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Onkel Gustav

Onkel Gustav war klein. Er war nur ein ganz wenig kleiner als die andern und doch glaubte er, an ihnen hinaufsehen zu müssen. Er spielte Geige. Um ein klein wenig schlechter, als man spielen muß, um ein helles Leben zu haben. Er malte. Und es hätte nur eines Funkens Kraft, eines Fußtritts Persönlichkeit bedurft und er wäre ein großer Künstler geworden. So war er klein, sogar sehr klein.

Ein Sprung und er hätte den Gipfel erreicht. Zu diesem Sprung kam er nie. Und so blieb er hoch oben hängen, über dem Abgrund. Und die von unten lachten ihn aus.

Als Onkel Gustav drei Jahre alt war, waren es seine Zartheit, seine rührend fragende Stimme, seine samtenen, etwas zu großen Augen, die seine träge Mutter das erste Mal in ihrem Leben lebendig machten.

Sein Vater behandelte ihn wie einen überempfindlichen Rassehund. Die Mutter liebte seine glänzenden Locken. Und die große Schwester stürzte sich auf ihn in zügelloser Leidenschaft. Die vielleicht nicht ganz ihm galt, sondern auch der Freude zu herrschen, herrschen zu dürfen über einen andern; während ihre fordernden Finger sich krümmten unter der Zuchtrute des väterlichen Hauses.

Onkel Gustavs zarte, etwas bräunliche Haut hatte einen leicht verwelkten Geruch an sich. Der angenehm war, wie der Duft ermüdeter Rosen. Und lähmte.

Vor dem Hause seiner Kindheit war ein tropisch üppiger Garten gewesen. Und alles wurde verspielt.

Gustav wußte nie, was wirklich um ihn vorging. Das teilte er mit der Schwester. Sein Zuhause war ein Königsschloß, Vater der König, Mutter die Königin, ganz wie im Kindermärchen. Und die große Schwester erklärte ihm die Welt. Die richtig gezeichnet war, nur mit zu langen Strichen. So daß überall spitze Ecken waren und Anhängsel. Doch das konnte er nicht wissen.

Er hatte eine runde Kopfform. Eine runde, etwas kindische Nase, runde Augen. Er geigte in weichen, abgerundeten Tönen, die nicht zu Ende kommen wollten. Mischte auf seinen Bildern mollige, runde Wolken ineinander und seine griechischen Vokabeln bissen eine in die andere, immer im Kreis.

Im Gymnasium war er durchgefallen. Vater verachtete ihn. Mutter weinte. Die Schwester erklärte, er sei ein Künstler und die Prüfer gehören gehenkt.

Die Dienstboten verspotteten ihn. Seine Kameraden gingen mit ihm um wie mit einem verwachsenen Kind. Aber er hatte einen Freund, der groß und stark war, etwas zu klug und ganz gemein blond. Der studierte ihn genau. Bis er mit derselben nachlässigen Gebärde die Schulbücher über den Tisch warf, die Haare, genau wie er, etwas zu lang in den Nacken trug und eine ebenso tolle Zusammensetzung französischer Gassenhauer pfeifen konnte. Dann verließ er ihn. Er galt für sehr interessant. Und kam bei allen Prüfungen durch.

Alte Damen hatten ein unverschämtes Bedürfnis, sich Gustavs anzunehmen. Der Kondukteur der Straßenbahn behandelte ihn mitleidig lächelnd, weil er ihm zu viel Trinkgeld gab.

Aber alle Hunde hatten ihn gern. Weil er nicht besser sein wollte als sie. Er liebkoste sie wie eine fremde, seltsame Sache, der man nicht zu nahe gehen dürfe, er respektierte sie. Als er sehr klein war, sagte er den großen Jagdhunden seines Vaters »Sie«. Später sprach er nicht mehr mit den Hunden. Er wußte, daß sie ihn nicht verstanden. Aber er lebte mit ihnen und sie durften ihr eigenes Leben führen. Was ihm versagt war. Das wußte er nicht. Sie saßen neben ihm beim Schreibtisch, wenn er schrieb, neben ihm, wenn er aß, sie lagen neben seinem Bett. Sie hatten alle keine Namen. Aber seine Schwester gab ihnen englische Sportsnamen. Er konnte nichts dagegen machen.

