Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6.

Arnimb hatte gar nichts einzuwenden gehabt, daß Starschädel auf einige Zeit das Heer verließe. Gegenüber dem jetzigen kaiserlichen Heere fühlte sich der kurfürstliche Feldherr stark und überlegen.

Conrad hatte sich ausgebeten, beim Heere zurück zu bleiben. Er freute sich auf Prag, weil er hoffte, den charmanten Jesuiten Norbert sammt der »rothen Feder« dort wieder zu finden. Das Vorrücken des Heeres sollte rasch und ungestüm vor sich gehen: es war möglich, daß die beiden Vögel eingeschlossen und gefangen würden.

Hans reiste also allein. Tartsch und ein Theil von Ludmillens Gefolge hinter ihm. Dies Gefolge machte ihm einen gar traurigen Eindruck: es sollte ihm sein liebes Pflegekind entführen!

In Dresden hätte er sich am liebsten nicht aufgehalten, denn er liebte die dortigen Machthaber nicht. Aber er hatte es Arnimb nicht abschlagen können, dem Kurfürsten mündlichen Bericht zu bringen über die Erfolge des kurfürstlichen Heeres und über die Unterhandlungen mit Waldstein.

Wie er sich's gedacht, kam er verstimmt aus dem unschönen Häuserhaufen heraus, welcher an der Nordostseite der Dresdner Altstadt steht und Schloß genannt wird. Ueber einen wüsten Platz sah man damals nach der nahen Elbe hinab, denn Terrasse und katholische Kirche existirten damals noch nicht. Eine katholische Kirche in Dresden! Das galt für eine baare Unmöglichkeit. War doch der Bau einer solchen in Leipzig zwei Jahrhunderte später noch kaum durchzusetzen. Sachsen war und blieb der Kernpunkt des Protestantismus. – Verstimmt ritt er weiter über Leipzig dem thüringischen Sachsen zu.

Er hatte aus der Unterredung mit dem Kurfürsten entnommen, daß Arnimb's freiere und größere Politik auf die Länge nicht werde bestehen können mit diesem Fürsten, den er sich zum Herrn erwählt. Denn Arnimb, aus Boitzenburg an der Niederelbe stammend, gehörte landsmannschaftlich nicht hierher nach Dresden und fand schon deshalb nicht leicht ein volles Vertrauen. Hans ebenso wenig. Als ernestinischer Sachse war er mißtrauisch angesehen, und man begriff nicht recht, warum er sein Regiment von den weimarischen Truppen getrennt und Arnimb zur Verfügung gestellt hatte.

Hans hatte dies gethan, weil er sich nicht unbedingt dem Schwedenkönig anschließen wollte, wie Weimar es that. Der jüngste Prinz des Hauses war in den letzten Jahren das Kriegshaupt des Hauses geworden, und dieser Prinz Bernhard von Sachsen-Weimar, viel weniger empfindlich gegen ausländische Einmischung als Hans, hatte sich mit Leib und Seele dem Könige Gustav Adolph angeschlossen.

Diese Abtrennung Starschädel's war denn auch in Weimar übel vermerkt worden, und er stand jetzt eben nicht in besonderer Gunst dort unten im Thale der Ilm, welches er von der Höhe des Webichts, eines Waldstreifens oberhalb Weimar, in winterlicher Schmucklosigkeit vor sich liegen sah.

Er vermied es deshalb, durch das Städtchen und am Schlosse vorüber zu reiten; er wählte einen Feldweg, der unter dem Ettersberge hin erst hinter Weimar wieder in die Heerstraße nach Erfurt leitete. Der Gedanke tauchte ihm wol auf, ob es nicht doch gerathen wäre, hinüber zu schwenken in die Stadt, um irgend einen Machthaber in Anspruch zu nehmen gegen die Eingriffe des Consistoriums in seine Kirchenangelegenheit zu Gnadenfrei. Vielleicht waren eben darum die Theologen so dreist geworden mit ihrem Eingriff, weil sie ihn fern wußten, und weil sie wußten, daß er jetzt in einiger Ungunst stünde am weimar'schen Hofe –

Aber es widerstand ihm, in dies Gezänk einzutreten. Er spornte sein Pferd, um noch vor einbrechender Nacht Erfurt und am nächsten Mittage Gnadenfrei zu erreichen.

