Heinrich Lautensack
Leben Taten und Meinungen des sehr berühmten russischen Detektivs Maximow
Heinrich Lautensack

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das zweite Kapitel

(Wir waren einmal schon sehr nahe daran, dieses ganze zweite Kapitel wegen jenes neckischen Schlagworts – denn auch dieses zweite Kapitel ließe sich am treffendsten mit Rekonvaleszenz und Liebe überschreiben – wegen jenes neckischen Schlagworts also ganz noch zum ersten zu werfen. Wodurch übrigens – durch solche Praktik – direkt eine Synthesis geschaffen worden wäre.)

. . .wenn auch an demselbigen Tag nicht mehr, so war es doch den darauffolgenden, daß Maximow zum Arzte ging. – Dieser aber – der Arzt – dieser schnitt nach der ersten rein-förmlichen oberflächlichen Untersuchung, die ja die letzte sein sollte, sogleich ein Gesicht, als ob da wir wissen nicht was für Komplikationen eingetreten wären. Und verbot – nach ein paar anzüglichen Redensarten – unserem Rekonvaleszenten kurzerhand, die Berufstätigkeit jetzt schon wieder aufzunehmen.


Die Berufstätigkeit schon jetzt wieder aufzunehmen. – Und Maximow, der St. Petersburg auf jeden Fall verlassen wollte, beschloß danach, den Rest des Urlaubs in der Krim zuzubringen. Und machte sich auch schon an die obligate Abschiedsvisitentournee – mit tieftraurigem Gesicht allerorten über den grausamen Doktor sich beklagend, der ihn nach dem Süden schickte; und allerorts dafür das schmerzliche Bedauern entgegennehmend, was einen ausgezeichneten Mann, was eine Zierde eines jeden Salons, was einen nach wirklichem Verdienst zum Mode-Gesellschaftsliebling erhoben usw. usw. usw. man verliere. – Und da wurde Sonja eines Tages bei Markows grad ans Telephon gerufen. Und da der Apparat sehr niedrig hing, mußte sich die arme Kleine tief bücken, um besser sprechen zu können. Und durch dieses Herabbeugen des Körpers schmiegte sich (weiß der Teufel) das Kleid ein wenig eng, ein wenig allzu eng fast an. Und so kam Sonjas »bildschönes Untergestell« – für Maximow wenigstens – zum allerersten Male voll zur Geltung. Und Maximow war entzückt. Ja sogar – Maximow war baff. Nie hätte er an dem schlichten Mädchen soviel verborgenen Liebreiz geahnt. Welche Menge Genuß mußte es sein, diese prachtvollen edlen Formen und Linien zu streicheln. Sicherlich eine ganz tolle Menge. – Wir müßten vor dem Leser (wie erst vor der Leserin) noch einmal ein vollständiges Bild von all der jüngsten »Vergangenheit« Maximows entwerfen, um daß dieses sein »jähes« Gefühl für Sonja und insbesonders die paradox klingende Formel, in die er dieses Gefühl kleidete (»gegen diese eine Sonja haben sämtliche Petersburger Frauen O-Beine!«) als vor dem einzig physiologisch wahren wie wahrmachenden Hintergrund richtig in den Raum zu stehen käme. Allein – so sehr wir vor Jahrhunderten schon gelernt haben, eine Landschaft perspektivisch zu sehen und wiederzugeben, so sehr haben wir es bis auf den heutigen Tag bedauerlicherweise unterlassen, diese Erfahrungen etwa Punkt für Punkt auch auf das Sexual-Leben (d. i. »Landschaft der Seele« – ein etwas verlogener Ausdruck zwar, aber faute de mieux –) zu übertragen. Und so steht es um diese Sache heute so, daß – selbst wenn wir (zum überhaupt erstenmal) halbwegs vermöchten, was, seit es eine Literatur gibt, noch keiner vermocht hat – daß ihr die Zeichnung dann doch nur schief schelten und als durchaus verzeichnet verschreien würdet! Also damit ist es nichts und keinesfalls etwas; . . . was denn aber sonst tun? Bloß nicht – bloß nicht zu der übelsten von allen Ausreden greifen – sich verzückt stellen und verzückt von »Liebe auf den ersten Blick« stammeln! Da sei Gott vor, daß wir in diese Allerwelts-Selbsttäuschung verfallen! Lieber noch – immer lieber noch, was uns freilich in der Muttersprache Goethes unangängig erscheint, all jene blasphemischen Auslassungen über den Faust, dem Gretchen erstmalig begegnet, hiehersetzen: all jene Blasphemien, wie sie sich in der übrigens vergriffenen russischen Ausgabe dieses Büchleins fanden! Nun denn . . . wir wollen weder das eine noch das andere von diesen beiden tun (obwohl eine Parallele mit Faust auch auf den Faust selber ein neues Licht würfe – wir erinnern hier nochmals an die russische Ausgabe) und werden also im abgeklappertsten Erzählertrott von der Welt fortfahren: – Maximow sah Sonja auf einmal mit ganz andern Augen an. Alles, was ihm früher spießbürgerlich und langweilig an ihr erschienen war, das führte er jetzt ohne jede Mühe auf kindliche Naivität und mädchenhafte Scheu zurück. Solch ein reines unverdorbenes Frauengemüt – was ein Seltenes nicht nur in St. Petersburg. Wie schutzlos und verlassen stand sie da. Die Frau des Markow ihre einzige Freundin, ihr einziger Verkehr – was ein trostlos einsames Leben für ein junges Mädchen. O und selbst diese Freundschaft, selbst dieser Verkehr war nicht mehr allzu lange – indem Kollege Markow doch schier unablässig gegen dieses langweilige zudringliche Provinzgänschen wetterte und es auf alle Art loszuwerden versuchte. Maximow empfand mit einem Schlage aufrichtiges Mitleid mit Sonja – aufrichtigste Sympathie. Der Gedanke bloß, sie könne einem Wüstling, der solche Unerfahrenheit ausnütze, in die Hände fallen, verstimmte ihn. Er beschloß daher, sie unter seinen speziellen Schutz zu nehmen – so lang er noch in St. Petersburg weilte.