Junge Frauen liebten ihn plötzlich und stürmisch. Ja, sie verehrten ihn sogar. Er sah in jeder eine Mutter Gottes. Und sie waren sein Stolz.

Er hatte eine Schreibtischlade voll von Liebesbriefen. Davon wußte die Schwester nichts. Er hob das nicht auf aus Eitelkeit. Aber wenn er hungrig war und erfroren, nahm er sie vor und wurde warm und glücklich. Er lebte von dem Glauben der Frauen an ihn, der immer gar zu rasch verflogen war. Das wußte er nicht. Als er achtzehn Jahre war, verliebte sich eine blonde, junge Wilde in ihn. Sein Vater wollte ihn gerade durch die Schule zwingen. Sie kam ins Haus und erklärte wutsprühend, er brauche keine Prüfungen, er käme in die Fabrik ihres Vaters, er sei geboren, Massen zu lenken, so wie er unlängst mit dem Werkführer gesprochen …

Es gab Augenblicke in Gustavs Dasein, die wie rote Raketen emporstiegen, leuchtend, hoch. Und dieses falsche Feuer durfte sein Leben erwärmen. Denn er hatte ein gläubiges Herz.

So ein Augenblick war es, als sie, die blonde, junge Wilde vor seinem Vater stand. Sie war überflutet von einer weißgelben Märzsonne. Und draußen schmolz der Schnee. Sie schlug mit ihrer etwas zu großen Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten und die dunklen Eichenmöbel ganz verwundert schienen. Vater war auch ganz verwundert. Und er selbst war so glücklich, daß er vergaß, um was es sich handelte.

Dann war er drei Wochen verlobt. Länger ließ es die Schwester nicht zu. Denn sie wußte ja, daß er ein großer Künstler werden würde. Und da glaubte er es auch. Die blonde, junge Wilde heiratete später einen Ofenröhrenfabrikanten.

Gustav konnte nicht über die Straße gehen, ohne daß sich ein blondes Mädel an seine Rocktaschen hing. Und er liebte sie alle. Nur wußte er nicht, sollte er sich so benehmen, wie seine Freunde es taten oder sich der strengen Moral der Schwester fügen. Während er sich das überlegte, verschwand das blonde Mädel.

Eine grobknochige Malerin hatte ihn in einer Ausstellung untergebracht, sechs Wochen lag er in ihrem Atelier herum, als ihr erklärter Liebling. Ihre Freundinnen stutzten seine zu langen Locken. Und ihre wilden Umarmungen standen wie riesige Raketen auf seinem Lebenshimmel. Dann holte ihn die Schwester. Die Malerin reiste nach Paris.

Sein Zimmer wurde immer enger. Vater und Mutter waren tot. Das viele Geld fort: Er wußte nie genau, wie es gekommen war. Er bastelte eine eigene Liegestatt für seinen großen Terrier. Schrieb eine rechtsphilosophische Abhandlung, lernte Indisch. Des Abends ging er zu seiner Schwester. Sie setzte ihm auseinander, er sei ein verfolgter Märtyrer seiner Kunst. Sie schmiedete die schwierigsten Intrigen gegen seine Feinde, schickte ihn zu großen Herren betteln. Schrieb Gesuche für ihn. Er empfand ihre Geschäftigkeit angenehm um sich herumspülen, wie lauwarmes Wasser. Und steckte die Finger hinein und spielte drinnen mit den Zehen. Trank Limonade und hielt die Kinder auf seinem Schoß. Nach jedem neuen Schicksalsentwurf, den sie machte, ging er lächelnd nachhause. Seine dunkle, schmutzige Straße beleuchteten grellrote, kalte Lichtfetzen. Und in seinem Zimmer waren Wanzen.

