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Du hast mich angefaßt

Pottery House« war ein vierkantiger häßlicher Ziegelbau: es stand innerhalb der Mauer, die das ganze Gelände der Töpferei umschloß. Natürlich deckte eine besondere Hecke das Haus und seine unmittelbare Umgebung teilweise gegen den Hof und die Betriebsgebäude der Töpferei: aber nur teilweise. Durch die Hecke nämlich sah man den verödeten Hof und das vielfenstrige fabrikähnliche Gebäude der Töpferei, über die Hecke hinweg die Schornsteine und die Nebengebäude. Innerhalb der Hecke sah es freundlicher aus: ein hübscher Garten und ein Rasenplatz erstreckten sich als sanfter Abhang bis hinab zu einem weidenbekränzten Teich, der einst den Betrieb mit Wasser versorgt hatte.

Die Töpferei selbst war stillgelegt, und die großen Hoftore waren stets geschlossen. Verschwunden waren die großen Lattenkisten mit dem gelb herausquellenden Stroh, die einst in Stapeln neben dem Verpackungsschuppen gestanden hatten. Verschwunden waren die Lastwagen, die einst, von starken Pferden gezogen, hochbeladen den Hügel hinabrollten. Verschwunden waren die Arbeiterinnen, die einst, lehmfarbene Überhosen an den Beinen, Gesicht und Haar mit grauem, feinem Schlamm gesprenkelt, quiekend mit den Männern geschäkert hatten. Alles das war verschwunden.

»Es gefällt uns so viel besser – oh, viel besser – es ist ruhiger«, sagte Matilda Rockley immer.

»O ja«, bestätigte Emmie Rockley, ihre Schwester.

»Das kann ich mir vorstellen«, pflegte dann der Besucher beizupflichten.

Nun bleibt aber doch die Frage offen, ob es den beiden Schwestern Rockley tatsächlich so besser gefiel, oder ob sie sich das nur einredeten. Ganz gewiß war ihr Leben viel trüber und trauriger geworden, seitdem der graue Ton nicht mehr seinen Schlamm über das ganze Grundstück spritzte und überall seinen Staub ablagerte. Sie machten sich nicht ganz klar, wie sehr sie die quiekenden, schreienden Mädchen vermißten, die sie ihr ganzes Leben lang immer gesehen und so gründlich verabscheut hatten.

Matilda und Emmie waren nun schon alte Jungfern. In einer rein industriellen Gegend ist es für die Mädchen, deren Erwartungen über das Alltägliche hinausgehen, nicht leicht, Männer zu finden. Die häßliche Industriestadt wimmelte von Männern: jungen Männern, die imstande und gewillt waren, Ehemänner zu werden. Aber sie waren sämtlich Bergleute oder Töpfer, also einfache Arbeiter. Jede der beiden Rockleyschen Töchter hatte einmal eine Erbschaft von ungefähr zehntausend Pfund zu erwarten, wenn ihr Vater starb: zehntausend Pfund in Betriebswerten und Grundstücken. Das war durchaus nicht zu verachten: sie waren sich darüber klar, und sie hüteten sich wohl, ein solches Vermögen einem ganz gewöhnlichen Proletarier an den Hals zu werfen. Da nun aber Bankbeamte oder nonkonformistische Geistliche oder auch nur Schullehrer nicht in Erscheinung getreten waren, rechnete Matilda schon gar nicht mehr damit, daß sie Pottery House je würde verlassen können.

Matilda war ein hochgewachsenes, mageres, anmutig hübsches Mädchen mit einer ziemlich großen Nase. Glich Emmie der Martha, so glich sie der Maria; das will sagen: Matilda liebte Malerei und Musik und las Romane in beträchtlicher Zahl, während Emmie für den Haushalt sorgte. Emmie war kleiner und rundlicher als ihre Schwester und besaß keine besonderen Fähigkeiten. Infolgedessen blickte sie zu Matilda, die natürlich ein zartes und feines Empfinden hatte, mit Achtung auf.

Die beiden Schwestern waren auf ihre stille und schwermütige Art glücklich. Ihre Mutter war tot, und der Vater war krank. Er war ein kluger Mann, der sich einige Bildung angeeignet hatte, aber sein Leben so weiterführte, als unterschiede er sich nicht von der übrigen arbeitenden Bevölkerung. Er liebte die Musik leidenschaftlich und spielte recht gut Geige. Nun aber alterte er rasch; er war sehr krank und siechte an einem Nierenleiden dahin. Er hatte von jeher sehr viel Whisky getrunken.

So ging der Haushalt in Pottery House, mit nur einem Dienstmädchen, Jahr auf Jahr still seinen Gang. Freunde kamen ins Haus, die Schwestern gingen in Gesellschaften, der Vater trank sich immer tiefer in die Krankheit hinein. Draußen auf der Straße war ein fortwährendes Gelärme der Bergleute und ihrer Hunde und Kinder. Drinnen in der Töpferei jedoch herrschte die Stille der Verödung.

Aber nun war da – man muß es schon sagen – ein Haar in der Suppe. Ted Rockley, der Vater, hatte vier Töchter und keinen Sohn gehabt. Als die Mädchen heranwuchsen, ärgerte es ihn, daß er ständig in einem Haushalt mit lauter Frauen leben mußte. Er fuhr nach London und holte sich aus einem Waisenstift einen Jungen, den er adoptierte. Emmie war vierzehn, Matilda sechzehn Jahre alt, als der Vater mit diesem Unglückswurm, einem sechsjährigen Jungen namens Hadrian, heimkam.

Hadrian war nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Waisenknabe, mit ganz gewöhnlichem bräunlichen Haar und ganz gewöhnlichen blaugrauen Augen und einer ganz gewöhnlichen Gassenjungensprache. Die Rockleyschen Töchter – es waren damals noch drei im Hause – waren wütend, daß er ihnen aufgedrängt wurde. Er, mit seinem wachen, im Waisenhause geschärften Mutterwitz, merkte das sofort. Obwohl er erst sechs Jahre alt war, hatte Hadrians Gesicht einen durchtriebenen höhnischen Ausdruck, wenn er die drei Schwestern ansah. Sie bestanden darauf, daß er sie mit »Base« anredete: Base Flora, Base Matilda, Base Emmie. Er fügte sich, aber sein Ton kam ihnen spöttisch vor.

