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Verliebt

Weißt du, liebe Hester,« sagte Henrietta, »also wenn ich vorhätte, aufs Land zu fahren, um mit dem Manne, mit dem ich verlobt bin und den ich in vier Wochen heiraten soll, das Wochenende zu verleben, und ich würde ein derartig trübseliges Gesicht machen – tja, dann würde ich aber doch mal versuchen, mein Gesicht umzukrempeln, oder meine Gefühle zu verbergen, oder – irgendwas.«

»Halt den Schnabel«, sagte Hester schroff. »Brauchst dir ja mein Gesicht nicht anzusehen, wenn es dir nicht gefällt.«

»Na, also, liebe Hester, nun krieg bloß nicht einen deiner berühmten Wutanfälle! Guck nur mal in den Spiegel, dann siehst du schon, was ich meine.«

»Wer hat dich denn gefragt, was du meinst? Du bist für mein Gesicht ja nicht verantwortlich«, sagte Hester wütend, und sie traf keinerlei Anstalten, in den Spiegel zu sehen oder sonstwie die freundlichen Ratschläge ihrer Schwester zu befolgen.

Henrietta summte leichten Herzens ein Lied; wozu sie imstande war, da sie die Jüngere und – dank dem gnädigen Schicksal – unverlobt war. Sie war erst einundzwanzig und hatte nicht die leiseste Absicht, ihren Seelenfrieden durch die Annahme eines irgendwie gearteten schicksalhaften Ringes zu gefährden. Immerhin war es erfreulich, feststellen zu können, daß Hester »wegging« (so nennt man das ja wohl): denn sie war fast fünfundzwanzig, und dann wirds ernst.

Das Schlimme war nur, daß Hester in letzter Zeit jedesmal ihr berühmtes »trübseliges Gesicht« machte, wenn irgendwie vom treuen Joe die Rede war: mit dunklen Schatten unter den Augen und tiefen Linien an der Nase herunter. Und wenn Hester so aussah, dann war Henrietta sogleich einem aus Kummer und Angst abscheulich und mißtönend gemischten Echo ausgeliefert, das in ihrem Herzen erklang; und sie haßte das. Sie konnte dieses plötzliche Angstgefühl ganz einfach nicht ertragen. »Was ich sagen wollte,« redete sie weiter: »ich finde es richtig abscheulich gegenüber Joe, wenn du mit so einem Gesicht hinfährst. Entweder setz ein netteres Gesicht auf, oder –« Hier aber bremste sie sich selbst. Sie hatte sagen wollen: »– oder bleib zu Hause.« Aber sie hoffte doch wirklich, daß Hester mit dieser Heirat zustande kam. Es war ihr, Henrietta, damit eine so große Last von der Seele genommen.

»Ach, hols der Henker!« rief Hester. »Halt den Schnabel!« Und ihre dunklen Augen schleuderten einen Blitz unheilverkündender Wut auf die kleine Henrietta.

Henrietta setzte sich auf das Bett, hob das Kinn und machte ein so ernsthaftes Gesicht, daß sie aussah wie ein grübelnder Engel. Sie liebte ihre Schwester zärtlich, und der trübselige Ausdruck auf Hesters Gesicht war ein so sehr schlimmes Zeichen!

»Hör mal, Hester,« sagte sie, »soll ich mit dir nach Markbury fahren? Mir solls recht sein, wenn du es gern willst.«

»Liebes gutes Kind,« rief Hester verzweifelt, »was um Gottes willen versprichst du dir denn davon?«

»Na, ich dachte, vielleicht wäre dir das – das allzu enge Beisammensein peinlich, und da wäre es so angenehmer für dich.«

Hesters Antwort war ein unecht klingendes spöttisches Lachen.

»Rede doch nicht ein so kindisches Zeug, Henrietta, bitte!« sagte sie.

Und Hester fuhr allein los, nach Wiltshire, wo ihr Joe einen kleinen Bauernhof in Betrieb gesetzt hatte, um dort zu heiraten. Er, der früher bei der Artillerie gewesen war, hatte das Geschäftsleben mächtig und gründlich satt: und obendrein hätte Hester sich niemals in eine Vorstadtvilla setzen lassen. Jede Frau sieht ihr Heim durch einen Ehering. Hester hatte bisher sozusagen nur einmal hinübergeschielt, durch einen Verlobungsring. Aber Golders Green – um Gottes willen! Nein, nicht einmal Harrow!

So hatte denn Joe ein kleines braunes hölzernes Blockhaus gebaut – zumeist mit eigener Hand: und dahinter war ein Flüßchen mit zwei Weiden daran, alten Weiden. An den Seiten des Hauses waren braune Schuppen und Hühnerställe. In einem umgitterten Koben hatte er Schweine und auf der Weide zwei Kühe und ein Pferd. Joe besaß mehr als dreißig Morgen und hatte nur einen jungen Knecht als Hilfe. Aber nun kam natürlich noch Hester hinzu.

Es sah alles sehr neu und schmuck aus. Joe war ein tüchtiger Arbeiter. Auch er selbst sah recht neu und schmuck aus, sehr gesund und durchaus zufrieden mit sich selbst. Er bemerkte das »trübselige Gesicht« gar nicht. Oder vielmehr: er bemerkte es schon, aber er sagte nur:

»Du siehst ein bißchen müde aus, Hester. Die Arbeit da in der Stadt greift dich doch mehr an, als du selber glaubst. Hier draußen wirst du ein anderer Mensch.«

»Werd ich auch!« rief Hester.