– Du mußt nicht so ungeduldig sein, sagte er zu der Schwester, wenn sie klagte und in verzweifelt großen Schritten durch das Zimmer jagte, – nein, schau, eigentlich sind wir – er sagte immer wir – stark im Hinaufsteigen begriffen. Die Exzellenz hat mir versprochen, ich bekomme die Violinstunden bei dem jungen Prinzen. Also, bin ich dort, dann ist alles fertig. Ich spiele im Salon vor. Lauter Fürsten und solche Leute. Man arrangiert ein Wohltätigkeitskonzert. Ich bin dabei. Dann kann überhaupt niemand anderer für die Dirigentenstelle in Betracht kommen. Setze ich dann erst meine Kompositionen durch – du wirst schon sehen. Überdies habe ich die größten Aussichten, daß meine Feuilletons gedruckt werden. Ich habe zwar erst eines, aber die andern sind fertig im Kopf. Wart' nur, nächstens bring ich dir die Zeitung.

Eines Abends kam er bleich vor Erregung: – Ich bin an einem technischen Unternehmen beteiligt. Eine Riesensache. Ich darf es nicht näher sagen. Ich glaube, ich habe auch schon eine Erfindung gemacht. Aeroplan.

Drei Monate später hatte er sein letztes Geld verloren. Ein Zufall verschaffte ihm eine Stelle als Zeichenlehrer in einer Provinzstadt. Die Schwester war böse. Warum hatte er ihren Rat nicht befolgt, nicht das Gymnasium gemacht?

Gustav kam in eine Welt, die aus Fabrikschloten bestand und holprigen Gassen. Grauem Nebel, einem grauen Haus, feucht riechenden Kleidern, kaltem Rauch. Er mußte täglich eine halbe Stunde in der Früh in die Schule gehen. Mit zerrissenen Sohlen und fadem Kaffeegeschmack. Er ging durch eine gerade, lange Straße voll Schwerfuhrwerken mit fluchenden Kutschern, schrillen Schulkinderschreien, Papierfetzen. Er fürchtete sich vor seinen Vorgesetzten, wie als Kind vor den Lehrern. Er konnte die Vorschriften so wenig erlernen, wie als Kind die Aufgaben. Er fürchtete sich vor seinen Schülern, die ihn verachteten, weil er mit ihnen höflich war.

In der Stadt hieß es allgemein, er schreibe ein Drama. Ein ganz modernes, verrücktes. Er bekam vier Liebesbriefe von höheren Töchtern. Die er sorgfältig aufhob in der bewußten Lade.

Die Tochter seiner Hausfrau liebte ihn. Sie war stark geschnürt und hatte Blumen auf dem Hut, die aussahen wie von Papier. Und sie brachte ihm täglich das Frühstück. Auch bat sie ihn, ihr Zeichnungen zu machen, nach Photographien gewesener Liebhaber. Was er geschickt und sorgfältig ausführte. Aber sie war nie ganz zufrieden. Er merkte es nicht. Aus der Bluse heraus guckte farbige Unterwäsche.

Eines Abends war er bei seinem Direktor eingeladen. Das Zimmer war zum Ersticken rauchig. Die Frau des Direktors hatte eine hart abgerundete Stimme. Sie sprach sehr laut. Und am meisten mit einem breitschultrigen Mathematikprofessor. Von Gustavs Anwesenheit schien sie überhaupt nichts zu bemerken. Gustav dachte: unangenehm, daß sie so eine weiße Haut hat. Wie ein frisch enthülltes Denkmal. Oder Stiegen, die einen schwindeln machen. Auch schaut sie nach allen Seiten auf einmal, als ob sie vierfach schielte. Wie sie wohl aussieht, wenn sie schläft …Und dann sehnte er sich nach seinem Terrier und dachte nach, ob der Ofen in seinem Zimmer schon ausgegangen sein wird, bis er nach Hause kommt. Als er fort ging und schlaftrunken über die dunklen Stiegen taumelte, rief ihm die Direktorsfrau nach: – Hallo, Sie, Herr Zeichenlehrer, oder wie Sie heißen, vergessen Sie Ihren Hut nicht, da, gute Nacht! – Er fühlte einen heftigen Schlag auf das Hinterhaupt, und am nächsten Morgen eilte er sich, in die Schule zu kommen, vielleicht steht die Frau des Direktors beim Fenster, vielleicht geht sie gerade Einkäufe machen …vielleicht …

Er erzählte den Jungen von der griechischen Kunst, daß selbst die Dümmsten und Klotzigsten Augen und Ohren aufrissen. Er sprang über das Reck im Turnsaal und kaufte seinem Hund eine Extrafleischportion. Er merkte nicht, daß der Nebel ihm ins Zimmer kroch und der Ofen rauchte.

