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Einleitung.

I.

Leibniz' »Nouveaux Essais sur l'entendement humain« bilden innerhalb des literarischen Ganzen von Leibniz' Werken die Hauptquelle für die Kenntnis seiner Philosophie. An allgemeiner Verbreitung und an geschichtlicher Fortwirkung steht nur die Theodicee diesem Werke gleich: aber während in dieser der philosophische Gedanke überall durch äußere Rücksichten und durch die exoterische Form der Darstellung gebunden bleibt, scheint sich hier zum erstenmal der eigentlich esoterische Gehalt von Leibniz' Lehre frei und umfassend vor uns zu entfalten. Kein Gebiet von Leibniz' allumspannenden geistigen Bestrebungen ist außer acht geblieben; und alle ordnen sich dem einen beherrschenden Gesichtspunkt: der Frage nach dem Ursprung und der Gültigkeit unserer Erkenntnis unter. Wenn irgendwo, so muß es sich hier entscheiden, ob die Leibnizische Philosophie das wesentliche Ziel erreicht hat, das sie selbst sich von ihren ersten Anfängen an gestellt hat, – ob sie zur geschlossenen und vollendeten Einheit des Systems gereift ist.

In der Tat hat man, im Studium der Leibnizischen Philosophie, dem Werke von jeher diese Bedeutung beigemessen. Seit es – fast fünfzig Jahre nach Leibniz' Tode – in der Raspeschen Sammlung zuerst hervortrat Oeüvres philosophiques latines et françaises de feu Mr. Leibniz, tirées de ses manuscrits qui se conservent dans la bibliothèque Royale de Hannover et publiéés par R. E. Raspe, Amsterdam u. Leipzig 1765., hat es, weit über den Kreis der philosophischen Fachliteratur hinaus, in die allgemeine geistige Bewegung eingegriffen. Kein Geringerer als Lessing hat damals den Plan einer deutschen Übersetzung des Werkes gefaßt, die, wenn sie zustande gekommen wäre, unsere Literatur um ein klassisches Prosawerk bereichert hätte. In der Entwicklung des jungen Herder treten gleichfalls die Einwirkungen Leibnizischer Gedanken scharf und bedeutsam heraus. Auch die Philosophie Kants, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an einem ihrer kritischen Wendepunkte angelangt war, wird in der Richtung, die sie fortan nimmt, und in der Form, in welcher sie ihr neues Prinzip ausspricht, durch die »Neuen Versuche über den menschlichen Verstand« entscheidend bestimmt. Zum ersten Male schien hier die scholastische Hülle, mit der die Systematik Wolffs die Leibnizischen Kerngedanken umsponnen hatte, gesprengt und Leibniz selbst schien, freier und umfassender als je zuvor, zu seiner Zeit und seiner Nation zu sprechen. Und dieser Eindruck dauert bis heute fort. Die »Nouveaux Essais« pflegen für weitaus die meisten den Eingang in Leibniz' Gedankenwelt zu bezeichnen, – den Punkt, an dem diese Gedankenwelt sich am nächsten und unmittelbarsten mit den Problemen unserer eigenen philosophischen Gegenwart berührt.

Dennoch ist, im Ganzen von Leibniz' Lehre betrachtet, die systematische Stellung des Werkes eine andere, als sie ihm infolge der besonderen Bedingungen, unter denen Leibniz' Philosophie ihre geschichtliche Wirkung vollzog, gewöhnlich zugeschrieben worden ist. Schon äußerlich stellt sich das Werk als eine Gelegenheitsschrift dar, die rasch entworfen und durchgeführt wurde. »Ich habe diese Bemerkungen« – so berichtet Leibniz selbst – »in verlorenen Stunden aufgesetzt, wenn ich auf der Reise oder in Herrenhausen war, wo mir keine Muße zu andern Untersuchungen blieb, die größere Sorgfalt erfordert hätten.« In wenigen Wochen scheint auf diese Weise das Werk trotz seines gewaltigen Umfangs vollendet worden zu sein S. den Brief an Coste vom 16. Juni 1707 (Gerh. III, 392): »Das große Verdienst des Herrn Locke und die allgemeine Achtung, die sich sein Werk mit soviel Recht erworben hat, haben mich veranlaßt, einige Wochen darauf zu verwenden, Bemerkungen zu diesem wichtigen Werke zu machen, in der Hoffnung, sie Herrn Locke selbst mitteilen zu können. Sein Tod hat es jedoch verschuldet, daß meine Betrachtungen zurückgehalten worden sind, wenngleich sie zu ihrem Abschluß gelangt sind. Mein Ziel war mehr die Aufklärung der Probleme selbst als die Widerlegung der Meinungen eines andern.«. Dieser schnelle Abschluß wird nur dadurch verständlich, daß es sich hier für Leibniz nicht mehr um die Gewinnung neuer philosophischer Einsichten, sondern lediglich um die allseitige Darlegung und Ausbreitung eines bereits gesicherten Besitzes handelte. Der Aufbau seiner Philosophie ist vollzogen: jetzt soll an der Hand von Lockes Werk, das als äußerer Leitfaden willkommen geheißen wird, eine Probe ihrer Anwendung auf die Fülle der Einzelprobleme gegeben werden. Aber diese Anlehnung an die Form und Gliederung der Lockeschen Schrift führt freilich unvermerkt zugleich eine innere Bindung mit sich. Die Ordnung, in der die Probleme sich bei Locke folgen, entspricht seiner Grundanschauung von der Art ihrer sachlichen Abhängigkeit. Mit der Frage nach der Entstehung der Begriffe und Erkenntnisse wird begonnen, um zur Frage nach ihrer Geltung und nach den Grenzen ihrer Anwendung fortzuschreiten. Die psychologische Analyse trägt und stützt das logische System der Grundsätze des Wissens. Für Leibniz indessen gibt diese Abfolge, der er sich unter dem Zwange der fremden Vorlage anbequemte, nicht die innere Disposition seiner Gedanken wieder. Denn ihm bedeutet die genetische Psychologie nicht den Anfang und den Grundstein des Systems, sondern ein abgeleitetes und spätes Problem, das zu seiner Lösung die Prinzipien der Logik, wie der Metaphysik bereits voraussetzt. Insbesondere ist für ihn die Theorie des mathematischen Wissens und seiner Gegenstände von der Frage nach der Entstehung der Sinneswahrnehmung, nach der Regel ihrer zeitlichen Abfolge und ihrer assoziativen Verknüpfung völlig unabhängig: sie stellt ein selbständiges, in sich gegründetes Ganze dar, dessen Wahrheit von jener Seite her weder bewiesen, noch in Zweifel gestellt werden kann. »Die Frage nach dem Ursprung unserer Ideen und unserer Grundsätze« – so bemerkt er daher schon in einer seiner ersten Studien zu dem Werk Lockes – »gehört nicht zu den Vorfragen der Philosophie, und man muß schon große Fortschritte in dieser gemacht haben, um sie richtig aufzulösen.« Sur l'essai de l'entendement de Monsieur Lock (von Leibniz im März 1696 an Thomas Burnett gesandt) s. Gerh. V, 16. In der Tat setzen schon die ersten Einwände, die Leibniz Locke entgegenhält, setzt sein Gegensatz des Bewußten und Unbewußten, wie seine Darlegung des Verhältnisses der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis nichts Geringeres als die gesamte Monadenlehre voraus. Das System der Metaphysik ist für ihn auf den Prinzipien der Logik, der Mathematik, der Dynamik fest gegründet; als die letzte wesentliche Aufgabe bleibt übrig, der Psychologie innerhalb dieses Systems ihre Stelle und ihre sachliche Bedeutung zuzuweisen. Der neue Begriff der Individualität, des Lebens, des Bewußtseins steht bereits hinter den ersten einleitenden Betrachtungen der »Nouveaux Essais« und verleiht ihnen ihren eigentlichen Gehalt: und nur in der Kunst der didaktischen Darstellung und Entwicklung kann es den Anschein gewinnen, als werde in diesen Erörterungen dasjenige als Ziel gesucht, was schon als ihr Anfang feststeht.

