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»Hexer«

Wo sprang zum erstenmal das Wort auf, das ihm von nun an nachlief, immer schneller, immer lauter bellend, bis es ihn einholt und stellt? Es war vielleicht einem Bewunderer aus dem Mund geschlüpft, leicht und leichtsinnig, wie Worte oft sind, die aus Gefühlen springen; vielleicht war es einem der beiden Senner mitten im Lachen entfahren, ohne feindlichen Spürsinn noch, aber schon schnellfüßig wie ein Jagdhund. Bald wird es das ahnungslose Wild enger umkreisen, es in das Wirrsal unerklärlicher Ängste, in das immer dichtere Verhängnis treiben, aus dem es kein Entrinnen mehr geben wird.

Er hatte es zum erstenmal gehört, als Hassan vor ihm winselnd davongekrochen war und er den übernächsten Tag wieder ins Dorf kam.

Der Hund des Müllers war im ganzen Dorf gefürchtet. Das Fell hing ihm in langen gelben Zotten herab, seine Beine standen breit auseinander, und sein Köterschädel war zornig nach vorne gereckt, wenn jemand an der Mühle vorbeiging. Er hing immer an der Kette, die er rasselnd nachzog und die ihn dutzendmal am Tage zurückriß, wenn er sie in seinem wütenden Ansprung vergessen hatte. Sie war am Bodenpfosten seiner Hütte befestigt und ließ ihm sieben bis acht Mannsschritte Spielraum. Am ärgsten haßte er die Dorfbuben. Durch die mächtige Kette ihrer Unangreifbarkeit gewiß, reizten sie das blindwilde Tier mit Gebärden des Zuschlagens und Hinspringens, kläfften es an, rissen an der Kette und entwischten ihm, bevor es zubiß.

Lienhard kam mit ihnen spielend vorbei. Der Hund fuhr knurrend hoch; er sträubte die Haare hinter dem Nacken. Das Trüpplein Buben, zu eifrig mit dem Spiel beschäftigt, wollte vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern. Da blieb Lienhard stehn.

»Was knurrst denn so bissig, Hassan? Tut dir ja niemand was.«

Der Hund mißverstand ihn. Mit einem Satz war er zähnebleckend da; die andern warteten hinter Lienhard wie damals, als er den Arm nach der Hornisse ausstreckte. Wieder hatte er das Gefühl, zu handeln, ohne daß er wollte.

Er ließ sich langsam in die Knie, auf die Ellbogen, auf den Bauch. In sein Gesicht trat Gewalt; der Hund versuchte nicht, ihr zu widerstehen. Wie gefesselt ging auch er zu Boden. Lienhard wandte keinen Blick von seinen gelben Augen, und nun geschah, was die Buben vor Schreck, Spannung, Triumph steif und stumm machte: so langsam, wie es nötig war, um Hassans kaum wahrnehmbare Anläufe zum Widerstand der Reihe nach zu brechen, schob sich Lienhard vorwärts, die Buben meinten: mitten hinein in den Rachen des Hundes. Aber das Tier gehorchte. Gebannt von diesen Augen, behext von diesem lautlosen, unnachgiebigen Vorwärtskriechen, zog es sich zurück, leise durch die gefletschten Zähne knurrend, immer weiter zurück, bis es in der Hütte verschwand.

»Siehst, Hassan, du bist ja ein braver Hund; jetzt sei gescheit und tu nimmer so wild.«

Lienhard kehrte zu seinen Spielgefährten zurück, eine leichte Röte stieg ihm ins weiße Gesicht; er lächelte befangen.

.

Das muß es gewesen sein, was ihm den Namen »Hexer« eintrug. Bewunderung seines Mutes, Furcht vor dem Seltsamen und das Bedürfnis, beides mit einem unbestimmten, anfangs harmlosen Verdacht abzuschütteln, hatten den Namen hervorgebracht. Die Bändigung Hassans sprach sich herum, auch unter den erwachsenen Leuten; sogar die kranke Alte und der Pfarrer erfuhren von ihr.

Es war schon dämmerig in der Stube des Weibleins. Sie saß in einem Stuhl und hatte den Rosenkranz zwischen den Fingern. Das winzige Fenster war mit Blumenstöcken verstellt; es roch nach den ersten Äpfeln des Jahres. Lienhard hatte sich einen von der Truhe holen dürfen; dort lagen sie in einer schnurgeraden Reihe und leuchteten in dem dürftigen Licht goldgelb.