Es war ein grauer Wintertag, an welchem Hans über Gotha hinaus seinem Heimatsgebiete nahe kam. Er war früh vor Tage aufgebrochen; das Herz trieb ihn zur Eile. Der Nebel hatte sich von der leicht beschneiten Erde gehoben und schwebte jetzt um Mittag wie ein gelblicher Schleier auf den Spitzen des Thüringerwald-Gebirges, gelblich, weil die Sonne matt hindurchschimmerte. Das Waldgebirg, tief verschneit, sah blauweiß zu ihm herab, und die Landschaft vor ihm erschien wie ein abgeschlossenes großes Gemach, besonders weil sich kein Lüftchen regte. Ammern, Krähen, Elstern waren am Wege und auf den Feldern sehr beschäftigt, Nahrung zu suchen. Ein Flug Tauben sauste an ihm vorüber mit jenem eigenen wuchtigen Klappern, welches der energische Flügelschlag der Tauben mit sich bringt. Es konnten die Tauben aus Gnadenfrei sein. Hans hielt still, um sie zu mustern und bekannte unter ihnen zu entdecken.

Es war dieselbe Stelle, an welcher er damals die Auswanderer Golling und Spath angetroffen hatte. Aber das Gnadenfrei da unten hatte die damalige Landschaft sehr verändert. Die zahlreichen Baumpflanzungen Spath's waren alle gediehen. Sie waren zwar jetzt unbelaubt, aber sie verkündeten doch in ihrer reichlichen Anzahl und ihren geordneten Gruppen den Fleiß und das Gedeihen menschlicher Arbeit, himmlischen Segens. Dies Zusammengehen der Arbeit und des Segens macht die Idee eines Besitzes so lohnend und erquickend. Du versuchst zu schaffen, und der Himmel lächelt dazu in seinen unermeßlichen Gesetzen, und es entsteht, es wächst, es wird, was du gehofft! – sagt sich der Mensch – und du darfst es dein Werk nennen, obwol du es nur veranlaßt hast.

So dachte auch Hans und ritt langsam hinab. Vom breiten, geräumigen Schlößlein, welches er ausgebaut und erweitert hatte, war nicht viel zu sehen auf dieser Seite. Die Bäume waren groß geworden und verdeckten es. Er konnte nicht entdecken, ob Jemand am Fenster wäre. Jemand? Er meinte wol Marien. Und dabei übersah er den Fußweg links, welcher sich durch den Park heraufschlängelte. Auf diesem Fußwege kam eine schlanke Frauengestalt eilig daher und schwenkte ein weißes Taschentuch. Sie rief endlich – da schaute er hin und sprang vom Pferde; es war Marie!

Sie flogen einander entgegen. Marie eilte ihm so warm und herzlich entgegen, daß man eine Umarmung erwarten durfte. Erst als sie dicht bei ihm war, hielt sie inne und streckte ihm beide Hände zu. Er faßte diese Hände und drückte sie innig, ihr warm und tief in die Augen sehend. Wie hatten sich diese Augen verändert! Groß und dunkelblau waren sie wol immer gewesen; aber jetzt sprachen Geist, Seele, Charakter und reizende Güte aus ihnen. Diese Eigenschaften waren erst eingekehrt, seit er sie nicht gesehen. Gestalt und Antlitz waren voller geworden, und die Röthe des Antlitzes, nicht blos vom raschen Gange erzeugt, lag wie der Hauch des Pfirsich auf der feinen Haut. Lieber Vetter! Liebe Marie! war Alles, was sie sprachen. – Dann gingen sie still neben einander fort, und erst allmälig kam Marie dazu, ihm zu erzählen: wie sie ihn vom Fenster aus durch die landlosen Zweige entdeckt, wie sie's der leidenden Mama zugerufen, wie diese mit dem Kopfe nickend gelächelt und ihr gewinkt habe fortzuspringen.

