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Isabel Pervin wartete auf zwei Geräusche: draußen auf dem Fahrwege mußten Wagenräder rollen; und drinnen in der Halle mußte der Schritt ihres Mannes klingen. Ihr liebster und ältester Freund, ihrem Leben beinahe unentbehrlich, sollte in der regnerischen Dämmerung des späten Novembernachmittags ankommen. Die Kutsche war zum Bahnhof gefahren, um ihn abzuholen. Und ihr Mann, der in Flandern blindgeschossen worden war und eine entstellende Narbe auf der Stirn davongetragen hatte, mußte von den Nebengebäuden herüberkommen.
Seit einem Jahre war er wieder daheim. Er war völlig blind. Und doch waren sie sehr glücklich gewesen. Das Gut, The Grange genannt, war Maurice Pervins Eigentum. Der hintere Teil des Gebäudes war ein richtiges Bauernhaus; dort wohnten die Wernhams, die den Besitz bewirtschafteten. Isabel wohnte mit ihrem Gatten in den schönen Vorderzimmern. Seit seiner Verwundung hatten sie fast völlig allein gelebt. Sie redeten, sie sangen, sie lasen miteinander, und es war eine herrliche, unsagbar nahe Vertrautheit zwischen ihnen. Außerdem schrieb Isabel Bücherbesprechungen für eine schottische Zeitung – eine Fortsetzung ihrer alten Lieblingstätigkeit –, und er fand allerhand in der Wirtschaft zu tun. Obwohl er nicht mehr sah, konnte er doch noch mit Wernham über alle Fragen des Betriebes reden; auch konnte er da und dort allerlei Arbeit auf dem Hofe leisten – untergeordnete Arbeit, gewiß, aber sie befriedigte ihn doch. Er molk die Kühe, trug die Milcheimer herein, bediente die Zentrifuge, sorgte für die Schweine und die Pferde. Das Leben war für den Blinden noch immer sehr reich und seltsam heiter und ganz erfüllt von dem beinahe unbegreifbaren Frieden, den die unmittelbare Berührung mit dem Lebendigen im Dunkeln schenkt. Ihm und seiner Frau war eine ganze Welt zu eigen, reich und wirklich und unsichtbar.
Ihr Glück war jung wie am ersten Tag und dem äußeren Leben ganz fern. In diesen Tagen einer dunkeln und mit Händen greifbaren Freude bedauerte er nicht einmal den Verlust seines Augenlichtes. Sein Herz schlug stark und voll wie im Triumph.
Aber die Zeit verging, und zuweilen verblich ihnen der schöne zauberische Glanz. Nach Monaten dieses angespannten Erlebens geschah es manchmal, daß Isabel plötzlich eine Last spürte, eine Müdigkeit, eine furchtbare Langeweile in diesem stillen Hause, zu dem man durch einen Säulengang aus hochstämmigen Fichten gelangte. Diese Anwandlungen konnten so unerträglich werden, daß sie den Verstand zu verlieren fürchtete. Und er hatte zuweilen schreckliche Anfälle von Niedergeschlagenheit, die sein ganzes Leben und Wesen zu zerstören schien. Es war noch mehr und Schlimmeres als Niedergeschlagenheit – war ein schwarzes Elend, das ihm das eigene Leben zur Qual und seine Gegenwart für seine Frau unerträglich machte. Immer, wenn diese schwarzen Tage wiederkehrten, spürte Isabel ein Grauen, das bis zu den Wurzeln ihrer Seele drang. Und in ihrer sinnlosen Angst war sie bemüht, noch mehr als bisher in ihrem Gatten aufzugehen. Sie erzwang den Fortbestand der alten ungezwungenen Heiterkeit und Freude. Aber es kostete sie eine Anstrengung, die fast über ihre Kraft ging. Sie wußte, daß sie nicht würde durchhalten können. Einmal, so meinte sie, würde sie aufschreien vor Qual und alles, alles hingeben, um entrinnen zu können. Es verlangte sie danach, ihren Gatten ganz und völlig zu besitzen; es bereitete ihr eine wilde Freude, ihn ganz für sich zu haben. Und doch: wenn er wieder in seine schwarze und undurchdringliche Trübsal geraten war, wurde er ihr unerträglich, wurde sie sich selbst unerträglich; lieber wäre es ihr gewesen, daß irgend ein jähes Eingreifen sie ganz und gar von der Erde vertilgte, als daß sie um solchen Preis weiterleben mußte.
In ihrer Verstörtheit suchte sie nach einem Ausweg. Sie lud Freunde ein, sie versuchte für Maurice neue Verbindungen mit der Außenwelt zu knüpfen. Aber es war nutzlos. Nach all ihrer Freude und ihrem Leid, nach diesem großen dunkeln Jahr der Blindheit und der Einsamkeit und des unsagbaren Naheseins schienen ihnen andere Menschen oberflächlich, geschwätzig und ziemlich anmaßend. Er wurde dabei ungeduldig und reizbar, sie wurde müde. Und so zogen sie sich wieder in ihre Einsamkeit zurück. Denn die war ihnen doch lieber.
Nun aber erwarteten sie in wenigen Wochen die Geburt ihres zweiten Kindes. Das erste war im frühesten Alter gestorben, als Maurice im Anfang des Krieges nach Flandern ins Feld zog. Mit Freude und Erleichterung sah sie der Geburt des zweiten entgegen. Es würde ihr Erlösung bringen. Aber zugleich war ihr ein wenig beklommen zumute. Sie war dreißig Jahre alt, ihr Gatte ein Jahr jünger. Beide hatten sich sehr nach dem Kinde gesehnt. Und doch konnte Isabel diese Angst nicht unterdrücken. Ihr Mann war auf sie angewiesen; er war ihr eine unendliche Freude und eine furchtbare Last. Nun würde das Kind ihre Liebe und Sorge beanspruchen. Was sollte dann aus Maurice werden? Was würde er tun? Hätte sie nur das Gefühl haben können, daß auch er die Geburt des Kindes als ein Geschenk von Frieden und Glück hinnehmen würde: sie sehnte sich so sehr danach, in der schönen körperlichen Befriedigung der Mutterschaft schwelgen zu können. Wie aber würde es mit Maurice werden? Wie würde sie für ihn sorgen und die zerrüttenden Anfälle schwarzen Trübsinns von ihm fernhalten können, die ihm und ihr das Leben zerstörten?
Sie stöhnte vor Angst. Gerade da aber kam Bertie Reids Brief. Er war ihr ein alter Freund, ein Vetter zweiten oder dritten Grades, und stammte wie sie aus Schottland. Sie waren Nachbarskinder, und ihr ganzes Leben lang war er ihr ein Freund gewesen: wie ein Bruder, ja mehr als ihre eigenen Brüder. Sie liebte ihn – wenn auch nicht so, daß sie ihn hätte heiraten können. Ihr Verhältnis zueinander war wie Verwandtschaft, wie Blutsverwandtschaft. Sie verstanden einander aus dem natürlichen Gefühl heraus. Aber Isabel hätte nie daran gedacht, Bertie zu heiraten. Das wäre ihr vorgekommen, als heiratete sie in die eigene Familie hinein.
