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Gott

Als Ruth so klein war, daß das Kindermädchen sie sitzend auf dem Arm trug und ihr der eigene Matrosenkragen wie eine riesige, abenteuerliche Fläche erschien, sah sie an einem Abend ein Kreuz im Wald. In den Tannen hing verstecktes Gewitter. Und das Kreuz wuchs aus der felsigen Erde. Ruth fürchtete sich.

In der Nacht nahm Mutter sie zu sich in das Bett. Am Morgen hatte sie Fieber. Man zog ihr ein frisches, kühles Hemd an, legte sie in Mutters riesige Polster hinein und Mutter küßte und streichelte sie.

Wenn Ruth krank war, den ganzen Tag in Mutters Zimmer liegen durfte und von unten herauf jede von Mutters ungeduldigen, viel zu vielen Bewegungen beobachten konnte, war sie ganz zufrieden. Dann vergaß ihr kleines Hirn, mit den Schwierigkeiten des Tages zu kämpfen, den grell bemalten Tapetenblumen, den Vorsprüngen auf Mutters kompliziertem Luster, der widerhaarigen Zahnbürste. Dann legte sie ihr kleines Haupt tief nach hinten und alle ihre kleinen Gedanken in Mutters zu große, harte Hände.

Mutter war groß. Mutter war allmächtig. Mutter war unfehlbar. Mutter war gütig. Mutter war edel und – Mutter war gekränkt, mißhandelt von aller Welt. Deshalb wollte Ruth nicht mit den andren Kindern im Park spielen, keinem fremden Menschen die Hand reichen, deshalb fürchtete sie sich vor den Hunden. Weil ihre Mutter unter diesen allen leiden mußte.

Ruth küßte im Geheimen Mutters Hausschuhe. Schluchzte die ganze Nacht durch, wenn Mutter vergessen hatte, zuletzt an ihr Bett zu kommen. Und starb vor würgender Sehnsucht, wenn Mutter auf acht Tage verreist war. Aber das durfte niemand wissen.

Richard durfte das nicht wissen, ach nein, er war ja so klug. Gewiß, er liebte Mutter. Aber er trug alle seine Empfindungen sorgsam eingeordnet in seiner schwarzledernen Brieftasche und zusammengepreßt wie die Banknoten.

Martha liebte Mutter nicht. Obwohl sie an Mutters Geburtstag am eifrigsten den Tisch deckte. Aber alle Morgen stritt sie mit Mutter mit einer schrillen Stimme. Zu ihren Freundinnen nannte sie Mutter nur »sie«.

Zu Mutter flüchtete Ruth sich, als sie die große Angst bekam vor dem großen Gott im Himmel oben. Der gar nicht half, wenn man zu ihm betete. Der seinen lieben, wunderbaren Sohn am Kreuz hatte verbluten lassen, der es duldete, daß es eine Hölle gibt, während es ihm dort oben am besten geht. Der die Menschen in den Spitälern sterben läßt und noch will, daß man dankbar dafür ist.

Ruth bekam eine Bonne, deren winziger Koffer voll war mit Marienbildern und Rosenkränzen. Die führte Ruth in alle Kirchen. Sie fror stundenlang in den kalten, zu hohen Räumen mit den dunkel nassen Mauern. Weihrauch versperrte ihr die Kehle, und der Kirchendiener hatte schmutzige Pantoffeln. Vorne am Altar war Christus gekreuzigt. Rostige Nägel durchbohrten die Knochen. Das Blut war geronnen. Und er konnte nie und nie herunterfallen.

So hing er in allen Kirchen, und die Menschen beteten um schönes Wetter und Glück bei ihren Geschäften. Ach, wie arm war er. Für alle hatte er sterben müssen, und keiner liebte ihn.

