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Der Tod

Mein Thomas hat auch nicht auf mich hören wollen, sagte die alte Friseurin weinerlich zu Mutter, während sie ihr das widerspenstige Haar zu bändigen versuchte.

Wie hatte Onkel Gustav einmal gesagt, in traumhafter Sommerdämmerung: Unsere Nächsten – das sind unsere nächsten Mörder. Und nun war die Wirklichkeit gekommen, winterkalt und hart. Und Ruth mochte sich die Augen mit den Fäusten zudrücken. Thomas hatte diese Wirklichkeit nie gesehen. Deshalb hatte er an ihr zugrunde gehen dürfen. Wie gut muß es sein, wenn alles ganz vorbei ist. Nichts mehr sehen, hören, tasten. Ihn schließt eine Wand ab von der Welt. Und er erstickt doch nicht mehr.

Ruth saß an einem nebligen Schneeabend allein zu Hause bei dem großen Speisezimmertisch. Mit aufgestützten Armen. Ihre immer noch fiebermüden Glieder wollten nicht recht gehorchen, wollten sich legen, sich strecken, ganz ausdehnen. Durch die Fenster flimmerte gelb das Licht der Straßenlaterne. Draußen muß viel Schnee fallen.

Und die lebendige Uhr hinter ihr zerschneidet die Zeit metallhart. Aber der Kasten dort und die Stühle ringsherum rücken weit weg, fort in das Graue, daß sich die hohen Fensterkreuze dehnen müssen. Und nichts um sie als luftloser Abgrund. Weite. Leere. Da drinnen muß einmal eine Fliege ertrunken sein. Über Ruths Haupt hebt sich die Decke. Ihre Füße treten das Oben. Noch saugt ihr Blick das Zimmer in sich. Noch kann ihr Blick die Weite überwinden. Noch. Aber das Lid wird ihn verdecken. Dann ist sie ganz allein.

Wie Vater. Wie Thomas.

Sie ist auch allein, wenn Mutter im Nebenzimmer mit Martha spricht. Wenn sie Richard und Gustav auf der Straße trifft oder mit Norbert zusammenkommt. Wenn sie einen Schutzmann nach einer Hausnummer fragt oder nicht weiß, wieviel Trinkgeld der Kellner bekommen soll. Ach, so allein, mit offenen Augen. Die alles sehen.

Eine Woche später brachte man Ruth in ein Sanatorium wegen einer Operation. Sie war sehr müde. Aber auch sehr neugierig. Sie dachte: es ist doch unglaublich, daß man so einfach in mich hineinschneiden kann. Und man spritzt mir etwas unter die Nase und dann bin ich nicht mehr da. Wo ich nur sein werde. Ich muß sehr gut achtgeben.

Der Chirurg hatte ein schmales, feines Gesicht mit zu großem Kinn. Seine Hände waren grobknochig, wie von einem Fleischhauergehilfen. Aber er zog sich dann Gummihandschuhe an. Und seine Hände wurden zum Werkzeug, das ineinander beißt.

Sechs junge Ärzte standen herum wie Schachfiguren. Und Schwestern leidend und demütig. Der Operationsraum war groß, zu licht, blitzend, spiegelnd. Ruth sah in den schneetoten Park hinunter, auf die uralten, schneebeladenen Bäume. Die Wintersonne stieß gegen die dicken Wolken. Ruth empfand die kühle Verzweiflung eines Sterbenden, der einmal, im ersten jungen Frühling dort unten gelegen sein mußte, mit zerfleischtem Körper eingepackt in weiße Tücher.

So wie man sie jetzt einpackte. Sie wollte schreien: Was tut ihr mit mir? Da lag sie schon auf dem blanken Tisch: Sie spürte einen niederträchtigen Geruch sich in die Kehle hineinfressen, dachte: Ihr zwingt mich doch nicht –

Da war sie aus sich herausgestiegen und stand neben ihrem starren Körper. Sah sich selbst nackt und preisgegeben daliegen, sah jeden Zug ihres Gesichtes, das sie ja gar nicht gekannt hatte. Mit geschlossenen Lidern. Sah die strengen, furchtbar fremden Augen der Ärzte, die bloßen sehnigen Arme des Chirurgen, die Schwestern über die Instrumente gebeugt …

Die weiße, glattgetünchte Wand riecht so sonderbar. Sie muß sehr hoch sein. Man kann gar nicht an ihr hinaufsehen. Und die Gelenke sind gefesselt, stöhnen unter eisernem Druck. Der auch von oben kommen muß.