Bertie war Anwalt, eine Gelehrtennatur, ein Mann von der besonders gearteten schottischen Geistigkeit, regsam, spöttisch, empfindlich; und von kniefälliger Verehrung für die Frau, die er anbetete, aber die zu heiraten ihm gar nicht in den Sinn kam. Maurice Pervin war anders. Er stammte aus einer guten alten Gutsbesitzersfamilie – seine Besitzung lag nicht sehr weit von Oxford entfernt. Er war leidenschaftlich, empfindsam, vielleicht übermäßig empfindsam und leicht verletzt – ein großer Mensch mit schweren Gliedmaßen, dem leicht die Röte peinvoller Erregung in die Stirn stieg. Denn sein Geist arbeitete langsam, als betäubte ihn das schwere alte Bauernblut, das in Maurices Adern floß. Er war sich seiner geistigen Langsamkeit empfindlich bewußt, denn sein Gefühl war rasch und stark. So war er der völlige Gegensatz zu Bertie, bei dem der Verstand viel rascher arbeitete und viel feiner entwickelt war als das Gefühl.
Die beiden Männer mochten einander von der ersten Begegnung an nicht leiden. Und Isabel hatte doch das Gefühl, daß sie gut miteinander auskommen müßten. Aber sie taten es eben nicht. Hätte erst einmal, so meinte Isabel, jeder von ihnen den Schlüssel zum Wesen des anderen, so müßte es zwischen ihnen ein Einvernehmen von ganz besonderer Herzlichkeit geben. Freilich war davon nichts zu spüren. Bertie nahm eine etwas spöttische Haltung an, die Maurice als schwere Kränkung empfand; Maurice wiederum vergalt die schottische Ironie mit englischer Empfindlichkeit, die sich zuweilen zu einfältigem Haß verstärkte.
Das war ein wenig verwirrend für Isabel. Aber sie nahm es hin, wie es nun einmal war. Männer sind launenhaft und unvernünftig, sagte sie sich. Als daher Maurice zum zweiten Mal nach Frankreich kam, hielt sie es für ihre Pflicht ihrem Gatten gegenüber, die Freundschaft mit Bertie aufzugeben. Sie schrieb ihm das. Und Bertram Reid antwortete ohne viel Redensarten, er müsse in diesem wie in jedem anderen Falle sich ihrem Wunsche fügen, wenn dies tatsächlich ihr Wunsch wäre.
Fast zwei Jahre lang vernahmen die Freunde nichts voneinander. Isabel kam sich in dieser Entsagung ziemlich erhaben vor; sie empfand keinerlei Gewissensbisse. Denn sie handelte nach ihrem großen Glaubenssatz, Mann und Frau müßten einander so viel bedeuten, daß der Rest der Welt für sie einfach nicht mehr mitzähle. Sie und Maurice, als Gatten, liebten einander. Es würden ihnen Kinder geschenkt werden. Da sollte doch die ganze übrige Welt außerhalb dieses ehelichen Glückes bedeutungslos verblassen! Sie sei, sagte sie, vollkommen glücklich und bereit, Maurices Freunde zu empfangen. Sie fühlte sich glücklich und im Besitz ihres Glückes zur Gastfreundschaft bereit. Die Freunde aber, ohne recht zu wissen warum, zogen sich verlegen zurück und kamen nicht wieder. Maurice fand natürlich in dieser ehelichen Ausschließlichkeit gerade so viel Befriedigung wie Isabel.
Er nahm Anteil an Isabels schriftstellerischen Arbeiten, sie wiederum bekundete ein wirkliches Interesse für Ackerbau und Viehzucht. Denn sie, die im Grunde vielleicht ein begeisterungsfähiger Gefühlsmensch war, zeigte immer eine Vorliebe für die praktische Seite des Lebens und war stolz auf ihre Geschicklichkeit in praktischen Dingen. So hatten die beiden die bisherigen fünf Jahre ihrer Ehe verbracht. Das letzte, für ihn zugleich das erste seines Blindseins, war voll unaussprechlicher Vertrautheit gewesen. Nun aber fühlte Isabel sich von einer großen Gleichgültigkeit, einer großen dumpfen Trägheit überwältigt. Sie hatte nur noch den Wunsch, ihr Kind in Frieden auszutragen, am Feuer zu dämmern und sich gedankenlos und in rein körperlichem Behagen von Tag zu Tag hintreiben zu lassen. Maurice aber war wie eine unheildrohende Donnerwolke. Isabel mußte sich immer wieder aus ihrer Schläfrigkeit hochreißen, um auf ihn zu achten.
Dann kam der kurze Brief Berties: Ob er, schrieb Bertie, ihrer toten Freundschaft einen Grabstein errichten müsse? Und er sprach von seiner ehrlichen Trauer darüber, daß Maurice sein Augenlicht verloren habe. Sie fühlte etwas wie einen jähen Stich und die flackernde Erregung des Erwachens. Und sie las Maurice den Brief vor.
»Lade ihn hierher ein«, sagte er.
»Ich soll Bertie hierher einladen –?!« fragte sie.
»Ja – wenn er Lust hat.«
Isabel schwieg ein paar Augenblicke.
»Lust wird er schon haben – ich weiß sogar, daß er nur zu froh sein würde«, antwortete sie. »Aber wie ist es mit dir, Maurice? Hättest du auch wirklich nichts dagegen?«
»Gar nichts.«
»Ja, dann – – Aber ich dachte, du machtest dir nichts aus ihm – –«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht komme ich jetzt zu einer anderen Meinung über ihn«, antwortete der Blinde. Sie wußte nicht recht, was sie aus ihm machen sollte.
»Na ja, Lieber«, sagte sie. »Wenn du dessen so sicher bist – –«
»Sicher genug. Laß ihn kommen«, sagte Maurice.
Und nun kam Bertie also – kam heute abend noch, in Novemberregen und Finsternis. Isabel war aufgeregt; die alte quälende Rastlosigkeit und Unentschlossenheit war wieder da. Immer schon hatte sie unter dieser Qual eines Zweifels gelitten, der aus einer marternden inneren Ungewißheit kam. Im dumpfen Hindämmern der Mutterschaft war er langsam von ihr gewichen. Nun aber war er wieder da, und sie war unglücklich darüber. Aber sie war, wie immer, bemüht, die ruhige, gesammelte, freundliche Haltung zu wahren, die sie wie eine Maske, wie ein Maskenkleid trug.
Das Mädchen hatte eine hohe Stehlampe neben dem Tisch angezündet und den Tisch gedeckt. Das lange Speisezimmer mit seinen schönen, aber ziemlich strengen und düsteren alten Möbeln lag im Dämmerlicht. Nur den runden Tisch traf der sanft glühende Glanz des Lichtes. Das sah hell und prächtig aus. Das weiße Tischtuch schimmerte, und seine schweren Spitzenkanten hingen fast bis auf den Teppich hinab; das Porzellan war alt und schön, sahnegelb, mit einem Klecksmuster aus scharfem Rot und tiefem Blau; die Tassen groß und glockenförmig; die Teekanne ein prächtiges Stück. Isabels flüchtiger Blick glitt wohlgefällig darüber hin.
Die Nerven taten ihr weh. Ohne es recht zu wissen, wandte sie sich wieder den hohen, nicht durch Vorhänge verhüllten Fenstern zu. Im letzten Dämmerlicht sah man gerade noch eine ragende Tanne, die ihre Zweige im Winde schwenkte – ahnte sie vielleicht mehr, als man sie sah. Der Regen kam herangeflogen und schlug an die Scheiben. Ach, dachte Isabel, warum habe ich keinen Frieden? Warum zerren diese beiden Männer an mir? Und warum kommen sie jetzt nicht – warum dies peinigende Warten?