So lange er noch in St. Petersburg weilte? – Maximow betrieb die eifrig angefangene Abschiedsvisitenrunde um gut die Hälfte nun weniger eifrig: so sehr geschmeichelt und beglückt fühlte sich das junge Mädchen durch das plötzliche liebenswürdige Interesse des »berühmten Mannes«. – Da Sonja aus der Provinz (aus Wassilkow – drei Stunden von Kiew) stammte, wo die Moral doch noch eine ungleich strengere ist, so gab Maximow ihr – »zur Kultivierung des Terrains« – pikante Lektüre. Diese Bücher schienen dem jungen Mädchen nicht uneben zu gefallen. Die ehedem »so schlafmützig« dreinblickenden Augen bekamen einen feuchten Schimmer. Und auch auf ihre Toilette legte die Kleine hinfort mehr Gewicht. Ja sogar Maximows innige Händedrücke erwiderte sie – nach drei, vier Tagen schon – herzhaft. – Und dieses war den vierten oder fünften Tag, daß – als er wieder einmal bei Markows vorsprach und der ihm öffnende Diener meldete: die Herrschaften wären ausgegangen und kämen erst in einer Stunde zurück – unser guter Maximow vielahnend Sonjas Mantel im Entree hängen sah und daher erklärte, immerhin warten zu wollen.


Immerhin warten zu wollen. – In demselbigen Salon, in dem das junge Mädchen wartete. – »Haben Sie gewußt, daß ich . . . daß ich hier bin?«; das Mädchen. »Haben Sie gewußt, daß Markows ausgegangen waren?«; der Mann. Es ließe sich ein ganzer Band Poesien über das erstmalige Zuzweien-Alleinsein abfassen. Eine seitenlange Poesie allein schon über den großen Brand Moskaus überm Sofa. Denn: das alles kommt dann nie nie nie nie – kommt niemals niemals wieder. Eija: der Große Brand Moskaus überm Sofa miteinbegriffen. – »Nein wirklich – haben Sie gewußt, daß ich . . . daß ich hier bin?«; das Mädchen. »Nun mal aufrichtig – haben Sie gewußt, daß Markows ausgegangen waren?«; der Mann. Und da schmollt dann das Mädchen (und denkt: oho! so weit sind wir noch lange nicht, mein Herr!); und da ergreift der Mann des Mädchens Hand (also wären wir ja trotzdem schon so weit, meine Schöne!); und kaum drei Herzschläge später hat ein Mann wie Maximow ein Mädchen wie Sonja geküßt – und zwar, um ein etwaiges Geschrei zu verhindern, mitten auf den Mund.


Mitten auf den Mund. – Und dann gehts allemal los: als ob so Zweie in einer Viertelstunde gleich ganze Jahrzehnte Küsserei nachzuholen hätten. – Zwar stellen sich beim Mädchen – nebenherlaufend – dann und wann Gewissensbisse ein; indes, diese weiß ein Mann – gleichfalls nebenbei – schnell zu beruhigen. – Fatal ist in einem solchen Fall höchstens der Umstand, daß gewisse Markows, eher als man ahnt, zurückkommen – und der Geliebten glühendes Gesicht, die arg zerzauste Frisur und der durchaus zerküßte Mund, mehr als man will, verraten könnten. Doch da macht man das Mädchen auf diesen Punkt eben besonders aufmerksam, bittet es unter mancherlei Küssen, nun brav zu gehen und — »und morgen um die gleiche Zeit« (oder gar »zur Feier dieser Stunde«) »wollen wir uns wieder hier treffen!«


Bald danach kehrten Markows heim. – Da die Tatsache aber, daß das junge Mädchen eine Zeitlang dagewesen, da diese Tatsache totzuschweigen unklug gewesen wäre – meldete der Diener nicht jeden Besuch? – mithin Geheimniskrämerei höchstens Mißtrauen hätte erwecken können, so erwähnte Maximow gelegentlich: Ach ja, Sonja sei dagewesen und habe auf die Freundin gewartet. »Ach?«; Frau Markow. Doch habe sie in die Musikakademie gemußt und deshalb nicht länger bleiben können. »Gott sei's getrommelt und gepfiffen!«; der freundliche Hausherr.