In den tiefblauen Himmel stößt sich ein weißer, steifer Ast.

Neben Ruth steht eine Schwester mit bleichem Gesicht. Eine Schwester, die sie nie gesehen hat. Ein Ast, den sie nie gesehen hat. Eine Wand, die sie nie gesehen hat.

Sie kann ihr Bett kaum überblicken. Dort am Fußende sitzt ja Mutter. Ihre Bluse ist zerdrückt. Wie unangenehm. Und sie lächelt so, als ob sie alles wüßte, genau wüßte, was sie ja gar nicht wissen kann.

Sie ist in einer Welt, in der sie noch nie war. Sie muß einmal Ungeheures erlebt haben. Aber hier kann man davon nichts wissen. Darum liegt sie gefesselt an allen Gliedern, Sehnen und Gelenken, an allen Muskeln, allen Nerven. Vielleicht hat man ihr beide Füße weggeschnitten. Sie muß tasten. Sie kommt nicht bis dorthin.

Mutter und die Schwester lächeln. Das ruchlose Lächeln der Nichtverstehenden. Sie will weinen vor Zorn. Und erbricht.

Sie liegt stumm und verzweifelt, bis sie fragt: Ist mein neues Kleid schon gekommen? Dann gehört sie wieder der Welt, die von Mutters Rechenbücher beherrscht wird und Richards verwunderten Augenbrauen. Aber irgendwo sind doch auch gelbe Phiolen und der Duft fremdartiger Chemikalien, ätzend, zersetzend.

Ruth saß mit Mutter an dem gedeckten Tisch mit dem rotgestickten Milieu und den glotzäugigen Teetassen. Die Lampe brannte fetzig grün. Aber sie war ihr dankbar. Und den Teetassen und den fetten Butterbroten, die an Agnes' kräftige Arme erinnerten. Wie das nach Alltag schmeckte. Und wie wunderbar sicher das war, wohlig geborgen. Sie möchte sich in die saftgrünen Vorhänge hinein verstecken und ein ganz dummes Backfischbuch lesen, wo es nur Schulsorgen gibt und wunderbare Bräutigame.

In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie liest die Zeitung bis zur letzten Annonce. Das Zeitungsblatt schlägt eine Ecke nach oben, leckend. Sie löscht das Licht. So müde. Das Zeitungsblatt war leckend, saugend. Das Blatt ist eine rote, fleischige Tierzunge. Die Zunge saugt, leckt.

Da ist nur noch die weiße, glattgetünchte Wand. Und der lange, gräßlich arme Tierkopf, der aus ihr herauskommt. Schmal. Die Augen arm, in sich geknechtet. Er schleckt mit schiefer, gieriger Zunge eine salzige Flüssigkeit von der blendenden Wandfläche. Er schleckt, leckt, saugt sich an –

Sonst ist nichts mehr da. Der Kopf steht in die Luft hinaus, brüllt –

Rechts steht ein Mann und links steht eine Frau. Ein Mann, eine Frau. Sie hält den großen Spitalslöffel in der Hand, sieht den Mann fragend an. Und er sagt mit unendlicher Geringschätzung: Gib. Was ist das ganze Leben denn mehr wert als ein Schluck Wasser für ein durstiges Maul.

Der Tierkopf schleckt –

Ruth saß schreiend im Bett. Mutter kam hereingestürzt. Ruth konnte nicht sagen, was ihr fehle. Daß das lange, armselige Tiermaul alles war, die ganze Welt und immer weiter an der Wand saugen mußte. Nein, das konnte man nicht sagen und sie ließ sich fortwährend von den anderen die wichtigsten Zeitungsereignisse erzählen.

Damals sehnte sie sich maßlos nach allen Menschen, die sie je gesehen hatte, am meisten nach einem kleinen, verwachsenen Stubenmädchen, das ihr vor Jahren Geschichten aus einem böhmischen Dorf erzählt hatte, wo die Kinder im Hemd im Dorfteich schwammen.

Sie bettelte sich hinter der grauesten Alltäglichkeit durch. Sie verdurstete vor Sehnsucht, wieder in sie aufgenommen werden zu dürfen. In eine Sphäre von Geschäftsbesen, Kaffeetassen und Nachtwächtern. Ihr war jeder Schuhriemen wichtig.