»Siehst, Lienhard, das sollst nicht tun. Du bist ein Mensch, und der Hassan ist ein Hund; du mußt tun wie ein Mensch, und der Hassan muß tun wie ein Hund. Laß ihn nur wild sein, er wird schon wissen, warum er knurrt und die Leut anspringt, wenn sie ihm zu nah kommen. Du mußt ihn nicht anders machen wollen. Bist ein ganz verflixtes Bürschl, legst dich vor einem Hund auf den Bauch, als wenn du selber ein Vieh wärst und kriechst ihm beinah ins Maul hinein; siehst, Bübl, das heiß ich einen Übermut, fast eine Sünd. Nein, nein, ich weiß schon, du hast nichts gemeint dabei, hast es nicht besser verstanden. Und die dummen Lackel sind herumgestanden und haben dir zugeschaut, als wenn du der heilige Georg wärst, der auf den Drachen losgeht. Du bist aber nicht der heilige Georg, und der Hassan ist kein Drachen, gelt, beileibe nicht. Jeder an seinem Ort und alles zu seiner Zeit. Und jetzt heißen dich die Leut im ganzen Dorf den Hexer. Mich haben sie auch schon die Hex geheißen, wie dem Gerber sein Vieh der Reih nach verreckt ist. Sie sind schnell bei der Hand mit einer bösen Nachred, noch schneller mit einem bösen Blick, und das geht einem lang nach, Bübl, das vergißt man nicht, das ist hinter einem her, ärger als der Hassan. Mich haben sie sogar in die Stadt hinunter vor den Richter gebracht, und der hat mich lauter dummes Zeug gefragt, daß mir der Kopf rundum gegangen ist. Aber weil sie ein Totenweibele brauchen, das ihnen die Leich herrichtet, wenn's einmal so weit ist, haben sie mich wieder ausgelassen, sonst hätten sie mich meinerseel noch verbrannt. Ja, man muß recht aufpassen, sie verstehn keinen Spaß, die Leut, und schon gar nicht, wenn man nichts hat und niemand ist, Lienhard. Laß dir das gesagt sein.«

Lienhard stand vor ihr, den angebissenen Apfel in der Hand, regungslos, den Blick weit offen auf ihren Mund gerichtet, aus dem die Worte schwach und mühsam zu ihm gingen. Sie waren ihm viel mehr tröstlich als unheimlich, er horchte weniger auf das, was sie meinten, als auf das, was er an ihnen liebte: auf die zittrige Stimme und die lind einhüllende Vertraulichkeit.

Einige Tage später ließ ihn der Pfarrer zu sich rufen. Als Lienhard vor dem großen, breiten Mann stand, den er nur aus der Entfernung des Betstuhls zum Altar und in den prunkvollen Gewändern des Gottesdienstes kannte, machte ihn die ungewohnte Nähe und profane Umgebung schüchtern. Das Gesicht war ihm zu nah und mit einemmal völlig unbekannt; er hörte ihn sprechen, wie er in der Kirche nie sprach, und das alles verwirrte ihn. Blutrot übergossenen Gesichts stand er vor ihm und drehte verlegen seinen Hut.

»Du weißt wohl, Lienhard, daß es eine schwere Sünde ist, Tiere zu verhexen und damit Unglück über die Mitmenschen zu bringen. Ich glaube freilich nicht, daß du das getan hast, aber die Leute im Dorf reden nicht viel Gutes von dir. Sie fürchten sich ein wenig davor, wie du mit allerhand Viehzeug umgehst, sie meinen, daß da etwas Unrechtes im Spiel sei. Ich will nun einige Fragen an dich stellen und du wirst mir ganz aufrichtig antworten, hörst du? Es ist nur dein eigener Nutzen, wenn du die ganze Wahrheit sagst. Hast du schon einmal von Hexen gehört?«

»Ja.«

»Was sind denn Hexen?«

»Hexen sind alte Weiber, die das Vieh krank machen und das Hagelwetter herhexen.«

»Wie können sie denn das?«

Lienhard dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf.

»Das weiß ich nicht.«

»Sag die Wahrheit, Lienhard!«

»Ich weiß es nicht.«

Lienhard wurde es angstvoll zumute. Er wußte es wirklich nicht, aber er hielt mehr zum Pfarrer als zu sich selbst, er mißtraute seinen eigenen Worten.

