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Brand

Als Ruth das nächste Mal Onkel Gustav besuchte, stand ein Mensch beim Fenster. Dessen grobe, breitästige Knochen preßten das Zimmer zusammen, ließen die Frühdämmerung nicht herein. Und von seinem Hinterkopf hingen die Haare kurz und strähnenglatt herunter.

Onkel Gustav hustete so furchtbar, daß Ruth Schleim und Blut vor sich tanzen sah.

Als der Fremde seine ungelenk hohe Gestalt rasch umwendete, war ihr, als fiele ein ungeheurer Knochenhaufen in sich zusammen und zersplittere auf dem Boden, steinhart.

Onkel Gustav hustete. Blut und Schleim. Er konnte nicht sprechen. Der Mensch verbeugte sich linkisch hochmütig vor Ruth, murmelte etwas und ging fort.

– Wer war das? fragt Ruth, als Onkel Gustav wieder still und erschöpft da lag. – Ein Freund von mir, du kennst ihn nicht. – Wie heißt er? – Thomas. – Und noch? – Wozu willst du das wissen? – Ich bin eben neugierig, warum Mutter nicht wissen darf, daß er zu dir kommt. – Das ist abscheulich von dir. Das sagst du nur, um mich zu kränken. Jeder Mensch darf zu mir kommen, ich bin doch kein kleines Kind …Er begann wieder zu husten.

– Sei ruhig, Onkel Gustav, ich war wirklich nur neugierig. Weil er mir gefällt, dieser dein Freund oder was er ist. – Er ist mein Freund. Ruth, wenn du den kennen würdest, wirklich kennen. – Wie verhält sich Norbert zu ihm? – Er hat ihn noch nicht gesehen. – Ach so …Gustav hustete wieder und Ruth stand auf, um fortzugehen. – Was ist das für ein Ungeheuer? Sie nahm eine in graue Sackleinwand gebundene Riesenmappe, die auf dem Tisch lag. – O weh, die hat Thomas vergessen. – Dann wird er sie wohl holen. Ruth wollte sich wieder setzen. – Nein, er vergißt bestimmt ganz daran, und wenn er morgen in die Schule geht, hat er keine Hefte. Und wieder Unannehmlichkeiten. – Weißt du was, ich möchte sie ihm bringen. Ich will sowieso noch spazieren gehen. – Nein, Ruth, das geht nicht – Onkel Gustav richtete sich ganz entsetzt auf – das kannst du nicht, nein wirklich nicht, auch ist es viel zu weit, er wohnt ganz draußen in der Vorstadt. – Das macht mir gar nichts.

Ruth hatte die Mappe schon unter dem Arm: – rasch, die Adresse. Onkel Gustav hustete und sagte dann den Namen von Mutters ehemaliger Friseurin. Ruth lachte schrill: – nein, mit was für Leuten du verkehrst …und sie sprang über die Stiegen.

Die Luft war weich und frühlingshaft schwer. Wie um Mitternacht im Mai. Aber die kahlen Bäume waren herbstmatt und ergeben.

Ruth lief durch die dunklen Gassen und fühlte, wie sie mit jedem Schritt in das Ungewisse hineintrat. Das weich und nachgiebig war wie ein verprügelter Hund. Und doch lockte und zog.

Sie wollte den nacktsträhnigen, groben Kopf nicht berühren, nein, niemals, o um Gotteswillen nicht. Onkel Gustavs Husten schrie ihr nach. Ganz arme übermüdete Pferde hatten solche schwer hervorspringende Knochen. Deren Kraft um Mitleid schreit. Während die Muskeln zu schlaff sind, das Gerüst zu tragen.

Nein, sie konnte nicht weiter. Eine wütende Angst hielt sie zurück, sie könne einem Kutscher begegnen, der seine Pferde prügelt, erbarmungslos über die steinige Straße, brüllend, schimpfend, fluchend und mit der Peitsche.

Nein, sie wollte nicht weiter. Wie kam sie auch dazu, einem fremden Menschen seine Sachen in das Haus nachzutragen. Sie wird das Mappenungeheuer in einen Straßengraben werfen. Oder doch vielleicht zuerst hineinsehen – ja, zuerst hineinsehen.