Im Grunde aber waren die Schwestern gutartige Geschöpfe. Flora verheiratete sich und verließ das Haus. Hadrian setzte gegenüber Matilda und Emmie seine Unabhängigkeit durch, wenn sie auch eine gewisse Strenge des Tones wahrten. Er wuchs in der Töpferei und ihren Höfen und Gebäuden auf, besuchte eine Grundschule und wurde überall Hadrian Rockley genannt. Er war ruhig und schweigsam und behandelte Base Matilda und Base Emmie mit einer Art von kurz angebundener Gleichgültigkeit. Sie behaupteten, er wäre heimtückisch; aber da taten sie ihm Unrecht. Er war einfach nur vorsichtig und ohne Offenheit. Sein Onkel, Ted Rockley, verstand ihn ohne Worte; ihre Naturen waren in gewisser Weise verwandt. Hadrian und der Pflegevater begegneten einander mit wirklicher Hochachtung, die allerdings mit irgend welchem Gefühl nichts zu tun hatte.

Mit dreizehn Jahren kam Hadrian auf die höhere Schule in der Grafschaftshauptstadt. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Base Matilda hatte sich sehr bemüht, einen »kleinen Herrn« aus ihm zu machen, aber er sträubte sich durchaus dagegen. Wenn man ihm Gesittung und gutes Benehmen aufnötigen wollte, verzog er den Mund zu einem kleinen verächtlichen Bogen und lächelte mit dem scheuen Grinsen, wie man es so oft bei Waisenkindern sieht. Er schwänzte die Schule, er verkaufte seine Bücher, seine Mütze mit dem Schulabzeichen, sogar seine Krawatte und sein Taschentuch an seine Mitschüler, und kein Mensch wußte, wofür er das Geld verplemperte. So ging es zwei höchst unbefriedigende Jahre hindurch.

Als er fünfzehn Jahre alt war, erklärte er, daß er England verlassen und in die Kolonieen gehen würde. Er war mit dem Waisenhaus in Verbindung geblieben. Im Hause wußte man: wenn Hadrian in seiner gelassenen, halb spöttischen Art eine Erklärung abgab, so war ein Widerstand dagegen mehr als nutzlos. So fuhr der Junge denn tatsächlich los; er ging unter dem besonderen Schutze der Anstalt, aus der Ted Rockley ihn geholt hatte, nach Kanada. Von der Familie verabschiedete er sich ohne ein Wort des Dankes, und die Trennung ließ ihn offenbar ganz ungerührt. Matilda und Emmie weinten oft, wenn sie an diesen Abschied dachten: und sogar der Vater machte ein betroffenes Gesicht. Aber Hadrian schrieb aus Kanada brav und regelmäßig seine Briefe. Er hatte in einem Elektrizitätswerk in der Nähe von Montreal Stellung gefunden und kam gut voran.

Und dann kam der Krieg. Als sein Jahrgang einberufen wurde, stellte Hadrian sich und kam nach Europa. Die Familie Rockley sah ihn nicht. Sie lebte in Pottery House weiter wie bisher. Ted Rockley litt jetzt an einer Art von Wassersucht, die ein langsames Sterben bedeutete. Als der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, bekam Hadrian einen langen Urlaub und schrieb, daß er nach Pottery House kommen würde.

Die Schwestern waren furchtbar aufgeregt. Um die Wahrheit zu gestehen: sie hatten ein wenig Angst vor Hadrian. Matilda, lang und dünn, war von schwächlicher Gesundheit, und beide waren durch die Pflege des Vaters erschöpft. Da war es ein ergreifendes Erlebnis für sie, Hadrian, der sich vor fünf Jahren so kalt von ihnen verabschiedet hatte und nun ein junger Mann von einundzwanzig Jahren war, ins Haus zu bekommen.

Sie rannten aufgescheucht umher. Der Vater ließ sich von Emmie dazu überreden, mit seinem Bett endgültig das Damenzimmer im Erdgeschoß zu beziehen, so daß sein bisheriges, oben gelegenes Zimmer für Hadrian hergerichtet werden konnte. Das geschah, und die Vorbereitungen für den Besuch waren noch im Gange, als der junge Mann um zehn Uhr morgens plötzlich und ganz unerwartet erschien. Base Emmie, das Haar in lächerlichen kleinen Kringeln rund um die Stirn aufgesteckt, putzte gerade emsig die Läuferstangen der Treppe, während Base Matilda, die Ärmel an den dünnen Armen aufgerollt, den Kopf wunderlich und kokett mit einem Staubtuch umwunden, in der Küche stand und die Nippsachen aus dem Wohnzimmer in Seifenwasser wusch.

Base Matilda wurde dunkelrot vor Ärger, als der selbstbewußte junge Mann mit seinem Soldatenköfferchen in der Hand hereinspaziert kam und seine Mütze auf die Nähmaschine legte. Er war klein und selbstsicher, und er hatte eine Art von wunderlicher Nettigkeit in seinem Äußeren, die noch immer an seine Waisenhausjahre erinnerte. Sein Gesicht war gebräunt, er hatte einen kleinen Schnurrbart, und trotz seiner Kleinheit schien er recht kräftig.

»Ja, da ist ja Hadrian –« rief Base Matilda und wischte sich den Seifenschaum von den Händen. »Wir haben dich erst für morgen erwartet.«

»Ich bin schon Montagabend losgefahren«, sagte Hadrian und sah sich in der Küche um.

»Ist es möglich!« sagte Base Matilda. Dann trocknete sie sich die Hände, kam auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte: »Wie geht es dir?«

»Sehr gut, danke«, sagte Hadrian.

»Du bist ja schon ein richtiger Mann«, sagte Base Matilda.

Hadrian betrachtete sie. Und sie sah nicht gerade vorteilhaft aus mit ihrer Magerkeit, und mit ihrer großen Nase, und mit dem rosa und weiß gewürfelten Staubtuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte. Sie fühlte, daß sie schlecht abschnitt. Aber sie hatte ihr Teil an Leid und Kummer gehabt, sie machte sich nichts mehr daraus.

Das Mädchen kam herein – ein neues Mädchen, das Hadrian noch nicht kannte.

»Komm zum Vater«, sagte Matilda.

Im Flur scheuchten sie Base Emmie auf wie ein Rebhuhn aus der Deckung. Sie war gerade damit beschäftigt, auf den Treppenstufen die blanken Läuferstangen wieder an ihren Platz zu bringen. Unwillkürlich fuhr sie mit der Hand an die kleinen Troddeln, zu denen ihr Haar über der Stirn gewickelt war.