Es gefiel auch ihr ja alles so gut – die vielen weißen und gelben Hennen und die saftigen Schweine! Und dann die dünnen gelben Weidenblätter, die von den krummen alten Bäumen hinterm Hause wie ein sachter Regen niederfielen. Ja, es gefiel ihr alles schrecklich gut: besonders die gelben Blätter am Boden.

Sie sagte Joe, sie fände alles wunderhübsch, großartig, herrlich. Das gefiel ihm ganz gewaltig. Und so viel war gewiß: er sah glänzend aus.

Die Mutter des jungen Knechtes trug ihnen um halb eins das Essen auf. Der Nachmittag bestand, nachdem Hester der Mutter des Jungen die Teller abgetrocknet hatte, aus lauter Sonnenschein und kleinen Arbeiten.

»Jetzt dauerts nicht mehr lange, Miß, dann kochen Sie an diesem Herd: und ein guter kleiner Herd ist das.«

»Jetzt dauerts nicht mehr lange, nein,« wiederholte Hester. Sie standen in der kleinen braunwandigen Küche, die durch die Herdwärme überheizt war.

Die Frau ging. Nach dem Tee verschwand auch der Junge, und Joe und Hester brachten die Hühner und die Schweine für die Nacht in ihren Ställen unter. Es wurde dunkel. Hester ging ins Haus und bereitete das Abendessen, wobei sie sich irgendwie ein bißchen komisch vorkam; und Joe zündete im Eßzimmer Feuer an: wobei von ihm zu sagen ist, daß er sich offenbar ziemlich bedeutend vorkam und in allerbester Laune war.

Sie waren nun miteinander allein in ihrem Blockhaus, bis am anderen Morgen der Junge wiederkam. Noch vor sechs Monaten hätte Hester ihre Freude daran gehabt. Sie fühlten sich damals so vollkommen wohl und behaglich, wenn sie beisammen waren, sie und er. Sie waren gute Freunde, und ihre beiden Familien waren seit Jahren, seit unvordenklichen Jahren befreundet. Er war ein grundanständiger Junge, und man hatte von ihm nie und nimmer etwas Übles zu befürchten. Und von ihr ebensowenig. Gütiger Himmel, wahrhaftig nicht.

Jetzt aber, da sie versprochen hatte, seine Frau zu werden, war er auf den verwünscht verkehrten Einfall gekommen, sich in sie zu »verlieben«. Nie zuvor war er »so gewesen«. Und wenn sie gewußt hätte, daß er auf solche Wege geraten könnte, würde sie ihm mit aller Entschiedenheit gesagt haben: Laß uns Freunde bleiben, Joe, denn so geht die Reise abwärts. Sobald er mit Streicheln und Tätscheln anfing, wurde er ihr ganz einfach unerträglich. Und doch hatte sie das Gefühl, als dürfte es nicht so sein. Ja, sie bildete sich ein, sie müßte es gern haben. Obwohl sie einen Grund für dieses »Müßte« nicht zu erblicken vermochte.

»Ich fürchte, Hester,« sagte er traurig, »du bist in mich nicht so verliebt wie ich in dich.«

»Ach, hols der Henker«, rief sie. »Wenn ich es nicht bin, dann hättest du alle Ursache, dafür hübsch und herzlich dankbar zu sein; so viel sag ich dir, und mehr nicht …« – ein doppelläufiger Antwortschuß, den er zwar hörte, aber sich nicht zur Lehre nahm. Er zeigte niemals Lust, einer Sache in die mittelste Pupille des Auges zu sehen. Also ließ er es auch jetzt gehen, wie es ging, und ihre Gefühle für ihn ließ er bequemerweise im Dunkeln. Das heißt: für ihn war es bequem so.

Er entwickelte ungeahnte Fähigkeiten, wenn es sich um Kraftwagen und Landwirtschaft und dergleichen Dinge handelte. Und ganz gewiß war sie, Hester, ein genau so schwieriges und kniffliches Ding wie ein Kraftwagen! Ganz gewiß war sie mit genau so vielen sinnreichen und heiklen kleinen Ventilen und Magneten und Gashebeln und allem, was sonst so dazu gehört, ausgerüstet! Wenn er nur einmal versucht hätte, mit ihr so sorgsam umzugehen wie mit seinem Wagen! Sie hatte das Angelassenwerden so bitter nötig wie nur je ein Auto, das laufen soll. Und selbst wenn ein Wagen einen Selbstanlasser hat, muß der Mann am Steuer doch den rechten Kniff kennen, um damit fertigzuwerden. Hester war überzeugt, daß es bei ihr einer heftigen Arbeit mit der Andrehkurbel bedürfen würde, wenn sie je mit Joe auf der Ehestraße in Gang kommen sollte. Und da saß er nun, der Narr, in einem stillstehenden Wagen und tat so, als führe er Gott weiß wie viele Kilometer die Stunde.