Eines Abends stritt Mutter mit Vater. Es war so ein kleiner häßlicher Grund, daß Ruth ihn vergessen wollte, nein, nie mehr daran denken. Vater schwieg. Mutter warf Vaters Zeichnungen auf den Boden. Vater schwieg. Ruth schlich aus dem Zimmer. In dem kleinen Gang neben der Küche drückte sie die Stirne an das Fenster und betete: Lieber Christus, ich habe dich lieb. Ich bete nicht, ich will nichts von dir, ich habe dich nur lieb …An diesem Abend kam Mutter nicht zum Gutenachtkuß. Ruth rief nicht nach ihr. Aber sie hatte ein rotgoldenes Christusbild unter dem Kopfkissen.

Sie wollte Nonne werden. In der Abenddämmerung in niederen Kreuzgängen wandeln und über das Meer schauen und Christus lieben.

In die Messe mochte sie doch nie gehen. Wie entsetzlich war es, zu denken, daß der fettige Geistliche da vorne das reinste Blut trank. Wenn es auch für die ganze Welt gut war, es war eine ungeheure Grausamkeit – ein Verbrechen – und daß das alle Morgen geschah …

Ruth besaß ein Kinderbuch, in dem opferten die Chinesen grell gemalten, glotzäugigen Buddhas. Vor diesem Buch graute ihr. Und vor den fetten Altären der katholischen Kirchen.

Zu Hause aber steckte sie ihren liebsten Bleistift in den Ofen – Opfer für Christus.

Dem lieben Gott versprach sie alle Tage ein Gebet mehr. Was anderes konnte sie ihm nicht geben. Als es zu viel wurde, gab sie es überhaupt auf. Und von dieser Stunde an stand sie nicht mehr gut mit ihm.

Aber sie küßte den schmutzigen Steinboden im Stiegenhaus. Christus zuliebe.

Dann bekam sie eine andere Bonne. Mit sehr roten Wangen und gekräuselten Haaren, die alle Nacht zwei Stunden lang mit der Brennschere bearbeitet wurden. Diese Bonne liebte Ruth sehr. Sie erzählte ihr ungeheuer viel von einer Baronin, die schon zweimal verheiratet war und Ruths Schuhnummer hatte und alle Monate vier Paar Schuhe brauchte. Eines Nachmittags führte sie Ruth zu der Baronin. Das Zimmer war voll mit parfümiertem Rauch und schweren Teppichen. In einem Erker saß die Baronin neben einer riesigen Palme. Sie trug einen grauseidenen Schlafrock. Seine Falten krochen über ihre müde, duftende Haut. Sie sprach lange mit der Bonne und liebkoste Ruths Zöpfchen. Sie schenkte Ruth ein Bonbon. Ruth schlief diesen Abend ein, das Bonbon in der Hand, das am nächsten Morgen als zähe Masse die kleine Faust verklebte.

Sie schrieb den Anfangsbuchstaben des Namens der Baronin auf die Löschblätter in allen Heften. Als die Bonne plötzlich fortgehen mußte, weinte sie die Nacht durch.

In einem großen Hotel liebte sie einen gazellenschönen, argentinischen Knaben. Sie sprach nie ein Wort mit ihm, dachte gar nicht an diese Möglichkeit. Aber sie zählte die Stunden, bis sie ihn wieder in den Speisesaal kommen sehen könnte, neben seiner überüppigen Mutter.

An einem lichtgoldenen Frühlingstag sah sie auf dem Markt einen Korb weißer Hyazinthen. Kaum erblühter strahlend weißer, schlanker Hyazinthen. Sie hatte kein Geld. Was sollte sie tun? Sagen, daß sie diese Hyazinthen haben mußte, sehen mußte, einatmen mußte. Nein, niemals, so etwas spricht man nicht aus. Das ist etwas so Ungehöriges wie die Dinge, die in den verbotenen Büchern stehen. Über so etwas schweigt man. Und wenn es nur wäre, um nicht ausgelacht zu werden. Das aber ist Schande und Schändung. Das ist so wie der gepeinigte Christus an jeder Wegkreuzung.

Im Sommer darauf bemerkte sie zum ersten Mal, wie sich das saftige Grün der Buchenblätter in die Sonnenbläue des Himmels schmiegt. Und sie berührte schüchtern das Waldgras, das hoch und gebogen war, während auf den Felsen die Erde duftete. – Geh nicht in den Wald, sagte die Mutter, dort sind Holzhauer und Schlangen.

