Heinrich Lautensack
Leben Taten und Meinungen des sehr berühmten russischen Detektivs Maximow
Heinrich Lautensack

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Das zweite Kapitel

(nach einem solchen Intermezzo, wie voraufgegangen. – Ein raffiniertes Schreiben Sonjas. – Und ein noch raffinierteres Schreiben Maximows. – Und überhaupt lauter Raffinement! wobei der Leser einen Blick in die allerintimste Werkstätte eines Detektivs tun soll . . .)

Vielmehr also. –

»Das schickte sich ja wunderbar! Infam wunderbar sogar schickte sich das!!«

– wie Maximow sich grimmigst gestand.

Doch von diesem Sich selber grimmig eingestehen ein Mehreres gen Ende dieses zweiten Kapitel des zweiten Buches.


Den achten Tag kam endlich wieder ein Brief ohne Über- und ohne Unterschriften. Des Inhalts:

»Sie werden sich sehr wundern, wenn Sie diesen Brief gelesen und also aus ihm ersehen, daß ich mich nicht länger betrügen lasse. Die schändliche Komödie, welche Sie für gut befunden, mir vorzuspielen, ist zu Ende. Ich durchschaue Sie. Durch gemeine und verwerfliche Mittel verstanden Sie es meisterhaft, mich Ihren Lüsten dienstbar zu machen.

Ich verbiete Ihnen kategorisch, mich ferner durch Zuschriften zu belästigen. Die ganze Angelegenheit teile ich meinem Vater brieflich mit und erwarte seine Befehle. Wie viele arme Mädchen haben Sie wohl bereits ins Verderben gestürzt! Hoffentlich verzeihen die alten Eltern das unverschuldete Unglück. Mein Leben ist zerstört. Ich werde nie wieder jemanden lieben.«

Maximows Wut und Empörung kannten, da er das Schriftstück zu Ende gelesen, keine Grenzen. – Dieses Frauenzimmer, das einer solchen Handlung fähig ist, dieses liebte er einst! War er damals verrückt gewesen? Wie konnte es nur geschehen, daß er sie nicht von Anfang an durchschaut?!

Dieser zweck- und planlose Heftigkeitsausbruch ging indessen schnell vorüber. Und seine sonst in allen Lebenslagen bewahrte Selbstbeherrschung kehrte wieder. »Auch ist Rache ein Gericht, das kalt genossen werden muß.« Der – gerechten – Strafen sollte sie ihm schon nicht entgehn. Der Abschiedsbrief war, dem Stil wie Inhalt nach zu urteilen, offenbar von einem Herrn diktiert, der mit dem Metier, gewisse Situationen durch Erpressungsversuche auszunützen, nicht ganz unvertraut war. – Sonja hatte diesen Brief lediglich sklavisch nachgeschrieben.

Solche versteckte Drohungen wie Überrumpelung mit Hilfe unerlaubter Mittel – Eltern beichten – deren Befehle abwarten – kategorisches Schreibverbot – wie soviele arme Mädchen schon ins Unglück gestürzt usw. usw. – die bewiesen das bestens – und gingen gradaus auf seine exponierte Stellung los!

Die Schülerin mochte wohl eine recht gelehrige sein! – Nein nein nein nein – an Talent gebrach es ihr wohl kaum! – Mit einem Male erinnerte sich Maximow: wie doch so sehr gut das Mädchen Komödie zu spielen wußte! Mit welcher Routine allein schon hatte sie der Wirtin denselbigen nie erlebten Ball geschildert und alle darauffolgenden Bälle – ein wie gleichgültiges Wesen heuchelte sie bei denselbigen Markows am Tage nach dem ersten Kuß unterm Großen Brand von Moskau – na! und von jener Bemerkung über die Portieren schon überhaupt nicht zu reden! – Aber da zeigte es sich eben wieder einmal eklatant, daß ein Maximow sogar nie auslernen könne! Freilich – indem er in ihr damals noch das schlichte unverdorbene Provinzkind sah, machten ihm die Sachen allesamt bloß Spaß . . . heute hingegen erblickte er darin nur einen weiteren Beweis für ihren schlechten, grundfalschen Charakter! – Sonjas jetziger Berater mußte wohl zweifelsohne gleichzeitig ihr Liebhaber sein! Der so schnell über sie gewonnene absolute Einfluß bewies es!