Zu Weihnachten bat ihn der Direktor, seine Frau zu zeichnen. Er saß in einem warmen Zimmer, mit glatten, dunklen Möbeln und loderndem Kamin. Brand, raketenroter Brand. Vor dem Fenster der geradwegige Schulgarten, abgerundet im Schnee. Sie saß vor ihm mit einer Handarbeit, weiß und überreif, wie eine süße, tropische, wie eine ungekannte, ungeahnte Frucht. Das Zimmer roch nach Mandelblüten. Und ihr Haar war schwarz und zu glatt nach hinten gelegt.

– Sehen Sie, sagte er, hier kann man zeichnen. Das ist doch was anderes als zuhause, immer kalt, und wenn ich meinen Hund nicht hätte, – es kam ihm vor, als ob er etwas Unpassendes gesagt hätte, er wurde dunkelrot und machte einen Strich quer durch die ersten Umrisse ihres großzügigen Gesichtes. Sie sah ihn an, beobachtend, wie ein neues Möbelstück, ob es brauchbar wäre. Und er dachte: nein, die hält mich nicht für groß, nein, die hebt mich nicht in den Himmel, sie traut mir gar nichts zu, rein gar nichts. Und sie hat recht. Einen Augenblick dachte er in glühendem Haß an seine Schwester. Und dann: Es ist alles eins. Aber ich zeichne sie jetzt nur einmal und dann nie mehr. Ich zeichne sie, wie sie ist, o so ganz, wie sie ist.

Und aus dem grauweißen Papier heraus wuchsen, Zug um Zug, unterdrückte Entbehrung und uneingestandene Wünsche. Der bleiche Widerschein ihres Körpers und Mandelduft. Das Gefängnisgitter ihres Kinderbettes und der Brief, mit dem sie die Werbung ihres Mannes beantwortet hatte. Gustav wußte alles und er, der nur sein eigenes unechtes Bild gekannt hatte und die blonden Madonnen mit den Liebesbriefen, er sah ein Leben vor sich und wieder aufwachen und bluten unter seinen Händen.

– Bring dem Herrn Professor eine Schale Tee, sagte sie zu ihrem kleinen Sohn, der etwas hervorstehende Augen hatte, wie sein Vater. Ihre Stimme war wie Schläge gegen das Hinterhaupt. Da war die Zeichnung fertig.

Sie wurde rot, als sie sie sah. Und sagte nur Danke. Gustav ging.

Er traf sie das nächste Mal Anfang Mai in der Dämmerung auf dem Friedhof. Er ging gerne auf dem Friedhof spazieren mit seinem Hund. Er liebte Zypressen und fühlte sich so seltsam unbehelligt.

Die Blätter dufteten nach dem Sich-schon-geöffnet-haben. Die Erde auf den offenen Gräbern war tiefschwarz. Sie kam ihm entgegen, schimmernd und licht, wie ein ganz weites und reiches Ährenfeld in der Julisonne. Ein Schlag auf den Hinterkopf. Er küßte ihre Hand, langsam und vorsichtig. Sie sah auf dem Weg vor sich dicke, runde Kieselsteine. Die hervorstehenden Augen ihres Mannes. Aber ringsum die Blätter waren grün und zart und jung und die Erde schwarz. Sie nahm seinen weichen, knabenhaft lockigen Kopf und küßte ihn. Große leuchtende Rakete. Und jeder ging seines Weges.

Am andern Tag warf ihn seine Hausfrau hinaus. Er hatte nicht beachtet, daß ihre Tochter ihm durch nunmehr schon zwei Wochen das Frühstück nicht brachte. Er war ein unanständiger Mensch. Und der Hund machte alles schmutzig. Auch wollte ein anderer einziehen.