Für die sachliche Erläuterung des Werkes ist damit der Weg klar vorgezeichnet. Sie kann in nichts anderem bestehen, als in der Umwandlung der latenten Voraussetzungen des Werkes in deutlich gewußte und bezeichnete. Wo Leibniz sich mit der Andeutung und dem Hinweis begnügt, da muß an Stelle dieses Hinweises die anschauliche und begriffliche Erfüllung treten. Hierfür aber bedarf es keines anderen Leitfadens und keines anderen Kommentars, als desjenigen, den Leibniz selbst in seinen Hauptschriften zur Logik, zur Naturphilosophie, zur Metaphysik gegeben hat. Im Plan unserer Ausgabe folgen daher die »Neuen Versuche« diesen Schriften nach. Den Zusammenhang mit ihnen aufzuweisen und beständig lebendig zu erhalten, ist das Hauptziel, das die folgenden erläuternden Anmerkungen sich stellen. Für alle Fragen, die den inneren Gehalt und den Aufbau des Systems selbst angehen, kann die vollständige Auslegung in Leibniz' eigenen Abhandlungen und Briefen gefordert und aufgezeigt werden. Aber neben dieser immanenten Beziehung, die ihnen in Leibniz' Lehre zukommt, weisen die Probleme der »Nouveaux Essais« auf einen umfassenden geschichtlichen Zusammenhang hin, von dem aus sie erst ihre volle Bestimmtheit empfangen. Diesen Zusammenhang und mit ihm die Hauptzüge der Entwicklung des Begriffs der Apriorität versuchen wir im folgenden im kurzen Umriß darzustellen.

II.

Der Ursprung des Aprioritätsgedankens in der Platonischen Ideenlehre weist sogleich auf jene eigentümliche Doppelheit des Sinnes hin, die ihm seither anhaftet und seine klare und eindeutige Erfassung hemmt. Die Forderung eines schlechthin gewissen, von der sinnlichen Wahrnehmung unabhängigen »Anfangs« der Erkenntnis wird von der logischen Sphäre in die zeitliche übertragen: was als »Prämisse« aller Erkenntnis selbständige, von nichts anderm ableitbare Gültigkeit besitzt, muß zugleich dem Bewußtsein in irgendeiner Form der »Präexistenz« gegeben sein. Immerhin ist die Ordnung, in welcher hierbei die beiden Fragen stehen, bei Platon selbst noch völlig unverkennbar. An »Würde und Alter« gehen die reinen intellektuellen Begriffe, wie der des Gleichen oder Geraden, des Schönen und Gerechten den Sinnendingen voran; aber von ihrer Würde wird auf ihr Alter, nicht umgekehrt, geschlossen. Von dem, was die Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis ihrem reinen Begriffe nach bedeuten und »sind«, geht Platon aus. »Da er von Jugend auf« – so lautet der bekannte Bericht des Aristoteles – »mit Kratylos und den herakliteischen Ansichten vertraut geworden war, daß alles Wahrnehmbare im beständigen Flusse sei und es von ihm kein Wissen gebe, so hielt er auch später hieran fest. Wie sich jedoch nun Sokrates mit den ethischen Gegenständen, nicht aber mit der Gesamtnatur, beschäftigte, in dieser aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf die Bestimmung des Begriffs richtete: so brachte dies Platon, der ihm folgte, zu der Überzeugung, daß die Definition sich auf etwas anderes, nicht aber auf die wahrnehmbaren Objekte beziehen müsse. Dieses nun nannte er die Ideen des Seienden, das Sinnliche aber sei neben diesem und werde insgesamt nach ihnen benannt: denn durch Teilnahme an den Ideen existiere die Vielheit des den Ideen Gleichnamigen« (Aristot. Metaphys. I, 6, 987 a). Der eigentliche Kern der Ideenlehre liegt somit, selbst nach Aristoteles, in der Unterscheidung des Erkenntnisgegenstandes vom Wahrnehmungsgegenstand. Die Objekte, von denen es strenges und eindeutiges Wissen gibt, die Objekte der reinen Geometrie und der reinen Zahlenlehre, bilden eine eigene Welt: denn ihnen eignet jene völlige Bestimmtheit und Wandellosigkeit, die den sinnlichen Inhalten schlechthin versagt ist. Der mathematische Begriff des Gleichen kann nicht von den gleichen Hölzern und Steinen entlehnt werden, weil kein sinnliches Beispiel diesen Begriff in der Reinheit und Strenge seiner Bedeutung erreicht und darstellt. Nur ein Bewußtsein, das diesen Begriff bereits besitzt, vermag ihn, in der Form des unvollkommenen Abbildes, innerhalb der Wahrnehmungswelt wiederzufinden. Jegliche Erkenntnis des Besonderen und Einzelnen bedeutet demnach lediglich die nähere Bestimmung eines schon vorhandenen Wissens vom Allgemeinen. Zwar kann kein derartiges Wissen anders als auf Veranlassung gegebener Wahrnehmungen in uns entstehen; ist es aber einmal entstanden, so begreifen wir es als unser »zuvor bestehendes« Eigentum, das wir nur mittelbar bei Gelegenheit der sinnlichen Daten in unsern Besitz gebracht haben. Und so sehr gehört dieser Besitz »unserer« Seele an, daß er zugleich umgekehrt das Eigene eben dieser Seele selbst, ihren ursprünglichen und spezifischen Inhalt, ausmacht. Die Seele gewinnt jetzt innerhalb der griechischen Philosophie eine neue Bedeutung: aus der Grundkraft des Lebens wandelt sie sich in die Grundform des Bewußtseins und der Erkenntnis Vgl. hierzu bes. Platons Phaedon p. 74-78..