Ruth ging in ein kleines Kaffeehaus, wo ein paar Dienstmänner und Kutscher Karten spielten. Sie setzte sich in eine halbdunkle Ecke und schämte sich. Bei einer unanständig dicken Kellnerin bestellte sie Tee. Und war verzweifelt über die schmierig braune Marmorplatte.

Aber die Mappe. Ein armseliger zerbissener Bleistift rollt heraus. Und dann Schulhefte der dritten Volksschulklasse. Immer mehr Schulhefte. In jedem beginnt die Aufgabe: Alle Haustiere …

Ruth schließt die Mappe. Den Bleistift steckt sie zu sich. Sie muß Thomas seine Hefte bringen.

Sie trat in das Ungewisse. Es wich und lockte. Und die Nacht war ganz dunkel.

Das einstöckig verkrochene Haus lag weit draußen, am Rand der ersten fahlen Fabrikswiesen. Gelbrötliches Licht träufelte aus seinen niedrigen Fenstern. Das Ungewisse war nah und furchtbar.

Eine fremde Wohnung suchen ist entsetzlich. Wie leicht läutet man bei fremden Menschen an, und die sind dann böse. Und eigentlich war Thomas sogar auch ein fremder Mensch.

Ein grünblasser Proletarierbub mit abstehenden Ohren öffnete Ruth die Türe. Es roch nach aufgewärmtem Essen. Im Zimmer war eine Nähmaschine. Darauf eine Petroleumlampe. Ein Mensch bei der Nähmaschine, in der Nähmaschine, ein Stück der Nähmaschine, in sie hineinverwachsen, bucklig verkrümmt, eng.

Ruth dachte: Wieder weg, gleich –

Da kam Thomas herein in blaugestreiften Hemdsärmeln. Sie stotterte etwas, dunkelrot, besinnungslos verlegen. Der blasse Bub glotzte sie an. Thomas' Schwester steckte den Kopf aus ihrem Buckel heraus. Er selbst war gar nicht erstaunt. Sagte fast grob: danke. Sie bemerkte, daß ihm ein großer Augenzahn fehle, daß eine schmutzige Unterhose auf dem Sessel neben ihr lag. Ihr ekelte wild.

Eine Stimme, die weich war wie die laue Nacht draußen, sagte: – Bleiben sie doch noch ein wenig und ruhen Sie sich aus. Sie sind ja ganz erhitzt.

Das bucklige Ungeheuer. Ruth hätte ihr die zu langen, kranken Hände küssen wollen.

Thomas und sein Bruder waren hinausgegangen. Die Nähmaschine ruhte. Und die Petroleumlampe war noch heruntergeschraubt.

Thomas' Schwester hatte stechend graue Augen mit müden Lidern. Sie sprach von Onkel Gustav wie von einem Halbgott und fragte sehr viel.

Ruth dachte: Der große, schwarze Kasten in der Ecke dort schaut Thomas ähnlich. Er ist schön und mächtig, aber was da nur drinnen hängt. Ich möchte meine Kleider nicht hineingeben. Wie es hier riecht – nach Baumwollstrümpfen, die nicht gewaschen werden.

Thomas' Mutter schlurfte herein. Sie hatte rote Wangen, als ob sie früher einmal geschminkt gewesen wäre, und war furchtbar häßlich. Sie begrüßte Ruth als alte Bekannte und stellte graue Teller auf den ungedeckten Tisch.

Thomas kam wieder in das Zimmer und schien sehr unzufrieden, daß Ruth noch da war. Sie sprang auf. Er begleitete sie vor die Haustüre, hinten im Hof bellte der Hund. Sie gab ihm die Hand und ihr war, als ergreife sie einen toten Knochen.

– Ich danke Ihnen, sagte Thomas mit seiner zerbrochenen Stimme. – Aber wir müssen jetzt zu Abend essen. Unser Petroleum reicht nur bis halb zehn.

Sie hielt seine Hand noch fest und sah nur, wie er mit der anderen Hand an den Hals griff, der Daumen stand eigentümlich scharf weg wie die Klinge eines Messers.

Ruth wußte, als sie nach Hause ging: Thomas kann als kleines Kind keine Milch bekommen haben. Nur zähes Fleisch von wilden, geschlachteten Tieren. Und sie sah während des Abendessens fortwährend auf Richards Hände, die wohl noch nie ein Tier geschlachtet hatten.