Dieses aber, wie daß das Mädchen die brieflich angekündigte Beichte an die Eltern wirklich ausführte, dieses war (Gott sei's getrommelt und gepfiffen! wie Markow immer sagte) gänzlich ausgeschlossen. – Zu einem solchen folgenschweren Schritt reichte Sonjas Courage nicht hin. Eher noch sprang sie in die Newa. Ihr jetziger Freund, der augenscheinlich mehr guten Willen als Talent zur Chantage besaß, der wollte ja durch die Drohung mit Familienskandal Maximow auch nur einschüchtern und in die Enge treiben. Das Geständnis an die Eltern war ja noch nicht abgeschickt und sollte ja erst abgehn – nur um ihn (Maximow) zu einem unüberlegten tausend Ängste ausdrückenden Telegramm zu reizen. Eine solche Antwortdepeche dann, die freilich hätte die Richtigkeit der in dem Brief vorgebrachten Anschuldigungen bewiesen.

Das ganze Projekt war – abgesehen von der wahrhaftig kindischen Unterschätzung seiner (Maximows) geistigen Fähigkeiten nicht einmal ganz so dumm. – Aber um Sonja den neuen Liebesfrühling nur um so gründlicher zu versalzen, schrieb er – gleichfalls ohne Über- und ohne Unterschrift – dieses Folgende:

»Deinen Brief, der mich sehr betrübt – erhalten. Ich muß annehmen, daß Du ihn in einem Moment geistiger Umnachtung geschrieben hast. Nur von diesem Gesichtspunkt aus sind die plötzlichen Vorwürfe, die Deinem ganzen früheren Verhalten mir gegenüber direkt widersprechen, erklärlich. Hoffentlich geht der Anfall bald vorüber. – Jedenfalls konsultiere unverzüglich einen Nervenarzt.

Armes armes Kind, daß Du so leidest! – Sehr unzufrieden mit Dir macht mich, daß Du Deinem Vater gebeichtet. Du erzähltest mir doch des Öfteren, wie roh und wie heftig er ist. Nach der mir von Dir gegebenen Charakteristik von ihm bricht er ja jedweden Verkehr mit Dir ab. Hoffentlich läßt er sich nicht noch zu schlimmeren Schritten hinreißen. – Warum verschließest Du Dir also mutwillig Dein Elternhaus?

Da es leider zu spät war, Dein Geständnis zu verhindern, suchte ich von hier aus vorzubeugen. Ich war also bei Deiner Familie und sprach mit Deiner Schwester. Ich erzählte Ihr alles, trachtete aber dabei soviel wie möglich, alle Schuld auf mich zu nehmen und Dich nur als das verführte Schäfchen hinzustellen. Und sie versprach mir, die Sache in diesem Sinn Deinem Vater schonend beizubringen. Das arme Mädchen, welches fassungslos weinte, tat mir sehr, sehr leid. Aus diesem gewißlich nicht kleinen Opfer magst Du übrigens ersehen, wie sehr ich Dich – trotz allem – liebte! – Mit Deinen Eltern sprach ich nicht persönlich, da ich annehmen mußte, daß Deine Schwester sich besser zu dieser Mission eigne.«

Was ein Glück, ein wahres Glück, daß Sonjas Familie nur drei Stunden ca. von Kiew – in dem Provinzstädtchen Wassilkow wohnte! – Maximow dachte natürlich nicht im mindesten daran, den in seinem Brief geschilderten Besuch nun auch wirklich auszuführen. Und brauchte es auch nicht. Denn sein Brief gab ja in perfidester Weise nirgendwie einen Aufschluß darüber, welche wohl von den sechs Schwestern Sonjas es unter Tränen auf sich genommen haben wollte, die ganze Sache dem Vater insonders schonend beizubringen. Und jede einzelne zu befragen, dieses hätte Sonja erstens einmal viel Zeit gekostet und wär zweitens schlechterdings unmöglich gewesen, indem diese selbige Sonja mit mehreren von den sechsen nicht gerade auf dem besten Fuße stand.

Voller Schadenfreude malte Maximow sich die Höllenqualen aus, die die Ungetreue, die vorläufig nichts tun konnte als abwarten, wohl erduldete. Bis sie schließlich daraus, daß der rohe und heftige Erzeuger immer noch nicht angestapft kam, ersah – jene ganze Wassilkower Pilgerfahrt Maximows war blauer Dunst gewesen. Na, und bis dahin hatte ihr all die ausgestandene Angst den Geschmack benommen, nur ein Werkzeug für die Erpressungsgelüste ihres neuen Freundes abzugeben. Und selbst wenn die Wirkung, die Maximow sich versprach, weniger nachhaltig sein sollte – so verschaffte sein Brief vorläufig wenigstens einigermaßen Ruhe. Und bei persönlicher Anwesenheit in St. Petersburg – so lange mindestens dauerte der Waffenstillstand – da wollte er denn mit Sonja nebst Konsorten spielend fertig werden. Vor allem galt es, sich über Namen und Charakter des »Nachfolgers« möglichst genau zu orientieren. Den offiziellen amtlichen Ermittlungsapparat dürfte er selbstverständlich nicht dazu benutzen. Und nach nur wenig Nachdenken entschied er sich, Sonjas Wirtin mit dieser delikaten Mission zu betrauen. Auf ihre Umsicht wie auch Verschwiegenheit konnte er sich unbedingt verlassen. Außerdem hatte sie ähnliche Aufträge wiederholt schon zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt.

