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Sonne

1

Schicken Sie sie weg, in die Sonne,« sagten die Ärzte. Sie hielt nicht viel von der Sonne, aber sie ließ es geschehen, daß man sie mitsamt ihrer Mutter und ihrem Kinde und einem Kindermädchen wegschickte, über das Meer.

Der Dampfer sollte um Mitternacht auslaufen. Sie brachte das Kind zu Bett, und ihr Gatte blieb noch zwei Stunden bei ihr, indessen die Fahrgäste an Bord kamen. Es war eine düstere Nacht, und der Hudson floß in Wellen von schwerer Schwärze, auf denen Lichtfunken blitzten, als wäre Licht darauf verschüttet worden. Sie lehnte an der Reling, sah aufs Wasser hinab und dachte: Das also ist das Meer; es ist tiefer und birgt mehr Erinnerungen, als wir denken. Und in diesem Augenblick schien das Meer sich schwellend zu heben, als wäre es die Schlange des Chaos, die ewig lebende.

»So ein Abschied ist nicht schön,« sagte ihr Mann, der neben ihr stand. »Gar nicht schön. Ich habe so etwas gar nicht gern.«

Seine Stimme verriet Beklommenheit und Besorgnis, und es war ein Unterton darin, als klammere er sich an einen letzten Strohhalm der Hoffnung.

»Ich auch nicht«, sagte sie in farblosem Ton.

Sie mußte daran denken, wie leidenschaftlich sie sich beide danach gesehnt hatten, voneinander loszukommen. Die Erregungen des Abschieds weckten das schlummernde Gefühl ein wenig auf, wie ein leichter Ruck am Zügel; aber es geschah nichts weiter, als daß der fremde Stachel in ihrer Seele sich noch tiefer bohrte.

Sie gingen zum Bett des schlafenden Jungen, und dem Vater wurden die Augen feucht. Aber nicht das Feuchtwerden der Augen ist es, das auf unser Schicksal Einfluß hat – uns lenkt der mächtige eiserne Rhythmus der Gewohnheit, der in Jahren erworbenen, das ganze Leben beherrschenden Gewohnheit; die im Tiefsten wirkende Antriebskraft.

Und mit den beiden stand es so, daß ihre Antriebskräfte gegensätzlich waren. Sie zerstörten sich gegenseitig, wie zwei aneinandergekoppelte Maschinen, die mit verschiedener Geschwindigkeit laufen.

»Alles von Bord! Alles von Bord!«

»Maurice, du mußt gehen!«

Und im stillen fügte sie hinzu: Für dich heißt es »Alles von Bord!« Für mich heißt es: »In See gehen!«

Ja, da stand er nun auf dem trostlosen nächtlichen Pier und winkte mit dem Taschentuch, indessen das Schiff sich Zoll um Zoll vom Ufer entfernte; einer in der Menge. Einer in der Menge. Das war alles, was man von ihm sagen konnte.

Die Fährboote kreuzten noch immer in schräger Fahrt den Hudson; sie glichen riesigen Schüsseln, die mit dichten Reihen von Lichtern besteckt waren. Dort drüben der schwarze Schlund mußte der Lackawanna-Bahnhof sein.

Der Dampfer ging hinaus in den ablaufenden Strom, und der Hudson schien endlos. Schließlich aber hatten sie doch die Biegung passiert, und drüben das kümmerliche Geflimmer waren die dünngesäten Lichter auf der Battery. Die Freiheitsstatue schwang ihre Fackel empor wie in hellem Zorn. Und dann kam die Brandung des Meeres.

Der Atlant war grau wie Lava; aber endlich kam sie doch in die Sonne. Sie hatte sogar ein Haus über dem blauesten der Meere, mit einem mächtigen Garten oder vielmehr Weingarten: denn Reben und Olivenbäume standen dichtgedrängt auf dem steilen Hang, der, in Terrassen gestuft, zu dem ebenen Küstenstreifen abfiel; überall im Garten gab es heimliche Winkel, dichte Zitronenhaine tief drunten in der Erdfalte und versteckte klargrüne Weiher; in einer kleinen Grotte entsprang eine Quelle, aus der schon die alten Sikuler getrunken hatten, ehe die Griechen kamen; und in einem alten Grabe, dessen Nischen leer waren, meckerte eine graue Ziege. Es duftete nach Mimosen, und über allem leuchtete der Schnee des Vulkans.

Sie betrachtete das alles, und es tat ihr wohl – in gewisser Weise. Aber es blieb völlig an der Außenseite. In Wahrheit machte sie sich nicht das mindeste daraus. Sie hatte ihr ganzes unverändertes Selbst mitgenommen, mit all seinem Mißmut und seinem Enttäuschtsein, mit seiner Unfähigkeit, irgend etwas als wirklich zu empfinden. Das Kind reizte sie und ließ sie nicht zum friedlichen Ausruhen kommen. Sie fühlte sich so furchtbar, so quälend verantwortlich für den Jungen, als hätte sie über jeden seiner Atemzüge Rechenschaft abzulegen. Und das war eine Qual für sie selbst, für das Kind und für jeden, der in ihrer Nähe leben mußte.

»Hör mal, Juliet, der Arzt sagte doch, du solltest in der Sonne liegen, ohne Kleider. Warum tust du's nicht?« fragte ihre Mutter.

»Wenn ich mich dazu imstande fühle, tu ichs schon: Du willst mich wohl umbringen?« brauste Juliet auf.

»Ich dich umbringen?! Nein. Ich meine es ja nur gut mit dir.«

»Um Gottes willen, hör bloß auf, es gut mit mir zu meinen!«

Die Mutter war schließlich so gekränkt und aufgebracht, daß sie abreiste.

Das Meer wurde weiß – und dann war es vom Hause aus nicht mehr zu sehen. Regen strömte nieder. Es war kalt in dem Hause, das für Sonnentage gebaut war.

Dann aber kam ein Morgen, da sich die Sonne flammend über den Horizont hob und nackt und wie geschmolzenes Metall über dem Meere aufging. Das Haus lag so, daß Juliet von ihrem Bett aus die Sonne aufgehen sah. Ihr war, als ob sie noch nie zuvor einen Sonnenaufgang erlebt hätte. Nie hatte sie gesehen, wie die nackte Sonne sich vom Meereshorizont erhob und das nächtliche Dunkel von sich schüttelte.

Und jäh und heimlich sprang in ihr das Verlangen auf, nackt hinaus in die Sonne zu gehen. Sie liebkoste das Verlangen wie einen heimlichen Besitz.

Aber sie wollte hinweg vom Hause, hinweg von den Menschen. Und es ist nicht leicht, sich in einem Lande, wo jeder Olivenbaum Augen hat, wo jeder Abhang weithin sichtbar ist, vor den Blicken zu bergen.