Die Mattigkeit, in der sie dasaß, war in Wahrheit gespannte und gereizte Erwartung. Maurice konnte doch wenigstens hereinkommen – es gab keinen vernünftigen Grund, jetzt noch draußen zu bleiben. Sie stand auf. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Bild im Spiegel, und sie betrachtete sich mit einem leichten Lächeln des Wiedererkennens – wie man einen alten Freund ansieht. Ihr Gesicht war länglich rund und ruhig, ihre Nase ein wenig gebogen. Ihr Hals verlief in einer schönen Linie zur Schulter. Ihr Haar, im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengefaßt, gab ihr das Aussehen warmer Mütterlichkeit. Bei dieser Feststellung hob sie die Brauen und die ein wenig schweren Lider, ein kleines Lächeln flackerte über ihr Gesicht, und ihre grauen Augen blickten belustigt, mutwillig, ja ein wenig höhnisch aus ihrem verwandelten Madonnengesicht. Dann aber legte sie die Miene weiblicher Geduld wieder an – sie war auf eine wirklich schicksalhafte Art Herrin ihrer Haltung – und wandte sich mit einem Ruck zur Tür. Ihre Augen waren ein wenig gerötet.
Sie ging durch die geräumige Vorhalle und durch eine Tür an deren Ende. Nun war sie in dem Teil des Hauses, der zum Gutsbetrieb gehörte. Der Geruch von Milchwirtschaft, von ländlicher Küche, von den vielerlei Wesen und Dingen in Stall und Hof überwältigte sie fast: besonders aber der Molkereigeruch. Die Kessel waren ausgebrüht worden. Der fliesenbelegte Flur vor ihr war dunkel, unsauber und feucht. Aus der offenen Küchentür kam Licht. Isabel ging darauf zu und stand auf der Schwelle. Die Leute saßen beim Tee, um einen langen, schmalen Tisch herum, in dessen Mitte eine weiße Lampe stand. Gerötete Gesichter leuchteten, gerötete Hände hielten das Brot, rote Münder kauten heftig, Köpfe beugten sich über die Teetassen: Männer, Landmädels, Jungen – es war Teezeit, Futterzeit. Ein paar Gesichter wandten sich ihr zu Mrs. Wernham, die mit einer großen Teekanne in der Hand hinter den Stühlen um den Tisch wanderte und beim Gehen ein wenig hinkte, sah Isabel zuerst nicht. Dann wandte sie sich plötzlich um.
»Oh, Sie sind es, Madam!« rief sie: »Kommen Sie doch herein, kommen Sie doch herein! Wir sind beim Tee.«
»Nein, ich will nicht hereinkommen«, sagte Isabel. »Ich will euch nicht beim Essen stören.«
»Nein, nein, Sie stören doch wohl nicht, Madam, Sie stören doch wohl nicht.«
»Wissen Sie, ob Mr. Pervin noch nicht ins Haus gekommen ist?«
»Ich kanns wahrhaftig nicht sagen! Haben ihn vermißt, was, Madam?«
»Nein. Ich möchte nur gern, daß er hereinkommt«, lachte Isabel, als schämte sie sich ein wenig.
»Möchten Sie das gern? Aha. Steh auf, Junge. Willst du wohl aufstehen – –«
Mrs. Wernham knuffte einen von den Jungen in den Rücken. Er erhob sich mit lautem Scharren der Füße, gewaltig kauend.
»Ich glaube, er ist im letzten Stall«, sagte ein anderes Gesicht am Tische.
»Aha. Nein, bleib sitzen. Ich gehe selbst«, sagte Isabel.
»Sie gehen nicht hinaus bei dem scheußlichen Wetter. Lassen Sie doch den Jungen gehen. Los, Junge, raus«, sagte Mrs. Wernham.
»Nein, nein«, sagte Isabel mit einer Entschiedenheit, die sich stets Gehorsam erzwang. »Du bleibst bei deinem Tee, Tom. Mir macht es Spaß, zum Stall hinüberzugehen, Mrs. Wernham.«
»Hat man so was schon gehört!« rief die Frau.
»Die Kutsche bleibt lange aus, nicht?« fragte Isabel.
»Aber nein«, sagte Mrs. Wernham, nachdem sie durch die Dämmerung zu der hohen Standuhr hinübergespäht hatte. »Nein, Madam – es kann gut und gern noch eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten dauern, mindestens ja, mindestens eine Viertelstunde.«
»So. Es kommt einem so spät vor, wenn es so früh dunkel wird«, sagte Isabel.
»Das tuts, ja, das tuts. Scheußlich, daß die Tage so kurz werden«, sagte Mrs. Wernham. »Wahrhaftig ein Elend.«
Isabel zog ihre Überschuhe an, hüllte sich in ein großes schottisches Tuch, setzte einen Männerschlapphut auf und wagte sich auf den erhöhten Fußweg hinaus, der über den ersten Hof führte. Es war sehr dunkel. Der Wind sauste in den hohen Ulmen hinter den Nebengebäuden. Als sie auf den zweiten Hof kam, schien ihr die Finsternis noch dichter zu werden. Sie fühlte sich unsicher auf den Beinen. Und es tat ihr leid, daß sie keine Laterne mitgenommen hatte. Der Regen schlug ihr ins Gesicht. Halb machte der Kampf mit dem Wetter ihr Spaß, halb hatte sie Lust umzukehren.
Schließlich erreichte sie die kaum sichtbare Tür des Stalles. Nirgends war ein Lichtschimmer zu entdecken. Sie öffnete die obere Hälfte der Tür und sah hinein: aber sie blickte in ein Meer von Finsternis. Der Geruch von Pferdeleibern und Ammoniak und Wärme wirkte wie eine Überraschung in dieser völligen Dunkelheit. Sie strengte ihr Gehör aufs äußerste an, aber sie vernahm nichts als die Nacht und das Scharren eines Pferdes.
»Maurice!« rief sie. Es klang sanft und melodisch, obwohl sie sich fürchtete. »Maurice – bist du da?«
Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Wind und Regen flogen herein und trafen das warme tierische Leben, das im Stall geborgen war. Der Gedanke daran störte Isabel, und so trat sie in den Stall ein, schloß die untere Hälfte der Tür und zog die obere fest zu. Dann stand sie reglos, denn sie fühlte die Nähe der dunkeln Pferdeleiber, obwohl sie sie nicht sah, und sie fürchtete sich. Eine seltsam wilde Erregung verstörte ihr Herz.
Sie lauschte angestrengt. Dann vernahm sie ein leises Geräusch – von fernher schien es zu kommen: das Klirren eines Kessels, dann eine Männerstimme, die ein kurzes Wort sprach. Das war wohl Maurice, im anderen Ende des Stalles. Sie stand reglos und wartete, daß er durch die Verbindungstür kommen sollte. Die Pferde, unsichtbar, waren ihr so erschreckend nahe.
Sie schrak auf: die innere Türklinke knarrte laut, die Tür wurde geöffnet. Sie hörte und fühlte, daß Maurice hereinkam und zwischen den Pferden hindurch, die ihr im Dunkeln als wirre Masse lebendiger Leiber nahe waren, auf sie zuging. Er sprach mit den Pferden, und der gedämpfte Klang seiner Stimme war ihren Nerven lind wie Samt. Wie nahe er ihr war, und wie unsichtbar! Die Finsternis schien um sie zu kreisen wie ein seltsamer Wirbel wilden Lebens. Sie wurde schwindelig.