Soweit diese neue Ansicht sich in der Lehre von der Präexistenz der Seele ausspricht, soweit gehört sie einer metaphysischen Richtung an, die außerhalb der Linie der »Nouveaux Essais« liegt; aber Leibniz selbst hat es ausgesprochen, daß die Platonische Theorie des Erkennens als »Wiedererinnerung« einen Gehalt in sich schließe, der unabhängig von diesem »Irrtum der Präexistenz« sich festhalten und weiterbilden lasse Discours de Métaphysique, § 26, s. Band II, S. 171 f.. In der Tat weist bereits der Platonische »Theaetet« auf eine derartige selbständige Fassung des Gedankens hin. Von den reinen Beziehungsbegriffen des Denkens: von den Begriffen des Seins und Nicht-Seins, der Gleichheit und Ungleichheit, des Selbigen und des Verschiedenen, des Einen und der Zahl wird auch hier ausgegangen. Der Beweis aber, daß diese Begriffe nicht der sinnlichen Wahrnehmung entnommen sein können, nimmt jetzt eine andere Wendung: wären sie es – so wird gefolgert –, so könnte jeder dieser Begriffe nur auf die bestimmte Klasse von Sinneninhalten, von der er abstammt, anwendbar, dagegen auf kein anderes Gebiet übertragbar sein. Jedes wahrnehmende körperliche Organ ist an eine dieser Klassen gebunden: wie dem Auge nur Licht und Farben, dem Ohr nur Töne zugänglich sind. Eben dies aber charakterisiert jene reinen Relationsbegriffe, daß sie sich kraft ihrer Grundbedeutung von dieser Einschränkung frei erhalten. »Zweiheit« oder »Verschiedenheit« sind Verhältnisse, die sich nicht nur von gleichartigen, sondern auch von völlig disparaten Qualitäten aussagen lassen: nicht nur die eine Farbe ist von der andern, sondern auch die Farbe vom Ton »verschieden«. Für diese Verknüpfungsbegriffe von allgemeiner übergreifender Bedeutung kann demnach kein einzelner »Sinn« mehr namhaft genannt werden, sondern die Seele schlechthin ist es, die sie ohne Hilfe eines besonderen Organs rein durch sich selbst erfaßt: αὐτὴ δἰ αὑτῆς ἡ ψυχὴ τὰ κοινά μοι γαίνεται περὶ πάντων ἐπισκοπεῖν (Theaetet 185 D). In dieser Bestimmung der Seele als der Grundkraft für die reinen Formen des Einen und Vielen, des Identischen und des Anderen, liegt der geschichtliche Kern für jenen Begriff des »intellectus ipse«, den Leibniz an die Spitze seiner Betrachtungen stellt.

Aber wenngleich Leibniz hier, über die Jahrhunderte hinweg, unmittelbar wieder an Platon anknüpft – den Theaetet hat er eingehend studiert und in einem ausführlichen, alle philosophischen Hauptpunkte berührenden Auszug ins Lateinische übertragen Diese Übersetzung ist herausgegeben worden von Foucher de Careil, Nouvelles lettres et opuscules inédits de Leibniz, Paris 1857, S. 98 ff. –, so ist doch die besondere Gestaltung seiner Lehre nur verständlich, wenn man zugleich den eigentümlichen Weg der geschichtlichen Vermittlung der Platonischen Gedanken betrachtet. Bei Aristoteles bereits scheint jene spezifische Geltung, die Platon für die reinen Relationsbegriffe in Anspruch nahm, beseitigt. An die Stelle der Platonischen logischen Sonderung ist eine genetisch-psychologische Entwicklung getreten, die sich bemüht, alle seelischen Gebilde dadurch auf eine gemeinsame Einheit zurückzuführen, daß sie sie in stetigem zeitlichen Übergang auseinander hervorgehen läßt. Die Empfindung wird hierbei wiederum das Grundelement, aus dem sich in kontinuierlicher Stufenfolge das Gedächtnis (μνήμη), die Vorstellung (φανταςία) und weiterhin die »Vernunft«, als theoretische und praktische Vernunft, entwickeln. Aber wenn es hiernach scheinen könnte, als solle die selbständige Bedeutung des »Allgemeinen« in der Erkenntnis überhaupt verneint werden, so zeigt die nähere Betrachtung das Irrige dieser Auffassung, die von dem modernen Sensualismus bisweilen in Aristoteles hineingedeutet worden ist. Aristoteles' Erkenntnislehre ist durchaus abhängig von den Prinzipien seiner Metaphysik, die selbst wieder von dem Platonischen Gegensatz zwischen »Form« und »Materie« beherrscht wird. Nur darin besteht die freilich entscheidende Differenz: daß Aristoteles dasjenige, was Platon als einen Gegensatz innerhalb der Erkenntnis entdeckt, als einen fertigen Gegensatz in den Dingen voraussetzt. Die Objekte selbst, die sich in der Erkenntnis dem Bewußtsein mitteilen, sind aus Form und Stoff, und somit aus einem »Allgemeinen« und einem »Besonderen« zusammengesetzt. Und eben darin besteht der Weg des Wissens, diese beiden Faktoren rein voneinander abzulösen: das »Wesen« der Dinge frei von den zufälligen individuellen Bestimmtheiten zu gewinnen. Auf diesem Wege geht die Empfindung dem Begriff voran; aber sie kann es nur, weil in ihr bereits jenes Allgemeine »angelegt« ist, das im Begriff nur zur vollen Entfaltung und »Wirklichkeit« gelangt. Schon die einfache Sinneswahrnehmung ist daher nicht lediglich die Wiederholung des äußeren Dinges in der Seele. Die Scheidung von »Form« und »Stoff« nimmt bereits in ihr ihren Anfang: in der Empfindung wird die Form der Dinge ohne deren Materie erfaßt, wie das Wachs den Abdruck des Siegelrings, nicht aber das Erz oder Gold in sich aufnimmt. Indem dieser Prozeß in den höheren Erkenntnisstufen seinen Fortgang nimmt, wird dadurch eine immer größere Sublimierung des anfänglichen Empfindungsinhalts erreicht, bis schließlich auf der obersten Stufe das rein Allgemeine, das den Begriff und Wesenheit der Dinge ausmacht, für sich selbst und losgelöst heraustritt. Auch in diesem System hat somit die Metapher, daß die Dinge ihre Schriftzeichen der Seele wie einer unbeschriebenen Tafel eindrücken, nur bedingte und eingeschränkte Geltung Vgl. unten S. 3 Anm. 3. Denn in seiner höchsten Verwirklichung tritt auch hier der Intellekt als rein aktiver »leidenloser« Geist, als νοῦς ἀπαθἠς, hervor. Von der Bedingtheit durch das körperliche Sein und von der Verwicklung in das organische Naturgeschehen gelöst, erfaßt er in seiner Absonderung die reinen intelligiblen Objekte, – die nicht weiter ableitbaren Grundbegriffe, auf denen jede vermittelte logische und wissenschaftliche Erkenntnis beruht. Indessen ist freilich damit, innerhalb des Aristotelischen Systems selbst, jene Kontinuität, auf die es in erster Linie ausging, durchbrochen. »Von außen her« (θὐραθεν) muß nun als ein Göttliches und Unbedingtes jener höchste und rein tätige »Teil der Seele« zu den anderen Seelenkräften hinzutreten. Die Aristotelische Psychologie und Erkenntnislehre wird damit mit einem Gegensatz und einem Widerspruch behaftet, den sie in dem langen Zeitraum ihrer Entwicklung, vom Altertum durch das Mittelalter hindurch bis zur Frührenaissance, niemals wahrhaft geschlichtet hat. Vom Standpunkt des Aristotelismus bleibt zuletzt nichts übrig, als zwischen der Selbsttätigkeit und der Einheit der Seele zu wählen, entweder das eine oder das andere der beiden Momente aufzuopfern. Der Streit der Auslegungen, die einerseits an Averroës, andererseits an Alexander von Aphrodisias anknüpfen, wird dadurch verständlich; zugleich aber begreift man, daß die neuere Zeit, nach all der ungeheueren Arbeit, die das Mittelalter hier geleistet hatte, die Aristotelische Entscheidung doch nur als die Wiederholung des alten Rätsels, nicht als ihre Lösung anzusehen vermochte.