Ist es nicht etwas überflüssig zu erwähnen, daß man sich pünktlich wie verabredet den nächsten Tag wieder bei Markows sah? – Eher scheint uns noch dieses von Belang, daß die Angst Maximows, Sonja würde ihre »Gefühle« durch auffälliges Benehmen verraten, sich als eine sehr unbegründete erwies. – Sagen wir doch kurz und bündig so: Junge Liebe ist gemeinhin von einem Regietalent, zu dem jedes künstlerische Theater der Welt sich nur gratulieren könnte . . . und seien wir lieber auf die Fortsetzung gespannt: auf jenen Augenblick heißt das, da einem von den beiden Teilen wenigstens dieses bloße Sich-treffen und -sehn und verstohlenes Eine-Viertelsliebkosung-Austauschen nicht mehr genügen will . . . auf jenen Augenblick mit einem Wort, da du den Großen Brand von Moskau überm Sofa überkriegst, so sehr entbrennst du nach etwas Größerem.

Maximow hatte bei Markows unschwer herausbekommen, zu welchen Tagesstunden das junge Mädchen die Musikakademie besuchte. So war ihm, sie auf ihrem Nachhausewege wie von ungefähr zu treffen, ein Leichtes. Und bevor Sonja noch recht zur Besinnung kam, fand sie sich in einer Droschke . . . und aber bevor Sonja noch dahin gelangte, um jeden Preis nun wieder aussteigen zu wollen, hielt das Vehikel auch schon vor einer – Konditorei. – Dieses Rendez-vous unter Kuchen und Schlagsahne gefiel Sonja ausgezeichnet. Mit Vergnügen erklärte sie sich bereit, morgen auf die gleiche Weise »entführt« zu werden. – Und ein paar Tage später erklärte Maximow: ehe er nun definitiv abreiste, hielt er sich geradezu für verpflichtet, das süße Lieb usw., das noch nie ein Varieté gesehen, abends ins »Aquarium« zu führen. Nur müsse Liebling die Sorge, dort gesehen zu werden, ablegen; wozu gäb's Logen? Und was Sonjas aufpasserische Wirtin (den »Drachen aus Wasslikow«) anbelange: wozu gab's Bälle, zu denen man (von Markows natürlich!) mitgenommen wird?


All right! –


Die Logen des Aquariums sind geräumige Zimmer. Und nur durch ihre Fenster kann man auf die Bühne sehen. Nichts für Kunstenthusiasten also, die einem Elite-Gala- Riesen- oder Sensationsprogramm Nummer für Nummer folgen wollen . . . was übrigens die Stores an den Fenstern der Logen am besten beweisen, indem sie meist sehr heruntergelassen sind. Die Hauptaufgabe der Logen ist die: ein gemütliches ungestörtes Zusammensein mit den Artistinnen zu gewähren . . . – Das Souper, das Maximow durchgehends aus pikanten und durchmachenden Speisen zusammengestellt hatte, wurde serviert. Dazu schwerer Burgunder, zu dem aber Maximow eigentlich gar nicht so sehr hätte animieren brauchen – taten doch (von den Speisen wirklich nicht zu reden) die rauschende Musik da draußen zusammen mit der Fülle bunter Bilder auf der Bühne ein reichliches Übriges.


Also daß Sonja lang vor den kinematographischen Vorführungen schon nicht mehr übermäßig nüchtern genannt werden durfte. Und vom Aquarium zu einem Hotel garni nur ein Schritt war.


Sonja glaubte Maximow aufs Wort (die Türe zum Schlafzimmer war durch Portièren raffiniert versteckt – und das Straßenentree der Separees ist in vielen Lokalen auch von St. Petersburg einfach und unauffällig gehalten) – aufs Wort: man sei in irgendeinem Restaurant. Allwo es Kaffee mit Vanille gekocht gab – und hinterher süßen Likör.


Bald war Sonja überhaupt nicht mehr nüchtern. Ja sogar, sie war so sehr betrunken, daß – – – Doch wozu das hiehersetzen und das Mädchen so fürs ganze Leben lang unglücklich machen wollen? Es genüge, daß es eine Äußerung war, die sie über jene höchstraffinierten Portièren tat, so naiv und doch so raffiniert wie nur jene Portièren selber.


 << zurück weiter >>