»Warum hast du dich vor dem Hassan auf den Bauch gelegt?«

Lienhard zermarterte seinen Kopf; es fiel ihm ein, daß auch die Alte davon gesprochen hatte; es müßte etwas Schlimmes dahinterstecken, daß er sich vor dem Hunde niedergeworfen hatte; aber er wußte nicht, was. Er hatte damals bestimmt nichts Böses dabei gedacht, es war ihm so natürlich eingefallen, wie einem der Gedanke kommen kann, über eine Baumwurzel zu springen, statt um sie herumzugehn.

»Hast du dir nichts dabei gedacht?«

»Nein, Herr Pfarrer, es ist alles von selber kommen.«

Der Pfarrer zog die Brauen ein wenig zusammen und legte den gekrümmten Zeigefinger vor den Mund; er dachte nach.

»Ich will dir was sagen, Lienhard. Die Leute schwätzen viel Unsinn zusammen, wenn der Tag lang ist; man muß sie grad reden lassen. Aber es wäre besser für dich, du ließest deine Zauberstücklein sein. Was hast denn schließlich davon? Und der Teufel hat es nicht ungern, wenn einer so tut, als könnt er Giftschlangen essen und bei wilden Tieren übernachten. Willst du mir versprechen, Lienhard, diese Sachen zu lassen?«

Der Pfarrer sagte das so freundlich und fein, daß es den Buben hinriß. Der Kopf brannte ihm vor seliger Befangenheit. Ein ganz fremder Mann, vor dem er bisher nur Ehrfurcht empfunden hatte, der für ihn schimmernd hinter Weihrauchwolken gestanden war, sprach gut zu ihm, schaute ihn lange und ernsthaft an.

Der Hut entfiel seinen Händen, der Bub, ungeschickt in Zärtlichkeiten, stolperte auf den Pfarrer zu und küßte ihm schamrot und stammelnd die Hand.

 

Der Sommer steht in Weißglut über dem Tal. Lienhard ist diese Hitze fremd, und sie legt sich mittags bleiern auf ihn. Er setzt sich in den Schatten, den die Rebenpergeln über den steinigen Weg breiten, und schaut einer Eidechse zu, die grünschillernd vor ihm sitzt. Das deutliche Klopfen in ihrem Hals zieht seinen Blick magnetisch an; er ist zu müd, um sie zu fangen. Mit Leib und Seele in das Brüten ringsum versunken, fühlt er nichts, denkt er nichts. Durch die Löcher, die das Weinlaub über ihm freiläßt, brennt tiefblau der Himmel, die weißen Steine vor ihm flammen, die Luft ist von undeutbarem Gesumm und Gewisper erfüllt, es riecht nach Kamille und glühendem Stein, vom Dorf herauf kommt von Zeit zu Zeit der Schrei eines Hahns. Die Welt scheint mit offenen Augen zu schlafen.

Plötzlich ist die Eidechse entschlüpft, und zugleich legen sich von hinten zwei heiße Hände auf Lienhards Augen. »Rat, wer ist's?«

Er hat niemanden den Weg herabsteigen hören. Die Hände liegen heiß und dicht über seinen Augen, ganz in ihre Höhlen hineingeschmiegt, zart und doch fest; es ist ein eigentümlich wohliges Gefühl von Gefangenschaft. Der Bub lächelt. Er denkt nicht daran, diese Hände wegzutun, er hält den Überrumpler fest, indem er ihn nicht errät. Dann dämmert es ihm – als teilte es ihm der leichte Druck der Finger mit –, es müsse die Rosl sein. Er beginnt trotz der Finsternis, durch die rote und grüne Farbsterne kreisen, allmählich zu sehen, wie sie hinter ihm steht: mit dem kurzen Rock, der ein Stück des blassen Schenkels freigibt – denn sie muß sich über ihn beugen –, mit den schwarzen Haaren und den ebenso schwarzen Augen. Es wird ihm immer gewisser, daß sie es ist, aber er verrät es nicht.

»Ich weiß nicht, wer's ist.«

Die Kleine lacht hell auf.

»Du bist ein Dummkopf; ich bin's, die Rosl.«

Damit läßt sie ihn los und springt zu ihm herab, genau so, wie er sie hinter ihren Händen sah.

»Ah, du bist's!«

Es ist ihm eine Lust, ihren Sieg noch zu vervollständigen:

»Und ich hab' gemeint, der Peter ist's.«

»Magst du den Peter gern?«

»Ja, den mag ich gern.«

.