Aus den Subtilitäten der Dialektik und Metaphysik stellt die Stoa die Frage wieder in das Gebiet der unmittelbaren praktischen Lebensbetätigung und Lebensweisheit hinein. Grundbegriffe der Erkenntnis werden hier vor allem darum gefordert und angenommen, damit feste, für alle Subjekte bindende Normen des Handelns aus ihnen abgeleitet werden können. Demgemäß verschiebt sich hier die Frage von der Allgemein gültigkeit der Erkenntnisse als eines objektiven logischen Wertes in die Allgemeinheit von Begriffen und Grundsätzen, die in jedem denkenden Individuum anzunehmen sind. Streng genommen aber ist es nur die allgemeine »Natur der Dinge«, die sich in diesem allgemeinen Besitz der Seele ausdrückt. Die stoischen κοιναὶ ἔννοιαι entstammen nicht der ursprünglichen Spontaneität des Bewußtseins, sondern sind ein Produkt der Außenwelt, das sich regelmäßig und gleichmäßig ohne einen besonderen Akt der Reflexion »absichtslos« in jedem denkenden Individuum bildet. Der »consensus gentium« ist in der gleichartigen Reaktion der empfindenden und denkenden Subjekte auf die gleichfalls in all ihren Teilen gleichförmige Ordnung der Natur gegründet. Eine neue Wendung erhält der stoische Gedanke indes, indem der moderne Rationalismus ihn ergreift und für seinen Grundgedanken der Autonomie der Vernunft geltend macht Näheres bei Dilthey, Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert. Archiv für Geschichte der Philosophie. Band VII.. Jetzt stehen die »eingeborenen« Begriffe nicht mehr für das überall in gleicher Weise Erzeugte, sondern für den konstanten Grund der Erzeugung selbst. Aller geistige, insbesondere aller religiöse und sittliche Inhalt weist in aller Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen auf ein derartiges Prinzip seiner Einheit, auf eine unveränderliche und unversiegbare Quelle im Bewußtsein hin. Diese Fassung des stoischen Gedankens spricht sich insbesondere in Herbert von Cherburys Werk »De veritate« aus, das auch Locke zur Grundlage für seine Kritik genommen hatte. Die universellen Wahrheiten sind kein Ergebnis der Erfahrung – denn Erfahrung selbst muß sie beständig bereits voraussetzen und könnte ohne sie nicht einen Schritt vorwärts gelangen –, sondern ein Ergebnis des allgemeinen Triebes der Vernunft, der jedem denkenden Wesen als solchem an- und eingeboren ist. »Was du mit dir selbst an die Objekte heranbringst, das ist die väterliche Mitgift der Natur und das Wissen des natürlichen Instinktes. Von ihm stammen die Kennzeichen, an denen wir das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen unterscheiden.« Jede wahrhafte Allgemeingültigkeit, jede »Katholizität« im religiösen, wie im sittlichen und logischen Sinne muß auf diese Wurzel zurückgehen. Mit diesem Gedanken steht Herbert von Cherbury an der Schwelle jener Entwicklungen, mit denen die »Nouveaux Essais« einsetzen: was den letzteren jedoch eine erweiterte und vertiefte Bedeutung gibt, ist dies, daß sie zugleich von dem Geist der modernen Naturwissenschaft erfüllt sind, von dem Herbert noch kaum berührt ist.