In diesem Sommer wuchs Ruth überraschend schnell und bekam kräftige, braune Arme.

Im nächsten Winter entbrannte sie in wilder Leidenschaft für Napoleon. Der mit gekreuzten Armen über die Menschen gegangen war und sie zertreten hatte.

Damals war es, daß Ruth eine Macht über sich fühlte, die sie fausthart in die Knie zwang. Und von der ihre weichen, unentwickelten Gelenke sich in sehnsüchtiger Wollust kneten ließen. Sie wollte nicht lieben, nicht Liebe empfangen, aber unterworfen werden.

Im hintersten Winkel des Kleiderkastens war ein wunderliches Gemisch von Kostbarkeiten: Eine falsche Rose, die Mutter getragen hatte, als sie einmal in das Theater ging und so besonders schön war. Gepreßte Zyklamen aus dem Buchenwald. Das rotgoldene Christusbild. Eine Unterschrift der Baronin aus einem Brief an die Bonne. Ein Ausschnitt aus einem französischen Werk über Napoleon. Und das Wort Beethoven mit roter Tinte auf die verkehrte Seite einer Visitkarte geschrieben.

Wenn Ruth ihren Kasten zusammenräumte, wischte sie diese Dinge mit einem Batisttaschentuch ab. Jedes war einzeln in weißes Seidenpapier gewickelt und mit Christbaumschnüren zugebunden. Ruth rührte aber keines gerne an. Sie fürchtete den Tag, wo ein quälendes Gewissen sie dazu trieb, alles frisch zu ordnen und neu einzuwickeln. Sie wusch sich vorher dreimal die Hände und fürchtete, daß ein unreiner Atemzug diese Heiligtümer beleidigen könnte.

Denn das alles waren Heiligtümer, nicht Erinnerungsstücke. Kleine, nichtige Gegenstände, vollgetränkt mit dem Empfinden einer überströmenden Liebe. Und als Christus, als die Baronin, als Napoleon Ruth fremd geworden waren, behielten die einzelnen Dinge doch ihre seltsame Macht. Ja, diese Macht war sogar gewachsen, wenn das Ideal tot war. Und noch unbegreiflicher, furchteinflößender geworden. Es war besser, man berührte diese Gegenstände nicht, ging ihnen aus dem Weg und sperrte den Kasten zu. Wodurch allerdings auch der Schlüssel lebendig wurde und schwer zu behandeln.

Es kam noch vielerlei dazu. Schmächtige Seidenfransen, die sie einem Freund Richards, einem langlockigen, grobbeinigen Menschen von seinem Kragenschoner weggeschnitten hatte. Ein weißblondes Haar der Englischlehrerin. Und noch vieles andere. Es gibt keine Kirche, die so viele Reliquien hat wie Ruths Kleiderkasten.

Einmal saß Ruth bei dem Speisezimmertisch und sollte eine Schulaufgabe machen. Mutter saß mit ihren Rechenbüchern daneben. Da kam ein Dienstmädchen herein, die Mutter einst wegen Diebstahls hinausgeworfen hatte. Die brachte ihr Kind. Mutter schob alle Rechenbücher beiseite und nahm den Säugling auf den Arm und küßte und hätschelte ihn. Ruth sah sich wieder ganz klein und der Mutter so nackt und hilflos überlassen, wie dem lieben Gott selbst. Sie zeichnete Mutters Kopf in ihr Schulheft.

Onkel Gustav erklärte, sie sei ein Genie. Mutter war stolz. Sie hatte in ihrer Jugend selbst viel gemalt, große, bunte, talentierte Bilder. Man schickte sie in eine Zeichenschule. Und dort war Hilde.

Wenn die Sonne aufgeht, brechen alle Pflanzen aus der Erde und die Steine werden licht. Denn das ist die große Kraft.