Marie trug ein schwarzseidenes Gewand bis an den weißen, kräftigen Hals hinauf geschlossen, welches ganz den schönen Wuchs Ludmillens zeigte, nur noch weniger rund, nur noch etwas eckig. Wenn sie abgewendet ging, konnte er sie für die Schwester halten. Das reiche Haar, welches sie offen trug, war jedoch etwas heller, ein brauner Schimmer lag darauf, und wenn sie ihm das Gesicht zuwendete, da meinte er: der gute Ausdruck des Papa Loß treffe ihn und sein Herz. Keine Spur vom falschen Blick Ludmillens, gerade und treu schaute Mariens Auge, treu und fest. Man mußte ihm vertrauen, man meinte auch, ihm nichts verbergen zu können. Man meinte auch, obwol sie jetzt gar nicht schalkhaft gestimmt war, einen gutmüthigen Schalk in den Mundwinkeln und im Grübchen des vollen Kinns zu sehen. Es ist wahr, der Mund war nicht so fein und nicht so klein als der Ludmillens, aber wenn er sich öffnete, zeigte er eine so prächtige Doppelreihe weißer Zähne, und machte er die Züge des Antlitzes so anmuthig und lieb, daß man sich fragen mochte: ob solch ein Mund nicht noch lockender wäre? Auch die Stimme war nicht so musikalisch tönend wie die Ludmillens, sie war heller im Klange, aber dadurch frischer und heiterer.

Sie sprach allein; Hans hörte und schaute nur. Als sie den Zustand der Mama schilderte, rollten ihr große Thränen über die Wangen. Die Geistlichen seien schuld, seien allein schuld an ihrer Krankheit! sagte sie mit einem gewissen Trotz, mit einer gewissen Energie, als sie in den Hof traten, der von einem weiten Kreise einstöckiger Häuser eingerahmt war. In diesen Häusern wohnten die besten Colonisten, die Arbeiter des Gutes, und sie strömten jetzt herbei, als sie des Herrn ansichtig wurden, sie strömten herbei, ihn zu begrüßen. Allen war abzumerken, wie sehr sie Starschädel liebten, wie sehr sie aber auch gedrückt und traurig waren durch die feindlichen Maßregeln gegen ihre Kirche.

Als Hauptperson unter ihnen trat Spath hervor, der Gärtner. Er hatte sich sehr ausgebildet: als Gärtner und als denkender Mensch. Er galt für den Sachverständigen in allen Dingen, ja für den Weisen der Landschaft. Hans richtete denn auch seine dringendsten Fragen an ihn: über die Kirche und über den Gesundheitszustand der Frau von Jörger.

Auf die erstere Frage zuckte Spath nur die Achseln und sagte dann zögernd mit halber Stimme: »'s ist all' Eins, Herr von Starschädel, ob der geistliche Herr Pfarrer heißt oder Pastor, Mönch oder Candidat. 's ist halt Zunft. Was den Herrgott betrifft, das schlägt ins Zunftgeheimniß, und wer's anders wissen will, der ist ein Bösewicht und der wird wie ein Bösewicht behandelt. Dort verbrannt, hier ersäuft. – Was die gnädige Frau betrifft, die ist just durch die Zunftbosheit ans Grab gepeinigt worden. Sie braucht übrigens noch nicht hineinzufallen, wenn sie nur Ruhe kriegt. Ich hab' vom Wald oben den weisen Doctor heruntergeholt; er hat sie angesehen und hat gesagt: 's hängt in der Brust der Gnädigen Alles an dünnen Fäden. Entzwei ist nichts, aber die Fäden sind gar dünn, weil man sie ausgezerrt hat. Kriegt sie Ruhe, so geht's Leben weiter; wird aber wieder in sie hinein gewirthschaftet, so reißt ein Faden, und 's Leben fährt aus. Im Gemüth sitzt der Wurm, lieber Herr, im Gemüth, das ist Alles. Beim Pater Dunstan gleichfalls, und noch ärger, weil sein Gemüth jäh ist, gar viel zu jäh! Der wird noch viel anrichten, Herr, gar viel, denn der Leib ist von Eisen und hält noch lange vor. Aber der Kopf ist nun einmal wild geworden, und dem ist nicht mehr beizukommen. Den Professor aus Jena hätt' er erwürgt, wenn ich nicht dazwischen gesprungen wär'! – Da kommt er!