Dennoch fand sie einen geeigneten Platz: ein felsiges Steilufer, vorgeschoben in See und Sonne und bewachsen mit mächtigen Kakteen, der flachblättrigen Kaktusart, die Feigendistel genannt wird. Aus dem Blaugrau des kakteenbewachsenen Felsrückens hob sich eine einzige Zypresse: mit blassem, dickem Stamm und biegsam geneigter Spitze ragte sie hinauf ins Blau. Wie ein Wächter stand der Baum da und sah aufs Meer hinaus; oder wie eine niedrige silbrige Kerze, deren mächtige Flamme als dunkler Kegel im Licht steht: als reckte die Erde eine stolze Zunge ihres Dunkels in den Himmel.

An diesem Zypressenbaum setzte Juliet sich nieder und legte ihre Kleider ab. Die seltsam verkrümmten Kakteen standen wie ein Wald um sie her: abscheulich und zaubervoll zugleich. Sie saß und bot ihre Brust der Sonne; auch jetzt noch stöhnte sie leise wie in quälendem Schmerz: als wäre es eine grausame Qual, sich hingeben zu müssen.

Die Sonne aber wanderte am blauen Himmel dahin und schickte ihre Strahlen hernieder. Juliet fühlte den sanften Hauch des Meeres auf ihren Brüsten. Ihre Brüste waren wie Früchte, denen es bestimmt war, zu verdorren und niemals zu reifen.

Bald aber spürte sie, wie die Sonne in sie eindrang: wärmer, als je die Liebe gewesen war, wärmer als Milch oder als die Hände ihres Kindes. Und endlich, endlich waren ihre Brüste wie längliche weiße Trauben in der heißen Sonne.

Sie streifte alle ihre Kleider ab und lag nackt in der Sonne, und während sie lag, blickte sie durch ihre Finger hinauf zum Sonnenquell, zur blauen, pulsenden, runden Sonne, deren Rand Glanz ausströmte. Pulsend von wundervollem Blau war er, der Sonnenball, und sein Rand strömte weißes Feuer aus. Er sah zu ihr hinab, blaues Feuer war sein Blick, und er hüllte ihre Brüste und ihr Gesicht ein, ihren Hals, ihren müden Leib, ihre Kniee, ihre Lenden und ihre Füße.

Sie lag mit geschlossenen Augen, und rosenfarben drang die Flamme durch ihre Lider. Es war zuviel. Sie pflückte Blätter und legte sie über ihre Augen. Dann lag sie wieder in der Sonne, wie eine langgestreckte weiße Frucht, die zu Gold reifen soll.

Sie fühlte, wie die Sonne sogar in ihre Knochen eindrang: nein, tiefer noch, selbst in ihre Empfindungen und ihre Gedanken. Die dunklen Spannungen ihres Gefühls begannen sich zu lockern, ihre zu kaltem, dunklem Gerinnsel erstarrten Gedanken begannen sich zu lösen. Allmählich fühlte sie sich ganz und gar von Wärme durchströmt. Nach einer Weile drehte sie sich um und ließ ihre Schultern in der Sonne schmelzen, ihre Lenden, die Unterseite ihrer Schenkel, sogar ihre Hacken. Und sie lag halb betäubt vor Staunen über das, was ihr geschah. Ihr müdes, erfrorenes Herz schmolz und verging im Schmelzen zu Rauch.

Als sie sich wieder angekleidet hatte, legte sie sich noch einmal nieder und blickte hinauf in die Zypresse, deren Wipfel, eine biegsame dünne Spitze, in der Brise hierhin und dorthin wehte. Und im Schauen nahm sie immer die große Sonne wahr, die durch den Himmelraum wanderte.

Benommen ging sie heim, geblendet und betäubt von der Sonne; so geblendet, daß sie die Dinge kaum erkennen konnte. Und diese Blindheit war ihr eine erlesene Lust, diese leichte Betäubung, dämmrig, warm und schwer, war wie ein köstlicher Besitz.

Der Junge kam ihr entgegengerannt und rief: »Mammi! Mammi!« Es klang hell und sehnsüchtig verlangend wie ein Vogelschrei; immer verlangte er nach ihr. Sie wunderte sich selbst, wie wenig ihr schlaftrunkenes Herz heute auf diesen Ruf des liebevollen Verlangens antwortete. Sie nahm das Kind auf den Arm, aber sie dachte: Er dürfte nicht solch ein kümmerliches Bündelchen Mensch sein. Wenn er in die Sonne käme, würde er aufblühen.

Mit seinen kleinen Händen klammerte er sich an ihr fest, und die Berührung war ihr ein wenig unangenehm, besonders am Halse. Abwehrend wandte sie den Kopf weg. Sie wollte sich nicht anfassen lassen. Sacht setzte sie das Kind zur Erde.

»Lauf!« sagte sie. »Lauf in die Sonne!«

Und dann und wann zog sie ihn aus und setzte ihn nackt auf die warmen Steine.

»Spiel in der Sonne!« sagte sie.

Er fürchtete sich und hätte am liebsten geweint. Aber sie, in der warmen Trägheit ihres Körpers und der vollkommenen Gleichgültigkeit ihres Herzens, kümmerte sich nicht darum; sie ließ eine Orange über die roten Ziegel der Terrasse kollern. Das weiche, noch ungeformte Körperchen des Jungen kollerte hinterdrein. Aber als er die Frucht eingeholt hatte, ließ er sie gleich wieder fallen: ihre Berührung war ihm so fremd auf seiner nackten Haut. Und er sah sich nach seiner Mutter um, kläglich, und verzog das Gesicht zum Weinen. Er hatte Angst, weil er nackt war.

»Bring mir die Orange!« sagte sie und wunderte sich selbst über ihre tiefe Gleichgültigkeit vor seiner Angst. »Bring Mammi die Orange!«

Er soll nicht aufwachsen wie sein Vater – wie ein Wurm, der nie die Sonne gesehen hat, sagte sie zu sich selbst.

2

Früher waren ihre Gedanken ununterbrochen bei dem Kinde gewesen; es war ein wahrhaft marterndes Verantwortungsgefühl: als hätte sie mit dem Augenblick, da sie das Kind gebar, die Verantwortung für sein gesamtes Dasein übernommen. Selbst wenn ihm nur die Nase lief, gab es ihr einen Stoß, empfand sie es wie einen Stachel, der sie im Tiefsten traf – als müßte sie sich sagen: Sieh dir das Geschöpf an, das du zur Welt gebracht hast!

Nun aber änderte sich das. Es war, als ginge das Kind sie im Innersten nichts mehr an; ihre ängstliche Sorge und ihr angespannter Wille hatten es nicht einen Augenblick losgelassen: jetzt lockerten sie sich und lösten sich ganz von ihm. Und je mehr das geschah, um so besser gedieh es.