In der Schule hatte er staatsfeindliche Reden geführt. Sein verrücktes Drama kam ewig nicht zum Vorschein. Er ging herum wie in berauschtem Schlaf, in einer andern Welt. Was ihm diese Welt nicht verzeihen konnte. Er war gar nicht so dumm, wie er aussah, zum mindesten machte er keine genügenden Dummheiten. Er zog ohne Recht die Aufmerksamkeit auf sich. Das war unverschämt. Er beantwortete einen Backfischbrief höflich und herzlich. Die Eltern fingen ihn auf. Die Empörung stieg. Er wurde hinausgeworfen.

Als er seine kleine Stube räumte mit dem zu kleinen Eisenofen, der immer rauchte, weinte er. Er weinte, wie ein kleines Kind, hilflos und lange mit großen Tränen, bis sein Gesicht verschwollen war und sein Denken verdumpft. Und er schaute aus dem papierverklebten Fensterchen über gleichgültige Dächer und Schornsteine in den grauen Nebel. Der das erste war, was er in seinem Leben frei und allein gesehen hatte. Denn hier war die Schwester nicht dabei gewesen. Und der fade Ruß deckte nur eine weiße üppige Blässe, ein unendliches Ährenfeld weit, weit dahinter im Winde.

Er konnte nicht atmen in den letzten Tagen. In seiner Kehle saß das Hierbleibenwollen. Er verteidigte sich gegen niemanden, er sprach mit niemandem, er haßte niemanden, er sorgte nur für das Essen seines Hundes. Er liebte jedes Schild den weiten Schulweg entlang. Die Buchstaben standen schwarz und steif auf dem nicht mehr weißen Hintergrund.

Es war unmöglich abzureisen. Es war unmöglich zu bleiben.

Und er sah sie nicht mehr.

Da traf er einen erwachsenen Schüler auf der Straße, der ihn grüßte. Einen großen, etwas dummen Menschen mit treuen Bewegungen. Er sprach mit ihm. Und bat ihn, ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er kaufte ein Billet. So mußte er reisen.

Und er sah sie nicht mehr.

Er saß in der Bahn an einem nachtschwarzen Nachmittag, in dem stickigen Dritter-Klasse-Kupee, zusammengepfercht mit Fabriksarbeitern und wichtigen Kleinbürgern. Unten fror man entsetzlich in den Füßen und oben fraß sich schmieriger Zigarrenrauch ins Gesicht, der noch den Speichel all der ungepflegten Münder in sich hatte.

Gustav fühlte sich hier wieder groß. Er wußte, daß alle die Leute um ihn herum nicht einmal ahnen konnten, welche Schmerzen er litt. Er fühlte sein Schicksal unbändig schwer und mächtig vorne auf den Schienen liegen. Die Lokomotive stapfte mit ihrem eisenharten Leib darüber hin.

Eine süße Wollust betäubte ihn. Sein Vater mußte einmal eine sehr schöne Frau geliebt haben. Und er schlief ein.

Dann war er wieder ein kleiner, verschreckter Bettler, der zu seiner Schwester ging und sich von ihr auszanken ließ mit harten Worten. Deren Ungerechtigkeit er wohl kannte. Und die er nicht beantwortete.

Er verstand nicht, sich zu ernähren. Und auch nicht, zu verhungern. So ließ er sich in die Mittelschule der Stadt hineinprotegieren und ging Mittwoch und Samstag zu seiner Schwester essen. Dort war er nicht mehr, als Mutters Bruder, ein höheres Wesen, sondern trotzdem er Mutters Bruder war, ein trauriger Narr. Man war gut mit ihm. Und Richard und Martha wurden sehr herablassend.

Eines Tages, als er einige Heller mehr hatte als nichts, ging er an einer kleinen Ansichtskartenhandlung vorbei. Das ganze Fenster war voll grellfarbiger Gebirgslandschaften, schmachtender Mädchenköpfe, Blumenstücke, Liebesszenen. Er liebte Ansichtskarten. In seinem Zimmer hingen immer abwechselnd sechs Stück an der nackten Wand. Nicht mehr und nicht weniger. Mit Reißnägeln befestigt.

Er ging in das Geschäft und unterhandelte lang mit der kleinen, blonden Verkäuferin. Dann kaufte er ein weißes Kaninchen auf grasgrünem Hintergrund. Obwohl er selbst es häßlich fand.