»Und mich?«

»Dich mag ich auch.«

»Und wen magst du lieber, den Peter oder mich?«

»Beide gleich.«

»Aber ich mag den Peter lieber als dich.«

»Weil er größer ist?«

»Nein, rat!«

»Weil er einen Kreuzschnabel in der Steigen hat?«

»Nein.«

»Jetzt weiß ich's.«

»Warum?«

»Weil er dich einmal auf dem Fuchs hat reiten lassen.«

»Nein, du kommst nicht drauf.«

Sie langt nach der Gerte, die sie hinter ihm hat fallen lassen, als sie nach seinen Augen griff. Sie läßt sie ein paarmal durch die Luft wischen.

»Warum bist du heut nicht auf der Alm?«

»Der Bauer hat gesagt, ich soll unten bleiben. Ich war heut vormittag beim Pfarrer.«

»Was hast denn dort getan?«

»Das sag' ich dir nicht.«

»Hast was angestellt?«

»Nein, ich hab' nichts angestellt.«

Nach einer Weile:

»Springt dich der Hassan nicht mehr an?«

»Nein, er kriecht jedesmal in seinen Stall, wenn ich vorbeigeh.«

»Fürchtest du dich vor nichts?«

Lienhard weiß nichts zu antworten. Rosl gibt nicht nach.

»Aber vor dem Stecken da tätest du dich fürchten.«

Lienhard nimmt ihr die Gerte aus der Hand.

»Warum soll ich mich vor dem Stecken fürchten, ha?«

Er wiegt die Rute lachend in der Hand, biegt sie mit den Enden zusammen und läßt sie wieder springen.

»Du traust dich nicht.«

»Was trau' ich mich nicht?«

»Daß du dich hinlegst, und ich zieh sie dir über?«

»Ja, was fällt dir ein? So dumm bin ich nicht.«

»Weil du dich nicht traust.«

»Nein, weil ich nicht mag.«

»Ich sag' dir was ins Ohr, Lienhard.«

Sie nestelt sich zu ihm hin, schlingt den Arm um seinen Hals, drückt ihr heißes Gesicht gegen das seine und tuschelt ihm rasch etwas ins Ohr, was er ganz und gar nicht versteht.

»Was sagst?«

Sie wiederholt alles von Anfang an; nur schiebt sie sich diesmal noch enger an ihn, preßt seinen Kopf fester an ihr Gesicht und flüstert noch heimlicher, aber es ist gar nichts, was sie sagt, es ist nur heißes, rasches Gewisper, das ihn kitzelt und unruhig macht; es fließt ihm glühend durch das Ohr und in die Glieder, seine Arme, seine Beine spannen sich und ziehen sich zusammen, es durchschauert ihn, und mit einem Ruck macht er sich los.

»Du dummer Bub, was hast denn?«

Sie reißt die Gerte an sich und hüpft den Weinberg hinunter. Es tut ihm leid, daß sie ihm davonläuft, aber er weiß kein Mittel, sie zurückzuhalten. Er steht auf und glüht am ganzen Leib. Dann ruft er ihr nach:

»Rosl!«

Knapp bevor sie um die Ecke schießt, wirft sie ihr Gesicht zu ihm herauf:

»Weil du dich nicht traust!«

 

Es regnete. Die Buben saßen im Heustock. Sie fühlten sich hier glücklich, die Dämmerung des Stadels war ihr eigentliches Daheim. Unter ihnen schnaubte das Vieh an den Barren, sie hörten es durch die Futterlöcher herauf, um sie schwelte der Duft des jungen Heus, Gerät stand und hing in allen Winkeln, aufs Dach klopfte der Regen mit unermüdlichen Fingern. Ihrer fünf saßen so in einem Kreis, Lienhard unter ihnen.

