er die beiden Geißen zu treiben pflegte. Die Apfelbäume standen in dünnen, grünen Schleiern winzigen Laubs, das vielleicht heute nacht erst aus den Knospen gebrochen war. Die Bläue zwischen den balligen Wolken war tief und lockend – brennend blaue Ströme zwischen schneeweißen Brocken sich verschiebenden Lands. Er blieb stehn, lehnte sich an den Zaun und schaute in die gewaltigen Flüsse des Himmels hinauf, die langsam zu ziehen begannen; sie zogen ihn mit, voll sanfter, unnachgiebiger Gewalt. Er dachte an Franz, den Wanderer, und der Salzbote, bei dem er hauste, erschien ihm damals noch trotz seiner großen Fahrten ohne Anteil an den mächtigen Weiten, in denen sich Franz erging. Was für Straßen mag er ziehen, wieviel schöne Städte, Reiter und Fuhrwerke mögen ihm unterkommen?

Droben auf dem Hügel, den seine Wiese hinanstieg, stand ein halbes Dutzend Dorfbuben in sonntäglich weißen Hemdärmeln. Sie schwangen lange Peitschen an kurzen Stielen um ihre Köpfe und ließen sie knallen, daß das ganze Tal davon erscholl. Sie waren hier daheim, jeder Peitschenhieb knallte aus der Lust hervor, diese Gegend Fleck um Fleck zu besitzen. Niemand konnte sich da eindrängen, es war ihr Hügel, auf dem sie standen, ihre Luft, die sie mit den Peitschen zerrissen, ihr Kirchturm, um den die heimgekehrten Schwalben schossen, ihre Wiesen, ihr Wald, ihr Dorf. Lienhard war nicht dabei.

Sein Herz litt. Er hätte so gern bei ihnen gestanden und ihnen gezeigt, daß auch er den Geißelstecken zu schwingen verstehe; er spürte das sichere Glück des Daheimseins, das ihm abging, stärker als sie, denen es geschenkt war; er empfand es schmerzlich, nicht dabei zu sein, das Gemeinsame dieser Buben nicht zu kennen, ihre Geheimnisse nicht zu wissen. Ihre sauberen Hemdärmel schimmerten festlich. Für Lienhard gab es kein Fest hier. Seine Woche war nicht rund gefügt von Sonntag zu Sonntag wie ihre, seine Tage und Nächte reihten sich unsicher aneinander, von weither und weithin.

Hätte er das alles jemandem sagen können oder auch nur sich selbst, sein Kummer wäre vielleicht kleiner geworden; aber woher hätte der Dreizehnjährige die Worte nehmen sollen, die messerscharfen, um einen unbestimmt drückenden Schmerz zu zerschneiden?

Als er damals gegen Abend heimkehrte, spürte er wieder jene aufregende Gewalt, die sich vor dem ersten Aufbruch seiner bemächtigt hatte, die ihn trug und der er sich blindlings hingab. Was er unter ihrem Willen tat, vollzog sich ohne sein Dazutun, aber merkwürdig sicher, rasch und folgerichtig: er schlief unruhig und war schon auf, als den Himmel die erste Helle überschauerte; er schlich aus seiner Kammer hinaus in den Schuppen, in dem die beiden großen Botenwagen standen. Dort strich die Morgenluft eisig durch die Bretterritzen und wusch und weckte ihn, der Stein fiel vom Herzen, und er war wieder stark, frei, mutig. Fast errötend zog er seine mißglückte Kalbin aus dem Hosensack und mit der ganzen Vorfreude, mit der einen das heimliche Schenken belohnt, legte er sie auf den Bock des Wagens neben den Sitz des Boten, damit er sie gleich beim Anspannen finden möge.

Dann zog er fort, das schmale Sträßlein taleinwärts, weder neugierig noch ängstlich, nur der Gewalt folgend, die ihn aus der Heimat fort und bis hierher getrieben hatte. Aber als die Sonne an die Bergwand goldig anschlug und die Finken schrien, jubelte sein Herz, als ginge es diesmal schnurstracks ins Paradies.

 

Tags zuvor hatte Lienhards Stiefvater unverhofften Besuch bekommen.