An jenem Abend nun war sie regelrecht verzweifelt. Solange sie mit ihm am Nachmittag dies und das und jenes auf dem Hofe tun konnte, war alles in bester Ordnung gewesen. Da fühlte sie sich wohl in seiner Gesellschaft. Nun aber war es Abend, und sie waren allein; und dieses alberne kleine Zimmer, und das trauliche Feuer, und Joe, und Joes Pfeife, und Joes selbstzufriedenes scheinheiliges Gesicht – das alles war ganz einfach zuviel für sie.

»Komm und setz dich zu mir, Liebes«, sagte Joe und patschte einladend auf das Sofa. Und sie sagte sich: ein wirklich »nettes« Mädel wäre gewiß nur zu froh, sich »zu ihm setzen« zu können; und sie ging hin und setzte sich zu ihm. Aber sie kochte vor Wut. So eine Unverfrorenheit! So eine Unverfrorenheit von ihm, überhaupt ein Sofa zu haben! Sie fand Sofas gewöhnlich und verabscheute sie.

Sie duldete, daß er seinen Arm um ihre Hüfte legte; auch duldete sie einen gewissen Druck seines Oberarmmuskels, der vermutlich die Bedeutung einer Liebkosung hatte. Joe hatte seine Pfeife rücksichtsvoll ausgeklopft. Aber sie fand sein Gesicht selbstzufrieden und albern; von der sonstigen Offenheit und Ehrlichkeit war nichts mehr zu spüren. Wie lächerlich von ihm, ihr den Nacken zu streicheln! Wie blödsinnig von ihm, den Turteltäuberich zu spielen! Was für süße Nichtigkeiten wohl zum Beispiel Lord Byron seinen unterschiedlichen Damen ins Ohr geflüstert hat, dachte sie. Ganz gewiß hat er nicht einen so blühenden Blödsinn geredet und sich so unbeholfen angestellt. Und – wie unglaublich von ihm, mich so zu küssen!

»Es wäre mir unendlich viel lieber, du würdest mir was vorspielen, Joe«, sagte sie kurzab.

»Aber Liebes, ich soll dir doch wohl nicht gerade heute abend was vorspielen?« sagte er.

»Warum denn nicht heute abend? Ich möchte gern irgendwas von Tschaikowsky hören, damit ich ein bißchen aufgekratzt werde.«

Gehorsam stand er auf und ging zum Klavier. Er spielte recht gut. Sie lauschte. Und Tschaikowsky hätte sie vielleicht auch wirklich richtig aufgekratzt. Das heißt: die Musik als solche. Wenn sie sich nur nicht so verzweifelt deutlich klar darüber gewesen wäre, daß Joes Liebhabermethode – wenn man es so nennen durfte – nach den Klängen der Musik noch unmöglicher anmutete als vorher.

»Das war hübsch«, sagte sie. »Nun spiel mir mein Lieblings-Nocturno!«

Während er sich angelegentlich mit dem Fingersatz auseinandersetzte, schlüpfte sie aus dem Hause.

Ah! Sie tat einen tiefen Atemzug der Erleichterung in der kühlen Oktoberluft. Die Dunkelheit war eigentlich nur Dämmerung, im Westen stand ein blanker heller Halbmond; die Luft war ganz reglos; die Dämmerung lag wie ein Nebel über der Erde.

Hester schüttelte ihr Haar und strebte mit langen Schritten von dem Blockhaus hinweg, das vom Hall und Widerhall ihres Lieblings-Nocturnos wie eine richtige kleine Trommel dröhnte. Sie rannte, rannte ganz einfach, um außer Hörweite zu kommen.

Ah – die schöne Nacht! Hester schüttelte abermals ihr kurzes Haar und fühlte sich aufgelegt, wie Mazeppas Roß hinwegzustürmen ins Unendliche. (Das Unendliche war hier freilich nur ein Feld, das zum benachbarten Bauernhof gehörte.) Aber Hester war es zumute, als kochte ihr Blut im sanften Mondlicht. Oh – hinwegzustürmen über die Grenze zur jenseitigen Welt – sofern man annehmen durfte, daß die Welt zwischen Diesseits und Jenseits eine Grenze hatte wie Joes Brotmesser eine Schneide. »Ich bin natürlich blödsinnig«, sagte sie zu sich selbst. Aber damit war der wilde federnde Drang in ihren Schenkeln nicht unterdrückt. Oh – wenn es doch nur irgend eine andere Lösung gäbe als Joe und sein Geschäker. Jawohl, Geschäker! Das Wort riß ihr den letzten Fetzen Selbstachtung weg, aber sie sagte es laut.

Leider befand sich ein Trupp fremder Pferde auf der Weide; so daß sie vorsichtig den Rückzug durch Joes Gatter antrat. Das sah ihm so recht ähnlich: ein so kleines Stück Land zu haben, daß man nicht vor dem Klange seines Klaviers davonrennen konnte, ohne gleich anderer Leute Grund und Boden »unbefugt zu betreten«.

Als sie sich vorsichtig wieder an das Blockhaus heranpürschte, hörte das Getrommel des Klaviers plötzlich auf. Himmel –! Sie sah sich wild nach Zuflucht um. Eine alte Weide lehnte sich über das Flüßchen. Sie streckte sich, duckte sich und kletterte rasch wie eine große Katze in das Netzwerk aus kühlblättrigem Gezweig.