Denn auch in ihr war, so sehr sie für die reine Erfahrung gegen die scholastische Tradition eintrat, der Platonische Gedanke zu neuem Leben erwacht. Galilei und Kepler stimmen in der Grundansicht überein, daß der Geist die Kenntnis der notwendigen Beziehungen, die sich immer auf die gleiche Weise verhalten müssen, rein »aus sich selbst« schöpfe: zu den Objekten aber, in denen derartige Beziehungen sich feststellen lassen, gehören fortan nicht nur die Figuren und Zahlen, sondern auch die einfachen Bewegungen und deren Zusammensetzungen. Das philosophische Fundament der neuen Wissenschaft der Mechanik aber hat erst Descartes geschaffen. Ausdehnung, Gestalt und Bewegung erscheinen jetzt als die eingeborenen Ideen, vermöge deren der Geist das Ganze der sinnlichen Eindrücke ordnet und sich somit den Begriff der äußeren Welt aufbaut. Sie sind die Modelle, nach deren Muster alle unsere Kenntnis von Einzeldingen sich gestaltet; das konstante Schema, in welches wir alle besonderen Erfahrungen einzeichnen müssen. Aber freilich offenbart der Geist, eben in diesen seinen dauernden und unwandelbaren Grundbestimmungen, metaphysisch betrachtet nicht sowohl seine eigene Natur, als die unendliche Natur seines Urhebers. Die eingeborenen Ideen von Zahl und Größe, von Zeit und Dauer, von Bewußtsein und Denken sind das Siegel seines göttlichen Ursprungs: »la marque de l'ouvrier empreinte sur son ouvrage«. Wiederum wird damit das gesamte Ergebnis der logischen Analyse an ein Transzendentes angeknüpft, um erst in ihm seine letzte Rechtfertigung und Begründung zu finden. Damit aber ist nunmehr zugleich die doppelte Aufgabe bezeichnet, vor die sich Leibniz gestellt sah. Es galt, den Begriff des Geistes derart zu bestimmen, daß er den gesamten Inhalt dessen, was bisher als »eingeborene Wahrheit« im theoretischen oder ethischen Sinne bezeichnet worden war, in sich zu fassen vermochte, und daß er andererseits diesen Inhalt in reiner Selbsttätigkeit aus sich hervorgehen ließ. Die Gesichtspunkte der Notwendigkeit und der Freiheit schließen sich hier in eins zusammen: das Notwendige selbst muß, als das Notwendige des Begriffs, aus der Spontaneität des Geistes ableitbar und verständlich sein. –

Vor allem aber weitet sich jetzt der Umkreis dessen, was dem »reinen Verstande« zugehört, durch den Blick auf jene allgemeine Formenlehre, die Leibniz zuerst als die eigentliche moderne Aufgabe der Philosophie, als das Ziel der »Scientia universalis« ins Auge gefaßt hat. Stellt man insbesondere das Platonische und das Leibnizische Kategoriesystem einander gegenüber, so sieht man, welch gewaltige Ausdehnung das letztere dadurch erhalten hat, daß es die Begriffe des Raumes und der Zeit in sich aufgenommen hat. Der Raum, der nach Platon für uns nur durch eine Art »unebenbürtigen Vernunftschlusses« (λογισμὸς νόθος) entsteht, ist jetzt ganz auf die Seite der reinen intellektuellen Grundbegriffe hinübergetreten. Als Quell und Ursprung distinkter mathematischer Erkenntnisse stellt er nicht sowohl ein absolutes existierendes Ding, als vielmehr ein allgemeinstes Prinzip der Ordnung dar, das der »Vernunft«, als dem obersten Gattungsausdruck der Ordnung überhaupt, untersteht und ihr völlig durchsichtig ist S. Buch II, Cap. 5 der »Nouveaux Essais«; vgl. aus den Schriften zur Metaphysik, Hauptschriften Band II, S. 98 f., 351 f., 357 f., 401.). So tritt jetzt in den Entwurf des Systems der reinen Verstandesbegriffe, den schon die Vorrede zu den »Nouveaux Essais« enthält, neben den Begriff des Seins und der Einheit der Begriff der Substanz und der Dauer, der Begriff der Tätigkeit und der Veränderung. Es ist freilich zugleich eine neue ungeheure Beweislast, die der Intellektualismus damit gegenüber den empirischen Einwänden auf sich nimmt. Denn nicht das Gebiet der reinen Ideen, sondern die Erfahrung selbst – das Sein und die Veränderung der Dinge in Raum und Zeit – ist es, was er jetzt in Anspruch nimmt und woran er seine These durchzuführen sucht. Hat es einen Sinn, die ursprüngliche, nur durch sich selbst bestimmte Aktivität der »Seele« bis in dieses Gebiet erstrecken zu wollen oder muß hier nicht von Anfang an der Begriff des »Eingeborenen« der Kritik und dem Spott des Sensualismus weichen?

Die Paradoxie, die sich hier ergibt, wird von Leibniz gelöst, indem er sie bewußt und methodisch steigert. Den nächsten, auch von Locke immer wieder und wieder erhobenen Einwand zwar, daß das Bewußtsein der reinen Begriffe sich nicht anders als an der Wahrnehmung einstellen und entwickeln könne, vermag er kurz als eine ignoratio elenchi, als eine Verkennung der eigentlichen Streitfrage, abzuweisen. Hier war die Entscheidung, die alle weiteren Diskussionen in dieser Richtung hätte abschneiden sollen, schon bei Platon in voller Klarheit erfolgt: es ist nicht möglich, zu denken, außer aus irgendeiner Sinneswahrnehmung heraus (μὴ δυνατον είναι ἐννοῆσαι ἤ ἐκ τοῦ ἰδεῖν ἢ ἔκ τινος ἄλλης τῶν αἰσθήσεων Phaedon 75 A). Für Leibniz insbesondere steht es fest, daß die Art, wie wir in der Entwicklung unseres Bewußtseins zur Kenntnis eines bestimmten Subjektsbegriffes gelangen, mit der Qualität und Bedeutung des Urteils, in welches dieser Begriff eingeht, nichts zu tun hat. Welcher Rang diesem Urteil zukommt, ob es als eine notwendige oder zufällige, eine Vernunft- oder Tatsachenwahrheit anzusehen ist, hängt vielmehr lediglich davon ab, ob die logische Analyse seiner Bestandteile das »Enthaltensein des Prädikats im Subjekt« nach einer endlichen Anzahl von Denkschritten feststellen kann oder nicht. Das Urteil ist, gleichviel welcher Art die psychologische Herkunft und Entstehung des Subjektsbegriffs sein mag, rational, wenn die Beziehung, die es aussagt, sich durch bestimmte logische Umformungen auf ein reines Verhältnis »distinkter« Begriffe zurückführen läßt Näheres in den »Meditationes de cognitione veritate et ideis« Hauptschr. Band I, S. 22 ff., vgl. Hauptschr. II, 500 ff.. Auch die Frage, wie weit sich das »Eingeborene«, wie weit sich die ursprüngliche Selbsttätigkeit des Bewußtseins in unserer Erkenntnis erstrecke, kann daher nur auf diesem Wege gelöst werden. Nicht darauf kommt es an, welche Elemente der Erkenntnis als erste gewußt, sondern welche Elemente durch die anderen bestimmt und begründet werden: dieses Erste der Begründung ist es, was als die eigentliche Sphäre des »Eingeborenen« abgegrenzt wird.