Er hatte seit drei Wochen die Schlafkammer nicht verlassen; drei Wochen schon lag er in seinem kalten Bett und schlug sich mit dem Tod herum. Eine halb blöde Dirn, die er nach Lienhards Flucht für das Vieh aufgenommen hatte, führte ihm die Wirtschaft. Sie brauchte nichts zu kochen, da der Bauer nur mehr laue Milch vertrug; in seinem Magen saß der Krebs und fraß ihn langsam auf. Zweimal des Tags brachte sie ihm den kuhwarmen Trank, grinste ihn an und stolperte die Stiege hinunter, von den Flüchen und Wutausbrüchen des Alten verfolgt. Seit er so allein, von Schmerzen oft grauenhaft gemartert, in seiner Kammer lag, Tag und Nacht sich selbst überlassen, lebte er nur noch in zwei Organen seines Leibes: im Magen und im Ohr. Ließen ihn die scharfen Messer, mit denen ihn die Krankheit stach und zerschnitt, in Ruhe, dann verzog sich das gequälte Leben ins Ohr und lauschte hinunter ins Haus; es fing jeden Schritt auf, der aus dem Flur heraufdrang, jedes Geklapper in der Küche, jedes Türenschlagen und jeden Ruf des Stallviehs. Es war hinter jedem Geräusch her, begierig, es wiederzuerkennen, ständig auf der Lauer gegen Betrug und Verrat.

Als der Kranke die Haustür gehen hörte, richtete er sich auf und streckte horchend den Hals. Schwere, langsame Schritte hallten herauf. Dann hörte er die Magd aus der Stube kommen, die Schritte hielten inne, und eine Männerstimme, die ihm bekannt vorkam, fragte nach ihm. Sein Ohr war so feinhörig geworden, daß er die Magd grinsen sah, während sie erklärte, der Bauer liege in seiner Kammer.

»Ist er krank?«

»Ja, krank.«

»Ich muß ihn was fragen. Ist er auf?«

»Der Bauer ist im Bett, immer im Bett. Er stirbt bald.«

Luder, verfluchtes! So, er stirbt bald. Der Alte meinte vor Wut zu vergehen, er sank todmüd auf den Polster zurück. Alles in ihm wehrte sich gegen die Schritte, die immer lauter die Stiege heraufknarrten; er war machtlos gegen ihr Näherkommen; er wollte keinen Menschen sehen, er war noch lange nicht so weit, Krankenbesuche zu brauchen. Aber die Tür ging, und Franz trat ans Bett.

.

»Da bin ich wieder.«

»Ich seh's.«

»Geht's schlecht, Bauer?«

Keine Antwort. Franz setzte sich auf die Truhe; er hatte Zeit. Der Bauer starrte kerzengerade vor sich hin, er hätte sich gegen den Tod nicht tauber stellen können. Die Feindschaft zwischen den Zweien wuchs mit dem Schweigen. Unten gingen die Türen auf und zu, in der Küche klirrte das Geschirr – jeder Laut, der durchs Haus hallte, machte die Kammer noch stiller.

Franz bot ein Stück Vieh an, das zu Herbstanfang kalben sollte; der Bauer brachte ein trockenes Lachen zustande, das so viel hieß wie: wer's glaubt! Dann fragte Franz nach Lienhard. Der Bauer schüttelte den Kopf. Also fort. Er wüßte nicht, wohin, es kümmere ihn auch nicht. Weiß der Teufel, wo sich der Kerl herumtreibe, er gehöre auf die Straße, tauge nicht zu einem Bauern; die Mutter sei die gleiche gewesen, fremdes Blut, kein Verlaß auf sie. Er möchte den Landstreicher nicht kennen, der ihr den Buben gemacht habe. Und noch heut sähe er das höllische Lachen auf ihrem Mund, als ihr der Blitz mitten ins Gesicht fuhr, damit dieses teuflische Lachen aufhöre; aber noch der verbrannte Kopf habe die Zähne grinsend hergebleckt. Einmal – Lienhard sei schon fort gewesen – sei ein wilder, schwarzbärtiger Mensch gekommen und habe nach ihr gefragt. Auch der habe gelacht, als er von der Art ihres Todes hörte, als gefiele ihm ein solcher Tod von Herzen. Vielleicht war's einer ihrer Liebhaber, vielleicht gar der Vater des Buben; er sei ohne Gruß zur Stubentür hinaus, nicht einmal zugemacht habe er sie; und seither habe er sich nie mehr sehen lassen. Er wünsche, daß alle diese Leute zum Teufel gingen, zu dem sie gehörten, samt Lienhard, und auch um Franz wäre es nicht schade, er solle sich nie mehr unterstehen, so mir nichts dir nichts daherzukommen.