»Nanu!« rief sie ärgerlich. »Was willst du denn heute schon hier?«

»Ich bin einen Tag eher losgekommen«, sagte Hadrian, und die unerwartet männliche Tiefe seiner Stimme wirkte auf Base Emmie wie ein Schlag.

»Na, du bist uns mitten in die Arbeit gehagelt«, sagte sie verdrießlich. Dann gingen sie alle drei ins Mittelzimmer.

Mr. Rockley war angekleidet – das heißt: er hatte seine Beinkleider und seine Socken angezogen; aber er lag auf dem Bette, das man ihm an das Fenster gerückt hatte. So konnte er in seinen geliebten Garten blicken, in dem Tulpen und Apfelbäume in voller Blüte standen. Ted Rockley sah nicht so krank aus, wie er wirklich war, denn das Wasser trieb ihn auf, und sein Gesicht hatte sich die Röte bewahrt. Sein Leib war stark angeschwollen. Er warf einen raschen Blick auf Hadrian: aber er bewegte nur die Augen, ohne den Kopf zu wenden. Er war das Wrack eines gut aussehenden, stattlichen Mannes.

Als er Hadrian sah, lächelte er – ein sonderbares Lächeln, das gar nicht beabsichtigt schien. Der junge Mann begrüßte ihn linkisch.

»Einen Leibgardisten würdest du ja nun gerade nicht abgeben«, sagte Mr. Rockley. »Möchtest du etwas zu essen haben?«

Hadrian sah sich im Zimmer um, als suchte er das Essen. »Mir ist es recht«, sagte er.

»Was möchtest du haben? Eier und Schinken?« fragte Emmie kurz.

»Ja, das ist mir recht«, sagte Hadrian.

Die Schwestern gingen in die Küche und beauftragten das Mädchen, die Arbeit auf der Treppe fertigzumachen.

»Ist er nicht verändert?« sagte Matilda mit gedämpfter Stimme.

»Und ob!« sagte Base Emmie. »Ein kleiner Mann. Und was für einer!«

Sie schnitten beide eine Fratze und lachten nervös.

»Gib mir mal die Bratpfanne«, sagte Emmie zu Matilda.

»Aber er ist noch genau so frech wie früher«, sagte Matilda mit zugekniffenen Augen und einem wissenden Kopfschütteln, indessen sie Emmie die Bratpfanne hinreichte.

»Unser Männe«, sagte Emmie spöttisch. Es war klar, daß Hadrians gelbschnabelige und selbstbewußt betonte Männlichkeit in ihren Augen kein Vorteil war.

»Ach, ich finde ihn gar nicht so übel«, sagte Matilda. »Du darfst nicht voreingenommen gegen ihn sein.«

»Ich bin nicht voreingenommen gegen ihn«, sagte Emmie. »Sein Aussehen finde ich sogar sehr nett; aber er plustert sich auf wie ein junger Gockel.«

»Uns derartig über den Hals zu kommen –!« sagte Matilda.

»Männer kennen keinerlei Rücksicht«, sagte Emmie verächtlich. »Geh du nach oben und zieh dich um, Matilda. Ich flagge seinetwegen nicht. Ich sorge für den Haushalt, und du redest mit ihm. Ich verzichte.«

»Reden wird er schon mit Vater«, sagte Matilda beziehungsvoll.

»Erbschleicher«, sagte Emmie und schnitt eine Fratze.

Sie glaubten nämlich, Hadrian wäre in der Hoffnung gekommen, ihrem Vater etwas abschwatzen zu können – eine Berücksichtigung im Testament. Und sie waren durchaus nicht so sicher, daß es ihm nicht gelingen würde.

Matilda ging nach oben, um sich umzukleiden. Sie hatte sich genau zurechtgelegt, wie sie Hadrian empfangen wollte, um Eindruck auf ihn zu machen. Und nun mußte er sie überraschen, wie sie den Kopf mit einem Staubtuch umwickelt und die Arme in einer Spülwanne hatte. Aber es war ihr gleich. Jetzt zog sie sich mit äußerster Sorgfalt an. Liebevoll ordnete sie ihr schönes langes blondes Haar; ihre Blässe belebte sie durch einen Hauch Wangenrot; und über den weichen Stoff ihres grünen Kleides legte sie ihre lange Kette aus erlesenen Kristallperlen. Nun sah sie so elegant aus wie die abgebildete Heldin einer Magazingeschichte – und beinahe ebenso unwirklich.

Hadrian und ihr Vater schwatzten munter drauflos, als sie hereinkam. Der junge Mann war im allgemeinen nicht redselig, aber im Gespräch mit seinem »Onkel« löste sich seine Zunge. Jeder hatte ein Glas Kognak vor sich, sie rauchten, und sie schwatzten wie ein Paar alter Kameraden. Hadrian erzählte von Kanada. Er wollte wieder hinüber, wenn sein Urlaub zu Ende wäre, sagte er.

»Du möchtest also nicht in England bleiben?« fragte Mr. Rockley.

»Nein, ich möchte nicht in England bleiben«, sagte Hadrian.

»Warum nicht? Hier werden doch auch viele Elektriker gebraucht«, sagte Mr. Rockley.

»Ja. Aber hier ist mir der Abstand zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu groß – für meinen Geschmack«, sagte Hadrian.

Der Kranke sah ihn mit zusammengekniffenen Augen und einem sonderbaren Lächeln an.

»Ja – nicht wahr?« antwortete er.

Matilda hörte den Ton und begriff. »Aha, so siehts also in deinem Köpfchen aus, mein Sohn«, sagte sie zu sich selbst. Sie hatte es ja immer gewußt: Hadrian hatte vor niemandem und nichts die rechte Achtung, er war heimtückisch und gewöhnlich. Und sie ging in die Küche, um ein gedämpftes Gespräch mit Emmie zu führen.

»Er hat eine mächtig hohe Meinung von sich selber«, flüsterte sie.

»Na, er ist ja auch Wer, nicht?« sagte Emmie verächtlich.

»Er findet, bei uns hier in England ist der Abstand zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu groß«, sagte Matilda.

»Ach – ist es in Kanada denn anders?« fragte Emmie.

»O ja – da ist es demokratisch«, antwortete Matilda. »Er meint, drüben herrscht eine allgemeine Gleichheit.«

»Na, im Augenblick ist er jedenfalls hier«, meinte Emmie trocken. »Da soll er also ruhig an seinem Platze bleiben.«

Indessen sie redeten, sahen sie, daß der junge Mann durch den Garten schlenderte und hier und da eine Blume betrachtete. Er hatte die Hände in den Taschen, und die Soldatenmütze saß sorgsam zurechtgerückt auf seinem Kopfe. Er schien sich durchaus behaglich zu fühlen und machte ein Gesicht, als wäre er hier der Besitzer. Die Schwestern, aufgeregt, beobachteten ihn durch das Fenster.

