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Kapitel III.
Fernere Betrachtungen über die eingeborenen Grundsätze, sowohl die, welche die Theorie betreffen, als die, welche der Praxis angehören.

§ 3. Philal. Sie wollen die Wahrheiten auf die ersten Prinzipien zurückgeführt haben, und ich gestehe Ihnen zu, daß, wenn es überhaupt ein Prinzip gibt, ohne Widerrede der folgende Satz es ist: Ein Ding kann zur nämlichen Zeit unmöglich sein und nicht sein. Indessen scheint es schwierig zu behaupten, daß er eingeboren ist, da man dann zugleich überzeugt sein müßte, daß die Ideen der Unmöglichkeit und der Identität es sind.

Theoph. Freilich müssen die, die für die eingeborenen Wahrheiten sind, behaupten und überzeugt sein, daß auch diese Ideen eingeboren sind, und ich gestehe, ihrer Ansicht zu sein. Die Ideen des Seins, des Möglichen, des Selbigen sind so sehr eingeboren, daß sie in alle unsere Gedanken und Schlüsse eingehen, und ich betrachte sie als unserem Geiste wesentlich; aber ich habe schon gesagt, daß man ihnen nicht immer eine besondere Aufmerksamkeit schenkt und sie erst mit der Zeit unterscheiden lernt. Ich habe schon ausgesprochen, daß wir sozusagen uns selbst eingeboren sind, und daß, weil wir selbst sind, das Sein uns eingeboren ist: die Kenntnis, die wir von uns selbst besitzen, schließt die Kenntnis des Seins in sich. Etwas Ähnliches findet bei anderen allgemeinen Begriffen statt.

§ 4. Philal. Wenn die Idee der Identität natürlich und folglich so evident und dem Geiste so gegenwärtig ist, daß wir sie von der Wiege an kennen müßten, so möchte ich gern von einem Kinde von 7 Jahren, ja von einem Mann von 70 Jahren hören, ob ein Mensch, der ein aus Leib und Seele zusammengesetztes Geschöpf ist, derselbe bleibt, wenn sein Körper eine Veränderung erfahren hat, und ob, die Seelenwanderung vorausgesetzt, Euphorbus derselbe ist wie Pythagoras.

Theoph. Ich habe schon hinlänglich erklärt, daß das, was uns natürlich ist, uns darum nicht von der Wiege an bekannt zu sein braucht, und daß sogar eine Idee uns bekannt sein kann, ohne daß wir sogleich alle Fragen, die man daran knüpfen kann, zu beantworten imstande wären. Das wäre so, als wenn jemand behauptete, ein Kind könne nicht wissen, was das Quadrat und seine Diagonale sei, weil es Mühe haben wird, zu erkennen, daß die Diagonale mit der Seite des Quadrates inkommensurabel ist. Was die Frage selbst betrifft, so scheint sie mir durch die Monadenlehre, die ich' an anderer Stelle deutlich gemacht habe, beweiskräftig entschieden zu sein: wir werden in der Folge hiervon ausführlich sprechen.

Philal. Ich sehe wohl, daß es vergebens wäre, Ihnen einzuwenden, daß das Axiom: das Ganze ist größer als sein Teil, nicht eingeboren sein könne, weil die Ideen des Ganzen und des Teiles relativ und von denen der Zahl und der Ausdehnung abhängig sind; denn Sie werden sicherlich behaupten, daß es eingeborene Beziehungsvorstellungen gibt und daß auch die Ideen der Zahlen und der Ausdehnung eingeboren sind.

Theoph. Sie haben recht, und zudem glaube ich vielmehr, daß die Idee der Ausdehnung später ist als die des Ganzen und des Teiles.

§ 8. Philal. Was sagen Sie von der Wahrheit, daß Gott verehrt werden müsse? Ist sie eingeboren?

Theoph. Die Pflicht der Gottesverehrung enthält meiner Meinung nach, daß man, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, zeigen muß, daß man Gott mehr als jeden anderen Gegenstand ehrt: ein Gedanke, der eine notwendige Folge aus der Idee und dem Dasein Gottes, also in meiner Sprache eine eingeborene Wahrheit, ist.

Philal. Die Atheisten scheinen jedoch durch ihr Beispiel zu beweisen, daß die Idee Gottes nicht eingeboren ist. Und von denen nicht zu sprechen, deren die Alten erwähnt haben, hat man nicht ganze Völker entdeckt, die von Gott keine Idee hatten und auch keine Worte besaßen, um Gott oder die Seele zu bezeichnen, wie im soldanischen Meerbusen, in Brasilien, auf den karaibischen Inseln, in Paraguay?