Aber sie hatte die Geistesgegenwart, ruhig und melodisch zu rufen:
»Maurice! Maurice – Lieber.«
»Ja«, antwortete er. »Isabel?«
Sie sah ihn nicht, aber der Klang seiner Stimme war wie eine Berührung.
»Hallo«, antwortete sie heiter und strengte die Augen an, um ihn zu erkennen. Er war noch immer ganz in ihrer Nähe bei den Pferden beschäftigt, aber sie sah nur Finsternis. Das trieb sie fast zur Verzweiflung.
»Willst du nicht hereinkommen, Lieber?« fragte sie.
»Ja, ich komme. Nur eine halbe Minute noch. – Willst du wohl still stehen! – Die Kutsche ist noch nicht da, wie?«
»Noch nicht, nein«, sagte Isabel.
Seine Stimme war wohllautend und klang wie immer, und doch war irgend etwas darin, was sie an Stall erinnerte. Wenn er doch nur mitginge, dachte sie. Solange er so ganz und gar unsichtbar war, hatte sie Angst vor ihm.
»Wie spät ist es denn?« fragte er.
»Noch vor sechs«, antwortete sie. Es war ihr zuwider, im Dunkeln zu antworten. Nun kam er heran, und sie zog sich zurück, bis sie draußen auf dem Hofe stand.
»Der Sturm bläst ja herein«, sagte er, indessen er immer näher kam und nach der Tür tastete. Sie vermied die Berührung mit ihm. Jetzt endlich sah sie undeutlich seinen Umriß.
»Bertie wird nicht viel Spaß von der Fahrt haben«, sagte er, indessen er die Tür schloß.
»Wahrhaftig nicht«, sagte sie ruhig und betrachtete die dunkle Gestalt an der Tür.
»Gib mir deinen Arm, Liebling«, sagte er.
Sie preßte seinen Arm im Gehen fest an sich. Aber sie sehnte sich danach, ihn zu sehen, ihn anzusehen. Sie war nervös. Er ging gerade aufgerichtet, das Gesicht ein wenig aufwärts gekehrt, aber mit wunderlich tastenden Bewegungen seiner kräftigen, muskelstarken Beine. Sie fühlte, indessen sie mit ihm Schritt hielt, die erfahrene, sorgsame, starke Vertrautheit seiner Füße mit der Erde. In diesem Augenblick kam er ihr vor wie ein Turm aus Finsternis: als wäre er aus dem Boden gewachsen.
Im Hausdurchgang zögerte er und ging vorsichtig; es war ein seltsamer Ausdruck von Stille um ihn, als er nach der Bank tastete. Dann setzte er sich schwerfällig nieder. Er hatte etwas abfallende Schultern, aber mächtige Glieder und kräftige Beine, die mit der Erde vertraut schienen. Sein Kopf war schmal, und er pflegte ihn hoch und leicht zu tragen. Als er sich niederbeugte, um seine Gamaschen und Stiefel auszuziehen, sah er nicht aus wie ein Blinder. Sein Haar war braun und kraus, seine Hände waren groß, gerötet und von beseeltem Ausdruck, an den Gelenken traten die Adern hervor; seine Schenkel und Kniee waren kräftig und schwer. Als er aufstand, waren sein Gesicht und sein Hals mit Blut überfüllt, und die Adern an seinen Schläfen traten dick hervor. Den Anblick seiner blinden Augen vermied Isabel.
Sie war immer froh, wenn sie durch die Trennungstür in ihre eigenen Bezirke des Friedens und der Schönheit zurückgekehrt waren. Dort draußen, in der animalisch derben Welt der Wirtschaftshöfe, hatte sie immer ein wenig Angst vor ihm. Und wirklich wandelte sich seine ganze Haltung, als er den vertrauten unbestimmbaren Duft spürte, der Isabels ganze Umgebung erfüllte: einen zarten, sehr feinen Duft, mit einer schwachen, ganz schwachen Beimischung von Würzgeruch. Vielleicht kam er von den Schalen, die allerlei wohlriechende Stoffe enthielten.
Maurice stand am Fuße der Treppe, wie festgehalten, lauschend. Sie sah es, und das Herz wurde ihr schwer. Er stand da, als lauschte er dem Schicksal entgegen.
»Er ist noch nicht da«, sagte er. »Ich will hinaufgehen und mich umziehen.«
»Maurice,« sagte sie, »es wäre dir vielleicht doch lieber, er käme nicht, wie?«
»Ich weiß es selbst nicht recht«, sagte er. »Ich bin ein bißchen auf Draht.«
»Ja, das sehe ich«, antwortete sie. Und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange. Sie sah, wie sein Mund sich langsam zu einem Lächeln entspannte.
»Worüber lachst du denn?« fragte sie schelmisch.
»Über deinen Trostversuch«, antwortete er.
»Unsinn«, sagte sie. »Was gibts denn hier zu trösten? Du weißt, wie sehr wir einander lieben – wie sehr wir verheiratet sind. Auf alles andere kommts doch gar nicht an?«
»Wahrhaftig nicht, Liebling.«
Er tastete nach ihrem Gesicht und berührte es, lächelnd.
»Na – und mit dir ist doch alles in Ordnung –?« fragte er besorgt.
»Herrlich in Ordnung, Lieber«, antwortete sie. »Um dich mach ich mir manchmal ein bißchen Sorge.«
»Warum denn um mich?« fragte er und berührte ihre Wangen zart mit den Fingerspitzen. Die Berührung wirkte auf sie mit beinahe magnetischer Kraft.
Er ging nach oben. Sie sah, wie er in die Dunkelheit hinanstieg, augenlos und ohne das Gleichmaß seines Schrittes zu wandeln. Er wußte nicht, daß die Lampen im oberen Flur nicht angezündet waren. Er ging in die Dunkelheit mit gleichmäßigem Schritt. Dann hörte sie ihn im Badezimmer.
Pervin bewegte sich trotz aller Dunkelheit in der vertrauten Umgebung mit einer Sicherheit, die beinahe unbewußt war. Er schien zu wissen, wo sich die Gegenstände befanden, noch bevor er sie anfaßte. Es war ihm eine Lust, sich so durch die Welt der Dinge zu wiegen, getragen gleichsam von einer Flut des Vorherwissens, das aus dem Blute kam. Er dachte nicht viel dabei und machte sich nicht viel Sorgen. Solange er diese blutmäßige ungestörte Unmittelbarkeit der Fühlung mit der Welt des Greifbaren besaß, war er glücklich und wünschte sich die Einschaltung bewußter Gesichtswahrnehmung gar nicht. Dieser Zustand umschloß eine beglückende Fülle von erlebter Wirklichkeit – ja zuweilen fast von Entzücken. Das Leben, so schien es ihm, regte sich, bewegte sich in ihm wie eine Flut, die vordrang und alle Dinge dunkel umspülte. Es war ihm eine Lust, die Hand auszustrecken und auf den ungesehenen Gegenstand zu treffen, ihn zu ergreifen und in unmittelbarer Berührung zu besitzen. Er versuchte gar nicht, sich zu erinnern, sich die Dinge in Bildern vorzustellen. Er wollte es auch gar nicht. Die neue Bewußtseinsart ersetzte ihm das durchaus.