Die kleine Weißnäherin Gertrud ließ sich den ganzen Abend durch von ihrer Mutter Ruths erste Kindheit schildern. Damals war die Friseurin oft in das Haus gekommen, o ja, und die gnädige Frau hatte Perlen, eine endlose Kette hinunter. Ruth lag immer schon in ihrem weißlackierten Gitterbettchen und steckte die frischgebadeten Fingerchen durch das Netz. Und die gnädige Frau erzählte von Paris, immer von Paris, sie hatte auch Pariser Parfüm.

Die Wangen der alten Friseurin glänzten wie frisch geschminkt. Gertrud fuhr mit feuchten Händen über die Tischplatte, daß große nasse Flecken auf dem Holz zurückblieben. Thomas starrte in seinen Teller und hielt mit aufgestützten Armen Gabel und Messer, kampfbereit. – Was habt ihr mit den fremden Leuten, grollte er.

Gertrud sagte: – Das Leben. Ihre ermüdeten Augen starrten an ihnen vorbei. Sie empfand in diesem Augenblick: Nach Paris reisen – in der Bahn liegen, einen zärtlichen Atem neben sich – genießen – oder: ganz klein sein und in einem weißen Gitterbett liegen mit geraden Gliedern, die wachsen dürfen.

Gertruds Buckel war das Nest eines Vampirs. Brut und Beutestatt. Alle unerlebten Träume, alle schäbigen Wirklichkeiten der Mutter steckten darin. Thomas' Schulstunden. Und die Reißbretter des kleinen Bruders, der in die Realschule gehen durfte und ein zufriedener Techniker werden sollte, werden mußte.

Aber es war noch viel mehr in Gertruds Buckel. Ihre spinnenlangen, blauadrigen Finger nähten und trennten eigentlich gar nicht den ganzen Tag. Sie tasteten zum Fenster hinaus über die Rücken der Vorübergehenden nach neuem Leben. Und die schwangere Nachbarsfrau, die alle Tage sich erbrach und heulte, daß man es genau hören konnte, trug ein Kind, dessen Schicksale sie schon im Voraus empfand, wie ein hohes Glück.

Gertrud schätzte den Wert ihres erwürgten Lebens wie ein Sterbender den letzten Atem. Seligkeit war die erste Morgensonne, die ihr in den dünnen Kaffee schien. Seligkeit der graue Tag voll wuchernder Gedanken. Sie nähte schöne Hemden, schmeichelnd glatte, aus Leinenbatist, aus Seide. Seligkeit, die anziehen zu dürfen. Seligkeit, alle Tage in die Schule gehen zu dürfen und hundert schmutzige Kinder zu unterrichten, wie Thomas. Welche Betätigung der eigenen Kraft. Wie herrlich für ihn, daß er sie alle erhalten durfte und es dem kleinen Bruder ermöglichen, etwas Besseres zu werden – das war Menschenglück.

Thomas' Schulkinder saßen Nachmittage lang an Gertruds Nähmaschine. Sie erzählte ihnen vom lieben Gott und ratterte und nähte. Die Kinder waren zufrieden. Hier war jemand, der nichts von ihnen wollte. So streuten sie ihr das kleine, schmutzige Leben willig in den Schoß. Das sie nicht verstand und doch aufsaugte.

Thomas merkte nichts davon. Er hielt Gertrud für eine Heilige. Denn sie liebte und stützte die verkommene Mutter, den tuberkulösen Bruder. Er wußte, daß, wenn sie eines Abends nicht da wäre, die fettige Petroleumlampe nicht mehr brennen könnte, auch nicht bis halb zehn. Und dann wäre alles aus.

Sie war die Liebe, und er beugte sich vor ihr. Aber er glaubte nicht an die Liebe. Er glaubte an das Wort.

Das Wort war in ihm und in ihm war die Welt. Sprechen können – dann müßte sein ungebadeter Körper rein werden.

Er verbesserte alle Abende bis halb zehn Uhr die Schreibübungen der Kinder. Und dann mußte das Licht gelöscht werden. Zwei bis drei Hefte blieben noch zurück für den blassen Morgen. Aber daran war nichts zu ändern.