Nun aber ergibt sich, wenn man die besonderen Bedingungen des Leibnizischen Systems betrachtet, ein Problem, das in dieser Schärfe weder für Platon, noch für die Stoa, weder für Descartes, noch für die Begründer der modernen Wissenschaft sich fühlbar machen konnte. Wie immer die »eingeborenen« Begriffe und Grundsätze näher bestimmt werden mögen: in jedem Falle stellen sie ein »Allgemeines« dar, einen Inbegriff universeller Gesetze. Der Charakter des Wirklichen aber liegt, nach dem Grundprinzip, das Leibniz' Metaphysik innerhalb der neueren Philosophie zuerst in voller Klarheit ausspricht und durchführt, in seiner durchgängigen Individualität. Leibniz ist Platoniker in der Bestimmung des Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffs; aber er scheint Aristoteliker in der Bestimmung des Seins-, des Substanzbegriffs zu sein. Liegt indessen nicht gerade in dieser scheinbaren Angleichung und »Versöhnung« des Entgegengesetzten die tiefste Schwierigkeit noch ungelöst vor uns?

Der Rationalismus Descartes' hatte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Sein, zwischen dem Allgemeinen und Besonderen dadurch beantwortet, daß er den Gegenstand der Natur selbst in ein mathematisch Allgemeines auflöste. Der konkrete Körper der Physik ist nichts anderes als reine geometrische Ausdehnung: alle anderen Eigenschaften, die wir ihm in der sinnlichen Wahrnehmung zusprechen, fallen in der wissenschaftlichen Erkenntnis als bloß zufällige Beschaffenheiten, die nicht ihn selbst, sondern lediglich das empfindende Subjekt angehen, von ihm ab. Jetzt ist mit einem Schlage die volle Übereinstimmung zwischen der Welt der eingeborenen Ideen und der Welt des physischen Daseins erreicht: die reinen mathematischen Ideen besitzen in der »substantia extensa«, in der durchaus gleichartigen »Materie« der Physik ein objektives Substrat und ein genaues Gegenbild. Für Leibniz jedoch ist diese Harmonie zerstört. Denn wenn der reine mathematische Raum durch seine völlige Gleichförmigkeit, so ist die Materie durch ihre durchgängige Ungleichartigkeit charakterisiert. Hier im wirklichen Sein und Geschehen gibt es nicht zwei Elemente, die einander vollkommen ähnlich, nicht zwei Bewegungen, die in allen Einzelphasen einander identisch sind. »Gleiche Teile« gibt es nur in der Abstraktion, die von bestimmten unterscheidenden Momenten willkürlich absehen darf; nicht in der Wirklichkeit, deren Besonderung ins Unendliche geht Näheres hierüber z. B., Band II, S. 144 f.; I, 145 f., 174.. Wie aber vereinigt sich nun jene unbegrenzte Mannigfaltigkeit des Wirklichen mit der Forderung der Einheit, die in unserm Verstande liegt; wie vermag die Allgemeinheit von Regeln und Gesetzen das Individuelle zu ergreifen, in dem das »Sein« ursprünglich und eigentlich besteht? Jede »Hypostasierung« der Allgemeinbegriffe, jede Begründung derselben in einem absoluten Dasein, das ihnen entspricht und »ähnlich« ist, muß jetzt abgewehrt werden. Der mathematische Realismus Descartes, wie der scholastische Realismus des Mittelalters werden von Leibniz mit gleicher Bestimmtheit zurückgewiesen. Seit seiner Erstlingsschrift über das »Prinzip des Individuums« steht er, wenn man den mittelalterlichen Gegensatz festhält, auf dem Boden des »Nominalismus«. Jetzt entsteht für ihn die Aufgabe, diesen Standpunkt innerhalb der Philosophie der Wirklichkeit festzuhalten und dennoch die scheinbare Konsequenz desselben innerhalb der Philosophie der Erkenntnis: die Verflüchtigung der allgemeinen Begriffe zu bloßen »Wortwesen« zu vermeiden. Die Lösung dieser Doppelaufgabe ist es, die dem System der prästabilierten Harmonie obliegt.

Denn von allen »Dualismen«, die der Harmoniebegriff zu bewältigen hat, ist die Gegensätzlichkeit, die sich hier in der Gegenüberstellung von »Wahrheit« und »Wirklichkeit« ergibt, der schwerste und härteste. In der Tat kann das Problem, das in diesem Dualismus liegt, nur allmählich und schrittweise durch mannigfache begriffliche Mittelglieder hindurch seiner Lösung entgegengeführt werden. Zunächst handelt es sich darum, innerhalb der Erkenntnis selbst, den Gegensatz des »Außen und »Innen«, des »Empirischen« und »Rationalen« einer neuen tieferen Prüfung zu unterziehen. Der Standpunkt, den Leibniz hier zu Beginn der »Neuen Versuche« einnimmt, ist durch die Fragestellung Lockes, die er anfangs noch ohne Einschränkung hinnimmt, mitbestimmt. Die Inhalte der Empfindung sind danach das schlechthin von außen Gewirkte, – sind der Abdruck, den die Welt der Dinge in unserem Bewußtsein hinterläßt. Diese Inhalte sind somit der Kritik Lockes ohne weiteres zu überlassen und preiszugeben. Es gibt – so scheint es – einen bestimmten Bezirk, in welchem sich das Bewußtsein rein passiv als eine Nachahmung des äußerlich Gegebenen verhält, während es in einem anderen Gebiet, in der Erzeugung der reinen Form- und Verhältnisbegriffe allerdings eine eigene schöpferische Tätigkeit entfaltet. Aber diese Entscheidung, die der scharfen Alternative mit einem bloßen »Sowohl – als auch« auszuweichen sucht, ist für Leibniz selbst nicht die letzte und endgültige. Nach der Strenge der monadologischen Grundanschauung ist jedwede Rede von der Einwirkung des Äußeren auf das Innere überhaupt zu beseitigen. Diese Rede mag immerhin im populären Sprachgebrauch auch fernerhin geduldet werden; aber es gilt einzusehen, daß sie eine bloße Metapher ist, wie denn auch ein Anhänger des Copernikanischen Systems fortfahren wird, vom Auf- und Untergang der Sonne zu sprechen. In Wahrheit aber kann kein Inhalt, er sei welcher Art er wolle, »von außen« in die Monade hineingetragen werden. Das Bewußtsein ist schöpferisch nicht nur in bezug auf diese oder jene Sonderklasse seiner Inhalte, sondern schlechthin in bezug auf die Allheit dessen, was in ihm stattfindet. Die Bestimmungen der Empfindung und die reinen Formbegriffe unterscheiden sich daher zwar in gewissen logischen Charakteren und Geltungsmomenten – und dieser Unterschied läßt sich durch die allgemeine »Analyse« rein am Inhalt des Bewußtseins selbst aufzeigen –, aber sie stimmen in ihrem metaphysischen Ursprung überein. Die individuelle Substanz entwickelt rein aus ihrem eigenen Grunde die Gesamtheit der ihr zugehörigen Phänomene nach einem bestimmten Gesetz Näheres in den Schriften zur Metaphysik, insbes. Band II, 154 ff., 193 ff., 267, 292, 336, 436.. In dieser Entwicklung entsteht ihr der Begriff einer Natur und einer festen Naturordnung: aber was wir so die »Natur der Dinge« nennen, ist im Grunde »nichts anderes als die Natur unseres Geistes und jener eingeborenen Ideen, die man nicht draußen zu suchen braucht« S. unten S. 53; vgl. Band II, S. 88 f.. Eine oberflächliche Betrachtung führt uns zu dem Glauben, »daß alles, was wir denken, von außen stammt und sich in der Leere unseres Geistes wie auf einer unbeschriebenen Tafel eindrückt; eine tiefere Besinnung lehrt uns jedoch, daß alles, selbst die Wahrnehmungen und Affekte, uns aus unserem eigenen Grunde mit einer vollkommenen Selbsttätigkeit entstehen« Theodicee, Teil III (§ 296)..

