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Eine Mutter

Ruth sah einmal im dunklen Zimmer Mutter vor einer zerbrochenen Tasse stehen. Die Scherben zerschnitten die Luft, weiß, mit scharfen Kanten. Mutter starrte dumpf darauf hin. Ihre zerstückelten Bewegungen hingen herunter. Und in das trübe Grau der Augen wollte das Weiße hereinbrechen, mit scharfen Kanten.

Das war lange her. Jetzt haßte Ruth Mutter, weil die alte Friseurin ihren Sohn zum Brandstifter hatte werden lassen.

Mutter steckte sie als kleines Kind Punkt acht Uhr in das Bett. Dann kaufte sie ihr Schulhefte, die viel zu breit liniert waren. Mutter glaubte einem boshaften Dienstmädchen mehr als ihr. Mutter zwang sie, große Gläser mit gekochter Milch zu trinken, wo noch die Haut herumschwamm. Mutter ließ sie nächtelang bei geschlossenen Fensterladen schlafen, so daß sie glauben mußte, sie sei blind. Mutter durchblätterte ihre Bücher, die doch ihr allein gehörten. Mutter rückte den Tisch ihres Zimmers in die Mitte, obwohl er unbedingt an der Seite stehen mußte. Mutter löschte das Licht, wenn es zu spät wurde. Es war ja nur ein Zufall, daß sie nicht auch schon zum Fenster hinausgesprungen war –

Mutter war schuld an dem entsetzlichen Brandunglück. War auch schuld, daß der arme Säugling elend umgekommen war. Mutter, die alle kleinen Kinder so sehr liebte.

Ruth sah auf Mutters langfingerige Hände. Wieso hatten die keine roten Brandwunden. Nein, sie waren weiß und schlank, nur durch viele Falten und Sprünge zerklüftet. Von welcher Arbeit …

Mutter suchte die alte Friseurin selbst auf und tröstete sie, wie sie wortlos dasaß neben der Nähmaschine der Tochter. Ruth ging nicht mit. Man sprach von Thomas immer wie von einem Geisteskranken. Das war eine Unverschämtheit.

Als Mutter nach Hause kam, hatte sie rotgeweinte Lider. Ruth stand in einer Fensternische, tief hineingepreßt in den dunkel samtenen Vorhang. Sie wollte schreien: – ihr habt alle kein Recht, um ihn zu trauern. Da sagte Mutter: ich weiß schon, Ruth, daß du immer mit Thomas warst. Er war ein armer Narr. Aber du solltest dich schämen.

Eine zorndurchschüttelte, blutende Faust – oder ist das die Flamme – Thomas' Flamme – Mutter brüllt auf.

Onkel Gustav trug Ruth aus dem Zimmer. Riesenkraft war in seinen willenlosen Armen, wie er sie durch den langen Gang schleppte. Er zog sie in den Vorratsraum, wo ein Faß mit altem Kraut stand. Hier warf er sie auf den Boden.

Er stand vor ihr weißblaß und sehr groß. – Ruth, weißt du, was du getan hast. Du kannst es nicht wissen. Du hast Mutter schlagen wollen.

Er ging hinaus und zog den Schlüssel ab.

Ruth dachte nur: jetzt muß ich zum Fenster hinausspringen. Das ist selbstverständlich, natürlich. Ich brauche bloß auf den Stuhl dort zu steigen, es macht nichts, daß das eine Bein wackelt. Er trägt mich so weit. O, und dann stürze ich. Eine breiige Masse. Aber es tut sicher weh, furchtbar weh, furchtbar, nein, ich fürchte mich, um Gotteswillen, ich habe ja so gräßliche Angst –

Sie kroch in den hintersten Winkel der Kammer. Sie bohrte den Kopf in die Steinfliesen. Verbrecher sein. So also war es. Das heißt vor allen Dingen ganz allein sein. Ganz allein. Aber das darf man doch nicht zu Ende denken. Jetzt gehen die Menschen aus den Geschäften nachhause. Man schließt die Läden so wie alle Tage. Und in den Straßen die gleichgültige Menge. Aber sie ist allein.