Ruth empfand es in den nächsten Tagen zum ersten Mal in ihrem Leben als peinlich, mit entblößtem Hals herumzugehen. Sie legte sich einen alten Pelz von Martha um, der nach Kampfer roch und kitzelte. Und sie dachte: es müßte gut sein, zu wissen, daß man nie mehr im Leben einem Mann die Hand gibt. Was das nur ist, fremde Knochen – ach nein, entsetzlich.

Sie wollte nie mehr zu Thomas gehen. Wegen seiner Mutter. Was für struppige graugelbe Haare die hatte, diese Friseurin. Und dann, sie hatte das kleine, bucklige Ungeheuer in die Welt gesetzt. Wie konnte man so etwas verbrechen. Wenn ich Christus wäre, ich müßte zum Fenster hinausspringen, nur weil Gertrud lebt, dachte Ruth. Und ekelte sich vor Thomas riesengroßer Zahnlücke.

Eine Woche später war Ruth wieder bei Thomas. An dem ersten, kalten Wintertag, der ohne Schnee war, aber ganz voll Dämmerung. Die Nähmaschine ratterte. Thomas stand in der hintersten Ecke, bei dem winzigen Eisenofen. Er hatte den Deckel zurückgeschlagen, und die roten Flammen verzerrten seine knochigen Züge. – Ich komme Ihnen erzählen, daß es Onkel Gustav sehr schlecht geht. – So.

– Ja ich komme Ihnen das erzählen, Sie sind doch sein Freund, oder nicht? –

Thomas ging in das Nebenzimmer. Ruth dachte wütend: Eigentlich könnte ich ja zu Norbert gehen. Gertrud blickte sich interessiert um. Da ging Ruth ihm nach.

In seinem Zimmer standen zwei graue Eisenbetten. Und zwei eiserne Bücherregale. Und ein eiserner Ofen. Der Tisch war mit verschmierten Schulbüchern verdeckt und geometrischen Zeichnungen von dem Bruder. Nichts in diesem Raum gehörte Thomas. Nur seine eigenen massigen Knochen.

Er starrte an ihr vorbei mit stumpfen toten Augen. Er sieht mich nicht, klagte Ruth, er sieht mich nicht, jubelte Ruth, er sieht mich nicht, er sieht überhaupt nicht heraus, er sieht hinein. Und sie bemerkte, daß sein proletarisch hoher Kopf aristokratisch lange, leidende Schläfen hatte.

– Was machen Sie eigentlich da, fragte Ruth, und sie setzte sich auf den Tisch, mitten in die Zeichnungen des Bruders und baumelte mit den Beinen. Den kahlen Wintermantel knöpfte sie auf. Und sie nahm sich vor, den stickigen Dunst ganz in sich einzusaugen und aus allen Poren wiederzugeben, dann müßte er sie spüren.

Thomas ging hin und her, ohne sie noch einmal anzusehen. – Höflich sind Sie nicht, lachte Ruth. – Er blieb vor ihr stehen. – Wozu auch? Glauben Sie, ich kann nicht, wenn ich will? Aber warum?

Ruth dachte: ich kann die Luft herinnen doch nicht so leicht einatmen. Sie zerdrückt mir die Lunge. Sie ist zu schwer. Schwer wie Thomas' Knochen, oder noch schwerer, ich kann nicht und um Gotteswillen, wer keucht, wer stöhnt da, wer erbricht sich, bin ich es selbst – o wie schlecht ist mir –

– Sie brauchen nicht zu erschrecken, sagte Thomas und setzte seine rastlosen Wanderungen um den Tisch fort. Die Frau von unserem Nachbar daneben erwartet ein Kind, und das hören wir immer so genau.

– Was ist noch in ihrem Zimmer, Thomas? – Sie stand vor ihm, ihre grünen Augen waren ganz groß geworden.

– Was noch? – O Thomas, Sie müssen furchtbare Nächte haben.

Da küßte er ihr die Hand mit den groben, aufgesprungenen Lippen. Ihr graute. Sie wurde zornig. Und sie lief davon.

Sie wollte nicht mehr zu Thomas gehen. Da sah sie ihn zwei Tage später auf der Straße. In den frühen, toten Nachmittagsstunden.

Sie dachte: wenn ich ihm jetzt nicht entgegenspringe, er rennt dort in die Mauer hinein, zerschellt sich seine großen Knochen. Nein, wie er friert.