»Wir wissen ja, weshalb er gekommen ist«, sagte Emmie hart. Matilda sah dem jungen Manne in der nett sitzenden Khaki-Uniform lange nach. Irgend etwas an ihm erinnerte noch immer an seine Waisenhauszeit; und doch sah er jetzt männlich genug aus, derb, geladen mit einer Kraft, die aus den unteren Schichten des Volkes wuchs. Sie mußte an den leidenschaftlichen Hohn denken, der aus seiner Stimme klang, als er im Gespräch mit ihrem Vater gegen die begüterten Klassen vom Leder zog.

»Man kann es nicht wissen, Emmie. Vielleicht ist er doch nicht deswegen gekommen«, sagte sie in tadelndem Tone zur Schwester. Sie dachten beide an das Geld.

Immer noch beobachteten sie Hadrian. Er stand fern am Ende des Gartens, von ihnen abgewandt, die Hände in den Taschen, und blickte in das Wasser des weidenumkränzten Teiches. Matildas dunkelblaue Augen hatten einen seltsam gespannten Ausdruck; die Lider mit den mattblauen Äderchen darauf waren tief gesenkt. Sie trug den Kopf leicht und hoch, aber ihr Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck. Hadrian wandte sich und sah zum Hause hinüber. Vielleicht bemerkte er die beiden am Fenster. Matilda zog sich in den Schatten zurück.

Am Nachmittag war der Vater schwach und sehr krank. Seine Kräfte waren immer rasch erschöpft. Der Arzt kam und eröffnete Emmie, daß der Kranke jeden Augenblick ganz plötzlich sterben könne – es könne aber auch noch eine Weile dauern. Sie müßten jedenfalls auf alles gefaßt sein.

So verging dieser Tag, so verging der nächste. Hadrian richtete sich häuslich ein. Er lief morgens in seinem bräunlichen Wams und seinen Khaki-Beinkleidern umher, ohne Kragen, so daß man seinen nackten Hals sah. Er unternahm Streifzüge durch die Töpfereigebäude, als verfolgte er irgend einen geheimen Zweck damit; er unterhielt sich mit Mr. Rockley, wenn sich der Kranke kräftig genug dazu fühlte. Die Schwestern ärgerten sich immer, wenn die beiden Männer miteinander schwatzten wie alte Kumpane. Es war hauptsächlich eine Art von politischer Kannegießerei.

Am zweiten Tage nach Hadrians Ankunft saß Matilda abends bei ihrem Vater. Sie arbeitete an der Kopie einer Zeichnung. Es war sehr still im Hause. Hadrian war ausgegangen, niemand wußte wohin, und Emmie machte sich irgendwo im Haushalt zu tun. Mr. Rockley lag an sein Kopfkissen gelehnt und sah schweigend in seinen Garten hinaus, der in der Abendsonne glänzte.

»Wenn mir etwas zustoßen sollte, Matilda,« sagte er plötzlich, »dann sollt ihr dies Haus nicht verkaufen. Ihr sollt hier bleiben.«

Matilda sah den Vater mit großen, ein wenig verstörten Augen an. »Na ja, etwas anderes bleibt uns ja gar nicht übrig«, sagte sie.

»Das kann man vorher niemals wissen«, sagte er. »Der ganze Nachlaß fällt dir und Emmie zu gleichen Teilen zu. Macht damit, was ihr wollt – nur verkauft dieses Haus nicht, trennt euch nicht davon.«

»Gut«, sagte sie.

»Und gebt Hadrian meine Taschenuhr mit Kette und hundert Pfund aus dem Bankguthaben – und helft ihm, wenn er einmal Hilfe brauchen sollte. Ich habe seinen Namen nicht im Testament erwähnt.«

»Deine Taschenuhr mit Kette, und hundert Pfund – ja. Aber du bist doch selber da, wenn er wieder nach Kanada fährt«, sagte sie.

»Man weiß nie, was kommt«, sagte Ted Rockley.

Sie sah ihn lange Zeit, wie in einem Dämmerzustand befangen, mit ihren großen verstörten Augen an. Und sie sah, daß er bald scheiden mußte – sah es mit hellseherischer Klarheit.

Hinterher erzählte sie Emmie, was der Vater von der Taschenuhr mit Kette und dem Gelde gesagt hatte.

»Was für ein Recht hat er« (›er‹ – das war Hadrian) »auf Vaters Uhr und Kette? Was hat er überhaupt mit Vater zu schaffen? Er soll doch sein Geld nehmen und verschwinden«, sagte Emmie. Sie liebte ihren Vater.

Abends spät saß Matilda in ihrem Zimmer. Das Herz tat ihr weh, als ob es ihr brechen wollte, und sie war wie von halber Betäubung befangen. Diese Benommenheit war so stark, daß sie nicht einmal weinen konnte; und immer dachte sie an ihren Vater, nur an ihren Vater. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus: sie mußte zu ihm gehen.

Es war fast Mitternacht. Sie ging über den Flur und in des Vaters Zimmer. Der Mond schickte einen schwachen Lichtschimmer herein. Sie lauschte an der Tür. Dann drückte sie leise die Klinke herunter und trat ein. Das Zimmer war von einer ganz matten Dämmerung erfüllt. Im Bette regte sich etwas.

»Schläfst du?« fragte sie leise und trat ans Bett.

»Schläfst du?« wiederholte sie sacht, als sie am Bette stand. Und sie streckte die Hand ins Dunkel, um seine Stirn zu berühren. Zart glitten ihre Finger über Nase und Brauen hin; dann legte sie ihre feine linde Hand auf seine Stirn. Seine Haut kam ihr weich und glatt vor – sehr weich und glatt. Etwas wie Verwunderung regte sich in ihr und kämpfte gegen die Betäubung ihres Bewußtseins. Aber es vermochte sie nicht zu wecken. Zärtlich neigte sie sich über das Bett und spielte mit den Fingern in seinem Stirnhaar.

»Kannst du nicht schlafen heute abend?« fragte sie.