Franz verließ die Kammer. Der Bauer schloß seine Rede mit einem gemeinen Geschimpfe, das zu immer lauterem Schreien anschwoll, je weiter sich die Tritte des Beschimpften entfernten.

Franz hörte nicht mehr, was ihm der Bauer in seinem Zorn nachschrie; seine Gedanken waren bei Lienhard, von dessen Flucht er tiefer betroffen war, als er sich selber zugeben wollte. Er hatte kein Glück mit den Kindern; als junger Mensch – es waren gut dreißig Jahre her – hatte er bei einem blutjungen Ding ein Kind; es starb, während die Mutter noch im Wochenbett lag. Er war nie mehr zu ihr zurückgekommen, er begann damals den Viehhandel; er taugte nicht dazu, sich irgendwo einzuleben, sein Wesen brauchte viel Raum. Nun wurde er alt, und Lienhard war gerade zur rechten Zeit gekommen: das zurückgedrängte Verlangen nach etwas Jungem, Schutzlosem, das man wachsen sieht und lieben kann, brach wieder hervor, als er zum erstenmal Lienhard in die Augen sah. Er glaubte in ihnen etwas Seiniges wahrzunehmen, nicht bloß gespiegelt, sondern ursprünglich vorhanden, die gleiche Unruhe vielleicht oder die gleiche Fremdheit vor allem Engen, Festgefügten, Bindenden. Wie hatten diese Augen geleuchtet, als er von neuen Ländern erzählte, wie war dieses Kind verstummt, statt wie andere Kinder zu fragen und wieder zu fragen, wenn er von seinen Fahrten und dem schnellen Leben in Städten, auf Märkten und Straßen berichtete. Gerade das Verstummen Lienhards hatte die verborgensten Regungen der Zärtlichkeit aus dem Alten hervorgelockt, aber er tat sich zu schwer, sie den Buben fühlen zu lassen, er war zu alt geworden und zu lange allein gewesen.

Jetzt litt er darunter, ohne Abschied fortgegangen zu sein. Er hatte sich vor der Rührung gefürchtet, die ihn übermannt hätte; es war damals leichter so – aber nun bereute er es. Dem kranken Bauern konnte er nichts davon sagen; es war schwer genug, sich selber alles deutlich zu machen. Er verließ noch am gleichen Nachmittag das Dorf, festen Willens, Lienhard zu finden und koste es, was es wolle.

Nur zwei-, dreimal hatte er das Glück, auf eine Spur des Ausreißers zu stoßen, und selbst diese Zufälle nützten ihm nichts; denn es strich zu jener Zeit viel armseliges Volk durchs Land. Der Krieg, der dreißig Jahre lang vor den Bergen draußen gewütet hatte, griff noch immer wie mottende Glut in die Täler herein, scheuchte den Bauern vom Pflug, den Handwerker aus seiner Werkstatt, und nur dem Händler und dem Soldaten blühte der Weizen; sie bevölkerten die Straßen, auf denen sie daheim waren, und mischten sich herrisch unter die Hungernden, Kranken und Obdachlosen. In den Wirtshäusern, die täglich viel durchziehendes Gesindel beherbergten, war für Franz wenig zu erfragen; man erinnerte sich nicht an jeden Schlingel, der mitlief.

Franz, den sein Handel wieder nach Süden trieb – und es war ihm, als müßte auch Lienhard ins Land hinab sein, von dem er ihm so oft erzählt hatte –, nächtigte auf der Paßhöhe. Er saß – die Stube war voll lärmenden Volks – in der Küche bei der Wirtin, einer mürrischen Alten, die ihn von seinen Fahrten her kannte. Die beiden kamen langsam ins Gespräch. Und da war es das erstemal, daß Franz den Schatten Lienhards auftauchen und wieder vergehen sah; er glitt eine kleine Weile vor ihm hin: scheu, stumm, flüchtend.