Sie packte ihn beim Arm. – Thomas, Grüß Gott, aber warum haben Sie keinen Mantel, Teufel noch einmal!

Er war ganz blau und sie wußte, ohne daß er antwortete, daß den einzigen Mantel der Familie der kleine Bruder trug.

Sie begleitete ihn und kombinierte: wenn Onkel Gustav stirbt, kann Thomas vielleicht den Wintermantel bekommen, oder ich stehle den von Richard. Der ist so gut wattiert. Ach, wenn ich nur nicht so feig wäre, ich müßte Onkel Gustav auch töten können, aber ich traue mich ja nicht.

Thomas sagte: – Mir ist gar nicht kalt, was fällt Ihnen ein. Aber man sollte mir nicht um halb zehn Uhr das Licht wegnehmen, nein, das sollte Mutter nicht. Und wir haben gar kein Geld mehr für nächste Woche.

Ruth gab Gertrud ihr letztes bißchen Taschengeld. Gertrud nahm das bißchen mit Tränen in den Augen und verklärt.

Als Weihnachten kam, wußte Ruth nicht, was sie Thomas schenken sollte. Sie verkaufte zwei goldene Ringe, die sie nie getragen hatte, und kaufte ihm dafür einen wunderschönen Band Schopenhauer. Sie half heuer nicht den Weihnachtsbaum putzen. Sie empfand zum ersten Mal nicht die gespannte Erregung vor dem wunderbaren Abend, der doch alle Jahre der gleiche blieb. Sie empfand auch nicht, daß die Straßen anders waren als sonst, weil so viele frohe Menschen mit Paketen durcheinanderliefen. Sie wußte nur, daß Thomas bei der furchtbaren Kälte keinen Wintermantel besaß, daß der Band Schopenhauer in weiches, mattbraunes Leder eingebunden war.

Sie nahm aus ihrem Schreibtisch noch rasch eine Schachtel Briefpapier für Gertrud und eine Rolle herrlichstes, weißes Kanzleipapier, auf das sie einst ihre Lebensgeschichte hatte schreiben wollen, aber das war schon lange her. Jetzt sollte es Thomas' Bruder bekommen, der immer klagte, er habe zu wenig Papier für seine deutschen Aufsätze und die langen mathematischen Formeln. Etwas Besseres hatte sie nicht.

Gertrud schmückte den winzigen Weihnachtsbaum mit Silberketten vom vorigen Jahr. Sie humpelte vergnügt in der kalten Stube herum und sang ein Weihnachtslied. Auf dem Tisch standen noch von dem Mittagessen Teller mit übrig gebliebenem, gelbem Brei. Ruth ging rasch in Thomas' Zimmer.

Er lag mit toten Augen über den Tisch hinüber, gierig, lauernd. Ruth legte das sattbleiche Kanzleipapier neben ihn hin.

Ein Schrei, wie ein Tier, das nach Wasser sucht: – Ruth, das bringst Du mir, Du weißt also, weißt alles, doch und du glaubst daran, und noch kein Wort, noch immer kein Wort, aber du glaubst daran –

Er lag vor ihr und umfaßte ihre Schenkel mit tastenden, greifenden, packenden, schaffenden Bewegungen. Er keuchte. Seine Hände waren feucht, er gurgelte mit halberstickter Kehle. Ruth graute und sie sagte weinend: – nicht wahr, jetzt schreiben Sie das Buch – und sie streichelte seinen Kopf wie einem ganz kleinen Kind und küßte die aristokratisch hohen Schläfen. Jetzt ganz gewiß, ganz gewiß. Ihr ekelte vor seinen strähnig fetten Proletarierhaaren, und sie streichelte seinen Kopf.

Zuhause konnte sie das Licht der Weihnachtskerzen nicht vertragen. Die Stimmen der Verwandten machten sie rasend. Bei Tisch sagte Richard zu einem alten Onkel: – gewiß ist ein rechter Künstler doch nie den widrigen Verhältnissen unterlegen. Im Gegenteil …

Ruth sagte: – wo liegt die Statistik der Untergegangenen. Ich glaube, bei der Mordstatistik im Strafgericht, nicht wahr, dort liegt das auf.