Theoph. Der selige Fabricius, ein berühmter Heidelberger Theologe, hat eine Apologie des Menschengeschlechts geschrieben, um es von dem Vorwurfe des Atheismus zu reinigen Johann Ludwig Fabricius; das angeführte Buch erschien im Jahre 1662 (Sch.).. Es war das ein recht gründlicher Schriftsteller, der über viele Vorurteile weit erhaben war; doch will ich mich hier auf die Untersuchung des Tatbestandes selbst nicht einlassen. Mögen also immerhin ganze Völker niemals an das höchste Wesen, noch an das, was die Seele ist, gedacht haben. Ich erinnere mich, daß, als man auf meine von dem berühmten Witsen unterstützte Bitte in Holland für mich eine Übersetzung des Vaterunsers in der Sprache von Barantola anfertigen wollte, man bei der Stelle: Dein Name werde geheiligt, stecken blieb, weil man den Barantolern nicht begreiflich machen konnte, was »heilig« bedeuten solle. Auch erinnere ich mich, daß man in dem Glaubensbekenntnis, das man für die Hottentotten anfertigen ließ, gezwungen war, den heiligen Geist durch Worte auszudrücken, die in der Landessprache einen sanften und angenehmen Wind bezeichnen. Auch war dies ganz angemessen, denn unsere griechischen und lateinischen Worte πνεῦμα, anima, spiritus, bezeichnen gleichfalls ursprünglich nur die Luft oder den Wind, den man einatmet, als einen der feinsten durch die Sinne uns bekannten Stoffe; und man beginnt von den Sinnen, um die Menschen nach und nach zu dem, was über sie hinausliegt, zu führen. Indessen beweist diese ganze Schwierigkeit, zu abstrakten Erkenntnissen zu gelangen, nichts gegen die eingeborenen Erkenntnisse. Es gibt Völker, welche kein dem Sein entsprechendes Wort haben; zweifelt man nun daran, daß sie wissen, was das Sein ist, wenngleich sie den Gedanken des Seins losgelöst nicht zu fassen vermögen? Übrigens finde ich das, was ich bei unserem vortrefflichen Autor über die Idee Gottes gelesen habe, so schön und mir zusagend (Abh. über den Verstand B. I, c. 3, § 9), daß ich es anzuführen nicht umhin kann. Es lautet: » Die Menschen müssen wohl eine gewisse Idee von dem erhalten, wovon die, mit denen sie umgehen, sie unter gewissen Namen oft unterhalten, und wenn dies etwas ist, was die Idee der Erhabenheit und Größe in sich schließt oder irgendeiner außerordentlichen Eigenschaft, die das Interesse irgendwie erregt und sich dem Geiste unter der Idee einer absoluten und unwiderstehlichen Macht einprägt, die man zu fürchten nicht umhin kann (ich füge hinzu: und unter der Idee einer allergrößten Güte, die man zu lieben nicht umhin kann), so muß eine solche Idee allem Anschein nach den stärksten Eindruck machen und sich weiter als irgendeine andere verbreiten, zumal wenn es eine Idee ist, die sich mit den einfachsten Vernunft-Wahrheiten verträgt und die aus jedem Teile unserer Erkenntnis auf natürliche Weise folgt. Nun ist die Idee von Gott von dieser Art: denn die auffallendsten Zeichen einer außerordentlichen Weisheit und Macht erscheinen in allen Werken der Schöpfung so sichtlich, daß jedes vernünftige Geschöpf, welches sein Nachdenken darauf richtet, den Urheber aller dieser Wunder zu entdecken nicht verfehlen kann, und der Eindruck, welchen die Entdeckung eines solchen Wesens naturgemäß auf die Seele aller derer machen muß, die ein einziges Mal davon sprechen gehört haben, ist so groß und bringt Gedanken von so großem Gewicht und so allgemeiner Verbreitungsfähigkeit mit sich, daß es mir ganz sonderbar vorkommt, wenn sich auf der Erde ein ganzes Volk von so geistesarmen Menschen finden sollte, daß sie keinerlei Idee von Gott haben sollten. Dies, sage ich, scheint mir ebenso erstaunlich, als sich Menschen zu denken, die keine Vorstellung von den Zahlen oder dem Feuer haben.« Ich wünschte, daß es mir stets vergönnt wäre, manche vortreffliche Stellen unseres berühmten Autors, die wir übergehen müssen, Wort für Wort anzuführen. Ich will hier nur sagen, daß der Verfasser, wenn er von der Übereinstimmung der Gottesidee mit den einfachsten Vernunftwahrheiten und von ihren natürlichen Folgerungen spricht, sich von den eingeborenen Wahrheiten in meinem Sinne kaum zu entfernen scheint. Auf seine Bemerkung, daß es ihm ebenso sonderbar erscheine, daß es Menschen ohne eine Idee von Gott geben sollte, als es überraschend wäre, Menschen zu finden, die keine Vorstellung von den Zahlen oder dem Feuer haben, will ich darauf hinweisen, daß die Einwohner der marianischen Inseln (denen man den Namen der Königin von Spanien, welche die Mission dort begünstigte, gegeben hat), als man sie entdeckte, keine Kenntnis vom Feuer hatten, wie dies aus dem Bericht hervorgeht, den P. Gobien, ein französischer, mit der Sorge für die entfernten Missionen betrauter Jesuit, veröffentlicht und mir zugesandt hat.