Wenn somit jede Einzelsubstanz das Ganze ihres Inhalts nach einem besonderen Gesetz hervorbringt, und wenn eben diese Besonderung der Erzeugungsregel dasjenige ist, was ihre Individualität ausmacht, so tritt an die Stelle des physischen Einflusses zwischen den Substanzen der ideale Zusammenhang zwischen diesen Einzelregeln. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, kann man von einem einfachen mathematischen Beispiel ausgehen. Denkt man sich die Gesamtheit der Kurven zweiter Ordnung durch eine allgemeine Formel bezeichnet, so erhält man, indem man in dieser Formel eine bestimmte Größe variabel setzt und sie stetig alle Werte zwischen gewissen Grenzen durchlaufen läßt, einen Inbegriff einzelner analytischer Ausdrücke, deren jeder eine bestimmte Einzelgestalt bezeichnet. Jede dieser Einzelgestalten unterscheidet sich von der andern durch den besonderen Wert des Parameters, der ihr zukommt; aber jede ist andererseits mit allen anderen verknüpft, sofern in ihnen allen die Struktur der Grundgleichung fortbesteht. Die Individualität der Einzelfälle hebt das allgemeine Grundgesetz nicht auf; denn sie ist nur innerhalb dieses Grundgesetzes überhaupt setzbar und möglich. Auf analoge Weise erscheint die allgemeine »Weltformel« in jeder einzelnen Monade als erhalten und als differenziert, als identisch und als abgewandelt. Und auch das Moment, nach dem die Abwandlung sich vollzieht, läßt sich genau bezeichnen: es besteht in dem Grade der »Deutlichkeit« der Vorstellungen der Monaden, der sich von einer zur andern in stetigem Übergang verändert. Es ist ein und derselbe Gehalt, Ein Universum von Phänomenen, das in jedem besonderen Subjekt in unendlich mannigfaltigen Stufen der Entfaltung und »Auswickelung« sich darstellt. Und von diesem allgemein metaphysischen Hintergrund aus erscheint nun auch das Verhältnis des »empirischen« und des »rationalen« Wissens, des Wissens von der Regel und von den Beispielen in hellerem Licht. Kein Besonderes kann sich so weit von der universellen Ordnung entfernen, daß nicht die Grundregel des Alls in ihm durchscheint und widerstrahlt; kein Allgemeines sich anders, als in der Totalität des Besonderen offenbaren. Jedes Erfahrungsurteil verdankt seine Gültigkeit einer allgemeinen, ihm zugrunde liegenden »Maxime«, die in ihm nur für einen bestimmten Einzelfall ausgedrückt erscheint; jedes Urteil, das ein Verhältnis seiner intellektuellen Begriffe aussagt, weist auf eine konkrete Sphäre von Tatsachen hin, in der es sich vollständig erfüllt. Die beiden Momente, die anfangs nur an verschiedene Gebiete des Bewußtseins und des Wissens verteilt erschienen, durchdringen sich nunmehr wechselweise in jedem seiner Inhalte. Und damit erst ist die eigentümliche Leibnizische Lösung des ursprünglichen Konflikts erreicht: die Allgemeinheit, die vom Wissensbegriff her, und die Individualität, die vom Seinsbegriff her gefordert wurde, schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig. Denn jede echte Allgemeinheit ist Unendlichkeit, ist somit Besonderung, die sich ins Unbegrenzte erstreckt und fortsetzt. »Les règles du fini réussissent dans l'infini et vice versa les règles de l'infini réussissent dans le fini.« »Wenngleich es daher in der Natur niemals vollkommen gleichförmige Veränderungen gibt, wie sie in der Idee, die die Mathematiker uns von der Bewegung geben, gefordert werden, so wenig, wie jemals eine wirklich existierende Figur in aller Strenge die Eigenschaften besitzt, die die Geometrie uns lehrt, so sind doch nichtsdestoweniger die tatsächlichen Phänomene der Natur derart geregelt und müssen es in der Weise sein, daß kein wirklicher Vorgang jemals das Gesetz der Kontinuität und alle die anderen exaktesten Regeln der Mathematik verletzt. Weit entfernt hiervon können vielmehr die Dinge nur durch diese Regeln verständlich gemacht werden, welche im Verein mit denen der Harmonie oder Vollkommenheit, die die echte Metaphysik uns liefert, allein imstande sind, uns in die Gründe und Absichten des Urhebers der Dinge einen Einblick tun zu lassen. Obgleich demnach die mathematischen Betrachtungen ideal sind, so mindert dies doch ihren Nutzen nicht im geringsten, weil die tatsächlichen Dinge sich nicht von den Regeln der Mathematik entfernen können; ja man kann sagen, daß hierin die Realität der Phänomene besteht, durch die sie sich von den Träumen unterscheiden.« S. Band I, S. 99 f., Band II, 401 ff.; zum Ganzen vgl. die Einleitung zu den Schriften zur Metaphysik, Band II, 108 ff.