Er kam wieder jede Woche, jeden Tag. Gisa, die kleine Verkäuferin, hatte zu wenige und zu lichte Haare und dumme kleine Zähne, die übereinander lagen. Sie war nicht mehr ganz jung und doch kindlich zart. Sie liebte ihn und er fror alle Abende allein in seinem dunklen Zimmer.

Er zeichnete Ansichtskarten für das Geschäft. Eines Abends, als sie ihm zusah, küßte er sie auf die Stirne. Sie lehnte sich an ihn und sagte, sie seien verlobt und ihr häuslicher Herd werde ein Paradies sein, wie keines in der Welt. Er war erstaunt und sehr glücklich.

Sie waren lange verlobt. Sie verehrte seinen Geist und seine Kunst und plapperte ihm alles nach. Es kam drollig heraus, in ihrem Deutsch, das vom Dialekt nicht ganz zu reinigen war.

Er war glücklich. Nur konnte er zornig werden, wenn ihr Bruder, ein Soldat, nach Wirtshaus roch und ihre Mutter wollene Strümpfe auf den Tisch legte, auf dem eine goldene Vase mit verwelkten Gräsern stand. Dann schlug er auf den Tisch mit der Faust. Sie weinte hysterisch und zu laut.

Sie hätten sicher geheiratet, wenn er das Geheimnis ihrer Verlobung nicht doch zu zeitlich Mutter verraten hätte. Sie zog ihn vor das Grab seines Vaters und beschwor ihn, seinen toten Eltern diese Schmach nicht anzutun. An sein väterliches Haus zu denken. An seine Erziehung. Er floh vor ihr. Sie ließ nicht locker. Sie holte ihn von der Schule ab, sie lauerte des Abends auf ihn vor der Haustür. Es kam zu häßlichen Szenen zwischen ihr und Gisa, wo er kaum die einzelnen Worte verstand und sich fragte, ob man denn so schreien könne, ohne betrunken zu sein.

Und Mutter siegte. Mutter war die Stärkere. Mutter war sehr stark.

Er aber schrieb, als alles endgültig vorüber war, seinen ersten und einzigen Brief an die Frau des Direktors. Er wollte ja nur wissen, ob sie lebe, ob sie gesund sei, ganz gewiß gesund. Es war vielleicht ein wunderbarer Brief. Der nie beantwortet wurde.

Das war vor einigen Jahren. Seither führte man Gustav nicht in das Zimmer, wenn Gäste da waren.

 

Ruth ging an einem staubigen Spätsommerabend durch den großen, öffentlichen Park. Die Blätter hingen welk an den Bäumen, zu kraftlos, um sich abzubröckeln. Und zogen alle Säfte nach unten. Während graue Dämmerung die Wipfel drückte.

Auf den braungelben, eisernen Klappsesseln saßen in langen Alleen Liebespaare. Die Sesselfrau humpelte zwischen ihnen herum und kontrollierte sie. Und jedes hatte ein Gegenüber. Das saß schon dort seit Mai und nichts hatte sich geändert.

Vom Kaffeehaus herüber spielte die Kapelle Ouvertüren und Operettenlieder. Eintönig und zu rasch. Alles war hier so langsam und müde. Runde, dunkle Holzreifen trennten den Rasen vom Weg. Aber der Kies lag verstreut noch weit im grauen Gras.

Ruth dachte daran, daß sie möglichst spät nach Hause kommen wollte. Daß sie vergessen hatte, die Schuhe vom Schuster abzuholen. Daß sie ihren neuen Koh-i-noor verloren hatte.

Ihre Sohlen spürten, daß sie bei jedem Schritt in dem zerwühlten Sand etwas hinter sich ließen, das dunkel war und weich und wenn man ganz hinsah, tief hinunterging. Abgrund. Und ein chemischer Geruch aus trübgelben Phiolen. Eine Beethovensonate, die gerade verklang und doch lebte, obwohl sie ohne Verständnis gespielt worden war.

– Guten Abend, Onkel Gustav, sagte Ruth, todtraurig.

– Guten Abend, Ruth, bist du auch hier. – Der große Terrier preßte sich dicht an seinen rechten Fuß.