Norbert kam am nächsten Mittwoch. Aber ohne Onkel Gustav. Der lag wieder elend in seiner Dachkammer.

Norbert war avanciert in seinem Amt. Er unterstand dem Vater seiner Braut. Alle gratulierten ihm. Ruth schüttelte ihm beide Hände. Er sah sie an, hundetreu, traurig.

Nach dem Essen setzte er sich in ihr Zimmer auf das kleine, wacklige Kindersofa. Sie saß neben ihm und dachte: Warum bin ich jetzt nicht in Australien oder auf einem großen Schiff.

– Nicht war, Ruth, Sie verachten mich? …Ruth sah auf. – Nein, warum denn? – Weil ich avanciert bin. – Was meinen Sie damit? – Ach Ruth, Sie wissen ganz gut, was ich meine.

Ruth sah in den winterblauen Nachmittag hinaus und wußte auf einmal, was er meinte. Sie dachte: Und dann nach Australien mit einem großen Schiff. Sonnenuntergang weit hinten im Meer und weiße, wehende Schleier. Das wäre freilich etwas.

Dann sah sie seine graue Weste und dachte an den Spitzeneinsatz der Braut und mußte fast lachen. – Nein, Norbert, sagte sie hochmütig, ich verstehe Sie nicht.

Aber sie sah ihn in der flimmernden Sonne eingezäunt in einer streng gekrümmten Linie. Seine Grenze. Über die durften seine treuen Hände nicht hinaus. Wenn er stirbt, dann wird die Linie zum Viereck und macht Wände und ist der Sarg.

 

Ruth schauderte, und einen Augenblick dachte sie: Ich muß ihm helfen, vielleicht ihn lieben. Aber sie verstand seinen beamtenbrav geschniegelten Kopf und ekelte sich vor der schnurgeraden Scheitellinie. Unmöglich. Da war die Grenze.

– Wissen Sie schon, daß mein Freund, der Leutnant fast gestorben ist, sagte Norbert. – Nein, wieso? – In einem Duell wegen einer Ballettänzerin. Zwei Schüsse durch die Lunge.

Ruth sah vor sich dicke rosa Schminke, rosa Ballettröckchen und rosa glatte Füße. Dazwischen blutend aufgedunsen die Lunge des Leutnants. Seine schwarzen Zähne. Das war der Tod.

Am nächsten Tag kam die alte Friseurin heulend. Der Arzt habe gesagt, wenn ihr Bub nicht bald in eine Anstalt käme, sei seine Tuberkulose nicht mehr heilbar. Ruth schnitt sich mit den Nägeln in die Hände. Was schreit sie so, Thomas ist doch schon lange tot und das kleine Ungeheuer, die Nähmaschine, ist ein Leichnam, der sich aufbläht mit den Erlebnissen anderer. Und was will der grüne Bub vom Leben. In einer Schreibstube geometrische Zeichnungen machen. Keiner kommt bis Australien.

Mutter versprach, ihr Möglichstes zu tun. Am Abend sagte Ruth verzweifelt: – Mutter, müssen wir denn alle sterben?

Richard hatte sich verlobt. Mit Norberts Schwester. Ruth erinnerte sich: aufgestülpte Nase, aristokratisch tiefe Stimme, dicke kleine Freundin. Auch gut. Im Übrigen war es ihr ziemlich gleichgültig.

Einmal, während des Mittagessens, kam ein Mädchen, bleich, trostlos, das Richard sprechen wollte. Ruth hatte ihr die Türe geöffnet. Richard war bei seiner Verlobten. Das Mädchen stöhnte auf. Sie packte Ruth beim Arm: Helfen Sie mir. Ruth sah ihr in die hübschen Kinderaugen, die voll Tränen standen und führte sie in den Salon.

Mutter kam dazu. Die alte Geschichte. Das Kanzleimädchen. Mutter weinte auf und versprach fast flehend zu helfen. Aber sie müsse schweigen, um Gottes willen.