Die quellende Fülle dieses Erlebens vermochte ihn fast immer zu beglücken; sie fand ihren Höhepunkt in seiner verzehrenden Leidenschaft für Isabel. Zuweilen aber war es, als würde die Flut gehemmt und zurückgeworfen. Dann toste sie in ihm wie ein aufgewühltes Meer, und er mußte in Qualen das zerwühlte Chaos des eigenen Blutes erleben. Es kam dahin, daß er dieses Stocken, dieses Zurückgeworfenwerden, diese brandende Wirrnis in seinem Innern, die ihn auf Gnade und Barmherzigkeit den starken und widerstreitenden Zügen seines Wesens auslieferte, fürchten lernte. Wie konnte er ein gewisses Maß an Beherrschung und Sicherheit erlangen? – das war hier die Frage. Wenn sie sich in ihm erhob und ihn oft fast in den Wahnsinn trieb, ballte er die Fäuste, als wollte er das ganze Weltall zwingen, sich ihm zu beugen. Aber es war vergeblich. Er konnte nicht einmal sich selbst bezwingen.
An jenem Abend freilich bewahrte er sich eine heitere Stimmung, obwohl eine unvernünftige Gereiztheit ihn manchmal in kleinen zitternden Wellen durchrann. Er mußte sich beim Rasieren sehr in acht nehmen, da er sich mit dem Apparat nicht recht sicher fühlte und sich vor dem Ding fürchtete. Auch war sein Gehör übermäßig scharf. Er hörte, wie das Mädchen die Lampen auf dem Flur anzündete und im Gastzimmer das Feuer versorgte. Dann, als er in sein Zimmer hinüberging, hörte er, daß der Wagen ankam. Isabels Stimme, zum Ruf erhoben, klang wie eine Glocke.
»Bist du's, Bertie? Bist du da?«
Und eine Männerstimme antwortete aus dem Wind: »Hallo, Isabel! Da bist du ja.«
»Es war wohl eine scheußliche Fahrt? Es tut mir so leid, daß wir dir nicht einen geschlossenen Wagen schicken konnten. Du, ich sehe dich überhaupt gar nicht.«
»Ich komme schon. Nein, die Fahrt hat mir Spaß gemacht – das war wie in Perthshire. Na, und wie gehts dir? Du siehst famos aus wie immer, soviel ich erkennen kann.«
»O ja«, sagte Isabel. »Mir gehts großartig. Na, und du? Ein bißchen mager bist du, finde ich – –«
»Halb tot geschuftet – das hab ich immer schon hören müssen. Aber wohl und munter. Was macht Pervin? – ist er nicht da?«
»O doch, er ist oben und zieht sich um. Ja, es geht ihm glänzend. Zieh deine nassen Sachen aus, ich lasse sie dir trocknen.«
»Und wie ist die Laune bei euch beiden? Er macht sich doch keinen Kummer?«
»Nein, nein, gar nicht. Nein, wirklich nicht, im Gegenteil. Wir sind wundervoll glücklich – unglaubhaft glücklich. Es ist unfaßbar – so herrlich: dieses Nahesein, und dieser Friede – –«
»So! Na, das sind ja mächtig gute Neuigkeiten.«
Sie entfernten sich. Pervin hörte nichts mehr. Aber ein kindliches Gefühl des Verlassenseins überkam ihn, als er ihre lebhaften Stimmen hörte. Er kam sich vor wie ausgeschlossen – wie ein Kind, das man vor die Tür gestellt hat. Er war nutzlos und ausgesperrt, er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Eine hilflose Verzweiflung packte ihn. Seine Hände waren nervös und ungeschickt beim Ankleiden. Er fand den schottischen Mundartklang in Berties Sprache abscheulich, und er ärgerte sich über den leichten Widerklang, den er in Isabels Antwort zu entdecken glaubte. Ihn reizte das leise Schnurren des Behagens in der schottischen Mundart. Die zungengeläufige Art, mit der Isabel über ihr Glück und ihr Nahesein sprach, mißfiel ihm gründlich. Er nahm innerlich Abstand davon. Er war gekränkt und fassungslos wie ein Kind, und ganz kindlich war auch seine Sehnsucht, sich in den Lebenskreis eingeschlossen zu wissen. Zugleich aber war er Mann, düster und stark und wütend über seine eigene Schwäche. Eine verhängnisvolle Fügung hatte ihm einen Schaden zugefügt, der ihm die Selbständigkeit nahm und ihn von der Hilfe anderer abhängig machte. Und gerade diese Abhängigkeit machte ihn rasend. Er haßte Bertie Reid – und wußte doch, daß dieser Haß unsinnig und nur eine Folge seiner eigenen Schwäche war.
Er ging hinunter. Isabel war im Wohnzimmer – allein. Sie sah ihm entgegen, als er eintrat, mit erhobenem Kopf und tastenden Füßen. Er sah so starkblütig und gesund aus – und zugleich so ausgestrichen. Ja, ausgestrichen: das Wort schien ihr das Rechte zu treffen. Vielleicht war es die Narbe, die den Vergleich hervorrief.
»Bertie ist gekommen. Hast du's gehört, Maurice?« fragte sie.
»Ja. Ist er nicht hier?«
»Er ist in seinem Zimmer. Sehr mager und müde sieht er aus.«
»Wahrscheinlich schuftet er sich zu Tode.«
Ein Mädchen kam mit einem Auftragebrett herein, und ein paar Minuten später kam auch Bertie herunter. Er war ein kleiner Mann mit einer mächtigen Stirn, dünnem, spärlichem, dunkelm Haar und großen traurigen Augen. Die Traurigkeit seines Ausdrucks war so hemmungslos, daß er schon beinahe komisch wirkte. Er hatte wunderlich kurze Beine.
Isabel sah, wie er im Türrahmen zögerte und einen nervösen Blick auf Pervin warf. Pervin hörte ihn kommen und wandte sich.
»Da bist du ja«, sagte Isabel. »Komm, wir wollen essen.«
Bertie ging zu Maurice hinüber.
»Wie gehts, Pervin?« fragte er.
Der Blinde streckte die Hand in den Raum, und Bertie ergriff sie.
»Ausgezeichnet. Freut mich, daß Sie da sind«, sagte Maurice.
Isabel sah sie an – und sah wieder weg, als könnte sie den Anblick nicht ertragen.
»Kommt«, sagte sie. »Kommt zu Tisch. Seid ihr nicht furchtbar hungrig, ihr beiden? Ich bins – schrecklich.«
»Hoffentlich habt ihr nicht auf mich gewartet«, sagte Bertie, als sie Platz nahmen.
Maurice hatte eine seltsam statuenhafte Art, dazusitzen, aufgereckt und fern. Isabels Herz zuckte jedesmal, wenn sie ihn so sah.
»Nein«, antwortete sie auf Berties Frage. »Wir sind nur ganz wenig später dran als sonst. Wir nehmen immer so etwas wie eine Teemahlzeit Tee mit warmen Fleischspeisen, Pasteten, belegten Broten usw.; engl. high tea. Anm. d. Übers. statt des Dinners. Ist es dir recht so? Man hat dann immer einen so netten langen, ungestörten Abend.«
»Sehr recht ist es mir«, sagte Bertie.