Gesagt, getan.

Und damit schien ihm diese Angelegenheit vorläufig vollauf genügend eingeleitet. – Die eigentliche Abrechnung mit Sonja, die sollte erst nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg erfolgen. Da er bis jetzt keinen Menschen so – sagen wir immerhin leidenschaftlich – geliebt hatte, so war er auch nie noch so schwer gekränkt worden. Rachegedanken bildeten seine einzige Zerstreuung und Erholung. Er kostete seine Rache im vorhinein schon auf das ergiebigste aus.

Ja, er war eben auch darin ein Genießer! – Nur dieser Mord oder Selbstmord hielt ihn noch. Vor dessen gänzlicher Aufklärung durfte er Kiew nicht verlassen. Dies Hindernis mußte daher unverzüglich beseitigt werden. Falls es mißlang, den Gefangenen sofort zu einem Geständnis zu bewegen, wollte Maximow die Untersuchung »mangels genügender Beweise« aufheben und den Grafen freilassen.

Einen strikten Schuld- oder Unschuldsbeweis nun noch zu finden, hielt Maximow für ausgeschlossen. Zeugen, die beim Tode des Mädchens zugegen gewesen, gab's nicht. Das ärztliche Gutachten konnte im Grunde genommen ein dem Angeschuldigten günstiges genannt werden. Auch sonst lagen keine besonders gravierenden Momente vor. Was war da zu machen? – Ei zum Teufel, sollte man doch den Grafen Studnitski mit etlichen Orden beruhigen!

– Bei einer nochmaligen Besichtigung des Tatortes inspizierte Maximow insbesonders die nachgebliebenen Toilettengegenstände und Garderoben aufs genaueste. – Und die zahlreichen Frou-frous, die erregten seine Aufmerksamkeit! Aus den Aussagen der Dienstboten ging hervor, daß die Herrin ständig ein solches Kleidungsstück trug. Sie liebte offenbar dies diskrete Knistern und Rauschen der Seide. Auch verwandte sie viel ein besonderes stark duftendes Parfüm. Verschiedene Flacons waren noch mit der Essenz gefüllt.

Und Maximow befand sich ganz allein am Tatort und – »geisterte durch die Räume«, wie er so etwas nannte. – Wie roch doch dies Parfüm? So wie das leibhaftige – »Leben«! Sonja . . .? . . .! – Wie seltsam sich der Name Sonja von diesen Wänden widerhallend anhörte! Und er sprach's: »Sonja« . . . und er sprach's nochmal und nochmal: »Sonja, Sonja, Sonja . . .« . . . und einmal schrie er's gar – natürlich nur um die Wände zu probieren! – Und da fiel der Abend ein, und Maximow war immer noch da, – und Maximow machte trotz der Dämmerung noch immer nicht Licht. »Sonja, Sonja, Sonja, wenn du hier drinnen wärest – ich glaub', ich würde dich ein wenig ausziehn – wie – weißt du noch? Ja, und dann – dann würde ich dir deine ganze blasse Nacktheit einzig mit einem dieser Froufrous bedecken – Sonja – Luder!! Und das Froufrou selber würde deinen Namen knistern: Sonja! und deine Schandtat rauschen: Luder!! Und dann würde ich dich ersäufen – grad wie ersäufen mit diesem Parfüm, das nach dem leibhaftigen »Leben« duftet!! Oder nein – Ich würde die Geißeln suchen, die doch hier noch wo versteckt sein müssen – – – –« – Und schon bei tiefer Dämmerung verließ der Detektiv mit einem Male wie flüchtend diese Wohnung. – Und hatte in der Nacht einen seltsamen Traum: Als wie er säße an der Stelle des Grafen Studnitski in der Zelle, des Mordes beschuldigt an Sonja, die jenes Parfüm »leibhaftiges Leben« sehr liebte und immer nur in Froufrous ging, ja, selbst wenn sie sonst gar nichts mehr anhatte, doch immer noch ein Froufrou trug . . .


Und komisch, nein, wie komisch doch einem sein kann: Maximow glaubte im Traum ganz und gar, wie daß er sehr schuldig wäre. Glaubte es, mit einer Art Kinderglauben. Glaubte es schier mit dem Glauben, der Berge versetzt.

So komisch –


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