Ihre Gedanken waren bei der Sonne in ihrem Glanz und bei ihrer hochzeitlichen Vereinigung mit der Sonne. Ihr ganzes Leben war zu einem streng geübten festlichen Dienst geworden. Morgens lag sie lange vor der Dämmerung wach und sah zum Meereshorizont, um zu warten, ob das Grau sich in mattes Gold verwandeln würde oder ob Wolken die Grenze zwischen Himmel und Meer verhüllten. Freude erfüllte sie, wenn sie sah, wie die Sonne sich, aus Gold gegossen, in ihrer Nacktheit über den Horizont hob und ihr blauweißes Feuer in den zartfarbenen Himmel warf.

Zuweilen aber erschien sie rötlich, ein großes, scheues Geschöpf. Dann wieder kam sie in einem dunklen und zornigen Rot und schob sich langsam und verbissen empor. Und wieder an anderen Tagen war sie unsichtbar: dann warf die Wolke am Horizont Gold und Scharlach nieder, indessen die Sonne sich hinter der Wolkenwand bewegte.

Juliet hatte Glück. Wochen vergingen, und wenn die Dämmerung zuweilen wolkenverhangen war und mancher Nachmittag sich in Grau hüllte, blieb doch kein Tag ganz sonnenlos, und an den meisten Tagen strömte strahlendes Licht, obwohl es Winter war. Die zarten, kleinen, wilden Krokusblüten kamen malvenfarbig und gestreift hervor, und die wilden Narzissen neigten ihre winterlichen Sterne.

Jeden Tag ging Juliet hinab zur Zypresse, auf die Felsenzunge, die das Kaktusdickicht trug und von gelblichen Klippen umsäumt war. Da sie nun schon erfahrener und erfinderischer geworden war, trug sie nur noch einen taubengrauen Bademantel und Sandalen. So konnte sie sich jeden Augenblick in jeder versteckten Felsennische nackt der Sonne hingeben. Und im Augenblick wiederum, da sie sich dann verhüllte, war sie grau und unsichtbar.

Jeden Vormittag bis zur Mittagsstunde lag sie am Fuße der mächtigen Zypresse, die ihre silbernen Wurzelklauen über den Boden streckte: indessen die Sonne königlich über den Himmel schritt. Jetzt war sie in jeder Faser ihres Leibes mit der Sonne vertraut; nicht ein einziger kalter Schatten war zurückgeblieben. Und ihr Herz, ihr unruhiges, gequältes Herz war ganz und gar verschwunden, wie eine Blume, die ihre Blätter in der Sonne fallen läßt, so daß nur eine reife Samenkapsel zurückbleibt.

Sie war vertraut mit der Sonne, die als flüssige blaue Glut mit weißen Feuerrändern am Himmel wandert und Feuer niederwirft. Und wenn die Sonne auch die ganze Welt beschien – in dem Augenblick, da sie nackt auf dem Felsen lag, richtete das Gestirn alle seine Strahlen auf sie. Dies war eins der Wunder, die es wirken konnte: es vermochte eine Million Menschen zu bescheinen und dennoch die strahlende herrliche, eine einzige Sonne zu bleiben, die alle Strahlen auf sie, auf Juliet, richtete.

Jetzt, da sie mit der Sonne vertraut und überzeugt war, daß das Gestirn sie im kosmischen körperlichen Sinne des Wortes erkannt hatte, kam in ihr ein Empfinden auf, als sei sie von den Menschen getrennt, und damit so etwas wie eine Verachtung der Menschengeschöpfe insgesamt. Sie waren der Urnatur so fern, der Sonne so fremd. Sie glichen so sehr den Kirchhofswürmern.

Selbst die Bauern, die mit ihren Eseln auf der schmalen alten Felsenstraße dahinzogen, waren nicht ganz und gar durchsonnt, wenn auch die Sonne sie schwarz gebrannt hatte. In ihnen saß noch ein kleiner weicher Kern von Angst, wie eine Schnecke im Haus: die geheime Stelle, wo die Seele des Menschen sich duckt in Furcht vor dem Tode und vor der lebendigen Glut des Natürlichen. Nie wagt er sich ganz hervor: immer duckt er sich innerlich. Alle Menschen sind so, dachte Juliet. Warum also sie nahekommen lassen?

Diese Gleichgültigkeit gegen die Menschen, auch gegen die Männer, bewirkte, daß sie sich nicht mehr so ängstlich davor hütete, gesehen zu werden. Der alten Marinina, die ihr die Einkäufe im Dorfe besorgte, hatte sie gesagt, der Arzt hätte ihr Sonnenbäder verordnet. Das mußte genügen.

Marinina war über die Sechzig, hochgewachsen, dünn, straff aufgereckt; sie hatte krauses, dunkles Haar, das zu ergrauen begann, und dunkelgraue Augen: in ihnen war die kundige Schlauheit eines Jahrtausende alten Welterlebens – und das Lachen, das aller Erfahrung verschwistert ist. Tragisches Wesen ist Mangel an Erfahrung.

»Es muß schön sein, sich ohne Kleider von der Sonne bescheinen zu lassen«, sagte Marinina und sah Juliet mit ihren durchdringenden Augen an, in denen ein listiges Lachen glitzerte. Juliets schönes, kurzgehaltenes Haar kräuselte sich an ihrer Schläfe zu einer kleinen Wolke. Marinina war ein Kind der Magna Graecia, und ferne Erinnerungen waren in ihr lebendig. Abermals sah sie Juliet an. »Aber man muß selber schön sein, sonst beleidigt man die Sonne. Hab ich nicht recht?« sagte sie mit dem wunderlichen atemlosen Auflachen, wie es die Frauen der alten Völker haben.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich schön bin«, sagte Juliet.

Wohl aber wußte sie, daß sie von der Sonne huldvoll ausgenommen war. Und das ist ja dasselbe.

Wenn sie um die Mittagsstunde aus der Sonne kam, lief sie zuweilen heimlich hinab über die Felsen und am Klippenrand vorüber, dorthin, wo über dem tief eingeschnittenen Wasserlauf der ewige Schatten der Limonenbäume lag; dort, in der schweigenden Kühle, ließ sie ihren Bademantel niedergleiten und nahm ein rasches Bad in einem der tiefen, klargrünen Wasserbecken. Und im klargrünen Zwielicht unter den Limonenblättern zeigte ihr die Spiegelung im Wasser, daß ihr ganzer Körper rosig glühte – rosig und bräunlich golden. Sie war wie ein anderer Mensch. Sie war ein anderer Mensch.

Und ihr fiel das Griechenwort ein, daß ein weißer, undurchsonnter Körper unrein und ungesund sei.

Dann rieb sie ein wenig Olivenöl in ihre Haut und wanderte ein Weilchen in der dunklen Unterwelt des Limonenschattens umher, eine Limonenblüte im Nabel haltend. Dabei mußte sie über sich selber lachen. Es war gar nicht unmöglich, daß irgend ein Bauer sie sah. Aber dann würde er, dessen war sie sicher, mehr Angst haben vor ihr als sie vor ihm. Sie wußte, daß in den kleiderbedeckten Leibern der Männer der weiße Kern aus Furcht sitzt.