Kaum hatte sie sich mit Anstrengung eine erträgliche Sitzlage erobert, als er auch schon um die Ecke des Hauses ins Mondlicht trat und nach ihr Ausschau hielt. Wie durfte er es wagen, nach ihr Ausschau zu halten! Sie verhielt sich in ihrem Blattversteck so still wie eine Fledermaus und sah ihm zu, wie er umherspähte, mit erhobenem Kopf die Dunkelheit absuchend, eine aufgereckte, aufreizend männliche Gestalt. Aber er sah ausnahmsweise einmal doch recht hilflos, unbedeutend und ratlos aus. Wo war sein vorschriftsmäßiger männlicher Zauber geblieben? Warum war er plötzlich so schwerfällig und der Lage so wenig gewachsen?

Da! Jetzt rief er leise und selbstbewußt: »Hester! Hester! Wo hast du dich denn verkrochen?«

Er war richtig ärgerlich. Hester in ihrem Baum verhielt sich still und war bemüht, sich möglichst wenig zu bewegen. Sie hatte nicht die leiseste Absicht, ihm zu antworten. Er hätte ebensogut auf einem anderen Planeten sein können. Zögernd, langsam und ratlos verschwand er.

Nun spürte sie plötzlich Gewissensbisse. »Hester, mein Kind,« sagte sie sich, »die Art, wie du ihn behandelst, ist doch wohl ein bißchen stark. Armer alter Joe!«

Und sogleich begann eine Stimme in ihr das alte Lied: »Ich hör die lieben Stimmen klingen: Armer alter Joe!«

Freilich hatte sie auch nicht die Absicht, ins Haus zu gehen und sich dem abendlichen Tête-à-tête mit ihm zu widmen. Danke!

»Es ist doch natürlich albern von ihm, zu glauben, ich könnte auf die Art von Liebelei hineinfallen. Eher würde ich in einen seiner Schweinetröge fallen. Es ist so entsetzlich gewöhnlich. Und es ist natürlich ein Beweis dafür, daß er mich eigentlich gar nicht liebt.«

Dieser Gedanke fuhr ihr wie eine Flintenkugel durchs Herz. »Ja: nicht liebt. Niemals könnte ein Mann, der eine Frau liebt, auf solche Weise in sie verliebt sein: eine derartige Beleidigung tut er ihr damit an.«

Worauf sie alsbald zu weinen begann – und, da sie in ihrem Ärmel nach ihrem Taschentuch suchte, um ein Haar vom Baum gefallen wäre. Ein Zwischenfall, der sie zur Besinnung brachte.

Er kehrte zum Hause zurück – sie sah ihn als undeutliche Gestalt; und ihr war bitter zumute. »Warum hat er dieses ganze Unheil angestiftet? Ich habe nie den Wunsch gehabt, irgendwen zu heiraten, und ich bin auch nie darauf aus gewesen, irgendwen in mich verliebt zu machen. Jetzt aber ist mein gesunder Sinn damit vergiftet und ich komme mir wie ein mißratenes Geschöpf vor. Denn die Mehrzahl der Mädels muß doch wohl an dieser Liebelei Gefallen finden, sonst würden die Männer es ja nicht machen. Und die Mehrzahl ist eben normal. Also bin ich anormal, sitze auf einem Baum und ekle mich vor mir selber. Joe aber – Joe hat alles verdorben, was zwischen uns bestand, und nun erwartet er, daß ich ihn daraufhin heiraten soll. Es ist wirklich, um das heulende Elend zu kriegen. Was für eine unsaubere Sache ist doch das Leben! Und wie ich alle Unsauberkeit verabscheue!«

Sie vergoß rasch noch ein paar Tränen, und während sie damit beschäftigt war, hörte sie, daß die Tür des Blockhauses mit einem richtigen Knall zugeschlagen wurde. Er war hineingegangen, und nun war er gerechtermaßen empört. Und schon bekam sie es mit einer neuen Befürchtung zu tun.

Der Sitz im Weidenbaum war unbequem. Die Luft war kühl und feucht. Wenn sie sich jetzt wieder eine Erkältung holte, wurde sie den Schnupfen womöglich den ganzen Winter nicht wieder los. Sie sah das Lampenlicht mit warmem Schimmer durch die Fenster des Blockhauses glänzen, und sie sagte: »Verdammt!« – was in diesem besonderen Falle bedeutete, daß ihr nicht wohl zumute war.

Sie ließ sich aus dem Baume niedergleiten und schrammte sich dabei den Arm; wahrscheinlich hatte auch einer ihrer Strümpfe Schaden genommen, und natürlich waren es ihre besten. »Hols der Henker!« sagte sie nachdrücklich und schickte sich an, ins Haus zu gehen und die Sache mit dem armen alten Joe auszufechten. »Ich werde ihn nicht ›armer alter Joe‹ nennen!«

In diesem Augenblick hörte sie, wie ein Kraftwagen draußen auf dem Feldwege seine Fahrt verlangsamte; das gedämpfte, vorsichtige Tuten einer Hupe klang herüber. Der Wagen hielt, und seine Scheinwerfer beleuchteten Joes neue eiserne Pforte.

»So eine Frechheit! So eine unerhörte Frechheit! Jetzt kommt mir doch wahrhaftig Henrietta über den Hals.«

Sie fegte Joes Schlackenweg hinunter wie eine Furie.