Sie sprachen von der alten Mena. Geschichten, die man im Dorfe vom Tun und Treiben der Hexen erzählte, bezogen sie mit grausamer Unbedenklichkeit auf die gute Alte. Sie übertrieben das Viehsterben, von dem sie wußten, daß es die Erwachsenen für das größte Unglück hielten, das dem Bauern begegnen kann. Das Dunkel des Heustocks und der rauschende Regen schlossen sie ab gegen jedes zudringliche Ohr – so wagten sie derbe Späße und schlemmten ein wenig in saftigen Worten und halbverstandenen Wendungen. Lienhard hätte mitgehalten, wenn es nicht auf die Mena gegangen wäre. Aber daß sie des Nachts auf einem Besenstiel durch den Kamin hinausreite, ließ seine Freundschaft mit ihr nicht zu; und daß sie splitternackt über die Dächer hinfahre, dagegen wehrte sich jedes Gefühl in ihm. Und daß der Teufel bei ihr aus und ein gehe, hielt er für den vollkommensten Unsinn, er war oft bei ihr gewesen, aber den Teufel hatte er nie angetroffen. Als es ihm gar zu bunt herging, fuhr er, der bisher geschwiegen hatte, polternd dazwischen. Erst lachten die Buben verächtlich, stießen sich mit den Ellbogen, zwinkerten sich zu – und das hieß: er gehört ja selber dazu aber Lienhards Zorn wuchs und stand plötzlich als ernsthafte Drohung zwischen ihnen, sie alle zu verprügeln. Da duckten sie sich und hielten eine Weile verlegen den Mund. Lienhard aber schämte sich seines Ausbruchs, die lange Stille, durch die der Regen gleichgültig rauschte, schien ihn lächerlich zu machen. Er war errötet und wäre gern, woanders gewesen. So unbefangen wie möglich fragte er Peter, der vormittags auf seinem Fuchs durchs Dorf geritten war, von allen bewundert und wieder bis in den Stall zurückbegleitet, ob er die Rosl nie habe reiten lassen. Peter tat, als kennte er keine Rosl. Welche Rosl denn, fragte er. Im ganzen Dorf schien es für ihn keine Rosl zu geben.

»Kupferschmieds Rosl, die schwarze«, meinte Lienhard so nebenhin. Aber er mußte herausbringen, warum sie Peter lieber mochte als ihn.

Peter tat sehr verächtlich:

»Ach die!« Warum hätte er sie sollen auf seinem Fuchs reiten lassen, einen Kittel auf einem Pferd, auf seinem Pferd! Nein, das fiele ihm gar nicht ein.

Lienhard glaubte ihm, weil er ihm glauben wollte. Es brauchte also gar nicht wahr zu sein, daß sie den Peter lieber hatte, sie log vielleicht nur, weil sie sich genierte. Morgen war der letzte Tag, dann ging es wieder für eine Woche auf die Alm. Wenn er nur wüßte, wann und wo sie treffen. Und mit einemmal war die Behaglichkeit für ihn dahin, er wurde unruhig, das Glück, im Heustock zu sitzen und manchmal zu horchen, ob es draußen noch regnet, zu merken, wie es immer dunkler wird, wie der Abend sich langsam über die Dächer legt, die Weiber in der Küche mit dem Geschirr klappern zu hören, alles das zerfloß für ihn, und in seine Sinne drängte sich der glühend blaue Nachmittag im Weinberg, die zwei heißen Hände auf seinen Augen und das spöttische Lachen: weil du dich nicht traust. Er sagte, er müsse heim.

Als er aus der Tenne trat, kam gerade der Pfarrer im weißen Chorrock und mit dem tuchverdeckten Allerheiligsten die Dorfstraße herab, begleitet von einem Ministranten, der unaufhörlich schellte. Lienhard kniete nieder und empfing den Segen. Dann folgte er den beiden im gebührenden Abstand.

Sie traten in die Hütte der Leichenmena. Eine junge Magd glättete zum letztenmal das weiße Tuch, das sie auf den Tisch gebreitet hatte. Neben dem schwarzen Kruzifix brannten zwei Kerzen. Die Alte saß in ihrem Stuhl und lächelte. Ihre Finger sahen aus wie entrindete, längst vertrocknete Hölzchen; sie hielten den Rosenkranz. Auf der Truhe lagen noch immer die Äpfel in schnurgerader Reihe; ein einziger fehlte. Lienhard schnürte es die Kehle zu. Sie schaute ihn sterbend an, von weither und doch mit unermeßlicher Liebe. Er sah weg, weil er es nicht ertrug.