Sie wußte, daß er sogar in ihrem Jungen saß. Wie mißtrauisch sah er sie an, wenn ihr die Sonne ins Gesicht schien und sie ihn auslachte! Sie bestand darauf, daß er sich jeden Tag nackt in der Sonne tummelte. Auch seine Haut war nun rosig wie die ihre, das blonde Haar strebte in dichtem Schopf über seine Stirn auf, und seine Backen leuchteten tiefrot wie Granatäpfel zum zarten Gold der durchsonnten Haut. Er war drall und gesund, und die Dienstleute, verliebt in sein Rot und Gold und Blau, nannten ihn ein Engelchen vom Himmel.

Aber er mißtraute seiner Mutter: sie lachte ihn ja aus. Und sie sah in seinen weit offenen blauen Augen unter der ein wenig gerunzelten Stirn den Sitz der Furcht, des Argwohns: Furcht und Argwohn hatten, so glaubte sie jetzt, in der Tiefe aller Männeraugen ihren Sitz. Sie nannte es Angst vor der Sonne.

»Er hat Angst vor der Sonne«, sagte sie zu sich selbst, wenn sie forschend in die Augen des Kindes sah.

Und indessen sie ihn beobachtete, wie er strampelnd, schwankend und purzelnd in der Sonne spielte und dabei seine kleinen Vogelschreie ausstieß, sah sie zugleich, daß er sich im Innersten vor der Sonne verbarg und verschloß. Seine Seele war wie eine Schnecke im Haus; in einem feuchten, kalten Schlupfwinkel hatte sie sich verkrochen. Er ist wie sein Vater, dachte sie. Wenn ich doch ein einziges Mal erreichen könnte, daß er aus sich selbst hervorkommt, daß er aufflammt zu einer Gebärde der Unbekümmertheit und des Grußes!

Sie beschloß, ihn mitzunehmen zur Zypresse im Kakteendickicht. Da würde sie freilich auf ihn achtgeben müssen wegen der Dornen. Aber er würde ganz gewiß endlich einmal hervorkommen aus diesem kleinen Schneckenhaus, das tief in ihm saß.

Sie breitete eine Decke am Boden aus und setzte ihn darauf. Dann ließ sie ihren Bademantel niedergleiten und legte sich in die Sonne; sie betrachtete den Flug eines Falken hoch droben im Blau und den geneigten Wipfel der Zypresse.

Der Junge saß auf seiner Decke und spielte mit Steinen. Als er aufstand und sich auf seinen unsicheren Beinchen wegtrollte, richtete auch sie sich auf. Er wandte sich und sah sie an. Sie blickte in seine blauen Augen und dachte: Nun hat er beinahe den fordernden, warmen Blick echter Männlichkeit. Und hübsch sah er aus mit dem Scharlachrot seiner Wangen zu seiner hellgoldenen Haut. Denn er war nun nicht mehr weiß. Seine Haut hatte einen bräunlichen Goldton.

»Gib acht auf die Dornen, Liebling!« sagte sie.

»Dornen!« wiederholte er mit seiner kindlichen Stimme, die wie Vogelzwitschern klang, und blickte über seine Schulter zu ihr hinüber, nachdenklich. Wie ein nackter Engel auf einem Gemälde sah er aus.

»Böse Dornen, die dich stechen!«

»Dornen 'techen!«

Er stolperte in seinen kleinen Sandalen über die Steine und rupfte die trockenen Pflanzen der wilden Minze aus. Wenn sie sah, daß er in Gefahr war, in die Stacheln zu fallen, war sie mit einem Satz bei ihm, rasch wie eine Schlange. Sie wunderte sich über sich selbst. Was für eine wilde Katze bin ich doch! sagte sie zu sich selbst.

Und an jedem Tage, der Sonne brachte, nahm sie ihn mit zu ihrem Platz unter der Zypresse.

»Komm!« sagte sie. »Wir wollen zur Zypresse gehen!«

War aber der Tag wolkig, weil die Tramontana wehte, so daß sie nicht hinuntergehen konnten, zwitscherte der Junge unaufhörlich: »Zypresse! Zypresse!«

Er sehnte sich ebensosehr danach wie sie.

Es ging für sie durchaus nicht nur darum, daß sie Sonnenbäder nahm. Für sie war es weit mehr als das. Irgend etwas tief in ihr entfaltete und entspannte sich, und sie hatte sich hingegeben. Eine unbenennbare geheimnisvolle Kraft, die tief in ihrem Innern wirkte, tiefer als ihr Oberbewußtsein und ihr Wille, brachte sie in eine Verbindung mit der Sonne, und der Strom floß ganz aus eigener Kraft, strömte aus ihrem Schoß. Ihr Selbst, ihr bewußtes Selbst, war von untergeordneter Bedeutung: ein untergeordnetes Wesen, fast ein Zuschauer. Die wahre Juliet war dieser dunkle Strom, der aus der Tiefe ihres Leibes zur Sonne drängte.

Sie war immer Herrin über sich selbst gewesen, hatte stets gewußt, was sie tat, und ihre Kraft angespannt im Zügel gehalten. Jetzt aber spürte sie in ihrem Innern eine ganz andere Art von Kraft, etwas, das größer war als sie selbst und aus eigener Macht strömte. Jetzt hatte sie die bewußte Klarheit hingegeben, aber sie besaß dafür eine Kraft, die über ihr Ich hinausgewachsen war.

3

In der letzten Februarwoche wurde es plötzlich sehr heiß. Die Mandelblüten fielen nieder wie rosiger Schnee, sobald auch nur der leiseste Windhauch sie berührte. Die malvenfarbenen seidigen Anemonen blühten schon, bald würden die Asphodelosknospen sich öffnen, und das Meer war kornblumenblau.

Juliet machte sich nun keinerlei Gedanken und Sorgen mehr. Fast den ganzen Tag war sie mit dem Kinde nackt in der Sonne, und damit waren alle ihre Wünsche erfüllt. Zuweilen ging sie zum Meere hinunter, um zu baden; oft auch wanderte sie an den Ufern der kleinen Wasserläufe umher, wo sie in der Sonne war und nicht gesehen werden konnte. Manchmal kam ein Bauer, der seinen Esel trieb, daher und sah sie. Aber sie schritt so selbstverständlich und gelassen mit ihrem Kinde an ihm vorüber, und die Kunde von der Heilkraft der Sonne für Seele und Leib hatte sich schon im Volke verbreitet, so daß niemand sich über diese Begegnungen aufregte.

Beide, das Kind und sie, leuchteten nun am ganzen Körper in einem rosiggoldenen Lichtbraun. Ich bin ein verwandeltes Geschöpf, sagte sie zu sich selbst, wenn sie ihre rotgoldenen Brüste und Schenkel betrachtete.