Der Mann im Bett machte eine rasche Bewegung. »Doch kann ich«, sagte eine Stimme – Hadrians Stimme. Sie fuhr zurück. Und sogleich wich der Dämmerzustand dieser seltsamen Abendstunde von ihr: sie war hellwach. Ihr fiel ein, daß der Vater unten war, daß Hadrian des Vaters Zimmer hatte. Sie stand im Dunkeln wie vom Blitz getroffen.

»Du bist es, Hadrian?« sagte sie. »Ich dachte, es wäre Vater.« Sie war so erschrocken, so entsetzt, daß sie sich nicht rühren konnte. Der junge Mann lachte – es klang unbehaglich – und drehte sich auf die andere Seite.

Schließlich vermochte sie aus dem Zimmer zu flüchten. Als sie wieder in ihrer hellen Kammer war und die Tür hinter sich zugemacht hatte, stand sie eine Weile und streckte die Hand, mit der sie ihn berührt hatte, empor, als hätte sie sich daran verletzt. Sie vermochte den Schreck und die Bestürzung kaum zu ertragen.

»Aber –!« sagte ihr ruhiger und des Kummers müder Verstand. »Es war doch nur ein Irrtum. Warum also sich überhaupt darum kümmern?«

Ihr Gefühl aber ließ sich so leicht nicht beruhigen. Sie litt darunter, daß sie sich in ein falsches Licht gebracht hatte. Ihre rechte Hand, mit der sie so zärtlich sein Gesicht, seine glatte junge Haut berührt hatte, schmerzte nun, als wäre sie wirklich verletzt. Sie konnte Hadrian diesen Irrtum nicht verzeihen: in ihr war eine heftige Abneigung gegen ihn erwacht.

Aber auch Hadrian schlief in dieser Nacht schlecht. Er war aufgewacht, als Matilda die Tür öffnete, und hatte zunächst nicht verstanden, was die Frage bedeutete. Aber die sanfte, zärtlich streichelnde Berührung ihrer Hand hatte etwas Unbenennbares in seiner Seele geweckt. Er war immer noch der Waisenjunge, der abseits stand und eigentlich immer in Abwehrstellung war. Die zerbrechlich zarte Köstlichkeit ihrer Liebkosung berührte ihn im Tiefsten und weckte Regungen in ihm, die er nicht kannte.

Als sie am anderen Morgen herunterkam, sah sie das bewußte Erlebnis dieses Neuen im Ausdruck seiner Augen. Sie versuchte sich so zu geben, als wäre nichts geschehen; und es gelang ihr. Sie hatte die ruhige Selbstbeherrschung und in sich geschlossene Gelassenheit eines Menschen, der gelitten und sein Leid getragen hat. Sie sah ihn an mit ihren tiefdunkelblauen Augen, die fast die Starre der Betäubung hatten; sie fing den Funken des Wissens in Hadrians Augen auf und löschte ihn. Und sie tat ihm mit ihrer langen schmalen Hand den Zucker in seine Kaffeetasse.

Aber sie hatte ihn doch nicht so ganz in der Gewalt, wie sie gemeint hatte. Die Erinnerung saß tief und stark in seinen Gedanken, und eine ganz neue Empfindungsreihe kämpfte sich in seinem Bewußtsein empor. Eine bisher unbekannte Spannung und Erwartung war in ihm. Es war sein Geheimnis, und er hütete es stumm; aber es war lebendig und stark in ihm. Sie war ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, denn er war ohne Gewissenshemmungen, und er maß mit anderem Maß als sie.

Er musterte sie neugierig. Sie war nicht schön; ihre Nase war zu groß, ihr Kinn war zu klein, ihr Hals war zu mager. Aber ihre Haut war hell und zart, und sie hatte die Feinfühligkeit guter Rasse. Diese seltsame, tapfer bekannte Feinfühligkeit war ein Erbteil vom Vater. Hadrian sah es an ihren spitz zulaufenden, weißen, ringgeschmückten Fingern. Mit dem gleichen Zauber, den Ted Rockley auf ihn ausübte, wirkte auch sie auf ihn. Und der Wunsch erwachte in ihm, das Erlebnis dieses Zaubers zu besitzen, sich zum Herrn darüber zu machen. Indessen er in dem alten Töpfereihof umherwanderte, waren seine geheimen Gedanken eifrig am Planen. Herr zu sein über solche fremde erlesene Zartheit, wie er sie gespürt hatte, als ihre Hand sein Gesicht berührte – das war das Ziel, das er sich setzte. Und er schmiedete insgeheim Pläne, um es zu erreichen.

Er beobachtete Matilda, wenn sie im Hause umherging, und sie merkte diese Aufmerksamkeit wohl: es war, als folgte ihr ein Schatten. Aber ihr Stolz verbot ihr, darauf zu achten. Wenn er auf sie zuschlenderte, die Hände in den Taschen, begegnete sie ihm mit einer gleichgültigen Freundlichkeit, die ihn stärker im Zaum hielt, als es die stärkste Verachtung vermocht hätte. Die Überlegenheit ihrer höheren Bildung schien ihn zu zügeln. Sie zwang sich, ihm mit dem gleichen Gefühl zu begegnen, das sie ihm gegenüber stets gehabt hatte: als wäre er ein Junge, der bei ihnen im Hause lebte, aber ein Fremder geblieben war. Nur an eins durfte sie dabei nicht denken: an den Augenblick, da ihre Hand sein Gesicht berührt hatte. Wenn sie daran dachte, war ihre Fassung dahin. Ihre Hand hatte sie geärgert: am liebsten hätte sie sie abgehauen. Und sie wünschte leidenschaftlich, die Erinnerung in ihm zu töten. Sie glaubte auch, daß es ihr gelungen sei.

Eines Tages, als Hadrian bei seinem »Onkel« saß, sah er dem Kranken gerade in die Augen und sagte: »Ich möchte aber wirklich nicht hier in Rawsley leben und sterben.«

»Na, das verlangt ja auch niemand von dir«, sagte Ted Rockley.

»Glaubst du, daß Base Matilda sich damit abgefunden hat?«

»Soviel ich weiß: ja.«

»Ich kann das hier wirklich nicht ›Leben‹ nennen«, sagte der junge Mann. »Um wieviel ist sie eigentlich älter als ich, Onkel?«

Der Kranke sah den jungen Soldaten an.

»Ein ganz Teil«, sagte er.

»Schon über dreißig –?« sagte Hadrian.

»Nicht viel. Zweiunddreißig ist sie.«

Hadrian dachte eine Weile nach. »Na, danach sieht sie nicht aus«, sagte er.