Sie waren bereits im Hausflur. Die Stiege herab eilte, beinahe fallend, die lange, nach vorn übergebeugte Figur Dunstan's. Er trug einen weiten Bauernkittel, welcher schlotternd um ihn hing, denn der Leib war abgemagert. Der Schädel war kahl, der schwache, fliegende Bart eisgrau. In diesem Knochengerüste aber glühte, Alles beherrschend, das große, lichte Auge. Es glühte nicht flackernd, es glühte starr. Die praktische Entschlossenheit des früheren Dunstan war in diesem Auge zusammengedrängt. Nicht mehr zu praktischer Entschlossenheit wie früher, als noch sämmtliche Lebenskräfte gleichmäßig in ihm wirkten, nein, zu trockener, grimmiger Entschlossenheit.

Er umarmte Hans mit dem Ungestüm eines Jünglings, und er umarmte ihn so heftig, daß Hans physischen Schmerz erlitt von der knochigen Umschlingung. – Endlich bist Du da – rief er schneidend – endlich! Es ist die höchste Zeit. Die schwarzen Buben, die sich hier Theologen nennen, sind schlimmer als die bunten Schurken, welche uns droben in den Bergen gemartert. Jene hatten doch ein dünnes Herz, die hier haben gar keins, die haben nur Buchstaben, eiserne Buchstaben. Es bleibt nichts übrig, als sie fortzustäupen. Damit hab' ich auf Dich gewartet. Du bist der Einzige, welcher es mit mir kann. Weiber sind und bleiben schwach. Unsere Frau droben ist gut, gut wie Engel. Aber ein Engel ohne Schwert. Mit Palmzweigen wird nichts ausgerichtet gegen verstockte Pfaffen. Nun Du da bist, nun soll's geschehen! Spath, heut' gleich zur Vesperzeit die Thür erbrechen, die Gemeinde versammeln! Der Herr ist da, der Spuk hat ein Ende. – Und nun komm' zu ihr, Hans, sie freut sich auf Dich, komm', Sohn meines verklärten Zdenko!

Er nahm Hans mit hartem Drucke unter den Arm und führte ihn die Stiege hinauf. Die Enttäuschung, welche er seit Zdenkos Tode erfahren, hatte ihn nicht ergeben und fromm gemacht, wie jenen, sondern heftig und immer heftiger. Die ihm inwohnende Energie wollte erzwingen, was sich nicht erzwingen ließ, Duldung durch Ungeduld, Toleranz durch einen Widerstand, welcher wol selbst an Intoleranz streifte. Zum Handeln geeignete Menschen mögen wol stets gefährliche Menschen sein, wenn sie Religion pflegen oder gar stiften wollen. Sammlung und Entsagung sind ihnen schwer, ja kaum erreichbar, und ohne diese beiden Grundeigenschaften wird kaum eine Religion möglich, wenigstens keine, die in christlichen Principien ihre Wurzeln sucht.

Auch für Frau Amalie, die er liebte, war Dunstan gar bedrohlich, vielleicht verderblich geworden. Die Streitigkeiten, welche an sie herantraten, überließ er ihr nicht. Hätte er das gethan, so wäre der weisen Frau Zeit geblieben, sie zunächst in sich selbst abzuglätten und auszugleichen. Dessen war sie ja gewohnt von Jugend auf! Nein, er vergiftete diese Streitigkeiten immer auf der Stelle durch seine heftige Auffassung. Und er faßte sie nicht nur auf, er faßte sie an vermöge seiner praktischen Natur, er faßte sie an sogleich, jählings. Sie mußten auf der Stelle gekennzeichnet werden mit dem schlagendsten Ausdrucke, mußten auf der Stelle geschlichtet werden durch schlagende Handlungsweise. Freilich hatte er damit immer Recht, auch im Sinne der Frau Amalie, denn Beide waren einig im Principe milder, völliger Freiheit des religiösen Wesens – aber er unterbrach den Proceß der innerlichen Verarbeitung, den Frau Amalie nothwendig hatte bei solcher Gelegenheit. Ihr stilleres, tieferes Wesen war gewöhnt, so wichtige Entscheidungen langsam auszutragen in sich, und die Streitpunkte all' dann allmälig und sanft zu erledigen. Dunstan übereilte sie und beunruhigte sie, erhitzte sie dadurch. Ihr Seelenleben wurde dadurch überreizt, mit diesem ihr Nervenleben – ein Brustleiden, zu welchem sie stets Anlage gehabt, wurde dadurch gefördert, und es war vorauszusehen, daß es sie tödten würde, wenn diese leidenschaftliche Hast und Hatz noch einmal in sie hineinstürmte.