Auch der Junge war ein verwandeltes Geschöpf; er lebte in einer seltsamen, stillen, sonnengedunkelten Versunkenheit. Jetzt spielte er schweigend für sich, und sie brauchte sich kaum noch darum zu kümmern. Er schien es gar nicht mehr zu bemerken, wenn er allein war.

Es wehte kein Lufthauch, und das Meer leuchtete in tiefem und sattem Blau. Sie saß bei der großen silbernen Wurzelklaue der Zypresse, schläfrig eindämmernd in der Sonne; aber ihre Brüste regten sich in geschmeidigem und saftvollem Leben. Und sie fühlte, daß eine neue tätige Lebendigkeit in ihr keimte, ein Drang, der sie in ein neues und anderes Leben tragen konnte. Nur: sie wollte es nicht bemerken. Sie kannte allzugut das mächtige kalte Räderwerk heutiger Menschensitte und wußte, wie schwer es ist, ihm zu entrinnen.

Der Junge war ein paar Meter auf dem felsigen Pfad weitergelaufen, um einen mächtigen, breit ausladenden Kaktus herum. Sie hatte ihm zugesehen: er war nun wirklich ein goldbraunes Kind der Winde, mit sonnenheißem, goldenem Haar und roten Wangen. Eifrig, stumm, wie ein junges Tier ganz in sein Spiel vertieft, sammelte er die gefleckten becherförmigen Blüten und legte sie in Reihen in den Sand. Er stand jetzt fest auf den Beinen und bewegte sich rasch und gewandt.

Plötzlich hörte sie ihn sagen: »Guck mal, Mammi! Mammi, guck mal!« Sein Vogelgezwitscher hatte einen so besonderen Klang, daß sie mit einem Ruck auffuhr.

Ihr Herz stand still. Er sah sie über seine nackte kleine Schulter hinweg an und zeigte mit seiner locker gehaltenen kleinen Hand auf eine Schlange, die sich einen Meter vor ihm aufgerichtet hatte; die gegabelte weiche Zunge in ihrem aufgesperrten Rachen sah in der rasenden Bewegung aus wie ein flackernder schwarzer Schatten, und sie ließ ein kurzes Zischen vernehmen.

»Guck mal, Mammi!«

»Ja, Liebling, das ist eine Schlange!« kam die Antwort der ruhigen, tiefen Stimme.

Er sah sie an, und in seinen großen blauen Augen las sie den Zweifel, ob er sich fürchten müsse oder nicht. Ihre sonnenstille Gelassenheit aber beruhigte auch ihn.

»Schlange«, zwitscherte er.

»Ja, Liebling! Faß sie nicht an, sie beißt dich sonst vielleicht.«

Die Schlange hatte sich wieder niedersinken lassen; sie löste sich langsam aus den Windungen, in denen sie sich schlafend gesonnt hatte, und schob ihren langen goldbraunen Körper in langsamen Krümmungen in das Felsgestein. Der Junge wandte sich und sah ihr schweigend zu. Dann sagte er:

»Schlange geht weg!«

»Ja! Laß sie gehen. Sie will allein sein.«

Er kam zu ihr; sie hatte sein rundliches nacktes Körperchen auf ihrem nackten Schoß und streichelte sein sonnenverbranntes helles Haar. Sie sagte nichts; es ist ja nun vorüber, dachte sie. Die seltsam sänftigende Kraft der Sonne erfüllte sie ganz, erfüllte alles um sie her wie ein Zauber, und die Schlange gehörte in diese sonnenverzauberte Welt, wie sie selbst und das Kind.

Ein ander Mal sah sie eine schwarze Schlange, die auf der trockenen Steinmauer am Rande einer der olivenbewachsenen Bergstufen dahinkroch.

»Marinina,« sagte sie, »ich habe eine schwarze Schlange gesehen. Sind die gefährlich?«

»Oh, die schwarzen Schlangen nicht, nein! Aber die gelben – ja! Wen die gelben beißen, der muß sterben. Aber ich hab Angst davor, ich hab Angst davor, auch vor den schwarzen, wenn ich eine sehe.«

Juliet ging auch weiterhin mit dem Kinde zur Zypresse. Aber sie sah sich immer sorgsam um, bevor sie sich niedersetzte, und untersuchte jeden Felswinkel, in den der Junge etwa geraten konnte. Dann legte sie sich nieder und gab sich der Sonne hin; ihre gebräunten, birnenförmigen Brüste ragten steilauf. Sie dachte mit keinem Gedanken an das Morgen. Sie schob jeden Gedanken weg, der über ihre Gartenwelt hinausreichte, und sie konnte nicht einmal Briefe schreiben. Ich werde der Kinderfrau sagen, daß sie schreiben soll, dachte sie.

4

Es war März, und die Sonne gewann große Macht. In den heißen Tagesstunden lag Juliet im Schatten der Bäume, oder sie stieg sogar hinab in die Tiefen des kühlen Limonenhains. Der Junge tollte in einiger Entfernung, wie ein junges Tier ganz in sein Da-Sein vertieft.

Eines Tages saß sie, nach einem Bade in einem der großen Weiher, am steilen Abhang des Wasserlaufs. Drunten, unter den Limonen, spielte der Junge: Er watete in einem Meer von gelben Sauerampferblüten und sammelte abgefallene Limonen; Lichtflecken tanzten auf seinem gebräunten Körperchen.

Plötzlich tauchte hoch droben am Rande des Ufers, dunkel vor dem hellen Licht des blaßblauen Himmels, ein schwarzes Tuch um den Kopf, Marinina auf und rief mit ihrer ruhigen Stimme: »Signora! Signora Giulietta!«

Juliet sah sich um und stand auf. Marinina hielt einen Augenblick inne, als sie die nackte Frau so lebendig und geschmeidig dastehen sah, den Kopf in ein Wölkchen sonnengebleichten schönen Haares gehüllt. Dann kam die alte Frau behende den steilen Pfad herab.

Sie blieb, straff aufgerichtet, ein paar Schritte vor der sonnengebräunten Juliet stehen und betrachtete sie mit einem schlauen Lächeln.

»Oh, Sie sind aber schön, wahrhaftig!« sagte sie kühl, fast zynisch. »Ihr Mann ist da.«

»Mein Mann?!« rief Juliet.

Marinina ließ ein kurzes, bellendes, listiges Lachen vernehmen – das Spottlachen der Frauen uralter Völker.

»Sie haben doch einen, nicht? – einen Mann mein ich«, spottete sie.

»Aber, wo ist er denn?«

Die Alte warf einen Blick über die Schulter.

»Er war hinter mir«, sagte sie. »Aber er wird den Weg wohl nicht gefunden haben.« Wieder lachte sie ihr kurzes bellendes Lachen.

Die Pfade waren ganz und gar mit Gras und Blumen und Minze überwuchert, so daß sie aussahen wie Vogelfährten in einer ewigen Wildnis. Seltsam ist dieser lebendige Wildwuchs auf den Stätten alter Kultur: er schafft eine Wildnis, die nie zur öde wird.