Maurice tastete mit wunderlichen kleinen Bewegungen nach seinem Platze, nach Messer und Gabel, nach seinem Mundtuch: das sah ungefähr aus, wie wenn eine Katze ihr Lager knetet. So unterrichtete er sich über den ganzen Lageplan seines Gedecks. Er saß aufgereckt, unergründbar und ferngerückt. Bertie betrachtete die achtsam im Gleichgewicht gehaltene Gestalt des Blinden, das kluge, wohlbedachte, von scharfem Tastsinn gelenkte Spiel der großen geröteten Hände, die wunderlich achtlose Stummheit der Stirn über der Narbe. Nur schwer riß er den Blick davon los; und er nahm, ohne es selbst zu wissen, eine kleine Kristallschale mit Veilchen vom Tische auf und roch daran.
»Wie schön sie duften!« sagte er. »Woher hast du denn die?«
»Aus dem Garten – unter den Fenstern«, sagte Isabel.
»So spät im Jahr – und so viel Duft! Weißt du noch – die Veilchen an der Südmauer in Tante Bells Garten?«
»Ob ichs noch weiß –!« sagte sie. »War sie nicht ulkig?«
»Ein spaßhaftes altes Mädchen«, lachte Bertie. »Es ist eine Strähne von Verdrehtheit in der Familie, Isabel.«
»Na, wir beiden sind jedenfalls nicht davon betroffen«, sagte Isabel. »Gib sie doch Maurice, ja?« bat sie, als Bertie die Schale wieder hinsetzen wollte. »Hast du schon die Veilchen gerochen, Lieber? Tu's doch – sie duften so schön.«
Maurice streckte die Hand aus, und Bertie hielt die kleine Schale an die großen, von warmem Blut durchpulsten Finger. Die Hand des Blinden legte sich über Berties dünne weiße Finger. Vorsichtig machte der Anwalt sich frei. Dann sahen die beiden zu, wie der Blinde den Duft einatmete. Er neigte den Kopf und schien nachzudenken. Isabel wartete.
»Sind sie nicht wundervoll, Maurice?« fragte sie endlich, und ihr Ton klang besorgt.
»Wundervoll«, sagte er und streckte die Hand mit dem Glase aus. Bertie nahm es ihm ab. Beide, er und Isabel, waren ein wenig erschrocken und bis ins Tiefste verwirrt. Aber sie aßen weiter. Isabel und Bertie schwatzten krampfhaft drauflos. Der Blinde blieb schweigsam. Er berührte die Speisen wiederholt rasch und behutsam mit der Messerspitze, bevor er sie in unregelmäßige Bissen zerschnitt. Er ertrug es nicht, daß man ihm half. Isabel und Bertie litten unter dem Anblick: und Isabel fragte sich verwundert nach dem Grunde. Sie litt doch nicht darunter, wenn sie mit Maurice allein war. Aber Berties Anwesenheit machte ihr die Befremdlichkeit des Anblicks spürbar.
Nach dem Essen rückten die Drei ihre Stühle ans Feuer und setzten sich zum Plaudern nieder. Die Karaffen standen in Griffnähe auf einem Tische. Isabel stieß mit dem Schürhaken an die brennenden Scheite, und Wolken blitzender Funken fuhren in den Kamin hinauf. Bertie fand, daß Isabels Bewegungen ein wenig müde waren.
»Du wirst dich doch gewiß freuen, wenn euer Kind da ist, nicht, Isabel?« fragte er.
Sie sah mit einem raschen matten Lächeln zu ihm auf.
»Ja, ich werde mich freuen«, antwortete sie. »Mir wird die Zeit schon lang. Ja, sehr werde ich mich freuen. Und du auch, nicht, Maurice?«
»Ich auch, sehr«, bestätigte Pervin.
»Wir sehnen uns beide so sehr danach«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte Bertie.
Er war drei oder vier Jahre älter als Isabel und unverheiratet. Er hatte eine schöne, von einem treuen schottischen Diener behütete Wohnung mit Aussicht über den Fluß. Und er hatte seine Freundinnen unter dem schönen Geschlecht – nicht Geliebte, sondern Freundinnen. Solange er jeder Bedrohung mit Verlobung oder Heirat entrinnen konnte, war er etlichen trefflichen Frauen ein beständiger, ehrerbietiger und unermüdlicher Anbeter und einer ganzen Anzahl von ihnen ein ritterlicher Verehrer. Sobald es ihm aber vorkam, als wollten sie von ihm Besitz ergreifen, zog er sich zurück.
Isabel kannte ihn sehr genau: kannte seine schöne Beständigkeit und Güte, aber auch seine unheilbare Schwäche, die es ihm unmöglich machte, engere Beziehungen irgend welcher Art zu knüpfen. Er schämte sich seiner selbst, weil er nicht heiraten, sich keiner Frau körperlich nähern konnte. Er sehnte sich danach. Aber er konnte es nicht. Im Kern seines Wesens saß eine Angst, eine hilflose, niederträchtige Angst. Er hatte die Hoffnung aufgegeben; er erwartete gar nicht mehr, daß er seiner Schwäche je würde entrinnen können. Infolgedessen war er ein glänzender und erfolgreicher Anwalt, ein wegen seiner Belesenheit hochgeschätzter Kenner, ein reicher und in der Gesellschaft sehr erfolgreicher Mann. Im Innersten aber kam er sich vor wie ein Neutrum, ein Nichts.
Isabel kannte ihn gut. So gut, daß sie ihn zugleich verachtete und bewunderte. Wenn sie sein trauriges Gesicht, seine kleinen, kurzen Beine ansah, verachtete sie ihn. Wenn sie aber in seine dunkelgrauen Augen mit ihrem unheimlich sicheren, beinahe kindlich unbeirrbaren Blick sah, liebte sie ihn. Er hatte eine erstaunliche Menschenkenntnis und -erfassung – aber sie fürchtete sich nicht davor. Sie war ihm beschützerinnenhaft überlegen.
Und sie wandte sich der unbeteiligten, stummen Gestalt ihres Mannes zu. Er saß zurückgelehnt, mit gekreuzten Armen, das Gesicht ein wenig aufwärts gekehrt. Seine Kniee waren straff und stark. Sie seufzte, nahm den Schürhaken und begann wieder im Feuer umherzustochern, so daß Wolken sanftglühender leuchtender Funken aufstiegen.
Plötzlich sagte Bertie: »Isabel erzählte mir, die Erblindung wäre für Sie kein unerträglicher Verlust gewesen.«
Maurice reckte sich auf, um sich am Gespräch zu beteiligen, aber er ließ die Arme in der gekreuzten Haltung. »Nein,« sagte er, »unerträglich nicht. Dann und wann lehnt man sich dagegen auf, das werden Sie begreifen. Aber man hat ja auch seine Entschädigungen.«
»Es heißt immer, völlige Taubheit wäre viel schlimmer«, sagte Isabel.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Bertie. Dann, zu Maurice gewandt: »Sie sprachen von Entschädigungen?«
»Ja. Es gibt eine Menge Dinge, mit denen man sich dann nicht mehr zu plagen braucht.« Wieder reckte sich Maurice, streckte seine starken Rückenmuskeln und lehnte sich zurück, mit aufwärts gekehrtem Gesicht.