»Hallo, Hester!« klang Henriettas kühle junge Stimme aus der Dunkelheit des Wagens hervor. »Wie siehts aus bei euch?«

»Unverschämtheit!« rief Hester. »Unglaubliche Unverschämtheit!« Sie lehnte sich auf Joes eiserne Pforte und schnappte nach Luft.

»Wie gehts bei euch?« wiederholte Henriettas Stimme freundlich.

»Wie meinst du das?« fragte Hester, immer noch atemlos.

»Na, liebes Kind, nun fahr nur nicht gleich aus der Haut! Wir wären nicht hereingekommen, wenn du nicht herausgekommen wärst. Du brauchst nicht zu glauben, daß wir die Nase in deine Sachen stecken wollen. Wir wollen unten bei Bonamy kampieren. Ist das Wetter nicht zu herrlich?«

Bonamy war Joes bester Freund und ebenfalls ein alter Artilleriemann; er hatte eine Meile von hier entfernt auch so ein »Gut« in Betrieb genommen. Joe war in seinem Blockhaus keineswegs ein Robinson Crusoe.

»Na, jedenfalls – wie gehts euch?« fragte Hester.

»In alter Frische«, sagte Donald, der am Steuer saß. Donald war Joes Bruder. Henrietta saß auf dem Vordersitz neben ihm.

»Der Herr verläßt die Seinen nicht«, sagte Teddy und steckte den Kopf aus dem Wagen. Teddy war ein Vetter zweiten Grades.

»Na schön«, sagte Hester, und es klang, als kletterte sie sozusagen zu ihnen herunter. »Wenn ihr schon mal da seid, könnt ihr ja auch hereinkommen. Habt ihr schon gegessen?«

»Gegessen – ja«, sagte Donald. »Aber wir kommen diesmal nicht rein, Hester: kannst also unbesorgt sein.«

»Was soll das heißen?« fuhr Hester auf, gleich wieder in Kampfstimmung.

»Angst vor Bruder Joe«, sagte Donald.

»Außerdem, Hester,« sagte Henrietta schüchtern, »willst du uns ja auch gar nicht haben.«

»Henrietta, rede nicht ein so albernes Zeug!« flammte Hester.

»Na, hör mal, Hester –!« wehrte sich die schmerzlich getroffene Henrietta.

»Also kommt herein und laßt den Unsinn«, sagte Hester.

»Nee, auf dieser Fahrt nicht, Hester«, sagte Donny.

»Nicht zu machen«, sagte Teddy.

»Blöd seid ihr! Weshalb denn nicht?« rief Hester.

»Angst vor unserem großen Bruder«, sagte Donald.

»Na schön«, sagte Hester. »Dann komme ich mit euch.« Und sie öffnete hastig die Pforte.

»Soll ich nicht doch mal eben hineingucken? Ich möchte zu gern das Haus mal sehen«, sagte Henrietta und kletterte mit ihren langen Beinen über die Wagentür.

Es war nun ganz dunkel; der Mond war untergegangen. Die Schwestern gingen stumm auf dem Schlackenweg, auf dem die Schritte knirschten, zum Hause.

»Wenn du lieber willst, daß ich nicht reinkomme – oder wenn es Joe lieber ist – dann mußt du's sagen«, bat Henrietta ängstlich. Sie war sehr tief verstört in ihrem jungen Gemüt, und sie hoffte, daß sich irgend ein Faden finden würde, um dieses Knäuel zu entwirren. Als Hester weiterging, ohne zu antworten, legte Henrietta ihr die Hand auf den Arm. Aber Hester schüttelte ihn ab und sagte: »Liebe Henrietta, bitte, benimm dich normal.«

Und sie sauste die drei Stufen vor dem Hause hinan und riß die Tür auf: vor ihnen lag das lampenhelle Wohnzimmer, und Joe saß in einem Sessel am niedrigbrennenden Feuer, mit dem Rücken zur Tür. Er sah sich nicht um.

»Henrietta ist da!« rief Hester, und in ihrem Ton klang die deutliche Frage: »Was sagst du nun?«

Er stand auf und sah sich um, und die braunen Augen in seinem starren Gesicht blickten sehr ärgerlich.

»Wie kommst du denn hierher?« fragte er schroff.

»Mit dem Auto«, sagte die kleine Henrietta mit der vorgeschriebenen Unschuld ihrer Jahre.

»Mit Donald und Teddy – sie sind draußen vor dem Tor«, sagte Hester. Die ganze alte Bande! dachte sie.

»Kommen sie rein?« fragte Joe, und der Ärger in seiner Stimme wuchs.

»Ich nehme an, du wirst hinausgehen und sie dazu einladen«, sagte Hester.

Joe sagte nichts und stand stockstill.

»Du findest es wahrscheinlich scheußlich von mir, daß ich hier eindringe«, sagte Henrietta bescheiden. »Wir fahren zu Bonamy.« Sie sah sich harmlos im Zimmer um. »Aber das ist ja ein ganz entzückendes Häuschen – und so geschmackvoll – richtig im Landhausstil. Also furchtbar nett finde ich das. Darf ich mir die Hände ein bißchen wärmen?«

Joe trat vom Feuer weg (er hatte seine Pantoffeln angezogen), und Henrietta schlenkerte vor dem Kamingitter ihre langen, von der Nachtluft geröteten Hände.