Dann wurde ihr schlecht und sie mußte die ganze Nacht lang erbrechen. Das Zimmer war überheizt, und sie empfand nur, wie sehr Thomas diese Nacht frieren müsse, denn sicher waren alle Kohlen für das Weihnachtszimmer aufgegangen. Vielleicht verbrannte er das weiße Kanzleipapier. Den Schopenhauer bekam ja Onkel Gustav, der war noch gar nicht tot. Nur wollte sie nie mehr zu Thomas gehen, ganz gewiß nie mehr. O, wie sie seine gierig schaffenden Hände fürchtete, grauenhaft war es und unverschämt gegen die Natur, gegen ihren eigenen Körper. Und die Frau daneben erbrach ja auch fortwährend, weil sie ein Kind erwartete.

Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum kommst Du nicht mehr? Thomas ist krank. Sie war zornig und ging nicht hin.

Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum kommst Du nicht mehr?

Da kaufte sie ein Dutzend verschiedener Federn und tiefschwarze Tinte und ging wieder zu Thomas. Gertrud saß an der Nähmaschine und sah sie vorwurfsvoll an: Du hättest früher achtgeben sollen, Ruth. – Worauf? – Thomas liebt dich. – Mach dich nicht lächerlich. – Doch, Ruth, seit du fortgeblieben bist, kann er nicht mehr unterrichten. Gestern hat er den Kleinen geschlagen. Denk dir, Thomas und schlagen, wegen irgend eines kostbaren Papiers. – Er hätte ihn erschlagen sollen. Ihr wißt alle nicht, was Thomas braucht. – Ruth, ich verstehe dich nicht – Gertruds Stimme war so weich, daß Ruth mit dem Fuß darauf stampfen mußte. – Und denke dir, er will plötzlich um zwei Uhr nachts Licht brennen. Aber die Mutter hat doch kein Petroleum. Er streitet mit den Leuten in der Schule. Seit acht Tagen war er überhaupt nicht mehr dort …Gertrud weinte. Ruth war ganz kalt: Gertrud, wer ist dir lieber, Thomas oder die Mutter, oder der Kleine? – Das weiß ich nicht, mir sind alle drei ganz gleich lieb. – Dann kann ich euch nicht helfen. – Aber Thomas liebt dich. – Du bist dumm, näh deine Hemden weiter.

Thomas kam aus seinem Zimmer und zog Ruth an beiden Handgelenken zu sich herein. – Wo bist du solange geblieben? Du hättest kommen sollen. Nichts als Farben – Töne, mit der Hand zu greifen – Worte noch nicht – Worte –

Sie gab ihm Tinte und Federn. Er nahm eine Feder und kratzte sich einen tiefen Strich in die zerklüftete Hand: aus der Spitze muß es kommen, fließen, strömen – Gesetz – Ruth bleib da.

Er hielt sie fest mit beiden Armen. – Kannst du beten? – Nein. – Das macht nichts. Bete, es darf nicht finster werden. Mutter darf das Petroleum nicht versperren. Der Bengel darf nicht nachhause kommen. Die Nähmaschine darf nicht rattern. So bet doch.

Als es dunkel wurde, begleitete er sie nachhause. Man muß Licht sparen …Und wieder die Bewegung an den Hals, der Daumen steht eigentümlich scharf weg, wie die Klinge eines Messers.

– Siehst du den Eckstein hinter der Straßenlaterne, die Biegung, die rund sein soll und doch eigentlich voll Ecken ist? Spürst du? Wie meine Finger. Der Stein ist grau, so grau, daß unsere Augen daran sterben müßten. Aber das gelbe Licht aus der Laterne schleicht darauf – mein Licht ist eigentlich größer. Und lauter Ecken, die aussehen wie Biegungen, Rundungen. Wie wir uns täuschen. Nur die Lügen sprechen sich leicht. Aber die Wahrheit ist furchtbar, sie ist das Wort, das war im Anfang. Hörst du die eisigen Pfützen, wer hat je so sprechen können. Und unlängst in der Nacht war ich fließendes Wasser. Ich weiß, wie es tönt, übereinander fällt, ich weiß, wie es sich berührt …Meine Stimme ist häßlich, vorne fehlt mir ein Zahn, ich weiß, wie dir das widersteht, Ruth, laß, aber weißt du, was meine Hände können, über die weißen Flächen gleiten, nein, das ist nicht Schnee, es schneit ja heuer gar nicht. Aber erst sollen meine Fäuste den Reichen die Fenster einschlagen. Was machen sie bei dem elektrischen Licht. Bei dem vielen Licht. Meine Hände können doch Mutter das Petroleum nicht stehlen, da ist kein Mark in den Knochen. Der Hund heult die ganze Nacht im Hof und die Frau daneben erbricht sich noch immer die ganze Nacht …