Was war nur mit dem Mann, der seine Mutter geschlagen hatte. Als Kind hielt sie sich die Ohren zu, wenn man die Geschichte erzählte. Aber sie weiß es doch: die Hand war aus dem Grab herausgewachsen. Man hieb sie ab. Und sie wuchs immer wieder. Ruth sieht vor sich eine gelbe Steppe. Und auf ihr steht graugrün heraus die Leichenhand mit entsetzten Fingern. Oder ist das ihre Hand –

Sie hat nicht den Mut zu sterben. Sie wird nie den Mut haben. Aber sie kann auch nicht leben. Denn sie kann nicht denken. So etwas kann man doch nicht denken, immer denken, immer denken.

Mutter kam am späten Abend mit einer flackernden Kerze und wirren Haaren. – Mutter, sagte Ruth mit toter Stimme, habe ich dich wirklich geschlagen? – Nein Ruth, dazu ist es nicht – Mutter wenn ich dich berührt habe, ich müßte sterben. Aber ich fürchte mich vor dem Tod. Und ich müßte sterben. Und du müßtest mir helfen.

Mutter kniete zu ihr nieder und küßte sie.

Am Abend setzte sich Mutter an Ruths Bett. Aber Ruth preßte die Lider zu in erstarrtem Entsetzen. Das Weiße in Mutters Augen war zerbrochen. So wie einmal vor langer Zeit eine Tasse. Und wie Thomas' Stimme, wenn er sagte: ich habe kein Licht. Ja, wie Thomas. Mutters suchender Mittelfingerknochen war wie bei Thomas, zu kräftig.

Überhaupt, wie kommt sie dazu, Thomas gegen die Mutter zu verteidigen. Thomas ist gestorben, weil die Kraft in ihm nicht leben durfte. Er war stark. Und es ist gut, daß er tot ist. Aber Mutter ist schwach, und ihre Kraft kann die Knochen nicht sprengen. Zerfrißt nur das Mark und macht die Gelenke schwippend nachgiebig. Mutters Leben –

Ruth legte den Kopf in Mutters Hand und weinte.

Aus den zerklüfteten Handrinnen stieg ihr ein wohlbekannter, warmer, ein nie beachteter Atem entgegen.

Irgendwo liegt im Gras eine duftende Frucht. Und über das Mark des Baumstammes preßt sich eisenhart die dürre Rinde …

Mutter war auch einmal ganz klein gewesen. Man hatte ihr unmäßig große Schärpen über die weißen Kleidchen gebunden. Und sie saß in einem großen Kinderwagen, ganz allein.

Sie trug ihr kleines Schicksal in krampfhaft zusammengeballten Fäusten. Und erreichte nie etwas, weil diese Fäuste immer zu schwer von dem kleinen Körper herunterhingen. Sie gewöhnte sich an den Mißerfolg und deshalb war ihr kein Ideal zu groß. Sie wollte Königin werden, dann Sängerin, und dann – o, was sie alles werden sollte. Sie trug ihr ganzes Leben die Last von unzähligen untergegangenen Existenzen in sich. Und ihr Vater hatte alle Pferde verspielt.

Sie hatte einmal einen Tag, vielleicht nur eine Stunde, oder nur eine Sekunde lang mit Ruths saugendem Blick aus sich herausgeschaut. Oder vielleicht nur einmal den Kopf hart und eckig zur Seite geworfen, wie Ruth es immer tat.

Und sie hatte ihr eigenes, einziges Dasein gesucht. Dann heiratete sie. Dann gebar sie drei Kinder. Und dann war ihr nichts mehr von sich geblieben, als eine suchende Vergangenheit und drei neue, fremde Menschen.

Die alte Friseurin träumte einst davon, die erste Tänzerin der Welt zu werden. Ihr häßlicher Sohn sprang aus dem Fenster und zerschmetterte sich in einem Gefängnishof, ohne daß sie je verstehen konnte, warum. Ihre mißgebildete Tochter nähte Hemden für vornehme Damen. Und nichts war von ihr übrig geblieben als das bißchen Schminke auf den eingefallenen Wangen, das sich nicht wegwaschen ließ. Das bißchen Schminke.