Wieder sah Ted Rockley ihn an.

»Glaubst du, daß sie gern hier heraus möchte?« fragte Hadrian.

»Tja, das weiß ich nicht«, antwortete der Kranke, offenbar widerwillig.

Hadrian hing eine Weile seinen Gedanken nach. Dann sagte er mit einer leisen, ruhigen Stimme, die klang, als säße er in sich selber verborgen und spräche nun aus dieser Verborgenheit: »Wenn es dein Wunsch ist, möchte ich sie heiraten.«

Der Kranke hob plötzlich den Blick und sah Hadrian starr an – eine lange Zeit. Der junge Mann aber sah mit unergründlichem Ausdruck aus dem Fenster.

» Du –!« sagte der Kranke, und es klang spöttisch und ein wenig verächtlich. Hadrian wandte sich und begegnete seinem Blick. Zwischen den beiden Männern vollzog sich eine stumme und geheimnisvolle Verständigung.

»Wenn du nichts dagegen hast«, sagte Hadrian.

»Nein«, sagte Rockley und wandte sich ab. »Ich glaube nicht, daß ich was dagegen habe. Ich hab eben nie daran gedacht. Aber – aber Emmie ist die Jüngere.«

Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, und er sah plötzlich viel lebendiger aus. Insgeheim liebte er den Jungen.

»Du könntest sie ja fragen«, sagte Hadrian.

Rockley überlegte. »Wäre es nicht besser, du selber fragtest sie?« sagte er.

»Es hätte mehr Gewicht, wenn du es tätest«, sagte Hadrian.

Sie schwiegen beide. Und dann kam Emmie ins Zimmer.

Zwei Tage lang war Mr. Rockley erregt und nachdenklich. Hadrian ging gelassen, geheimnisvoll und ohne ein Wort der Frage durchs Haus. Schließlich fand Rockley sich einmal mit Matilda allein. Es war am frühen Morgen, und er hatte heftige Schmerzen ausgestanden. Als die Schmerzen nachließen, lag er still und dachte nach.

»Matilda«, sagte er plötzlich und sah seine Tochter an.

»Ja, hier bin ich«, sagte sie.

»Gut. Du kannst mir einen Wunsch erfüllen.«

Sie erhob sich bereitwillig.

»Nein, bleib sitzen. Ich möchte, daß du Hadrians Frau wirst – –«

Sie glaubte, er redete im Fieber. Und sie erhob sich bestürzt und entsetzt.

»Nein, bleib sitzen, bleib ruhig sitzen. Du hörst, was ich dir sage.«

»Aber du weißt ja nicht, was du redest, Vater.«

»Doch, das weiß ich ganz genau. Ich möchte, daß du Hadrians Frau wirst, hab ich gesagt.«

Sie war wie vom Donner gerührt. Aber Ted Rockley war ein Mann von wenig Worten.

»Du wirst tun, was ich dir sage«, fügte er hinzu.

Langsam hob sie den Blick zu ihm.

»Wer hat dir denn den – Einfall in den Kopf gesetzt?« fragte sie hochmütig.

»Er selbst.«

Matilda sah den Vater an, als wollte sie ihn zu Boden schmettern, so tief beleidigt war ihr Stolz.

»Also das ist doch eine schmähliche Zumutung«, sagte sie.

»Wieso?«

Wieder wanderte ihr Blick langsam zu ihm hin. »Wie kannst du noch fragen?« sagte sie. »Abscheulich ist es.«

»Der Junge ist durchaus vernünftig«, antwortete er eigensinnig.

»Sag ihm lieber, er soll hier verschwinden«, sagte sie kalt.

Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Sie saß lange Zeit steil aufgerichtet, mit geröteten Wangen da. Schließlich wandte der Vater sich ihr wieder zu, und nun sah er geradezu bösartig aus.

»Wenn du nicht willst,« sagte er, »so ist das recht dumm von dir, und ich werde dich für deine Dummheit büßen lassen, hast du mich verstanden?«

Eine jähe Angst griff eisig nach ihrem Herzen. Sie traute ihren gesunden Sinnen nicht. Sie war entsetzt und fassungslos. Sie starrte den Vater an: Redete er im Fieber, war er irre, war er betrunken? Sie wußte nicht, was sie tun sollte.

»Also hör mich an«, sagte er. »Wenn du dich weigerst, lasse ich morgen Whittle holen. Dann bekommt ihr alle beide nichts.«

Whittle war sein Anwalt. Sie verstand ihn sogleich: Er wollte den Anwalt holen lassen und ein Testament machen, das Hadrian zum Alleinerben einsetzte: und weder sie selbst noch Emmie würde irgend etwas bekommen.

Das war zuviel. Sie stand auf und verließ das Zimmer, ging hinauf in ihre Kammer und schloß sich ein.

Stundenlang kam sie nicht wieder zum Vorschein. Schließlich, spät am Abend, vertraute sie sich Emmie an.

»Dieser Teufel von einem Schleicher«, sagte Emmie. »Er hats doch bloß auf das Geld abgesehen. Vater ist nicht mehr richtig im Kopfe.«

Der Gedanke, daß Hadrian nur auf das Geld versessen sein könnte, war ein neuer Schlag für Matilda. Sie liebte den »unmöglichen« jungen Mann durchaus nicht – aber es war ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen, ihm eine regelrechte Schlechtigkeit zuzutrauen. Nun war er ihr widerwärtig geworden.

Emmie hatte am anderen Tage einen kleinen Auftritt mit ihrem Vater.

»Was du gestern zu Matilda sagtest, hast du doch nicht im Ernst so gemeint, nicht, Vater?« fragte sie angriffslustig.

»Doch«, sagte er.

»Was – du willst dein Testament ändern!«

»Ja.«

»Das wirst du nicht tun«, sagte sie wütend.

Aber er antwortete nur mit einem kleinen bösartigen Lächeln.

»Annie«, rief er. »Annie!«

Er hatte immer noch die Kraft, seine Stimme draußen vernehmlich zu machen. Das Dienstmädchen kam aus der Küche herein.

»Ziehen Sie sich an und gehen Sie zu Rechtsanwalt Whittles Büro. Bestellen Sie, daß Mr. Whittle zu mir kommen soll, sobald er kann. Er soll einen Testamentsvordruck mitbringen.«

Der Kranke lehnte sich eine Weile an sein Kissen – er konnte sich nicht mehr ganz niederlegen. Emmie saß da wie vom Blitz getroffen. Schließlich verließ sie das Zimmer.