– Thomas, wart doch, aber wart, ich werde dich heiraten. Was Du da von dem Zahn gesagt hast, ist Unsinn. Ich habe nicht viel Geld, aber ein bißchen etwas muß mir Mutter schon geben. So viel, daß wir ein halbes Jahr, ja ein halbes Jahr schon in einem ruhigen, schönen Zimmer wohnen können. Nur ein Badezimmer noch daneben. Und du kannst schreiben, den ganzen Tag, auch in der Nacht. Ich werde eben im Badezimmer schlafen. Aber warten mußt du, wart doch, Thomas, wart nur noch ein ganz klein wenig.

Thomas stöhnte wie ein Pferd nach dem letzten Peitschenhieb. – In der Schule haben sie mich hinausgeworfen. Ich kann dem Buben das Geld für seine Studien nicht mehr geben. Und Mutter muß leben und Gertrud, die Arme. Und in der Nacht müssen sie alle schlafen. Da heult der Hund.

Er fuhr Ruth mit einer wilden Bewegung an den Hals. Der Daumen stand eigentümlich scharf weg, wie die Klinge eines Messers. Sie schrie.

– Schweig, sagte er heiser, es ist ja nicht auf deinem Hals. Auf meinem ist es. Die fremde Hand. Sie würgt noch nicht, aber sie wird es tun, sofort, gleich, jeden Moment und dann ganz. Sie würgt noch nicht. Und doch habe ich schon einen flammend roten Streifen da vorn auf meinem Hals.

Ruth sah, daß alle Fenster der Wohnung dunkel waren. Und nahm Thomas mit sich in ihr Zimmer. Der Ofen glühte.

Thomas warf sich auf dem Teppich der Länge nach nieder und starrte mit toten Augen in die Glut. Ruth blieb stehen und dachte: wie schön die wilden Knochen geordnet sind, wie schlank sie liegen. Thomas sagte: – meine Farbe ist mehr gelb, aber nicht so gelb, wie auf dem Eckstein.

Ruth warf sich neben ihn vor das Feuer. Er preßte sie an sich, daß sie die Rippen brechen fühlte. Seine groben Lippen waren blutig aufgesprungen. Schon fast zerfetzt. Der eine Vorderzahn fehlte. Zurück um Gotteswillen. Sie riß sich los.

Er stand vor ihr, seine Hände hingen herab. Eine große Knochenmasse, bereit, zusammenzufallen.

– Ruth, sagte er langsam, ich danke dir. Es ist so viel Wärme in deinem Zimmer. Mich friert nicht mehr. Aus dem Mark der Knochen stößt sich die Kraft heraus – heute Abend wird –

Er war schon lange fortgegangen. Ruth lag vor der erloschenen Glut auf genau demselben Fleck, wo er gelegen war. Und stöhnte: aus dem Mark der Knochen heraus. Thomas. Ein Kind. Von ihm …

Thomas ging aufrecht nachhause. Beim Abendessen teilte die Mutter vor: Kraut und jedem sein Stück Brot. Die Petroleumlampe brannte sehr schwach, tief heruntergeschraubt. Thomas sprach in sich hinein: heute Abend wag ich es, heute endlich. Ich habe ihnen ja noch nie etwas weggenommen. Aber heute, das bißchen Petroleum, das werden sie mir schon geben, können sie gar nicht verweigern. Und der Bub schiebt sein Bett einfach herein. Aus der Straßensteinrundung heraus bricht das Wort. Schon ist es nahe, nahe –

– Heute können wir zeitlich schlafen gehen, sagte die Mutter weinerlich, überhaupt jetzt, wo der Thomas so keine Hefte mehr zu korrigieren hat.

– Muß ich wirklich aus der Schule heraus, fragte der blasse Bub.

– Wird schon so sein, sagte die Mutter mürrisch.