Die Alte hatte berichtet, daß etwa vor einer Woche gegen Abend ein Bub – sie nahm ihn für jünger als er war – an die Tür geklopft habe. Sie wollte lange nicht aufmachen, ein entsetzlicher Schneesturm sei ums Haus gefahren, sie habe nicht glauben können, daß sich bei solchem Wetter jemand herauftraue; aber als sie öffnete, wäre ein Knabe draußen gestanden, über und über voll fest gefrorenen Schnees. Er sei in die Stube getaumelt und augenblicks am Tische eingeschlafen. Sie habe ihn, als es zum Schlafengehen Zeit war, kaum erwecken können. Auf ihre Frage, ob er daheim durchgebrannt sei, habe er ja genickt. Am nächsten Tag sei er mit dem Bauern im Schlitten fort. Lienhard habe er geheißen, viel mehr sei aus ihm nicht herauszubringen gewesen. Franz machte sich am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne aufgegangen war, auf den Weg. Wie ihn finden? In der nüchternen, glanzlosen Frühe, da die Landschaft an ihren Rändern noch in grauer Dämmerung befangen war und die Gegenstände sich fremd und wesenlos aus dem Schlaf hoben, traten die Gedanken des Wanderers bildhafter als sonst vor ihn hin: er sah die kleine Gestalt des Buben die Straße hinabziehen, die schmalen Schultern, die sie nicht schützten, die Beinchen, die sich unbekümmert der Straße anvertrauten, möge sie führen wohin sie wolle, die schnellen Ärmchen, die in kein rechtes Gleichmaß mit den Schritten zu bringen war – und mit einemmal wußte er, daß er diesen Buben so liebe wie er noch nichts auf der Welt geliebt hatte. Es war die große, reife Liebe des einsamen Mannes zum schutzlosen Kind; aber zugleich fühlte er, daß er ihrer bedürftiger sei als der Junge. Sie war gerade dort, wo das Leben absterbend in die grauen Einöden des Todes übergeht, wie ein schöner Baum in die Höhe gewachsen; mit jedem sehnsüchtigen Schritt, den er dem Kinde näher kam, entfaltete sie sich voller und blühender. Ja, sie war ein Baum, der letzte, der noch am Rande eines weiten Lebens stand; er soll mich rasten lassen unter seiner Krone!

Als wäre er heute an dem Buben Vater geworden, eilte er ihm nach. Er war alt, er durfte keinen Tag versäumen. Er dachte daran, ihn ganz zu sich und auf seine Handelsfahrten mitzunehmen, ihn ins Geschäftliche einzuführen, ihn an aller Erfahrung, jeder glücklichen Verbindung teilhaben zu lassen. Er sah ihn heranwachsen, – wie rasch der Knabe vor den Blicken des Liebenden wuchs! – sah ihn groß und stark und stattlich werden. Schon stellte sich das Mädchen ein, das ihm gehören sollte und – die Sonne schlug eben auf dem Bergkamm wie ein goldenes Feuer hoch – der Enkel lag ihm im Arm, das Leben war vollendet, der Baum stand in voller Frucht.

Der Alte schritt gewaltig aus, nie war ihm das Herz leichter gewesen. Sein verwittertes Gesicht rötete sich vor morgendlicher Freude. Er kehrte aufs Geratewohl im nächsten Dorfe ein; es war ihm, als müßte ihm Lienhard über den ersten Zaun schon entgegenspringen, sein Herz war zu voll von ihm.

.

Im Wirtshausgarten saß ein Mann, den er zu kennen meinte. Auf einem massiven Hals, der wie unbeweglich zwischen den Schultern stak, saß der Kopf, rundum von schwarzem Haar bewachsen, nur Stirn, Nase und Backen beulten sich rot aus dem finstern Gestrüpp. Die großen Augäpfel waren von Blutadern durchzogen, als wären sie von der dunklen Gewalt des Blickes geborsten. Der Mund war nicht zu sehn, hier wucherte ein undurchdringliches Dickicht von grobem Haar. Der Mann hatte beide Arme vor sich auf den Tisch gelegt und sah reglos vor sich hin, nicht stumpf, nicht abwesend, sondern gegenwärtig und geladen von einer in sich selber satten Kraft. Es war nicht zu erkennen, ob dieser Mann an etwas denke, etwas fühle oder ob er nur dasitze, weil es ihn gab.