Und die Kinder laufen wie Diebe in die Welt hinaus. Man kann ihnen das Eigentum nie mehr abnehmen. Denn es ist untrennbar, unkennbar verbunden mit fremden Säften, denen man sich einmal geschenkt hat.

Ruth wurde sehr krank. Sie lag ein paar Wochen durch mit hohem Fieber und keuchendem Atem. Die graue Tapete ihres Zimmers wurde zu einer einzigen, ungeheuren Ebene, in die alles hineinversank wie in einen Moorboden. Müde und wohlig. Mutter saß Tag und Nacht an ihrem Bett mit überwachten Augen und Teelöffeln in der Hand. Ruth dachte: wenn ich wieder gesund bin, schenke ich Mutter das Schönste und Beste, das ich habe. Aber sie wußte nie, was das sei, und wünschte sich auch gar nicht, bald gesund zu werden. Besser immer so liegen können. Und niemand kann einem Vorwürfe machen. Sogar Richard brachte ihr Veilchen.

Als sie den ersten Tag wieder fieberfrei im Bett lag und Mutter ihr die Kissen gerade frisch gerichtet hatte, fragte sie: – was möchtest du, daß aus mir werden soll. Mutter sah sie erstaunt an. – Ja, ich kann doch nicht weiter so in den Tag hinein leben. – Ich möchte, daß du glücklich wirst, Ruth. – Wie ist das? – Du mußt froh sein und gesund und auch heiraten. – Weißt du Mutter, von Thomas hätte ich gerne ein Kind bekommen. – Aber Ruth – Nein, nicht böse sein. Mutter, bitte, bitte nicht. Ich möchte dir nur von Thomas erzählen, weil das so wunderschön war.

Ruth erzählte von Thomas' Buch, als ob sie es schon hundertmal gelesen hätte. Mutter sagte: – armes Kind. Und küßte sie. – Aber du mußt jetzt schlafen. Sie löschte das Licht aus. Ruth fragte in das Dunkel hinein: warum arm …

Sie erwachte am nächsten Morgen sehr zeitlich. Mutter sagte im Nebenzimmer zu Martha: – wir hätten eben besser auf sie achtgeben müssen.

Da sah Ruth hinter dem Fenster in der Frühdämmerung wieder die Hand des Mannes aus dem Grab wachsen, der seine Mutter geschlagen hatte. Nein, es waren viele, es waren unzählige solcher Hände. Sie sah diese Hände draußen vor dem Fenster und wußte: im Nebenzimmer wird jetzt eine ungeheure Schändlichkeit geflüstert. Ein Heiligtum wird besudelt. Dann geht Mutter in die Küche zu der Köchin und Martha in die Schule. Nein, das hatte Thomas nicht verdient.

Sie wollte aufstehen und fliehen, weit, weit weg über sumpfige Wiesen und Felder. In das Graue hinein. Nur Mutter nicht mehr sehen. Und in der Kommode daneben liegen ja sorglich eingeordnet seine Briefe an Mutter. Mutters Seele steckt auch drinnen in den gelben Phiolen. Und richtig, in Mutters Bewegungen zerbricht sich dieselbe Disharmonie wie in seinen, wenn er die Zigarre zum Mund führte. Wie kann Mutter es wagen, ihr Leben bewachen zu wollen. Draußen wachsen die Hände aus den Gräbern. Aber das Weiße in Mutters Augen ist zerbrochen. Sie kann Mutter nicht helfen. Sie ist allein. Weiß Mutter das nicht? Die Nabelschnur, an der sie hing, ist längst zerrissen. Arme Mutter! – Aus allen Gräbern wachsen die mörderischen Hände.

Mutter sagte am Nachmittag zu Onkel Gustav: ich werde Ruths Leben von nun an zu lenken wissen. Ich muß ihr weiter helfen. Sie ist – Laß das, antwortete Gustav müde. – Das lassen? – ja wozu bin ich denn sonst da …?

Und sie saß bis in die Nacht hinein und berechnete ein neues Kleid für Ruth. Als es nach ihrer Angabe genäht war, hing Ruth es in die hinterste Kastenecke und zog es niemals an.


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