»Ich renne gleich wieder weg«, sagte sie.

»Oooh –!« sagte Hester in wunderlich gedehntem Ton. »Bleib doch noch!«

»Nein, ich muß gehen. Donald und Teddy warten.«

Die Tür stand weit offen, und man sah die Lichter des Wagens ins dunkle Land glänzen.

»Oooh –!« Wieder ließ Hester den sonderbar gedehnten Laut vernehmen. »Ich sage ihnen, daß du diese Nacht bei mir bleibst. Ich kann ein bißchen Gesellschaft brauchen.«

Joe warf ihr einen Blick zu.

»Was wird hier gespielt?« fragte er.

»Gar nichts wird gespielt. Aber da Tatty nun mal gekommen ist, kann sie ja auch bleiben.«

»Tatty« war die ziemlich selten gebrauchte Koseform von »Henrietta«.

»Oh, Hester, aber – ich will doch mit Donald und Teddy zu Bonamy fahren«, sagte Henrietta.

»Nicht wenn ich wünsche, daß du hier bleibst«, sagte Hester.

Henrietta war ein Bild verblüffter und ergebener Hilflosigkeit.

»Was wird hier gespielt?« wiederholte Joe. »Hattet ihr denn schon früher vor, heute abend hierher zu kommen?«

»Nein, Joe, wirklich nicht«, sagte Henrietta mit aufrichtiger Unschuld. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung davon, bis Donald es heute nachmittag um vier vorschlug. Aber das Wetter war ja so herrlich – da mußten wir doch ausfliegen, und da haben wir beschlossen, einfach zu Bonamy zu fahren. Hoffentlich ist der nicht auch so gräßlich böse.«

»Und wenn wir es wirklich verabredet hätten, dann wäre das ja schließlich auch noch kein Verbrechen«, bemerkte Hester. »Und jedenfalls – da ihr ja nun mal hier seid, könnt ihr ebensogut auch hier kampieren.«

»Nein, o nein, Hester! Donald tut ganz gewiß keinen Schritt durch die Pforte. Er war schon ärgerlich auf mich, als ich verlangte, daß er hier halten sollte – und gehupt habe ich. Das hat er nicht getan – das hab ich getan. War wohl die neugierige Eva, nicht? Jedenfalls hab ich die ganze Geschichte mal wieder angestiftet, wie gewöhnlich. Und deshalb ist es am besten, ich verschwinde, so schnell ich kann. Gute Nacht!«

Sie schlug mit einem Arm den Mantel um sich und machte eine Bewegung zur Tür.

»Dann gehe ich mit«, sagte Hester.

»Aber Hester –!« rief Henrietta. Und sie warf einen fragenden Blick auf Joe.

»Ich weiß so wenig wie du, was hier los ist«, sagte der.

Sein Gesicht war starr und wütend; Henrietta wurde nicht klug aus ihm.

»Hester«, rief Henrietta. »Sei doch vernünftig! Was ist denn los? Warum erklärst du es uns denn nicht wenigstens? Das ist doch nicht mehr als anständig! Und du willst mir erzählen, ich soll mich normal benehmen! Mir fährst du immer gleich ins Gesicht. Und du –?!«

Eine spannunggeladene Pause folgte.

»Was hats gegeben?« beharrte Henrietta, und ihre Augen waren sehr blank und kummervoll, und ihr ganzes Verhalten zeigte deutlich, daß sie entschlossen war, vernünftig zu sein.

»Nichts natürlich«, spottete Hester.

»Weißt du es, Joe?« fragte Henrietta, eine zweite Portia, und wandte sich in mitfühlendem Ton an die männliche Partei.

Einen Augenblick schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, wie viel netter doch Henrietta war als ihre Schwester. »Ich weiß nur, daß sie mich gebeten hat, ihr was vorzuspielen, und dabei hat sie sich aus dem Hause gedrückt. Seitdem ist bei ihr das Steuerruder unklar.«

»Ha – ha – ha!« lachte Hester – es klang falsch wie auf der Opernbühne. »So hab ichs gern! ›Aus dem Hause gedrückt‹ – so hab ichs gern! Ich bin vor die Tür gegangen, um frische Luft zu schnappen. Und ich möchte wirklich mal wissen, bei wem das Steuerruder unklar ist, wenn du hier erzählen willst, ich hätte mich aus dem Hause gedrückt.«

»Du hast dich aus dem Hause gedrückt«, sagte Joe.

»Ach – hab ich das? Und warum sollte ich das wohl getan haben, bitte?«

»Du wirst deine Gründe gehabt haben, nehme ich an.«

»Hab ich auch. Und zwar ausgezeichnete Gründe.«

Es gab eine Pause völliger Verblüffung. Joe und Hester hatten einander so gut und so lange gekannt. Und nun so etwas –!

»Aber warum hast du es denn getan, Hester?« fragte Henrietta mit der kindlichsten Miene atemlosen Staunens.

»Warum ich was getan habe?«

Vom Wagen draußen auf dem Feldweg tutete ein gedämpftes Hupenzeichen herüber.

»Sie rufen schon! Auf Wiedersehen!« Henrietta wickelte sich in ihren Mantel und wandte sich mit entschlossenem Ruck zur Tür.

»Wenn du gehst, mein Kind, komme ich mit«, sagte Hester.