Hadrian machte sich im Garten zu schaffen. Sie ging geradenwegs auf ihn los.

»Hör mal«, sagte sie. »Es ist besser, du verschwindest. Pack deine Sachen und verschwinde, aber rasch.«

Hadrian sah die wütende Emmie gelassen an.

»Wer sagt das?« fragte er.

» Wir sagen das. Scher dich aus dem Hause. Du hast hier genug Schaden und Unheil angerichtet.«

»Sagt Onkel das?«

»Jawohl.«

»Ich will ihn doch mal fragen.«

Emmie, einer Furie gleich, versperrte ihm den Weg. »Das ist nicht nötig. Du brauchst ihn nicht zu fragen, das ist vollkommen überflüssig. Wir wollen dich hier nicht mehr haben, also kannst du gehen.«

»Onkel ist der Herr hier im Hause.«

»Ein sterbender Mann ist er – und du schleichst hier herum und biederst dich bei ihm an, des Geldes wegen! Du bist ja die Luft nicht wert, die du atmest.«

»Oh –!« sagte er. »Wer behauptet denn, daß ich es auf das Geld abgesehen habe?«

» Ich behaupte das. Aber Vater hat mit Matilda gesprochen, und sie weiß jetzt, was für einer du bist. Sie weiß, auf was du es abgesehen hast. Deswegen ist es wirklich besser, du verschwindest; sonst wirst du ja sehen, was du kriegst, du – Straßenbengel.«

Er wandte ihr den Rücken, um nachzudenken. Es war ihm noch nicht in den Sinn gekommen, daß sie annehmen könnten, er hätte es aufs Geld abgesehen. Gewiß, er begehrte das Geld – mit aller Macht. Er sehnte sich von ganzem Herzen danach, Arbeitgeber zu sein und nicht mehr zu den Arbeitnehmern zu gehören. Zugleich aber besaß er Feingefühl und Unterscheidungsvermögen genug, um sich darüber klar zu sein, daß er Matilda nicht um des Geldes willen begehrte. Sein Wunsch ging nach beidem: Matilda und dem Gelde. Aber er sagte sich: Das ist nicht ein einziger Wunsch – das sind zwei getrennte Wünsche. Ohne das Geld konnte er mit Matilda nichts anfangen. Aber er wußte ebenso sicher, daß er sie nicht des Geldes wegen haben wollte.

Als er sich durch die Sache so weit hindurchgedacht hatte, suchte er lauernd und spähend nach einer Gelegenheit, um es ihr mitzuteilen. Aber sie mied ihn.

Am Abend kam der Rechtsanwalt. Mr. Rockley hatte, so schien es, noch einmal einen Zuwachs an Kraft bekommen. Es wurde ein neues Testament aufgesetzt, das die früheren Verfügungen völlig von Bedingungen abhängig machte. Das frühere Testament blieb in Kraft, wenn Matilda bereit war, Hadrians Frau zu werden. Weigerte sie sich aber, so ging nach sechs Monaten der gesamte Besitz auf Hadrian über.

Mr. Rockley teilte dies dem jungen Manne mit boshafter Genugtuung mit. Er schien von einem seltsamen und völlig unvernünftigen Racheverlangen gegen die beiden Mädchen erfüllt, die nun schon so lange mit ihm beisammen lebten und ihm mit solcher Hingabe dienten.

»Sag es ihnen in meiner Gegenwart«, sagte Hadrian.

Mr. Rockley ließ seine Töchter holen.

Nach einer langen Zeit kamen sie, bleich, stumm, verstockt. Matilda sah aus, als hätte sie sich innerlich in unerreichbare Ferne zurückgezogen; Emmie kam herein wie eine Kämpferin, bereit zum Gefecht auf Leben und Tod. Der Kranke lag an sein Kissen gelehnt, seine Augen glänzten, seine gedunsene Hand zitterte. Aber sein Gesicht hatte nun wieder etwas von seiner früheren hellen Schönheit. Hadrian verhielt sich still und saß ein wenig abseits: der gefährliche und unzähmbare Junge aus dem Waisenhaus.

»Da liegt das Testament«, sagte Mr. Rockley und deutete auf das Papier.

Die beiden Mädchen saßen stumm und unbeweglich und warfen keinen Blick darauf.

»Entweder du heiratest Hadrian, oder er bekommt die ganze Erbschaft«, sagte der Kranke mit sichtlicher Genugtuung.

»Dann soll er doch die ganze Erbschaft nehmen«, sagte Matilda kalt.

»Das soll er nicht! Das soll er nicht!« rief Emmie hitzig. »Er bekommt sie nicht! Der Straßenbengel!«

Mr. Rockleys Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an.

»Hast du das gehört, Hadrian?« fragte er.

»Ich habe nicht des Geldes wegen gesagt, daß ich Base Matilda heiraten will«, sagte Hadrian. Er war rot geworden und rückte auf seinem Stuhle hin und her.

Matilda wandte ihm langsam ihre tiefdunkelblauen, wie von einer Betäubung schweren Augen zu und betrachtete ihn, als wäre er ein seltsames kleines Ungeheuer.

»Doch hast du's des Geldes wegen getan, das weißt du ganz genau, du Lügner«, sagte Emmie.

Der Kranke lachte. Matilda sah den jungen Mann immer noch mit ihrem starren seltsamen Blick an.

»Sie weiß, daß es nicht so ist«, sagte Hadrian.

Auch er hatte seinen Mut – den wilden Mut der in die Enge getriebenen Ratte. Wirklich – Hadrian hatte in seinem Wesen etwas von der geputzten Nettigkeit, der zurückhaltenden Vorsicht, der Unergründlichkeit der Ratte. Vielleicht aber hatte er auch, wie sie, den Mut, der aufflammt, wenn es aufs letzte geht: den unzähmbarsten Mut also, den es gibt.

Emmie sah ihre Schwester an.

»Na, laß nur, Matilda«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen. Laß ihn nur alles nehmen. Wir können schon selber für uns sorgen.«

Darauf antwortete Hadrian nicht. Er wußte in der Tat: Wenn Matilda ihn abwies, so würde er das ganze Erbe nehmen und damit außer Landes gehen.

»Ein gerissener Junge, dieser Gernegroß!« sagte Emmie und verzog höhnisch das Gesicht.

Mr. Rockley lachte stumm und unhörbar. Aber er war müde. »Geht jetzt«, sagte er. »Geht, ich möchte Ruhe haben.«

Emmie wandte sich und sah ihn an.