Franz setzte sich zu ihm. Er erkannte ihn plötzlich; es war der Raz (so nannte man ihn überall, wohin er kam); und da ihn das Bild des geliebten Knaben noch immer erfüllte, fragte er ihn ohne Umschweife, ob ihm nicht ein etwa dreizehnjähriger Bub begegnet sei. Er beschrieb ihn umständlich, und sein Herz tat vieles hinzu, was für einen andern nicht zu sehen gewesen wäre. Nach den ersten sachlich gestellten Fragen schien er sich immer tiefer in ein hellseherisches Schildern zu verfangen, das sich nicht mehr an den Mann gegenüber richtete, sondern einzig darauf aus war, Gestalt und Wesen des Knaben zu formen, damit er vor seinem Herzen lebendig werde. Er freute sich, eine Gelegenheit gefunden zu haben, sich selber von Lienhard zu erzählen, ihn zum erstenmal nach dem winterlichen Zusammenleben von allen Schalen der Scheu und alltäglicher Lebensformen zu entkleiden und seinen reinen und süßen Kern zu kosten.

Der andere merkte, daß es Franz nicht sehr darauf ankam, von ihm viel zu erfahren und ließ ihn reden. Der Ausdruck seines Gesichts, das nicht wie ein Menschenantlitz wirkte, eher wie ein Stück grasüberwachsenen Felsens, auf den eine panische Sonne scheint, änderte sich nicht. Nur in den Augen glomm plötzlich ein wiedererkennendes Erinnern auf, von Franz übersehen und vom schweigsamen Manne mit keinem Worte deutlicher gemacht. Ja, er hatte ihn wahrhaftig getroffen, es war gar nicht einmal lange her. Aber es war sehr seltsam gewesen. Er bestellte noch ein Glas Wein und versank wieder in seine stumme, kraftstrotzende Reglosigkeit. Seine Begegnung mit Lienhard aber hatte sich vor gut einer Woche so zugetragen:

Als der Bub nach jenem Schneesturm das Haus am Paß erreicht und die Nacht dort verbracht hatte, ließ ihn der Bauer auf dem Schlitten ein Stück weit mitfahren. Während dieser sich bei einem Bekannten aufhielt, nahm Lienhard seine Wanderschaft wieder auf, die ihn rasch den paar Hütten entführte. Es ging schnell und mühelos bergab.

Unten war Frühling. Die Osterwoche blieb schön. Die Leute waren viel in den Kirchen, und wenn er sie in den Häusern aufsuchte und um Brot oder Obdach anging, willfahrten sie freundlich seinen Bitten. Über das ganze Land schien mit der österlichen Zeit ein zarter Glanz gefallen zu sein, unter dem die Birken silberten, die Vögel im Flug auffunkelten und die Menschen still und gütig wurden. Lienhard war glücklich wie noch nie, seit er von daheim fort war.

Schließlich blieb er in einem Dorf, durch das hie und da schon die ersten lauen Atemzüge des Südens zogen, über die Feiertage und noch eine Woche nach Ostern. Die Leute, die ihn aufgenommen hatten, waren voll gütiger Fürsorge für ihn, sie hätten ihn behalten, so gut gefiel er ihnen.

Am Ostermontag kamen Reiter durchs Dorf. Die Beschläge des Zaumzeugs blitzten, braune Gesichter unter schwarzen Helmen sahen an den niederen Häusern vorbei in die Weite, die bunten Schilde leuchteten, und die Straße wolkte hinter den Davonsprengenden weiß auf. Lienhard stand am Gartenzaun und schaute ihnen nach, bis nichts mehr zu sehen war.

Er wußte nicht, was ihn fortzog. Unruhe bedrängte ihn, die von Tag zu Tag wuchs, sie machte ihm den Abschied schwer, aber sie war stärker als er samt seinem Glück.