»– und das ist eine Erleichterung«, sagte Bertie. »Aber was tritt an die Stelle dieser Plagen? Was ersetzt die Betätigung?«
Es gab eine Pause. Schließlich, als Ergebnis eines lässigen und unaufmerksamen Nachdenkens, kam die Antwort des Blinden: »Ach, ich weiß nicht. Es bleibt einem immer noch allerhand, wenn man nicht tätig ist.«
»Wirklich?« sagte Bertie. »Aber was – genau gesagt? Ich meine immer, wenn man das Denken und das Handeln ausschaltet, bleibt gar nichts übrig.«
Wieder beeilte Maurice sich nicht mit der Antwort. »Doch, es bleibt etwas«, sagte er. »Aber ich wüßte es Ihnen wirklich nicht zu benennen.«
Das Gespräch versickerte wieder. Isabel und Bertie schwatzten und kramten Erinnerungen aus, der Blinde blieb stumm.
Schließlich wurde Maurice unruhig und stand auf: eine mächtige, zwingende Gestalt. Er kam sich wie eingesperrt und gefesselt vor. Es litt ihn nicht mehr im Zimmer.
»Nehmt ihrs mir übel, wenn ich hinausgehe? Ich habe mit Wernham zu reden«, sagte er.
»Nein, geh nur, Lieber«, sagte Isabel.
Er ging. Die beiden Freunde schwiegen eine Weile. Schließlich sagte Bertie: »Trotz allem – es ist doch ein großer Verlust, Cissie.«
»Das ist es, Bertie. Das ist es.«
»– ein Verlust, den man immer irgendwie spürt.«
»Ich weiß es. Und doch – und doch – Maurice hat recht. Etwas anderes ist da – irgend etwas anderes ist da, das man nie zuvor gekannt hat und dem man keinen Namen geben kann.«
»Und was wäre das?« fragte Bertie.
»Ich weiß es nicht – es ist furchtbar schwer, das genau zu bezeichnen – aber es ist etwas Starkes und Unmittelbares. Man spürt etwas Seltsames bei Maurices Da-Sein – etwas Unbenennbares – aber ich könnte ohne – ohne das nicht mehr leben. Gewiß, es kommt einem vor, als würde das Denken eingelullt. Aber wenn wir allein sind, vermisse ich nichts. Es ist so – reich; beinahe herrlich, verstehst du?«
»Nein, ich fürchte, da komme ich nicht ganz mit«, sagte Bertie.
Das Gespräch sprang unregelmäßig hin und her. Draußen heulte der Wind, der Regen prasselte an die Scheiben, und da drinnen die mattgoldenen Läden geschlossen waren, gab es ein scharfes trommelartiges Geräusch. Die Holzklötze brannten langsam, mit kleinen, heißen, fast unsichtbaren Flammen. Bertie schien sich unbehaglich zu fühlen; er hatte dunkle Ringe um die Augen. Isabel, in der schönen Fülle ihrer nahenden Mutterschaft, saß zurückgelehnt und sah ins Feuer. Ihr Haar kräuselte sich in lockeren und lockigen Strähnen: das sah sehr hübsch aus. Aber sie hatte ein seltsames Gefühl alter Schwermut, die ihr das Herz bedrückte: eine alte, zeitlose Schwermut, die Gefährtin der Nacht.
»Ich glaube, wir alle sind irgendwie unzulänglich«, sagte Bertie.
»Das glaube ich auch«, sagte Isabel müde.
»Verdammte sind wir – der eine früher, der andere später.«
»Ich weiß doch nicht«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich fühle mich ganz wohl, weißt du. Das Kind, das ich haben werde, macht mich gleichgültig gegen alles andere – oder milde, wenn du es so nennen willst. Ich bringe es gar nicht fertig, mir über irgend etwas Sorgen und Gedanken zu machen.«
»Schön muß das sein, wahrhaftig«, sagte er langsam.
»Ja, so steht es also mit mir. Ich glaube, es ist nur natürlich. Wenn ich nur das Gefühl hätte, daß ich mir auch um Maurice keine Sorgen zu machen brauche, wäre ich vollkommen glücklich – –«
»Du hast aber das Gefühl, daß du dich um ihn sorgen mußt?«
»Ja – ich weiß nicht – –« Schon die geringe Anstrengung des Denkens war ihr lästig.
Langsam verging der Abend. Isabel sah auf die Uhr. »Ist das zu glauben!« sagte sie. »Es ist schon fast zehn! Wo nur Maurice bleibt? Hinten im Betrieb ist doch sicher schon alles längst im Bett. Entschuldige mich einen Augenblick.«
Sie ging hinaus, kam aber fast unmittelbar danach wieder.
»Alles abgeschlossen und dunkel«, sagte sie. »Wo steckt er nur? Er muß auf den Hof hinausgegangen sein – –«
Berti sah sie an.
»Er wird schon wieder hereinkommen«, sagte er.
»Das wird er schon«, sagte Isabel. »Aber es ist nicht seine Gewohnheit, um diese Zeit draußen zu sein.«
»Möchtest du, daß ich hinausgehe und nach ihm sehe?«
»Ja – also wenn es dir nichts ausmacht – – Ich würde ja selbst gehen, aber – –« Sie scheute die körperliche Anstrengung.
Bertie zog einen alten Überrock an, nahm eine Laterne und verließ das Haus durch die Seitentür. Er schrak zurück vor der nassen und sturmdröhnenden Nacht. Solches Wetter ging ihm immer auf die Nerven: allzuviel Nässe hatte eine beinahe lähmende Wirkung auf ihn. Widerwillig machte er sich auf den Weg. Ein Hund bellte ihn wütend an. Er spähte in alle Gebäude hinein. Schließlich, als er die obere Türhälfte einer Art von Verbindungsstall öffnete, hörte er so etwas wie ein mahlendes Geräusch; er hob die Laterne und sah hinein: Maurice, in Hemdsärmeln, stand lauschend da; er hielt den Handgriff einer Rübenstampfmaschine. Er hatte Süßholzwurzeln gemahlen; ein Haufen davon lag, undeutlich im Dämmerlicht, hinter ihm in der Ecke.
»Sind Sie es, Wernham?« fragte Maurice.
»Nein, ich bin es«, sagte Bertie.
Eine große, halbwilde graue Katze rieb sich an Pervins Beinen. Der Blinde bückte sich, um ihr die Flanken zu streicheln. Bertie sah einen Augenblick zu; dann trat er, ohne es zu wissen, ein und schloß die Tür hinter sich. Er war in einer Art von hohem Schuppen, von dem zur Rechten und zur Linken die Durchgänge vor den Viehständen ausgingen. Bertie sah zu, wie der Blinde sich langsam niederbeugte, um die graue Katze zu liebkosen.
Maurice richtete sich auf.
»Sie wollten sich nach mir umsehen?« fragte er.
»Isabel war ein wenig besorgt«, sagte Bertie.
»Ich komme. Es macht mir Spaß, ein bißchen mit solchen Arbeiten herumzupüttjern.«
Die Katze hatte ihren düster gefärbten langen geschmeidigen Körper an seinem Bein aufgerichtet und krallte sich zärtlich in seinen Schenkel. Er hakte ihre Krallen los.
»Hoffentlich bin ich Ihnen hier auf ›The Grange‹ nicht im Wege«, sagte Bertie ein wenig linkisch und steif.