Juliet sah die alte Frau eine Weile unschlüssig an.

»Na, also schön!« sagte sie. »Lassen Sie ihn kommen.« »Hierher soll ich ihn kommen lassen? Jetzt?« fragte Marinina, und ihre lachenden rauchgrauen Augen sahen Juliet unverwandt und spöttisch an. Dann zuckte sie leicht die Achseln.

»Gut, wie Sie wollen. Aber er wird sich ein bißchen wundern.«

Ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Lachen des Vergnügens. Dann deutete sie auf das Kind, das am Boden saß und Limonen vor sich aufhäufte. »Sehen Sie doch, wie hübsch der Junge aussieht! Das wird ihm bestimmt Spaß machen, dem armen Kerl. Na, dann will ich ihn mal herbringen.«

»Bringen Sie ihn her«, sagte Juliet.

Die alte Frau kletterte flink den Pfad wieder hinan. Maurice stand mitten in der Rebenpflanzung, mit seinem grauen Gesicht, den grauen Filzhut in der Hand, in seinem dunkelgrauen Anzug – hilflos. Er sah rührend unangebracht in der flammenden Sonne und der Anmut dieser alten Griechenwelt aus: wie ein Tintenfleck auf dem blassen sonnenglühenden Abhang.

»Kommen Sie!« sagte Marinina. »Sie ist da drunten.« Und mit raschem Schritt bahnte sie sich vor ihm her den Weg durch das Gras. Plötzlich, am Rande des Abhanges, blieb sie stehen. Unter ihnen, in der Tiefe, dunkelten die Wipfel der Limonenbäume.

»So, nun gehen Sie da hinunter«, sagte sie. Er sah mit raschem Blick zu ihr auf und bedankte sich.

Er war ein Mann von vierzig Jahren, glatt rasiert, sehr ruhig und durchaus scheu. Sein Geschäft betrieb er gewissenhaft, ohne aufregende Erfolge, aber umsichtig und tüchtig. Und er traute keinem Menschen. Die Alte aus der Magna Graecia hatte ihn mit einem einzigen Blick erkannt: Er ist ein guter Mensch, dachte sie, aber ein Mann ist er nicht, der arme Kerl.

»Da drunten ist die Signora«, sagte Marinina und stand mit ausgestrecktem Zeigefinger wie eine der Parzen da.

»Danke sehr! Danke sehr!« wiederholte er, ohne zu zwinkern, und betrat mit vorsichtigen Schritten den Abhangpfad. Marinina schob mit lasterhafter Vergnügtheit das Kinn vor. Dann begab sie sich zum Hause zurück.

Maurice mußte im Gewirr des mittelländischen Pflanzendickichts sehr auf seinen Weg achten; infolgedessen sah er seine Frau nicht eher, als bis er, hinter einer kleinen Wegbiegung, unmittelbar vor ihr stand. Am vorspringenden Felsen stand sie, aufrecht und nackt, leuchtend von Sonne und warmem Leben; ihre Brüste schienen sich zu heben, lebendig und geschmeidig, um zu lauschen, ihre Lenden glänzten braun und behende. Er stand da wie ein Tintenfleck auf Löschpapier; sie streifte ihn mit einem raschen, unruhigen Blick.

Maurice, der arme Kerl, zögerte; sein Blick mied den ihren, und er wendete den Kopf weg.

»Tag, Julie!« sagte er mit einem kurzen nervösen Auflachen. »Glänzend! Glänzend!«

Er kam mit abgewendetem Kopf heran und schoß dann und wann einen raschen Blick auf sie; sie stand da im Atlasschimmer der Sonne auf ihrer gebräunten Haut. Es war seltsam, daß sie eigentlich gar nicht so völlig nackt schien. Das Rosagold der Sonnenfarbe war wie ein Gewand.

»Guten Tag, Maurice«, sagte sie und hielt sich von ihm fern. »Ich habe dich noch nicht so bald erwartet.«

»Nein«, sagte er. »Nein! Ich hab mich schon ein bißchen früher frei gemacht.«

Und abermals hustete er verlegen.

Sie standen ein paar Meter voneinander entfernt, und sie schwiegen beide.

»Tja«, sagte er. »Ähem – das ist ja glänzend. Glänzend. Du siehst – ähem – glänzend aus! Und wo ist der Junge?«

»Da ist er ja«, sagte sie und zeigte dorthin, wo ein lustiger Nacktfrosch im Schatten saß und abgefallene Limonen aufeinander stapelte.

Der Vater lachte – ein wunderliches kurzes Auflachen.

»Aha, ja! Da ist er ja! So sieht er also aus, der kleine Mann! Fein!« sagte er. Die Sache war ihm tatsächlich heftig in seine gehemmte, nervöse Seele gefahren. »Hallo, Johnny!« rief er, und es klang ein bißchen schwach. »Hallo, Johnny!«

Der Junge blickte auf und warf den Limonenhaufen, den er mit seinen runden Armen umfaßt hielt, um, aber er antwortete nicht.

»Ich denke, wir gehen mal zu ihm hinunter«, sagte Juliet; sie wandte sich und ging mit langen Schritten den Pfad hinab. Maurice folgte ihr; sie wiegte sich beim Gehen ein wenig in den Hüften, und er betrachtete das geschmeidige Heben und Senken ihrer rosigen Lenden. Er war wie betäubt vor Bewunderung, aber auch vor tödlicher Verlegenheit. Was nur sollte er hier mit sich beginnen? Er paßte so ganz und gar nicht ins Bild, der schüchterne Geschäftsmann mit dem dunkelgrauen Anzug und dem blaßgrauen Hut und dem grauen Mönchsgesicht.

»Er sieht doch famos aus, nicht?« sagte Juliet, als sie durch das tiefe Meer der gelben Sauerampferblüten unter den Limonenbäumen schritten.

»Oh ja! Glänzend! Glänzend! – Hallo, Johnny! Kennst du deinen Pappi nicht? Kennst du deinen Pappi nicht, Johnny?«

Er kauerte sich nieder und streckte die Hände aus.

»Limonen!« sagte das Kind mit seinem Vogelgezwitscher. »Zwei Limonen!«

»Zwei Limonen!« wiederholte der Vater. »Ein ganzer Haufen Limonen!«

Der Junge kam heran und legte seinem Vater, der ihm die Hände hinstreckte, eine Limone in jede Hand. Dann trat er zurück und betrachtete sein Werk.

»Zwei Limonen!« wiederholte Maurice. »Komm, Johnny! Komm her und sag Pappi guten Tag.«

»Fährt Pappi wieder weg?«

»Ob ich wieder wegfahre? Nein – ähem – heute noch nicht.«

Und er nahm seinen Jungen in den Arm.

»Rock ausziehen! Pappi soll Rock ausziehen!« sagte das Kind und sträubte sich lachend gegen die Berührung mit dem Stoff.