Wenn Hilde in das Zimmer kam, wurde der Raum weiter und höher. Und durch alle Muskeln zuckte Ungeduld und Sprungkraft. Denn sie besaß große Kraft.

Sie sehen, hieß einen Trunk frischen Wassers tun. Und vor Ruth sanken die schwerblütigen Vorhänge der elterlichen Wohnung in einen fetzigen Haufen zusammen. Und sie verstand, daß es wichtiger war, Fensterscheiben zu zerschlagen, als einem Bettler ein paar Kreuzer zu schenken. Denn die Sonne muß hereingelassen werden. Sie ist die große Kraft.

Mit Hilde konnte man nicht sprechen. Ihre Nähe war grell und fast schmerzhaft laut. Ruth flüchtete vor ihr. Alle Reliquien durften verstauben.

Hilde reiste nach Italien. Sie sah Hilde nicht mehr. Ein greller Funken hatte ihr Leben grell gemacht, ganz kurz, momentan. Sie war feige und blieb in der Dämmerung. Aber sie kannte das Licht. Und wartete.

Während aus dem Graugelb leerer Nachmittage er herauswuchs, riesengroß und dunkel. Und sie saß bei ihm alle Wochen, alle Tage. Und trank die Worte abgelebter Erinnerungen, die noch leben möchten. Dumpfer Männernächte, die ihre Kinderhände weinen machten.

Er war ein Gott. Die Maske fiel.

Er war ein armer Mensch. Die Maske fiel.

Er war ein Schuft. Wird noch eine Maske fallen.

 

Ruth saß am Sonntag in dem großen Dom. Die Orgel spielte, und vor den brennenden Kerzen lag die Menge.

Ruth hörte auf das ewig gleiche Thema der Orgel und wußte, daß draußen ein eintöniger Regen fiel. Die nassen Kleider der Leute stanken in den Weihrauch hinein. Sie saß ganz hinten, in einer dunklen Bank. Vor ihr war eine alte Dame in schwarzem Schleier. Die betete halblaut.

Ruth dachte: mit wem spricht sie da? Gott – das ist eine Maske mit gerader strenger Nase und weißem Bart. In jeder Spielwarenhandlung zu kaufen, wenn erst Fasching ist. Christus ist tot. Gekreuzigt. Sie soll sich nicht zum Narren halten lassen von den Reliquien hinter dem Gitter. Das sind Masken für nichts. Ich möchte meinen Schrank verbrennen. Mutter macht uns alle unglücklich, weil sie nicht glücklich sein kann. Das Muttersein ist Maske. Dahinter steckt ein furchtbarer Mensch. Und die Liebe bei der Baronin mit dem parfümierten Rauch macht Übelkeiten. Sie soll nicht lächeln. Es ist eine Krankheit in ihr. Maske. Napoleon hat die Welt unterworfen, weil er die größte Maske trug. Alle Buchenblätter sind faul und die weißen Hyazinthen verwelkt, verkrümmt.

Sie zog einen Taschenspiegel aus ihrem Handtäschchen. – Da sitze ich in der Kirche bei der Komödie. Warum schrei ich denn nicht. O, ich bin gesittet. Und mein Gesicht ist nicht verzerrt. Ich trage ja auch meine Maske. Aber die Augen sind furchtbar. Ich habe Angst vor mir.

Ob Hilde auch eine Maske hat –

Aber er trägt viele tausend Masken. Nein, er weiß gar nicht, welches sein wahres Gesicht sein könnte. Lauter weiche, schmiegsame Masken, innen etwas faul. Grünbleich und müde. Ach, und sich hineinlegen können und ausruhen …

Als sie aus dem Tor herausging, traf sie Onkel Gustav und Richard. Beide zogen den Hut vor der Kirche. – Warum tut ihr das, sagte Ruth ärgerlich, ihr glaubt ja doch nichts.

– Das macht man so, sagte Onkel Gustav verlegen.

– Ruth, du bist wieder einmal dumm, erklärte Richard.

– Aber ein Tier tut das nicht, sagte Ruth und streichelte Onkel Gustavs namenlosen Hund.


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