§ 16. Philal. Dürfte man die Idee Gottes darum für eingeboren halten, weil alle verständigen Leute sie gehabt haben, so müßte auch die Tugend eingeboren sein, weil die verständigen Leute von ihr stets eine wahrhafte Idee gehabt haben.

Theoph. Nicht die Tugend, sondern die Idee der Tugend ist eingeboren, und vielleicht wollen Sie nur das sagen.

Philal. Daß es einen Gott gibt, ist ebenso gewiß, als es gewiß ist, daß, wenn zwei gerade Linien sich schneiden, die Scheitelwinkel einander gleich sind. Auch hat es niemals ein vernünftiges Geschöpf gegeben, das sich aufrichtig mit der Prüfung der Wahrheit dieser beiden Sätze beschäftigt hätte, ohne ihnen seine Zustimmung zu geben. Gleichwohl ist es außer Zweifel, daß es viele Menschen gibt, denen diese beiden Wahrheiten unbekannt sind, weil sie ihre Gedanken niemals auf sie gerichtet haben.

Theoph. Ich gebe es zu; doch hindert dies nicht, daß sie eingeboren sind, d. h. daß man sie in sich finden kann.

§ 18. Philal. Es würde auch ersprießlich sein, eine eingeborene Idee von der Substanz zu haben; aber es zeigt sich, daß wir sie weder als eingeboren, noch als erworben besitzen, da wir sie weder durch die Sinnlichkeit, noch aus der Reflexion haben.

Theoph. Ich bin der Meinung, daß die Reflexion hinreicht, um die Idee der Substanz in uns selbst, die wir ja Substanzen sind, zu finden. Und zwar ist dieser Begriff einer der wichtigsten. Wir werden aber vielleicht in der Folge unserer Unterredung noch weiter davon sprechen.

§20. Philal. Gibt es eingeborene Vorstellungen, die im Geiste sind, ohne daß der Geist tatsächlich an sie denkt, so müssen sie wenigstens im Gedächtnis sein, und aus ihm mit Hilfe der Wiedererinnerung gezogen werden, d. h. sie müssen, wenn man sich ihr Andenken zurückruft, als Bewußtseinsinhalte erkannt werden, die vordem in der Seele gewesen sind; sonst wäre die Wiedererinnerung keine Wiedererinnerung mehr. Denn eben diese innerlich vorhandene Überzeugung, daß die und die Vorstellung vordem in unserem Geiste gewesen ist, unterscheidet recht eigentlich die Wiedererinnerung von jeder anderen Art des Denkens.