– Warten wir es ab, sang Gertruds milde Stimme dazwischen, und ihre Augen suchten Thomas, flehend, verzweifelnd und doch gleich wieder voll Vertrauen.

– Was geht ihr mich alle an, dachte Thomas, das Wort, aber ich muß erst um Petroleum bitten.

Wieder lag die Hand auf seinem Hals. Aber nicht mehr ein Messer mit stumpfer Klinge. Lange Finger mit verschiebbaren Gelenken drückten sich in die Kehle hinein.

– Gertrud, sagte er und zog sie in eine Ecke, gib mir alles Petroleum, was wir haben, heute Nacht, nur heute Nacht. – Die Mutter hat den Schlüssel. Aber ich muß mit dir reden, ob du uns wirklich alle zugrunde richten willst, lieber, einziger Thomas, wenn deine Schule – Laß das jetzt, ich brauche Licht. – Die Mutter hat das Petroleum. – Mutter, gib mir alles Petroleum. – Geh schlafen. – Mutter, nur heute. –

Die alte Friseurin grinste höhnisch: – hab keines mehr.

Thomas wußte, es ist nicht wahr. Und war machtlos.

– So geh ich zu den Nachbarn. – Die schlafen. Die Frau hat Nachmittag ein Kind bekommen.

– Gott …Thomas brach auf seinem Bett zusammen. Gott war das Wort. Und das Wort durfte nicht gesprochen werden.

Dunkel. Der Bub schnarcht und hustet abwechselnd. Die Hand –

Nachtkälte kriecht durch das Fenster, und Tagwärme schleicht in sie hinein. Die Hand legt sich an die Kehle, den Daumen eigentümlich scharf weg.

Gertrud und die Mutter im Nebenzimmer atmen schwer. Stöhnen. Die Hand würgt.

Schwarz. Aber aus den Knochen heraus, aus dem zarten Mark bricht es dunkel glühend, ächzend. Gestalt, Klang, tasten, berühren, drängen, steigen, sich heben. Die Poren saugt es hinaus in die kalte Luft. Und ist doch drinnen, noch im Mark, flammend rot, brennend –

Ach, wozu liegen, tot sein. Wer kann sterben, wenn das Innerste leben will.

In schwarzen Ballen fällt es aus sich heraus, in blutigen Brocken. Gedrückt von fremden, arbeitsamen Fingern. Eine brühende Masse schwelt in den Gliedern. Kocht, brodelt und schmeißt sich nach oben – daß die Haut sich dehnt über den steinharten Knochen.

Gewalt.

Und alle schlafen – dunkel –

Nein – licht soll es werden – licht – hell – grell.

Er schleicht hinaus vor das Haus mit Katzentritten.

Der Hund bellt – heult –

Alle schlafen – aber das Wort kann nicht schlafen – das Wort muß leben – lodern – zerstören –

Er klettert auf die Straßenlaterne, zerschlägt sie vorsichtig, entzündet die Fackel aus dem Schuppen, schlägt das Fenster ein – Licht fällt in das Haus – das Wort fällt in das Haus, und der Dichter rast durch die dunklen Gassen.

Ruth fährt auf aus dem Schlaf. Sie trägt ein Kind im Leib. Ach nein. Die Feuerwehr …

Der Säugling der Nachbarin ist verbrannt. Sonst wurde alles gerettet. Und die Teilnahme der ganzen Stadt wendet sich der Familie des geisteskranken Volksschullehrers zu.

Ruth besuchte Thomas mit Onkel Gustav in seiner Zelle. Er saß zusammengekrümmt über einem leeren Papier. Seine Augen blickten nicht mehr in sich hinein, aber hinaus und in das Leere. Und seine Knochen waren ohne Mark. Leer.

– Ruth, sagte er, denk bloß, alles ist verbrannt.

Sie gingen. Onkel Gustav weinte. Ruth schwieg. Aber sie trug eine kleine Leiche in sich, fühlte die winzigen, angstverkrümmten Knochen.

Drei Tage später kam der blasse Bub, rot geheult. Thomas war zum Fenster hinausgesprungen. Ruth nickte nur. Auf dem Steinpflaster liegt ein schwerer Knochenhaufen. Zerschmettert.

– Sei ruhig, sagte sie zu dem aufgeregten Buben, was weinst du. Schäm dich.


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