»Du verdienst dein Schicksal«, sagte sie grob.

»Geht jetzt«, sagte er nachsichtig. »Geht jetzt.«

Wieder verging die Nacht. Eine Krankenschwester wachte bei Mr. Rockley. Und wieder kam ein Tag. Hadrian ging umher wie immer, in seinem Wollwams, in seinen groben Khaki-Beinkleidern, mit nacktem Hals. Matilda war zerbrechlich zart und sehr fern, Emmie sah trotz aller ihrer Blondheit aus wie eine düstere Wolke. Aber sie schwiegen alle, denn das Dienstmädchen, dem alles verheimlicht worden war, sollte nichts erfahren.

Mr. Rockley hatte arge Schmerzanfälle und konnte nicht atmen. Das Ende schien nahe. Alle gingen stumm und beherrscht durchs Haus, aber niemand gab nach. Hadrian war nachdenklich geworden. Wenn er Matilda nicht heiratete, konnte er mit zwanzigtausend Pfund in der Tasche nach Kanada gehen. Das war unzweifelhaft eine verlockende Aussicht. Andererseits: Wenn Matilda ihn nahm, bekam er gar nichts – denn dann behielt sie das Geld in der Hand.

Schließlich war es Emmie, die handelte. Sie suchte den Rechtsanwalt auf und brachte ihn mit ins Haus. Es gab eine Aussprache, und Whittle versuchte den jungen Mann so einzuschüchtern, daß er auf alles verzichtete; aber es gelang ihm nicht. Auch der Pfarrer und die Verwandten des Hauses wurden aufgeboten – aber Hadrian sah sie nur starr an und ließ sie reden. Immerhin ärgerte ihn das Ganze.

Er versuchte mit Matilda allein zu sprechen. Viele Tage vergingen, ohne daß es ihm gelang; sie mied ihn. Schließlich glückte es ihm, sie überraschend zu beschleichen, als sie in den Garten kam, um Stachelbeeren zu pflücken; und er schnitt ihr den Rückzug ab. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

»Du willst mich also nicht?« fragte er in seiner hintergründigen und seltsam bedrängenden Art.

»Nicht einmal reden will ich mit dir«, sagte sie und wandte das Gesicht weg.

»Du hast aber doch die Hand auf mein Gesicht gelegt«, sagte er. »Das hättest du nicht tun sollen; dann hätte ich nie an so etwas gedacht. Du hättest mich nicht anfassen sollen.«

»Wenn du nur eine Spur von Anstandsgefühl besäßest, würdest du wissen, daß das eine Verwechslung war – und nicht mehr daran denken«, sagte sie.

»Ich weiß, daß es eine Verwechslung war – aber vergessen kann ich es nicht. Du kannst nicht einen Mann aufwecken und ihm nachher befehlen, daß er wieder einschlafen soll. Das geht nicht.«

»Keine Spur von Anstandsgefühl hast du, sonst wärest du weggegangen«, sagte sie.

»Das paßte mir aber nicht«, sagte er.

Sie sah in die Ferne. Schließlich fragte sie: »Warum läufst du mir denn eigentlich nach, wenn du's nicht des Geldes wegen tust? Ich bin soviel älter als du – ich könnte deine Mutter sein. In gewissem Sinne bin ich sogar deine Mutter.«

»Spielt keine Rolle«, sagte er. »Du bist mir nie wie eine Mutter gewesen. Laß uns heiraten und nach Kanada gehen. Ich sehe nicht ein, weshalb du nicht willst. Du hast mich doch angefaßt.«

Sie war bleich und zitterte. Plötzlich wurde sie rot vor Zorn. »Es ist so – unanständig«, sagte sie.

»Wieso?« gab er zurück. »Du hast mich doch angefaßt.«

Aber sie ließ ihn stehen. Ihr war zumute, als hätte er sie in der Falle gefangen. Er dagegen war zornig und niedergeschlagen, denn er fühlte sich abermals verschmäht und verachtet.

Am selben Abend kam Matilda zu ihrem Vater ins Zimmer. »Ja«, sagte sie unvermittelt. »Ich will seine Frau werden.«

Der Vater sah zu ihr auf. Er hatte Schmerzen und war sehr krank.

»Du magst ihn also jetzt leiden, wie?« fragte er mit einem schwachen Lächeln.

Sie blickte hinab auf sein Gesicht und sah, daß ihm der Tod nicht fern war. Sie wandte sich kalt und verließ das Zimmer.

Der Rechtsanwalt wurde bestellt, und alle Vorbereitungen wurden hastig getroffen. Während des ganzen Tages sprach Matilda kein einziges Wort mit Hadrian, und wenn er sie anredete, antwortete sie nicht. Am anderen Morgen kam er auf sie zu.

»Du hast dich also doch entschlossen, wie?« fragte er und sah sie vergnügt mit seinen zwinkernden, fast freundlichen Augen an. Sie blickte auf ihn herab (in jedem Sinne tat sie das) und wandte sich ab. Aber er hielt trotz allem stand, und der Triumph gehörte ihm.

Emmie raste und weinte, und das Geheimnis flog aus dem Hause und durch die Straßen. Aber Matilda war stumm und unbewegt. Hadrian war gelassen und befriedigt, wenn ihn auch Ängste plagten. Aber er hielt stand auch gegen die eigene Angst. Mr. Rockley war sehr krank, aber unverändert.

Am dritten Tage fand die Trauung statt. Matilda und Hadrian fuhren vom Standesamt sogleich nach Hause und gingen geradenwegs in das Zimmer des Sterbenden. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht – ein frohes flimmerndes Lächeln.

»Hadrian – hast du sie?« fragte er ein wenig heiser.

»Ja«, sagte Hadrian, der nicht eben blühend aussah.

»Gut, mein Junge – ich bin froh, daß du nun wirklich mein Sohn bist«, antwortete der Sterbende. Dann wanderten seine Augen zu Matilda und sahen sie zwingend an.

»Laß dich ansehen, Matilda«, sagte er. Seine Stimme veränderte sich so, daß sie nicht mehr zu erkennen war.

»Küsse mich«, sagte er.

Sie neigte sich über ihn und küßte ihn. Sie hatte ihn nie zuvor geküßt – seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr. Aber sie war ruhig und sehr still.

»Küsse ihn«, sagte der Sterbende.

Gehorsam beugte sich Matilda herab und küßte ihren jungen Gatten.

»So ist es recht! So ist es recht!« murmelte der Sterbende.


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