So war er hinabgelangt in das sich weitende südliche Land. Ein riesiger Talkessel lag vor ihm. Grünes Gelock der Rebe überzog weit hinauf den roten Stein; in den Wiesen schwammen die runden rosa Wolken der Pfirsich- und Mandelbäume, lauer Wind strich herauf, und die Nähe war voll Bienengesumm und Duft. Ein Kirschbaum stand da, über und über voll weißer Knöpfchen – morgen wird er unbändig blühen.

Lienhard war überwältigt. Alles war fremd hier, anders und feierlich; der Himmel viel größer, der Boden, auf dem er ruhte, belebter – Eidechsen, Käfer, Schmetterlinge waren um ihn –, die Luft leibhafter und doch weicher, das Licht heller, das Leben leichter.

.

Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und schaute ins Blaue hinauf; er atmete mit tiefer Lust. Nun fürchtete er nichts mehr, nun wußte er sich nahe am Ziel. Vielleicht noch zwei, drei Tage Wandern, und er wird bleiben. Er fühlte sich Franz nahe; das mußte sein Land sein, von dem er erzählt hatte, vielleicht rastet auch er hier unter diesem schönen Kirschbaum, bevor er ins enge Land hinaufsteigt, aus dem er selbst gekommen war. Früher, warmer Nachmittag summte um ihn und schläferte ihn ein.

Er steht mitten auf dem großen Platz einer Stadt, und viele Leute richten ihre Blicke auf ihn; sie bilden einen weiten Kreis, und er steht ganz allein in dessen Mitte. Sie warten. Worauf warten sie? Der Platz liegt in der hellsten Sonne, und da sie ihn blendet, zwinkert Lienhard mit den Augen. Die Leute sind still, selten spricht einer ein Wort, und das nur flüsternd. Er fühlt, sie wollen etwas von ihm, aber er kann nicht herausbringen, was. Er zittert ein wenig, denn er schämt sich unter so vielen Blicken. Er will sie fragen, was er tun solle, aber so sehr er sich bemüht, er bringt die Lippen nicht auseinander, die Zunge stockt ihm im Hals, er kann auch die Arme nicht regen, als wäre er gebunden. Es ist qualvoll, zu wollen und nicht zu können. Nun wird es kühl, der Platz wird düster, die Sonne muß fort sein; es ist wie vor einem Gewitter. Er fühlt, nun kommt es, was alle erwarten und was er nicht kennt, bald muß es da sein. Er zittert heftiger, und das Atmen wird mühsam, die Angst legt sich ihm auf die Brust, er will laufen, aber die Füße sind wie angeleimt, er zieht und zieht und kommt nicht von der Stelle.

Als er unter furchtbarem Herzklopfen die Augen aufschlug, wollte er schreien, aber die Kehle war ihm gelähmt.

Über seinem Gesicht lag ein anderes, so nah, daß er seinen Atem zurückschlagen spürte. Ein schwarzer Mann war tief über ihn gebeugt und schaute ihn seltsam an. Der Kleine vermochte kein Glied zu rühren, das fremde Gesicht bannte ihn. Sie starrten einander eine Weile an, der Bub in wahnsinniger Angst; er meinte zu vergehen, leise bewegte er die Lippen, er will bitten: geh! aber er brachte keinen Laut heraus. Da verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem schrecklichen Lachen, und ohne ein Wort zu sagen, ging er davon. Dem Buben klapperten die Zähne, und er lief, was er nur konnte.

 

Es hatte keinen Sinn, Franz davon zu erzählen. Der Raz trank seinen Wein aus und ging. Er konnte sich selber nicht klar machen, warum ihn das Gesicht des schlafenden Buben so angezogen hatte. Sein ungefüges Gehirn spürte nur dumpf, daß etwas in diesem Gesicht zu seinem Leben gehörte; aber wie und seit wann, darüber war ihm jeder Aufschluß versagt. Er konnte sich täuschen; aber sein witterndes Blut war ihm damals mit einem plötzlichen Stoß ins Gesicht gefahren, als er sich über den Knaben beugte.

.


 << zurück weiter >>