Der Pfarrer nahm ihr die Beichte ab; die Magd, der Ministrant und Lienhard warteten vor der Tür; sie sprachen kein Wort miteinander. Dann ließ sie der Pfarrer wieder eintreten. Er ölte der Alten die Fußsohlen und murmelte dabei lateinisch; der Ministrant krähte seine Antworten heraus wie ein fröhlicher Hahn. Dann gingen die beiden. Die Magd bat den Buben, noch eine Viertelstunde dazubleiben, sie müsse auf einen Sprung nach Haus. Lienhard war mit der Alten allein. Er verstand ihr Winken mit den Augen und ging zu ihr. Sie streichelte seinen Arm und sah ihm dankbar ins Gesicht. Sie wollte die Lippen bewegen, aber sie brachte sie nur zum Zittern. Wie sie ihn so anschaute, groß, unverwandt, für immer abschiednehmend, erinnerte er sich dessen, was im Heustock über sie gesprochen worden war, und schämte sich. Er hätte ihr gerne noch gesagt, daß er alle verprügeln werde, die noch einmal – aber er wagte keine Silbe zu sprechen. Es würgte ihn, es wollte ihn zerreißen, er hatte ihr noch so viel zu erzählen, sie zu fragen; er wußte sich keinen Rat mehr und fiel schluchzend in die Knie, verbarg sein nasses Gesicht in ihrem Rock. Liebe und Verzweiflung, Abschied und Entzücken, ganz bei ihr zu sein, stürzten mit den Tränen aus seinem Herzen; das Weinen tat weh und wohl zugleich, das Warten im Dunkel beschwichtigte ihn, er war aufgehoben in den Falten ihres Rockes und wollte nicht mehr fort. Er war seinen eigenen Gefühlen so wenig gewachsen wie alle Kinder, die frühzeitig die Schweigsamkeit der Erwachsenen zu ertragen und zu ähnlicher Schweigsamkeit gezwungen sind.

.

Die Magd rüttelte ihn an der Schulter. »Steh auf, Lienhard, die Mena ist gestorben.«

Er erhob sich, trocknete sich die Augen mit dem Ärmel, sah die Tote an – sie schien eingenickt zu sein – und verließ still und ohne zurückzuschauen die Stube.

Am nächsten Tag suchte er die Rosl. Er war inwendig tot, er hatte sich gestern leergeweint.

Wieder brannte dunkles Blau über dem Weinberg, und der weiße Stein flammte, die Luft war erfüllt von tausendfältigem Gesumm. Wie an allen Gliedern zerschlagen schlich er zwischen den heißen Mauern hin, der Kopf hing ihm schwer herab, die Augen taten ihm weh.

Er setzte sich an den Platz von damals. Ob sie kommt? Deckt sie mir wieder die Augen zu? Er wünschte sich sonst nichts von ihr. Sie soll mich so halten, bis es Nacht wird. Sie soll nichts fragen, nichts reden, nichts wollen. Er saß da, über sich gekauert, die Ellbogen auf den Knien, das Kinn in den Händen, und starrte vor sich hin. Nichts berührte ihn, kein Tier, keine Blüte, kein Geräusch aus dem Dorf. Unten gingen Leute vorüber; er erkannte sie nicht. Es war ein Bilderbuch, das jemand vor ihm durchblätterte, aber es fesselte ihn nicht. Seine Gedanken gingen an allem vorbei, zurück an den Anfang seiner Flucht, sie suchten die guten und die schweren Stunden: den Sturm am Paß und die rasche Fahrt durch den blendend hellen Schnee, die erste Nacht im Heustadel und den blind zuschlagenden Stiefvater, an jenem Abend, als Franz von diesem Land hier erzählte; sie blieben nirgends lange haften, sie rührten alles nur leicht an, und er spürte einen Augenblick lang das gleiche wie damals; es tat wohl und schmerzte, aber es war alles umsonst gewesen, es hatte zu nichts geführt, zu nichts anderem als diesem trostlosen Dahocken und nicht wissen, warum. Es war schwer, zu leben. Wäre ich gestorben bei der Leichenmena, mitten im Weinen! Der Bauer tat Augen machen, und was täten die Buben wohl sagen? Franz würde ihn nie mehr finden; ob er mich sucht? Und die Rosl? Vielleicht hätt' sie mich dann lieber als den Peter, wenn ich tot wär.

Sie kam langsam schlendernd den Weg herauf. Lienhard traute seinen Augen nicht. Wie weiß sie, daß ich dasitze und auf sie warte?

»Lienhard!«

Ihre Stimme klang hell und so, als wäre die Stunde vorher nicht gewesen; sie klang lustig und zerriß die summende Stille. Das Leben war wieder da.

»Morgen muß ich hinauf, für eine ganze Woche.«

»Die Mena ist gestorben.«

»Ja.«

Sie setzte sich neben ihn; sie spielte mit einer Gerte. Von Zeit zu Zeit sah sie ihn von der Seite an und schien nachzudenken. Sie sprach sehr wenig.

Warum war sie nicht von oben gekommen und hatte ihm die Augen verdeckt, um ihn raten zu lassen? Sie war ganz anders als damals.