»Na schön, mein Junge. Pappi zieht seinen Rock aus.«

Er tat es und legte den Rock sorgsam an die Erde; dann nahm er das Kind wieder in den Arm. Die nackte Frau stand dabei und sah zu, wie der Mann in Hemdsärmeln das nackte Kind im Arm hielt. Der Junge hatte ihm den Hut vom Kopf gezerrt, und Juliet betrachtete sein glattes, schwarzes, von Grau durchzogenes Haar: da war jedes Haar säuberlich an seinem Platz im Scheitel. Und er sah grenzenlos, grenzenlos nach Stubenluft aus. Sie schwieg eine lange Weile; Maurice redete derweil mit dem Jungen, der sich zärtlich an seinen Vater schmiegte.

»Wie denkst du dir denn nun die Sache, Maurice?« fragte sie plötzlich.

Er streifte sie mit einem raschen Seitenblick.

»Die – ähem – welche Sache, Julie?«

»Oh – alles! Das hier! Ich kann doch nicht wieder nach New York East in die Vierundsiebzigste Straße gehen.«

»Ähem –«, sagte er zögernd, »nein, das kannst du wohl nicht – wenigstens nicht jetzt.«

»Niemals«, sagte sie. Und dann schwiegen sie beide.

»Tja – ähem – ich weiß nicht«, sagte er.

»Glaubst du, daß du hier herauskommen kannst?« fragte sie.

»Ja! Einen Monat kann ich bleiben. Für einen Monat kann ichs wohl einrichten«, sagte er zögernd. Dann wagte er einen raschen, scheuen, schwer deutbaren Blick auf sie und wandte das Gesicht wieder weg.

Sie sah auf ihn herab, und ein Seufzer hob ihre geschmeidigen Brüste, daß sie erzitterten, als hätte die Ungeduld sie wie ein Wind bewegt.

»Ich kann nicht zurück«, sagte sie langsam. »Ich kann mich von dieser Sonne nicht wieder trennen. Wenn du nicht hierher kommen kannst – –«

Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Wieder und wieder sah er sie an, verstohlen, aber mit wachsender Bewunderung und schwindender Verlegenheit.

»Nein!« sagte er. »Das hier ist das Richtige für dich. Du siehst glänzend aus. Nein, ich glaube auch nicht, daß du nach New York zurückkehren kannst.«

Er stellte sich vor, wie sie daheim in der New Yorker Wohnung ausgesehen hatte: blaß, stumm, eine furchtbare seelische Last für ihn. Sein Wesen in allen seinen menschlichen Beziehungen war gütige Schüchternheit, und ihre stumme, grauenvolle Feindseligkeit nach der Geburt des Kindes hatte ihn bis ins Tiefste erschreckt. Denn er hatte erkannt, daß sie schuldlos daran war. Frauen sind nun einmal so, sagte er sich. Ihr Gefühl verkehrt sich ins Gegenteil und wendet sich sogar gegen das eigene Ich; es ist grauenvoll – grauenvoll! Und grauenvoll, grauenvoll ist das Zusammenleben mit einer Frau, deren Gefühl sich sogar gegen das eigene Ich gekehrt hat! Ihre hilflose Feindseligkeit hatte ihn wie ein Mühlstein zu Boden gedrückt. Aber sie hatte damit auch sich selbst und sogar dem Kinde langsam die Lebenskraft genommen. Nein, dachte er – lieber alles andere als das.

»Was aber soll aus dir werden?« fragte sie.

»Aus mir? Ach – ich –! Ich kann ja das Geschäft im Gange halten und – ähem – während der Ferien herüberkommen, solange du gern hier bleiben willst. Und du bleibst hier, solange es dir gefällt.« Er sah eine lange Weile zu Boden; dann blickte er zu ihr auf, und in seinen unruhigen Augen glomm etwas wie eine demütige Bitte auf.

»Auch für immer?«

»Also – ähem – ja, wenn es dir Freude macht. ›Immer‹ ist eine lange Zeit. Man kann das doch nie im voraus bestimmen.«

»Und ich kann alles tun, was mir gefällt?« Sie sah ihm gerade in die Augen, mit kühner Herausforderung. Und er war machtlos gegen ihre rosige, windgehärtete Nacktheit.

»Ähem – ja! Das denke ich doch. Solange du dich nicht selbst unglücklich machst – oder den Jungen.«

Und wieder blickte er mit schwer deutbarer, unruhiger Bitte zu ihr auf; er dachte an das Kind, aber er hoffte für sich selbst.

»Das werde ich nicht tun«, sagte sie rasch.

»Nein!« sagte er. »Nein, ich nehme es ja auch gar nicht an.«

Und dann gab es eine Pause. Die Dorfglocken läuteten hastig die Mittagsstunde ein. Das war der Ruf zum Lunch.

Sie schlüpfte in ihren Kimono aus grauem Krepp und schlang sich eine breite grüne Schärpe um die Hüften. Dann streifte sie dem Jungen ein blaues Hemdchen über, und sie gingen zum Hause hinauf.

Bei Tisch beobachtete sie ihren Mann: sein graues Städtergesicht, sein straff gescheiteltes schwarzes ergrauendes Haar, seine ganz und gar untadeligen Tafelmanieren, seine strenge Mäßigkeit im Essen und Trinken. Zuweilen musterte er sie unter seinen schwarzen Wimpern hervor mit einem verstohlenen Blick. Er hatte die graugoldenen Augen eines Tieres, das jung eingefangen worden ist und nichts anderes als Gefangenschaft kennt.

Den Kaffee nahmen sie draußen auf dem Balkon. Drunten, jenseits der schroffen schmalen Schlucht, auf dem angrenzenden Grundstück, am Rande des noch grünen Weizenfeldes, saß ein Bauer mit seiner Frau unter einem Mandelbaum. Sie hatten ein kleines weißes Tuch auf dem Boden ausgebreitet und verzehrten ihr Mittagsmahl: ein mächtiges Stück Brot und Gläser voll dunklen Weines.

Juliet richtete es so ein, daß Maurice den beiden den Rücken zukehrte; sie selbst setzte sich so, daß sie hinübersehen konnte. Denn in dem Augenblick, da sie mit Maurice auf den Balkon hinaustrat, hatte der Bauer aufgeblickt.

5

Sie erkannte ihn sogleich, trotz der Entfernung. Er war ein ziemlich dicker Mensch von mächtigem Wuchs, etwa fünfunddreißig Jahre alt; und er kaute sein Brot in gewaltigen Bissen. Seine Frau war hübsch, aber immer mißmutig und ging steif aufgerichtet, mit finsterem Gesicht. Kinder hatten sie nicht: das hatte Juliet in Erfahrung gebracht.