»Aber warum denn?« rief Henrietta erstaunt. Abermals klang die Hupe. Sie ging zur Tür und rief in die Dunkelheit hinein: »– halbe Minute!« Dann schloß sie die Tür und wandte sich in ihrem Staunen abermals an Hester. »Aber warum denn bloß?«

Hester schielte fast vor Aufregung und Verzweiflung. Sie wagte auf den stocksteifen und wütenden Joe kaum einen Blick zu werfen.

»Warum?«

»Ja – warum?« kam von Henrietta die sanfte Wiederholung der Frage.

Hester stand im Brennpunkt der Spannung. Aber sie blieb ein Buch mit sieben Siegeln.

»Warum?«

»Sie weiß es selber nicht«, sagte Joe und meinte damit ein Schlupfloch entdeckt zu haben.

Toll und opernhaft falsch klang Hesters Lachen. »Ach, sieh mal an!« Eine jähe Blutwelle unerklärlicher Wut schoß ihr jäh ins Gesicht. »Na, also wenn du's wissen willst: Ich kann dein verliebtes Getue, oder wie du den Blödsinn sonst nennen willst, ganz einfach nicht mehr aushalten!«

Henrietta ließ den Türdrücker los und sank mit schwachen Knieen auf einen Stuhl.

Damit hatte nun das Unheil seinen Höhepunkt erreicht. Joes Gesicht wurde purpurn und erbleichte dann langsam zum Gelb.

»Dann«, sagte Henrietta mit hohler Stimme, »kannst du ihn nicht heiraten.«

»Ich kann ihn unter keinen Umständen heiraten, wenn er nicht aufhört, in mich ›verliebt‹ zu sein.« Sie zischte das Wort mit gehässigem Nachdruck heraus.

»Wenn er es nicht wäre, könntest du ihn auch nicht heiraten«, sagte Henrietta in ihrer Rolle als rettender Engel.

»Warum denn nicht?« rief Hester. »Ich konnte es doch glänzend mit ihm aushalten, bevor er die Geschichte mit dem Verliebtsein anfing. Nein, er kommt einfach nicht mehr in Frage.«

Es gab eine Pause; worauf Henrietta sich vernehmen ließ: »Schließlich, Hester, nimmt man doch allgemein an, daß jeder Mann in die Frau, die er heiraten will, verliebt ist.«

»Dann kann ich nur sagen, daß er besser daran täte, Junggeselle zu bleiben.«

Wieder eine Pause. Joe, stumm wie immer, sah in seiner Wut noch hölzerner und einfältiger aus als zuvor.

»Aber Hester! Muß man nicht in dich verliebt sein, wenn man ein Mann ist?«

»Nicht in mich, danke! Du hast ja schließlich nicht in meiner Haut gesteckt, mein Kind.«

Henrietta seufzte ratlos. »Dann kannst du ihn nicht heiraten, das ist klar. Aber es ist scheußlich schade.«

Pause.

»Nichts ist für eine Frau eine so ungeheure Erniedrigung, als wenn ihr ein Mann mit diesem verliebten Getue kommt. Ich hasse es.«

»Vielleicht kommts daher, daß es nicht der richtige Mann ist«, sagte Henrietta mit einem Blick auf den hölzernen und einfältigen Joe.

»Ich glaube nicht, daß ich so was überhaupt jemals aushalten könnte – bei keinem Manne. Henrietta, weißt du, wie das ist, wenn man gestreichelt und getätschelt wird? Das ist ganz einfach zu scheußlich und lächerlich.«

»Ja,« sagte Henrietta trübsinnig nachdenkend: »– als ob man eine ganz besonders leckere Fleischpastete wäre, die der Hund zärtlich beleckt, bevor er sie hinunterschlingt. Davon kann einem schon schlecht werden, das gebe ich zu.«

»Und was so scheußlich ist: ein sonst vollkommen anständiger Mann kriegt plötzlich einen Rappel und fängt damit an. Nichts ist so gräßlich wie ein Mann, der verliebt ist«, sagte Hester.

»Ich weiß, was du meinst, Hester. So hundeähnlich«, sagte Henrietta traurig.

Die Hupe tutete erbittert. Henrietta erhob sich wie eine Portia, der die Götter Mißerfolg beschert haben. Sie öffnete die Tür und gellte plötzlich wütend in die Nacht hinaus: »Fahrt ohne mich. Ich gehe zu Fuß. Wartet nicht!«

»Wie lange dauerts denn noch?« klang eine Stimme.

»Weiß nicht. Wenn ich kommen will, geh ich zu Fuß«, gellte Henriettas Antwort.

»Ich hol dich in 'ner halben Stunde ab.«

»Recht«, schrie sie schrill und schlug den unsichtbaren Mahnern die Haustür vor der Nase zu. Dann setzte sie sich, inmitten des allgemeinen Schweigens, betrübt wieder hin. Sie hatte beschlossen, Hester beizustehen. Dieser Tölpel von Joe – dazustehen mit einem solchen Schafsgesicht!

Draußen sprang der Wagen an und fuhr auf dem Feldwege zurück.

»Männer sind gräßlich«, sagte Henrietta düster.

»Immerhin waltet hier ein Irrtum«, sagte Joe jäh und giftig. »Ich bin durchaus nicht in Sie verliebt, mein sehr gescheites Fräulein.«

Die beiden sahen ihn an, als wäre er auferstanden wie Lazarus.