»Du warst bei der Mena, wie sie gestorben ist?«

»Ja.«

»Ist es wahr, daß der Teufel gekommen ist?«

Lienhard schrak zusammen. Der Teufel? Warum soll der Teufel kommen und immer zur Mena? Sie glauben alle, daß sie eine Hexe war. Er kannte sich nicht aus.

»Hast du den Teufel schon einmal gesehn, Rosl?«

»Um Himmels willen, was fallt dir ein?«

»Wie schaut er denn aus?«

»Solche Hörner hat er und ganz schwarz ist er, und Krallen hat er wie eine Katz.«

Lienhard sah den Stuhl vor sich, in dem die Alte saß, ihre großen Augen, die ihn herwinkten, ihre Hand, die zittrig über seinen Arm strich. Es war ein heiliges Bild; der Teufel war nicht dabei.

Wieder kamen Liebe und Schmerz. Er vergaß, daß die Rosl neben ihm saß; ihm war elend. Die Sonne zog ihm den Schweiß aus der Haut, er rann in kleinen Bächen über ihn; er sank vor Schwäche zusammen. Er wußte nicht mehr, warum er die Rosl gesucht hatte, er brauchte sie gar nicht mehr.

»Was hast heut?«

»Nichts.«

Sie bog die Gerte an beiden Enden zusammen und ließ sie springen. Es kribbelte ihr plötzlich in den Fingern. Sie zuckte unter einer Vorstellung zusammen; dann pfiff die Rute durch die Luft. Noch einmal, noch einmal. Das Mädchen war verwandelt: ihr Gesicht hingerissen, ihre Nase noch schmaler, die Augen fast zu. Sie hieb in das Gras neben dem Weg, immer rascher, immer heftiger, fast atemlos.

Lienhard sah ihr zu; er begriff nichts davon, er hielt es für kindisches Spiel. Als sie ermüdet die Gerte hinwarf und sich tief atmend zurücklegte, überkam ihn plötzlich die Angst, sie noch einmal zu verlieren. Voll Verzweiflung und einer Sucht nach Schmerz, voll Verlangen, zu vergehen und von nichts mehr zu wissen, trug er sich an:

»Willst du mich schlagen?« – seine Stimme zerbrach, als er das sagte –, »ich trau' mich schon.«

Er drehte sich auf den Bauch und versteckte sein Gesicht.

»Warum soll ich dich schlagen, sag?«

»Du hast es vorgestern wollen.«

Sie lachte.

»Ja, vorgestern!«

Er bettelte.

»Schlag zu, Rosl!«

»Ich mag nicht.«

Sie stand auf und ging. Er hob seinen Kopf nicht, er hörte sie bloß. Jeder Tritt grub sich ihm ins Ohr, jeder schwächer und schmerzlicher; dann war es still wie vorher. Er weinte fassungslos.

 

Lienhard war mit den Schafen hoch über der Alm, auf den letzten, steilen Böden, die noch Gras trugen. Über ihnen setzte der graue Fels an und stieg jäh in die Höhe. Des Morgens hütete er sich, seine Tiere da hinaufzutreiben, da sich Steine von den Wänden lösten und oft mit großer Wucht herabsausten; aber mittags ließ er sich von den Schafen gern verführen; sie suchten das leckerste Futter, und er fand die größte Stille.

Es mochte kurz nach Mittag sein, als das Gewölk, das sich zusammengezogen hatte und die fürchterliche Hitze eher steigerte als verminderte, plötzlich finster wurde. Lienhard hatte gehofft, es werde sich verziehen, und schaute nun überrascht und ängstlich auf; die Schnelligkeit, mit der es Nacht wurde, bestürzte ihn.

In das Gewölk kam Bewegung; es braute. Die Wolken überrollten sich, der Himmel kochte über von dicker Schwärze, Schaumflocken lösten sich und trieben fahl leuchtend darunter hin, Wind verfing sich in den schweren Massen und schob sie näher, dann ließ er sie los und fegte über die Hänge, daß das Gras glänzte. Weit drunten die erste Zirbe begann zu schwanken, Bergdohlen Warfes über das Joch her, sie stemmten sich gegen den Wind und glitten ab, stürzten in die Tiefe und taumelten auf den Baum zu. Ihre Schreie flatterten herauf, abreißend plötzlich, wenn der Sturm gegen die Wände brüllte.

Dann flogen die ersten Blitze. Der Fels leuchtete auf und dunkelte zu. Stein, Gras, Himmel – die ganze Ödnis ringsum schien die Augen aufzureißen und sie rasch wieder zu schließen, irr zu lachen und im nächsten Augenblick zu verstummen, ängstlich wartend, bis der Donner losbricht.