Als das Mädchen gegangen war, fragte Ruth: Wie willst du ihr helfen? Mutter sagte: Geld. Und Ruth haßte sie. Sie dachte an das winzige Geschöpf, das schon im Mutterleib erwürgt wurde von fremden Händen. Wirklich fremden Händen –

Mutter weinte den ganzen Nachmittag durch: Daß sie keine Ahnung haben konnte. – Mir hätte er es doch sagen können, mir, immer habe ich alles von ihm gewußt, seit er ein ganz kleiner Bub war. Da ist auch nur dieses Frauenzimmer schuld. Aber er hat mir ja geschworen –

Ruth kam es lächerlich vor, daß Mutter jemals glauben konnte, Richards Vertraute zu sein. Aber Mutters Augen waren wieder so zerbrochen. Mit zornbebender Stimme sagte sie: – Dazu bin ich doch da, um von euch alles zu wissen. Ruth ging aus dem Zimmer, etwas in ihr rief: Und dann bist du eben tot.

Wo war Mutters Leben – bei ihren drei Kindern, in Vaters Grab – bei den gelben Phiolen –

Ruth sagte zu Martha: – Da bekommt Richard ein Kind, und Mutter weiß es nicht einmal. Das ist wirklich eine Schmach, aber sie wird ja alles mit Geld gutmachen. – Woher weißt du, daß das Kind zur Welt kommt? sagte Martha, lehrerinnenhaft überlegen. – Martha, du gehörst auf den Scheiterhaufen.

In der Nacht sah Ruth Martha auf der Straße, im Sonnenlicht, mit einem langen grauen Regenmantel. Ernst, streng und emsig, mit toten Augen und blauen Nägeln.

So war sie denn von lauter Toten umgeben. Richard war ja auch tot. Er tat nur so überlegen. Aber sein Leben lag im Leib jenes jungen Mädchens, und seine eigenen Finger erdrosselten es.

Er steckte auch in einer Grenze, wie Norbert. Die lief weiter weg von ihm als bei diesem, aber sie war tief eingegraben. Er verstand sieben Sprachen. Er kannte alle Wagner-Opern. Er heiratete Norberts Schwester. Er eroberte sich einen guten Platz in der Welt. Er hatte einen großen Sarg.

Ruth sehnte sich wieder unsäglich danach, tot zu sein wie Thomas. Nicht mehr scheinlebendig. Aber nur nicht sterben. Sterben tat ja sicher entsetzlich weh. Schon lange tot sein. Ohne denken, ohne Verantwortung für den nächsten Tag –

An Onkel Gustav hatte man über Richards Verlobung ganz vergessen. Eines Tages kam seine Hausmeisterin mit sensationslüsternen Augen. Es gehe ihm sehr schlecht, er röchle furchtbar.

Mutter weinte zuerst, ehe sie sich ankleidete, um hinzugehen. Ruth ging empört in ihr Zimmer.

Sie wollte Onkel Gustav nicht mehr sehen. Was liegt ihr überhaupt an Onkel Gustav? Sie hat ihn immer verachtet. Sie wird sich heute nichts vormachen, so wie Mutter. Gewiß nicht.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versuchte eine italienische Übersetzung zu schreiben. Ihr Geist war dabei. Aber in ihren Händen kochte ein fremder, fieberhafter Puls.

Durch die Fasern des Fleisches gräbt sich, stößt sich blühende Lebenskraft. Aber ganz innen in ihrem Leib fällt etwas ab, bröckelt etwas ab, mürb und müde. Wer preßt ihr die Brust zusammen und würgt sie, daß sie husten muß – Ist das Schleim und Blut – Ist das ihre eigene Kehle –

Über Ruths italienisches Übersetzungsbuch steigt wie Frühlingsatem empor die freche Liebe der jungen Wilden, die Gustav einmal an sich reißen wollte. Von der sie nie etwas gehört hat. Und es riecht nach faden, blonden Madonnenhaaren, Ansichtskarten mit weißen Kaninchen. In weiter Ferne leuchtet ein lichtes Ährenfeld im Juliwind, eine marmorbleiche Haut. Und die alte Geige lehnt an dem rußigen Eisenofen.

In Ruths Knochen bricht etwas. Das Mark wird zerrissen. Ein Leben stirbt, das sie nie gekannt hat. Ein Leben, das sie mitgetragen hat in ahnungslosen Händen. Onkel Gustav stirbt.

Ruth steht auf in erstarrtem Entsetzen. – Agnes, ruft sie in die Küche hinein, singen Sie nicht so laut, wir sterben heute.