Theoph. Um zu behaupten, daß bestimmte Erkenntnisse, Ideen oder Wahrheiten in unserem Geiste seien, ist es nicht notwendig, daß wir jemals wirklich an sie gedacht haben; es sind nur natürliche Fertigkeiten, d. h. aktive und passive Anlagen und Zustände, die mehr bedeuten als eine tabula rasa. Die Platoniker haben allerdings geglaubt, daß wir das, was wir in uns vorfinden, schon früher einmal gedacht haben müssen und zu ihrer Widerlegung genügt es nicht, zu sagen, daß wir uns nicht daran erinnern; denn es kehren uns sicherlich unendlich viele Gedanken ins Bewußtsein zurück, von denen wir völlig vergessen haben, daß wir sie je gehabt haben. Es ist vorgekommen, daß jemand einen neuen Vers zu machen geglaubt hat, während sich später herausstellte, daß er ihn vor langer Zeit Wort für Wort in irgendeinem alten Dichter gelesen hatte. Wir begreifen oft manche Dinge ungewöhnlich leicht, weil wir sie früher, ohne daß wir uns dessen erinnern, bereits begriffen hatten. So kommt es vor, daß ein erblindetes Kind vergißt, jemals das Licht und die Farben gesehen zu haben, wie es im Alter von 2½ Jahren durch die Blattern dem berühmten Ulrich Schönberg geschah, der, zu Weide in der Oberpfalz gebürtig, im Jahre 1649 zu Königsberg in Preußen starb, wo er die Philosophie und die mathematischen Wissenschaften zur allgemeinen Bewunderung gelehrt hatte. In einem solchen Falle kann es auch geschehen, daß die Wirkungen alter Eindrücke haften bleiben, ohne daß man sich ihrer erinnert. Ich glaube, daß auf diese Weise uns oft im Traume alte Gedanken wiederkehren. Als Julius Scaliger die berühmten Männer Veronas in Versen verherrlicht hatte, erschien ihm im Traum ein Mann, der sich Brugnolus nannte – von Geburt ein Bayer, aber später in Verona ansässig –, und beklagte sich, vergessen worden zu sein. Julius Scaliger erinnerte sich zwar nicht, von ihm vorher reden gehört zu haben, unterließ aber nicht, auf diesen Traum hin zu seiner Ehre elegische Verse zu machen. Endlich erfuhr sein Sohn Joseph Scaliger auf einer Reise durch Italien das Nähere; daß es nämlich ehemals zu Verona einen berühmten Grammatiker oder gelehrten Kritiker dieses Namens gegeben habe, der zur Renaissance der Wissenschaften in Italien beigetragen habe. Diese Geschichte findet sich, zugleich mit der Elegie, in den Gedichten des älteren Scaliger und in den Briefen des Sohnes. Auch ist sie in den Scaligerana, welche aus den Unterhaltungen des Joseph Scaliger gesammelt worden sind, mitgeteilt Scaligerana, Ausg. v. Cöln 1695, S. 69-71 sub. v. Bened. Brugnolus (Scb.).. Wahrscheinlich hatte Julius Scaliger von Brugnolus etwas gewußt, sich aber daran nicht mehr erinnert, und der Traum war zum Teil die Erneuerung einer alten Vorstellung, obgleich hier keine eigentliche Wiedererinnerung stattfand, in der man sich bewußt wird, die nämliche Idee schon einmal gehabt zu haben. Wenigstens sehe ich keine Notwendigkeit, anzunehmen, daß von einer Vorstellung keine Spuren zurückbleiben sollten, wenngleich diese nicht stark genug zu sein brauchen, um sich zu erinnern, daß man sie schon gehabt hat.

§ 24. Philal. Ich muß anerkennen, daß Sie den Schwierigkeiten, die wir gegen die eingeborenen Wahrheiten angeführt haben, auf recht natürliche Weise begegnen. Vielleicht bestreiten auch die Schriftsteller unserer Partei diese Wahrheiten nicht in dem Sinne, in welchem Sie sie behaupten. Ich wiederhole also nur, daß man doch wohl einigen Grund hat, zu befürchten, daß die Meinung von den eingeborenen Wahrheiten den Trägen zum Vorwand dienen werde, sich der Mühe der Untersuchung zu entschlagen, und daß auf Grund dieser Meinung Magister und Doktoren es sich bequem machen werden, indem sie es als Prinzip aller Prinzipien aufstellen werden, daß die Prinzipien nicht in Frage gestellt werden dürfen.

Theoph. Ich habe schon bemerkt, daß, wenn Ihre Freunde nichts anderes wollen, als daß man Beweise für alle Wahrheiten sucht, die solche zulassen, – ohne Unterschied, ob sie eingeboren sind oder nicht, – wir miteinander vollkommen einig sind. Die Annahme eingeborener Wahrheiten in der Weise, wie ich sie verstehe, darf niemand davon abwendig machen; denn abgesehen davon, daß man gut daran tut, die Ursache der Instinkte aufzusuchen, ist es für mich eine maßgebende Maxime, daß die Beweise auch der Axiome aufzusuchen wichtig ist. Ich erinnere mich, daß, als man sich zu Paris über den seligen Roberval, der damals schon alt war, lustig machte, weil er nach dem Beispiele des Apollonius und des Proclus die Grundsätze des Euklides beweisen wollte, ich den Nutzen dieser Untersuchung zeigte Näheres hierüber s. Buch IV, Cap. 7; vgl. auch Band I, S. 285.. Was das Prinzip betrifft, daß man gegen den, der die Prinzipien leugnet, nicht streiten dürfe, so gilt es ganz nur hinsichtlich derjenigen Prinzipien, die weder Zweifel noch Beweis zulassen. Allerdings kann man, um Ärgernis und Unordnungen zu vermeiden, Regeln für öffentliche Disputationen und andere Verhandlungen aufstellen, auf Grund deren es verboten ist, gewisse anerkannte Wahrheiten zum Gegenstand des Streites zu machen; aber das gehört mehr in das Gebiet der Polizei als der Philosophie.

 


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