Die Schafe werden unruhig und drängen sich um ihren Hirten. Lienhard will heim; mit langen Sprüngen entflieht er dem Wetter. Noch ist kein Tropfen gefallen; in anderthalb Stunden ist er drunten, wenn er so springt. Der Wind ist hinter ihm her, er hebt ihn auf und läßt ihn beinahe fliegen. Und der Stock ist ein Roß, das ihn im Galopp hinabträgt.

Die Blitze kommen näher, schon schlagen sie droben in die Felsen ein; lange, feurige Geißeln schnalzen gegen die Wände. Sie peitschten Hirt und Herde vor sich her, die Schafe flüchtend aneinandergedrängt, Lienhard hinter ihnen; er setzt den Stecken zwischen die Steine und schwingt sich über ihn weg. Um ihn poltert der Donner zu Tal, als stürzten droben die Wände zusammen. Wenn ein Blitz niederfahrt, duckt sich der Bub wie unter einem Hieb.

Da läßt das Dunkel mit einmal nach, die Böden werden fahl. Er schaut zurück: die Wolken haben schwefelgelbe Bäuche, graugrüne Ränder, sie dehnen sich und verbreiten einen unheimlichen Schein.

Lienhard ist längst an der obersten Zirbe vorbei; er wagte nicht, unterzustehn, sie zieht den Blitz an. Doch weiß er einen riesigen Steinblock, der mit seinem oberen Teil überhängt. Die Alm erreicht er nicht mehr, bis das Wetter sich ausleert, der Stein ist guter Unterstand und nicht mehr weit. Schon erkennt er seinen grauen Kopf von oben, noch drei, vier Sprünge –

Da reißt der Himmel auseinander, von oben bis unten, mit einem einzigen Knall. Lienhard läßt den Stock fahren, streckt die Arme nach vorne aus, starrt in den Schein und schreit plötzlich wie von Sinnen:

»Mutter! Mutter! Bleib!«

Er sieht den Wagen voll Heu, den Vater daneben, sich selbst bei dem Zugtier vorn und die Mutter einen Augenblick lang in überirdischer Helle – dann nicht mehr. Aber zugleich bricht es furchtbar los: in schweren Güssen, die immer weißer, immer härter niederprasseln und zuletzt in dichten Hagelschüssen. Lienhard duckt sich unter den Vorsprung des Felsblocks, schreit noch einmal auf – und diesmal in irrsinnigem Schrecken – und flüchtet in die weiße Finsternis hinaus; er spürt die Eisbrocken nicht, die ihn auf Kopf und Schultern treffen, er fühlt nicht mehr die Angst vor den Blitzen, die aus dem rasenden Gestöber aufflammen; ein einziger tödlicher Schreck jagt ihn vorwärts, besinnungslos hinunter, Todesangst treibt ihn den Berg hinab, er kümmert sich nicht um das Vieh, er ist gehetzt, grauenhaft gehetzt, er rennt an der Alm vorbei, als kennte er sie nicht mehr, hinunter ins Tal, ohne stehenzubleiben, ins Dorf, zu seinem Bauern, in die Stube hinein – und auf der Bank, ganz im Winkel beim Ofen, bricht er zusammen.

.

Als ihn die Bäuerin trocknete und ins Bett brachte, fieberte er; die Zähne schlugen ihm aufeinander und Frost und Hitze schüttelten ihn, daß er nicht Rede zu stehn vermochte. Es warf ihn unter der Decke, und vor seinen Augen wurde es schwarz.

Er lag drei Tage in qualvollen Delirien. Immer wieder kam der große Stein auf ihn zu, und wenn er unter seinen Überhang sprang und den schwarzen Mann erblickte, begann der Fels, der Boden, der Berg sich zu drehn, und er mußte noch einmal den Sprung tun, bis er wieder den Mann sah; es fing hundertmal von vorne an. Erst wenn ihm der Schweiß ausbrach, fiel er in Schlaf.

Am vierten Tag hielt er den Blicken des Mannes stand, zitternd vor Angst und Schwäche. Es war dasselbe Gesicht wie damals, das schwarze Gesicht, das sich über ihn geneigt hatte, von Bart umwachsen, dieselben Augen, dasselbe Schweigen und – ganz zuletzt – dasselbe lautlose Lachen. Lienhard fiel besinnungslos in das Kissen zurück.


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