Sie geht durch die weißerstarrten Gassen. Deren grelles Gefunkel in der Sonne schmerzt. Der Himmel ist tief dunkelblau. Onkel Gustavs höchster Wunsch war immer, einmal nach Italien zu kommen. Der Schnee zerbricht unter ihren Schritten.

Vor Gustavs Haustor will sie noch umkehren. Mutter wird sicher weinen. Richard und Martha machen traurige Gesichter. Norbert ist gewiß auch da. Nein, es ist unmöglich hinaufzugehen. Aber da ist noch Onkel Gustavs Hund. Sie kriecht über die Treppen.

Onkel Gustav hat das Gesicht zur Wand gekehrt. Der Hund liegt auf seinen Füßen. Den läßt er nicht von sich. Aber sonst kennt er niemanden.

Ruth will die weinenden, die gefaßten, die wichtigen Gesichter nicht sehen. Sie geht an das Fenster. Sie möchte es aufmachen. Aber sie ist gelähmt. Auf dem Fensterbrett steht eine halbgefüllte Teetasse mit schief abgebröckeltem Rand. Und ein rostiger Löffel. Es ist doch gut, daß Onkel Gustav stirbt.

Der Arzt unterhandelte mit Richard und Martha, wie man Mutter am besten aus dem Zimmer bringen könnte. Er hatte seine geschäftsmäßig traurige Miene. Ruth wollte sich nicht umwenden.

Die Sonne war untergegangen, draußen in ferner Ebene.

Onkel Gustav röchelte.

Norbert trat zu ihr: Ruth – Lassen Sie mich. – Aber Ruth – So lassen Sie mich doch, was wollen Sie von mir. Gehen Sie hin zu ihm. Legen Sie sich auf seine Füße. Wärmen Sie ihn.

Onkel Gustav röchelte.

Blut und Schleim.

Es wurde ganz dunkel.

Mutter war von Martha weggebracht worden. Der Arzt war fort. Norbert auch. Richard saß in einem Sessel, den Kopf in die Hände gestützt. Die schmierige Hausmeisterin machte sich an Gustavs Bett zu schaffen. Ruth stand unbewegbar erstarrt an dem Fenster.

Da schrie der Hund.

Ruth war bei Gustav. Aus seinem herabgefallenen Kiefer quoll das Blut auf die sterbende Brust. Ruth legte die Hand darauf. In Liebe. Dann brach sie zusammen. In Ekel …

Alles roch nach dem Leichenbitter, der vor Gustavs Türe stand. Auch die Blumen in der Blumenhandlung. Mutters schwarzgerändertes Taschentuch. Und das italienische Übersetzungsheft. Die dumpfen Kreppschleier.

Alle sprachen lieb von Onkel Gustav. Ruth haßte alle. Nicht weil sie ihn gemordet hatten. Aber weil sie mit ihrem bißchen kläglichen Gernehaben protzten. Keiner kannte das große Erbarmen. Auch sie nicht mehr. Eine Sekunde lang hatte sie es empfunden. Seither war ihr, als trügen ihre Hände vernarbt Kreuzeswunden, mit rostigen Nägeln durchschlagen. Aber vernarbt.

Sie trauerte nicht. Kam nicht einmal mit zum Leichenbegängnis. Ging zur selben Stunde mit dem namenlosen Hund spazieren. In einer blauen Bluse, durch taubelebte, klatschende Gassen.

Sie bürstete den Hund und fütterte ihn. Aber sie hatte eine furchtbare Angst vor seiner langen, spitzigen Schnauze. Die dem schmalen Tiermaul an der weißgetünchten Wand immer ähnlicher wurde. Ach Gott, wie so ähnlich –

In den verständnislosen, angstvollen Augen des Hundes lag der Schmerz einer geprügelten Welt. Und unendliche Sehnsucht. Wonach – Nach dem Schluck Wasser –

Wie einsam mußte Onkel Gustav gewesen sein.

Ruth fürchtete sich vor den langen, spitzen Zähnen des Hundes. Er lief ihr nach auf Schritt und Tritt. Und sie konnte ihn nicht zu den andern zwingen. Die riefen ihn bei dem englischen Namen, den Mutter ihm gegeben hatte.

In der Nacht lief er winselnd vor ihrer Türe hin und her, bis sie ihn in das Zimmer ließ. Dann schlief er in einer Ecke. Sie aber hielt die Augen weit offen vor Grauen. Dort lag das Tier.

Fell, gierige Zähne, saugende Zunge.