»Mir im Wege? Aber gar nicht. Ich bin froh daß Isabel jemanden hat, mit dem sie reden kann. Ich fürchte, ich bin es, der im Wege ist. Ein sehr munterer Gesellschafter bin ich gerade nicht, das weiß ich. Isabel ist zufrieden, meinen Sie nicht auch? Oder finden Sie, daß sie unglücklich ist?«
»Das glaube ich nicht.«
»Was sagt sie?«
»Sie sagt, sie wäre sehr zufrieden – nur Ihretwegen macht sie sich ein bißchen Sorge.«
»Warum denn?«
»Vielleicht fürchtet sie, daß Sie sich trübe Gedanken machen«, sagte Bertie vorsichtig.
»Das braucht sie nicht zu befürchten.« Seine Finger liebkosten immer noch den abgeplatteten grauen Kopf der Katze. »Wovor ich meinerseits ein bißchen Angst habe,« fing er wieder an, »ist, daß ich ihr zur unnützen Last werde, wenn sie immer mit mir allein sein muß.«
»Ich glaube nicht, daß Sie sich diese Sorge zu machen brauchen«, sagte Bertie, obwohl es gerade das war, was auch er befürchtete.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Maurice. »Manchmal meine ich, es ist ein Unrecht, daß sie mich auf dem Halse hat.« Das Nächste sagte er mit seltsam gedämpfter Stimme; die Frage kostete ihn heimliche Überwindung: »Sagen Sie, ist mein Gesicht eigentlich sehr entstellt? Macht es Ihnen etwas aus, mir das zu sagen?«
»Da ist immerhin die Narbe«, sagte Bertie nachdenklich. »Ja, die ist eine Entstellung. Aber mehr mitleiderregend als abstoßend.«
»Aber doch eine recht böse Narbe«, sagte Maurice.
»O ja.«
Es entstand eine Pause.
»Manchmal komme ich mir wie ein Schreckbild vor«, sagte Maurice leise, als spräche er zu sich selbst. Und Bertie fühlte tatsächlich, wie ihn eine Welle des Entsetzens durchrann.
»Das ist Unsinn«, sagte er.
Maurice ließ die Katze los und richtete sich auf. »Wer kann das sagen?« antwortete er. Dann fügte er, wieder in dem seltsam gedämpften Ton, hinzu: »Nicht wahr – ich kenne Sie eigentlich gar nicht – richtig?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Bertie.
»Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie betaste?«
Der Rechtsanwalt schrak unwillkürlich zurück. Und doch sagte er, aus reinem Mitleid, mit gepreßter Stimme:
»Aber gewiß.«
Dennoch stand er Qualen aus, als der Blinde seine starke nackte Hand nach ihm ausstreckte. Dabei stieß Maurice ihm versehentlich den Hut vom Kopf.
»Ich hatte Sie mir größer vorgestellt«, sagte er überrascht. Dann legte er die Hand auf Bertie Reids Kopf und umschloß die Wölbung des Schädels mit seinem sachten, festen, gleichsam zusammenfassenden Griff; lockerte den Griff, verschob die Hand und verstärkte ihn mit sachtem Druck wieder, bis er die Stirn und das Gesicht des anderen bedeckte; verfolgte dann die Linie der Brauen, berührte die Augenhöhlen, über denen sich die Lider geschlossen hatten, betastete die kleine Nase und ihre Flügel, den borstigen, kurzgeschnittenen Schnurrbart, den Mund, das ziemlich kräftige Kinn. Dann erfaßte die Hand des Blinden Berties Schulter, seinen Arm, seine Hand.
»Sie machen einen jugendlichen Eindruck«, sagte er schließlich gelassen.
Bertie stand beinahe ausgelöscht da und brachte keine Antwort heraus.
»Ihr Gesicht ist so weich, als ob Sie noch jung wären«, wiederholte Maurice. »Und Ihre Hand ebenso. Berühren Sie meine Augen, ja? – berühren Sie meine Narbe.«
Bertie Reids Widerwille war so groß, daß er zitterte. Aber die Macht des Blinden über ihn war zum beinahe hypnotischen Bann geworden. Er hob die Hand und legte die Finger auf die Augen, die vernarbten Augenhöhlen. Maurice deckte plötzlich seine eigene Hand darüber und preßte Berties Finger in seine entstellten Augenhöhlen; dabei bebte er am ganzen Leibe, und sein Körper schaukelte langsam und kaum merklich hin und her. Das dauerte eine Minute, vielleicht auch länger. Bertie stand betäubt, unfähig zu denken, gefangen.
Dann nahm Maurice plötzlich Berties Hand von den Augen, aber er hielt sie fest.
»O mein Gott«, sagte er. »Von jetzt ab kennen wir einander, ja? Von jetzt ab kennen wir einander.«
Bertie vermochte nicht zu antworten. Er stand mit starrem Blick da, gelähmt von Entsetzen, überwältigt von seiner eigenen Schwäche. Er wußte, daß er keine Antwort herausbrachte. Er hatte eine unsinnige Angst, daß Pervin ihn plötzlich niederschlagen würde. Und doch war, was Maurice tatsächlich empfand, eine ihn ganz erfüllende heiße und starke Liebe, ein Gefühl leidenschaftlicher Freundschaft. Vielleicht schrak Bertie gerade vor dieser leidenschaftlichen Freundschaft am stärksten zurück.
»Jetzt sind wir einig, wir zwei, nicht?« sagte Maurice. »Jetzt sind wir zwei miteinander einig, fürs ganze Leben, ja?«
»Ja«, sagte Bertie, gewillt, um jeden Preis zu entrinnen.
Maurice stand mit aufwärts gekehrtem Gesicht, wie lauschend. Diese ungeahnte und köstliche Erfüllung, die ihm da in Gestalt einer Freundschaft fürs Leben geschenkt wurde, war eine Offenbarung und eine Überraschung für ihn: etwas Herrliches und Unerhofftes. Es war, als lauschte er, ob das alles auch Wirklichkeit sei.
Dann wandte er sich und griff nach seinem Rock.
»Komm«, sagte er. »Wir wollen zu Isabel gehen.«
Bertie nahm die Laterne und öffnete die Tür. Die Katze verschwand. Schweigend gingen die beiden auf den Fußwegen dahin. Isabel fand, daß ihre Schritte seltsam klangen, als sie über den Flur kamen. Sie sah ihnen eindringlich forschend und besorgt entgegen. Maurice schien in sonderbar und feierlich gehobener Stimmung. Bertie sah hager aus, seine Augen warm eingesunken.
»Was ist mit euch?« fragte sie.
»Wir sind Freunde geworden«, sagte Maurice und stand mit gespreizten Beinen, fremd und riesenhaft.
»Freunde –?« wiederholte Isabel. Wieder sah sie Bertie an. Er streifte sie mit einem raschen, verstörten Blick; seine Augen sahen glasig aus vor Qual.
»Wie mich das freut«, sagte sie, um in ihrem fassungslosen Staunen überhaupt etwas zu sagen.
»Ja«, bestätigte Maurice.
Er war wirklich von Herzen froh. Isabel nahm seine Rechte in ihre beiden Hände und hielt sie fest.
»Jetzt wirst du dich glücklicher fühlen, Lieber«, sagte sie.
Dabei aber sah sie Bertie an. Sie wußte, daß er nur einen einzigen Wunsch hatte: den, dieser Vertrautheit, dieser Freundschaft, die ihm da wie ein Netz über den Kopf geworfen worden war, zu entrinnen. Er ertrug es nicht, daß der Blinde ihn berührt hatte, daß der Damm seiner krankhaften Zurückhaltung gebrochen war. Er glich einem Weichtier, dem man die Schale zertrümmert hat.