Sie setzten sich in eine Allee, in die das gelbe Licht der Gaskandelaber nicht mehr dringen konnte. Ruth zeichnete mit der Fußspitze in dem bleichen Sand runde, dunkle Furchen. Sie sagte: – Weiß Gott, wer da heute schon ausgespuckt hat!

Der Terrier bekam auch einen Stuhl und legte den Kopf auf Onkel Gustavs Schulter.

Sie dachte, es sei doch langweilig hier zu sitzen mit Onkel Gustav und was wohl Richard dazu sagen möchte.

Da sagte Onkel Gustav leise: – Sie werden böse sein, wenn du zu spät zum Abendessen kommst.

– Ach was, jetzt bleib ich hier. Was mir schon daran liegt. – Das solltest du nicht tun, Ruth, sagte Onkel Gustav mit sanfter, fast demütiger Stimme. – Warum kränkst du Mutter in letzter Zeit so viel?

Ruth ärgerte sich rasend über diese, seine Stimme. – Was soll ich tun, sagte sie hart, mir alles gefallen lassen, so wie du?

Onkel Gustav schwieg. Dann murmelte er: – Du hast recht. Und dann wieder, nach einer Pause. – Nimm dich in acht!

Sie schämte sich für ihre Worte. Und flüsterte nur: – Aber du.

– Ich, Ruth, – und sie spürte sein Lächeln durch die Dunkelheit, daß ihr war, als könne sie nie wieder froh werden. – Nein, mit mir ist nichts mehr zu machen. Du mußt jetzt nichts andres sagen, Ruth, nein wirklich nicht. Nicht heute. Vielleicht bei Tage, wenn wir uns auf der Straße treffen oder wenn ich bei euch bin und Richard ist unverschämt mit mir. Dann weiß ich auch nicht, was ich jetzt weiß, denn ich bin sehr schwach.

– Aber so reiß dich doch los, schrie Ruth, daß der Terrier erschrocken auffuhr.

Die Gebüsche hinter ihnen waren näher gekrochen. Legten sich ihnen fast auf den Rücken mit all der toten Hitze, die sie den Sommer durch verschluckt hatten. Ganz nahe. Und schwer.

– Du mußt achtgeben! wiederholte Onkel Gustav dumpf. Und ihr war, als sähe sie dicht neben sich, in einem alten verblichenen Spiegel, ihr eigenes Bild. Kaltes Grauen machte die Finger steif.

– Von mir darfst du nicht sprechen, fuhr er fort. Stell dir einen Wurzelbund vor, den die Erde ganz fest in sich hineingefressen hat. Nie mehr herausziehen. Manchmal glaub' ich, es gibt irgendwo um mich herum ein Fenster, wenn ich da durchsehen könnte, ich sähe alles richtig. Aber Mutter hat das nicht zugelassen. Ich mußte alles durch ihr Fenster sehen. Das ist nicht aus reinem Glas. Deshalb haben meine Bilder auch etwas Verzeichnetes. Du mußt achtgeben, Ruth! Wie du mir da entgegengekommen bist, ich bin erschrocken; du hast mir so ähnlich geschaut, es war derselbe Rhythmus im Schritt, eigentlich kein Rhythmus.

– Onkel Gustav, ich habe dich sehr lieb.

Es war ganz dunkel geworden. Und die nächsten Bäume in der Allee standen wie wachende Ungeheuer, riesengroß, verworren, unankämpfbar.

– Ich fürchte mich, sagte Ruth in der entsetzlichen, toten Beklommenheit. Hier, vor allem. Aber noch mehr, wenn wir weggehen. Die Menschen drüben im Kaffeehaus bei der Musik, die sind nur dort so glatt und unschädlich. Wenn sie jetzt hierherkämen, sie wären wie die Räuber im Wald, Verbrecher –

Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Und er sagte keuchend, kaum hörbar: – Die Blätter faulen im Erdboden, damit die Wurzeln Nahrung bekommen. Die Tiere fressen einander auf. Und die Menschen, Ruth, sind alle Mörder. Aber unsere Nächsten – hörst du, Ruth, hörst du, – unsere Nächsten, das sind unsere nächsten Mörder. Doch das darfst du Mutter niemals sagen!


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