Das Tier atmete lauter und rascher als sie. Zerstörte den Rhythmus ihres Zimmers. Das war zum Stall geworden.

Alle riefen den Hund bei dem englischen Namen. Er gehorchte keinem.

Einmal riß sie ihn an dem Halsband zurück, als er aus dem Kübel trinken wollte. Da schnappte er nach ihr. Das Blut tropfte aus drei großen, tiefen Löchern in ihrer Hand. Ihrer schmalen, braunen, suchenden Hand. Wie sie diese Hand liebte. Ihre Hand. Ihre glatte Menschenhand.

Sie bekümmerte sich nicht mehr um den Hund. Er folgte niemandem, und Mutter ließ ihn vertilgen.

An diesem Abend saßen sie alle unter der Speisezimmerlampe. Und Mutters Rechenbücher beherrschten die Mitte. Richard sagte: – Der arme Kerl. Eigentlich bist du schuld an seinem Tod, Ruth. – An Onkel Gustavs Tod? – Nein doch, ich meine den Hund. – Ach so.

– Hilf mir, Richard, sagte Mutter über den Tisch herüber. Ich kenne mich da nicht aus. – Richard beugte sich über ihre Schulter. Dann sagte er mit traurigem Gesicht: – Diese Rubrik können wir jetzt streichen. Und zog mit rotem Bleistift einen dicken Strich über eine halbe Seite. Ruth sah oben den Namen Gustav.

Nein das war unmöglich, nein, das konnte man doch nicht tun, mit rotem Bleistift, rotem Bleistift –

Ruth sagt noch immer: Roter Bleistift, vor sich hin. Sie geht durch dunkle, frostdumpfe Gassen. Sie läuft. Sie fliegt.

Jemand ist geschändet worden. Wer ist geschändet worden. Der Tod ist geschändet worden. Christus ist am Kreuz gestorben, und man betet zu ihm um gutes Wetter. Gustav ist gestorben und man streicht die Ausgaben für ihn mit rotem Bleistift aus dem Einschreibebuch.

Sie will nie mehr nachhause zurück. Lieber in ein Freudenhaus.

Wer will nicht zurück – Ihre Glieder tragen Mutters Ungeduld und Vaters Leiden. Richards Hochmut und Marthas Resignation geben ihr ihre Kopfhaltung, ihre kindische Würde. Als Onkel Gustav sterben mußte, war etwas in ihrem innersten Mark zerrissen.

Jedes einzelne Blutgefäß spinnt einen langen Faden aus sich heraus in Mutters Hände hinein, die ja so fremd sind, so in sich zerbrochen. Aber eine Stimme schreit aus Ruths Kehle, die ist ganz neu. Vielleicht kommt sie von den Obstbäumen auf den wilden Feldern, die alle in ein paar Monaten blühen werden.

Noch preßte die Kälte die Häuser zusammen. Und alle Menschen steckten in wollenen Jacken, deren Farbe nicht schön war.

Ruth kauerte tagelang vor ihrem kleinen Ofen. Ihr Körper war steif geworden und ihr selber unbekannt. Vor diesem Ofen war Thomas an seinem letzten Abend gelegen. Und sie selbst. Und vielleicht noch ein dritter.

Nun ist sie müde, nicht zum Sagen müde. Sie möchte sich die Haut von den Armen streifen. Sie möchte sich in sich hinein verkriechen und in einer dunklen Ecke verstecken. Allein sein. Sie kennt niemanden mehr. Was wollen alle diese von ihr, diese Lügner, die nur zum Schein ganz leben und an hundert Stellen getötet sind. Diese heimlichen Mörder untereinander.

Wo ist ihre Grenze. Sie kann sie nicht erblicken. Sie späht um sich mit leeren Augen. Wer sieht aus ihr heraus? Wer wühlt mit bleichen, schweren, kraftlos vollen Händen in ihrem Hirn? Das alles kann sie doch allein so ganz unmöglich verstehen. Sie ist ja jung, in ihren Zehen federt die Springkraft ihrer Jahre.

Sie möchte schon lange tot sein. Aber sie wird jetzt nicht sterben. Sie genießt nur die süße Müdigkeit und darf sie doch nicht bis an das Ende kosten. In ihr lebt ein Fremder, Mächtiger. Und denkt.

So kauert sie vor dem verglühenden Ofen. Der immer weiter brennt.


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