Der Bauer arbeitete meistens allein auf seinem Grundstück jenseits der Schlucht. Seine Kleidung war immer sehr sauber und verriet peinliche Sorgfalt: weiße Hose, farbiges Hemd und ein alter Strohhut. Beide, er wie seine Frau, bewegten sich mit jener Überlegenheit, die sich immer nur der einzelne erwirbt, die aber niemals das Merkmal einer Klasse ist.

Er war anziehend durch seine lebendige Kraft, durch eine rasche und behende Straffheit, die seinen Bewegungen trotz seiner Stämmigkeit und Breite Anmut verlieh. In den ersten Tagen ihres Aufenthalts, bevor sie sich der Sonne hingab, war Juliet ihm einmal plötzlich inmitten der Felsen begegnet, als sie zum angrenzenden Grundstück hinüberkletterte. Er hatte sie schon gesehen, bevor sie ihn noch bemerkte; als sie dann aufblickte, nahm er den Hut ab und betrachtete sie mit einem zugleich scheuen und stolzen Blick seiner großen blauen Augen. Sein Gesicht war breit und sonnenverbrannt; er trug einen gestutzten braunen Schnurrbart, und seine braunen Augenbrauen, die sich unter seiner niedrigen breiten Stirn trafen, waren fast ebenso dick wie der Schnurrbart.

»Oh –!« sagte sie. »Ich darf hier doch gehen?«

»Gewiß!« antwortete er mit derselben wunderlich ungestümen Hast, die auch seine Bewegungen lenkte. »Mein Padrone würde sicher den Wunsch haben, daß Sie auf seinem Lande gehen, wo es Ihnen beliebt.«

Und er warf den Kopf zurück, mit der raschen, lebendigen und doch scheuen Bewegung, die sein hochherziges Wesen ausdrückte. Sie war schnell weitergegangen. Aber schon in diesem kurzen Augenblick hatte sie den ungestümen Adel seines Blutes gespürt – und seine ebenso ungestüme wilde Scheu.

Seither hatte sie ihn täglich von fern gesehen, und ihr wurde klar, daß er ein Mensch war, der ein gut Teil für sich selbst dahinlebte wie ein behendes Tier, und daß seine Frau ihn leidenschaftlich liebte, mit einer Eifersucht, die schon beinahe Haß war: wahrscheinlich deshalb, weil er sich danach sehnte, sich mehr und immer mehr verschenken zu können, über die Grenze hinaus, da sie noch empfangen konnte.

Eines Tages, als eine Gruppe von Bauern sich unter einem Baume versammelt hatte, sah ihn Juliet rasch und fröhlich mit einem Kinde tanzen: seine Frau sah mit finsteren Blicken zu.

Allmählich wurden Juliet und er miteinander vertraut, über die Entfernung hinweg. Eins spürte des anderen Gegenwart. Sie wußte genau, wann er morgens mit seinem Esel auf das Feld kam. Und er wandte in dem Augenblick den Kopf, wenn sie auf den Balkon hinaustrat. Aber sie grüßten einander nie. Und doch vermißte sie ihn, wenn er nicht zur Arbeit auf das Feld kam.

Als sie einmal an einem heißen Morgen nackt durch die Schlucht zwischen den beiden Gütern ging, traf sie mit ihm zusammen: er stand gebückt, mit mächtigen Schultern, und las Holz auf, um es auf den Rücken seines reglos wartenden Esels zu stapeln. Er sah sie, als er sein vom Bücken gerötetes Gesicht hob; sie wich, ihm zugewandt, zurück. Eine Flamme schoß aus seinen Augen; eine Flamme flog über ihren Leib dahin, daß es war, als schmölzen ihre Knochen. Aber sie wich hinter die Büsche zurück, stumm, und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Und sie fragte sich verwundert und ein wenig ärgerlich, wie er es fertig bekam, so ganz lautlos und vom Gebüsch verborgen zu arbeiten. Er hatte die Lautlosigkeit der wilden Waldtiere.

Von diesem Augenblick an spürte eins des anderen Gegenwart bewußt und mit einem körperlichen Schmerz, wenn sie es auch beide nicht zugaben und nie durch ein Zeichen verrieten, daß sie einander kannten. Seine Frau aber, mit dem Ahnungsvermögen der Eifersucht, wußte darum.

Und Juliet hatte gedacht: Warum sollte ich nicht mit diesem Manne für eine Stunde beisammen sein und ein Kind von ihm tragen? Warum muß ich denn immer gleich mein ganzes Leben mit dem Leben eines Mannes verschmelzen? Warum nicht eine Stunde lang mit ihm beisammen sein, solange das Begehren währt – und nicht länger? Es glimmt doch schon der Funke zwischen uns.

Nie aber hatte sie ihn ihre Gedanken durch ein Zeichen ahnen lassen. Und nun sah sie ihn drunten an dem weißen Tuche sitzen, seiner schwarzgekleideten Frau gegenüber, und aufblicken: sein Blick galt Maurice. Auch seine Frau wandte sich und sah herauf, mürrisch.

Und Juliet fühlte, wie ein Ekel sie packte. Ich werde wieder ein Kind von Maurice tragen müssen, dachte sie. Etwas im Ausdruck seiner Augen sagte es ihr. Und im Klang seiner Stimme, als er ihr auf ihre Frage antwortete.

»Möchtest du nicht auch ohne Kleider in die Sonne gehen?« fragte sie ihn.

»Ob ich –? ja. Ja, das möchte ich wohl, solange ich hier bin – ich nehme natürlich an, daß keine Fremden auf das Grundstück kommen –?«

Es war ein Glimmen in seinen Augen, eine Begierde, die ihm einen verzweifelten Mut gab; und er warf einen Seitenblick auf ihre Brüste, die sich geschmeidig unter dem Mantel hoben. Auch er war auf seine Weise ein Mann, er wagte der Welt ins Gesicht zu sehen und hatte den männlichen Mut nicht ganz in sich ertöten lassen. Er wird es wagen, in die Sonne zu gehen, auch wenn er sich lächerlich macht, dachte sie.

Aber er roch nach der Welt da draußen und allen ihren Hemmungen und ihrer Bastardfeigheit. Er trug das Brandmal, das ein Makel ist, nicht den Stempel, der das edle Metall ausweist.

Da sie nun reif war und rosagolden, mit einem Herzen wie eine entblätterte Rose, verlangte es sie danach, hinunterzugehen zu dem wilden, scheuen Bauer und ein Kind von ihm zu empfangen. Alle ihre Empfindungen von einst waren von ihr abgefallen wie Blütenblätter. Sie hatte gesehen, wie ihm das Blut in das sonnenverbrannte Gesicht schoß und die Flamme in den südländisch blauen Augen aufloderte; und die Antwort in ihr war ein Feuerstrom. Er wäre ein zeugendes Sonnenbad für sie gewesen, und es verlangte sie danach.

Dennoch wußte sie, daß sie auch ihr nächstes Kind von Maurice empfangen würde. Das Schicksalsgesetz der lückenlosen Folge wollte es so.

 


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