»– und ich war auch niemals in dich verliebt – auf die Art«, fügte er hinzu, und seine braunen Augen brannten in einem Feuer, das auf seltsame Weise von Scham, Wut und unverhüllter Leidenschaft zugleich genährt wurde.

»Na, also da kann ich nur sagen: was mußt du dann für ein Lügner sein!« antwortete Hester kalt.

»Willst du damit sagen, daß du alles nur geheuchelt hast?« fragte die kleine Henrietta mit ätzender Verachtung.

»Ich hab gemeint, sie erwartete es so«, sagte er, mit einem schändlichen kleinen Lächeln, das die beiden geradezu lähmte. Wenn er sich jählings in eine Boa constrictor verwandelt hätte – ihre Verblüffung hätte nicht größer sein können. Ihr gutherziger Joe –! und dieses höhnische kleine Lächeln!

»Ich hab gemeint, es würde von mir erwartet«, wiederholte er höhnisch.

Hester war entsetzt.

»Oh, aber wie gemein war es dann von dir, es zu tun!« rief Henrietta.

»Und außerdem lügt er ja!« schrie Hester. »Er hat es doch gern getan!«

»Glaubst du das wirklich, Hester?« fragte Henrietta.

»Oh, in gewisser Weise hab ichs schon gern getan«, sagte er schamlos. »Aber ich hätte es doch nicht gern getan, wenn ich nicht glaubte, daß sie es gern mochte

Hester warf die Arme in die Luft.

»Henrietta,« schrie sie, »warum dürfen wir ihn nicht umbringen?«

»Ich wollte, wir dürften es«, sagte Henrietta.

»Was soll man denn machen, wenn man weiß, daß ein Mädel es ziemlich genau nimmt, und wenn man sie gerade deswegen gern hat – und wenn man dann erst in vier Wochen heiraten soll – und – und wenn – wenn man dann doch irgendwie über die Zwischenzeit wegkommen muß – – und tut denn schließlich euer Filmheld Rudolf Valentino was anderes? – bei dem habt ihrs doch gern – –«

»Er ist ja tot, der arme nette Kerl. Aber mich hat er wirklich angewidert«, sagte Hester.

»Es sah aber gar nicht danach aus«, bemerkte Joe.

»– und jedenfalls: du bist ja nicht Rudolf Valentino, und du widerst mich an in der Rolle.«

»Dazu wird fernerhin keine Gelegenheit sein. Ihr widert mich alle miteinander an.«

»Es ist mir eine ungeheure Erleichterung, das zu hören, mein Junge.«

Es gab eine ziemlich lange Pause; worauf Henrietta mit Entschiedenheit sagte: »Na, das wäre also erledigt. Willst du mit zu Bonamy, Hester, oder soll ich hier bei dir bleiben?«

» Mir ist es gleich, mein Kind«, sagte Hester in herausforderndem Ton.

»Mir auch«, sagte Joe. »Aber ich finde, es war doch eine richtige Gemeinheit von dir, mir nicht gleich am Anfang die Wahrheit zu sagen.«

»Da hab ich gemeint, es wäre dir ehrlich damit, und ich wollte dir nicht weh tun«, sagte Hester.

»So siehst du gerade aus, als ob du mir nicht weh tun wolltest«, sagte er.

»Na, wenn doch alles bloß Heuchelei war, ist das ja jetzt auch einerlei.«

»Das kann man wohl sagen«, gab er zurück.

Nun entstand ein Schweigen. Die Uhr, deren Bestimmung es gewesen war, ihnen als Familienuhr zu dienen, tickte; und zwar tickte sie ziemlich hastig.

»Jedenfalls«, sagte er, »hast du mich unter aller Würde behandelt.«

»So hab ichs gern!« rief sie. »Und wie hast du mich zum besten gehabt, wie?!«

Er sah ihr gerade in die Augen. Sie kannten einander so gut.

Warum hatte er es gerade bei ihr mit diesem albernen verliebten Getue alltäglicher Art versucht? Es war ein Verrat an ihrer so aufrichtigen Vertrautheit. Er sah das ehrlich ein, und er bereute.

Und sie las die rechtschaffene, geduldige Liebe in seinen Augen – und, in der Tiefe, das wunderlich verhaltene Begehren. Zum ersten Male sah und erlebte sie das: dieses stille, geduldige, tiefe Begehren in den Augen eines Mannes, der böse Jugendjahre gehabt hat und nun beim Suchen nach einem Menschen fast zur Bedachtsamkeit des Alters gelangt ist. Eine heiße Welle flog über ihr Herz. Ihr Gefühl gab Antwort auf seinen Ruf.

»Na, was hast du beschlossen, Hester?« fragte Henrietta.

»Ach, schließlich – ich will doch bei Joe bleiben«, sagte Hester.

»Na schön«, sagte Henrietta. »Und ich gehe ab, zu Bonamy.«

Sie öffnete ohne überflüssigen Lärm die Tür – und war weg.

Joe und Hester betrachteten einander von weitem (das Zimmer lag zwischen ihnen).

»Es tut mir leid, Hester«, sagte er.

»Ach, weißt du, Joe,« sagte sie, »mir ist es gleich, was du tust, wenn du mich nur wirklich liebst


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