Freilich tritt jetzt unverkennbar hervor, wie sich Locke und Leibniz schon in ihrem ersten Ansatz des Problems der Erkenntnis, schon in ihrer Definition des Begriffs der Wahrheit selbst grundsätzlich unterscheiden. Alle gefügige Anbequemung Leibnizens, der in dem Bemühen, der Diskussion jede persönliche Schärfe zu nehmen, bisweilen selbst die prinzipielle Schärfe und Klarheit in Gefahr bringt, vermag zuletzt hierüber nicht hinwegzutäuschen. Denn für Locke ist der Ausgangspunkt, der ihm in seiner Analyse der Erkenntnis feststeht, die Welt der physischen Dinge selbst. Daß es räumlich-zeitliche, kausal miteinander verbundene Objekte gibt und daß diese durch die Einwirkung, die sie auf unsere körperlichen Organe ausüben, bestimmte Empfindungen in uns entstehen lassen: das ist die Prämisse, die er durchgehend festhält und an der auch die Erörterungen des vierten Buches über die Gültigkeitsart der sinnlichen Gewißheit keine einschneidende, prinzipielle Kritik versuchen. Diese allgemeine Struktur der Dinge gilt von Anfang an als ein fraglos Gegebenes: und nur dies, wie die Dinge zu ihrer Spiegelung im individuellen Bewußtsein gelangen, gilt es genetisch aufbauend zu verstehen. Leibniz indes geht den entgegengesetzten Weg: er sucht vom Bewußtsein aus, von der »Perzeption« als dem Allbekannten und Allgewissen zur Begriffsbestimmung des »wahrhaft Wirklichen« erst vorzudringen. Für die Perzeption als solche gibt es kein weiteres »Warum«; und jeder Versuch, sie insbesondere an körperlichen Figuren und Bewegungen »erklären« zu wollen, ist schlechthin absurd S. Band II, 389, 421, 439 u. s.. Wohl aber kann und muß gefragt werden, wie sich, die »Perzeption« einmal vorausgesetzt, innerhalb ihrer selbst jene bestimmte Ordnung herstellt, die wir als das Universum der Dinge, als die Phänomene des Raumes, der Zeit, der Materie bezeichnen. Und hier nun ist es, wo wir die Bedeutung und die Funktion der reinen Verstandesbegriffe und der »intelligiblen Wahrheiten« zuerst völlig verstehen können. Ginge alles Bewußtsein im bloßen Empfindungsbewußtsein auf, so gäbe es von der »Welt« des einen empfindenden Subjekts zu der des anderen keine Brücke. Erst die Tatsache, daß bei aller Differenz im Vorstellungsinhalt und in seiner Klarheit und Deutlichkeit sich gewisse allgemeine Formverhältnisse identisch erhalten, knüpft den Zusammenhang. Diese Formverhältnisse, die nicht nur in diesem oder jenem, sondern in allem Bewußtsein, unabhängig von seiner konkreten Inhaltlichkeit, aufweisbar sind, sind es, die wir als rein »intelligible« Begriffe, als ideae innatae im prägnanten Sinne des Wortes, bezeichnen können Vgl. die Einleitung zu den »Schriften zur Metaphysik«, Band II, S. 86 f., 109 ff.. In der Empfindung bleibt das Subjekt in seine eigene Welt verschlossen: in den Begriffen und Gesetzen der »Vernunft« erst tritt es in die freie Allgemeinheit der Welt des Geistes heraus. Mit diesem Grundgedanken haben Leibniz' »Neue Versuche über den menschlichen Verstand« das Prinzip festgestellt, das fortan der Gesamtentwicklung des deutschen Idealismus zugrunde liegt.

Zugleich aber richtet sich Leibniz' Blick hier, wie in keinem anderen seiner Werke, über das Prinzip hinaus auf die Fülle der Anwendungen. In enzyklopädischer Vollständigkeit treten nacheinander die wichtigsten Fragen der Mathematik und Naturlehre, der Geschichts- und Sprachforschung heraus. Der äußere literarische Anlaß, aus dem heraus das Werk entstanden ist, und der Charakter, der ihm dadurch aufgeprägt worden ist, lassen es freilich begreiflich erscheinen, daß diese Fülle in ihm selbst mehr angeregt als bewältigt wird. Aber alle diese Andeutungen finden in der Gesamtheit von Leibniz' philosophischem und wissenschaftlichem Schaffen ihre genaueste Erläuterung und Durchführung. Auf diese für jedes tiefere Verständnis des Werkes schlechthin unentbehrlichen Ergänzungen ist in den folgenden Anmerkungen durchweg verwiesen worden. Diese Anmerkungen beabsichtigen keine eigene systematische Erörterung der Probleme, sondern sie wollen – neben den notwendigen literarischen Hinweisen, deren dieses Werk, das fast den gesamten Wissens- und Bildungsgehalt des siebzehnten Jahrhunderts in sich verkörpert, wie kein zweites bedarf – den Weg aufzeigen, der von Leibniz' »Neuen Versuchen« zu der Gesamtheit seiner Philosophie in stetigem Zusammenhang hinführt Was die Übersetzung betrifft, so war ursprünglich nur eine Revision der Schaarschmidtschen Übertragung geplant; bei der Durchführung dieses Planes aber erwiesen sich so umfangreiche und durchgreifende Änderungen als notwendig, daß der folgende Text als eine neue Übersetzung bezeichnet werden muß. Von Schaarschmidts Arbeit ist nur ein verhältnismäßig geringfügiger Teil erhalten geblieben: dagegen habe ich seinen Erläuterungen mehrere bibliographische und literarische Hinweise entnommen, die im folgenden (durch das Zeichen: »Sch«) stets besonders gekennzeichnet sind..

Das Sachregister, das ursprünglich dem Bande beigegeben werden sollte, wurde mit Rücksicht auf den ohnehin großen Umfang des Werkes weggelassen. Bei der in naher Zukunft zu erwartenden Erneuerung des vierten, die Theodizee enthaltenden Bandes dieser Leibniz-Ausgabe soll dafür ein Gesamtregister über die vier Bände angefügt werden.


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