Sie saß im großen Wohngemache des ersten Stockes, dessen Fenster die Aussicht öffneten nach dem Thüringer Wald. Der Inselberg, damals schon eine baumfreie Kuppenfläche, trat unter den gelben Nebeln wie unter zurückgeschlagenem Schleier zu ihr an den Lehnsessel, in welchem sie ruhte. Ihr Antlitz war nur im Profil der Thüre zugewendet, durch welche Hans und Marie und Dunstan eintraten.

Hans blieb in der Thür stehen und machte seinen Begleitern ein Zeichen, daß sie sich still und leise verhalten möchten.

– Ich hör' Euch schon – sagte Frau Amalie mit schwacher Stimme und wendete ihren Kopf langsam zu ihnen – hör' Euch schon lange. Kommt nur, kommt nur! Ihr erschreckt mich nicht, erregt mich nicht.

So lautlos wie möglich näherten sich Hans und Marie, und sanken auf die Knie zu beiden Seiten des Sessels. Hans küßte ihre Hand; diese feine, fast durchsichtige Hand, und sah dann erst zu ihr in die Höhe. Nein, dachte er, sie ist nicht sehr verändert, sie kann, sie wird sich erholen. Das lichtblaue Auge ist noch so glänzend, die Wangen sind noch leicht geröthet!

»Guter Hans!« – flüsterte sie – »wie freu' ich mich, Euch wieder zu sehen in Kraft und Gesundheit! Und wie hat sich Marie auf Euch gefreut! Nun werden uns wohlthuende Wintertage bescheert, ein lächelndes Weihnachtsfest. Laßt uns Gott dafür danken.« – In seinem Hause, nicht wahr Amalie? rief Dunstan mit etwas störend lautem Tone. – »In der Kir–« sie wagte es nicht, das Wort auszusprechen, aber ihr Auge leuchtete stärker. Man sah, welche Freude ihr das gemacht hätte. – Freilich in der Kirche! entgegnete noch lauter Dunstan – der Herr ist ja da, und dem gegenüber wagt unser schwarzes Pfaffenthum nicht, sich zu behaupten. Herrenknechte sind sie ja noch mehr als unsere bunten, sie ergeben sich noch leichter. Wenn Ihr also heute frisch genug seid – »Recht frisch!« – So kommt hinunter! Die Luft draußen ist ganz still, und Spath öffnet eben die Kirche. – »Spath öffnet –? Hat Hans schon mit dem Professor gesprochen?« – Er wird mit ihm sprechen und ihm den Dünkel vertreiben!

Der eifrige Dunstan hätte nichts Unglücklicheres anordnen können. So wurde der gefährliche Streit sogleich wieder zum Aeußersten entzündet, und im Zusammenhange mit der reizbaren Kranken entzündet, welche sorgfältig davor bewahrt werden mußte, wenn man ihren Lebensfaden fristen wollte.

Marie begriff das. Sie hatte ängstlich zugehört, sie sah, daß in Frau Amaliens Brust die Erregung begann. Sie sprang auf und winkte Hans. Er folgte ihr nach der andern Seite des Zimmers. Sie bat ihn, hinab zu eilen und jedenfalls den Streit fern zu halten von der Mama. – Hans versprach es und wollte nur noch ein paar Worte an Frau Amalie richten, damit sein jähes Forteilen nach der ersten stummen Begrüßung ihr nicht auffallen, sie nicht beunruhigen möchte. Marie sollte hinab und sollte ankündigen, daß er sogleich selbst erscheinen werde.

Dunstan vereitelte auch das. Er rief der fortgehenden Marie zu: sie werde doch der schwachen Mama den stützenden Arm nicht versagen zu dem frommen Gange! – Marie wurde verlegen um eine Antwort und wollte der Mama doch die Verlegenheit um jeden Preis verbergen, damit das Mißtrauen derselben nicht noch genährt werde. So verging die Zeit; es wurde zu spät. Man hörte streitende Stimmen auf der Treppe, man hörte sie auf dem Vorsaale, die Thür ging auf, der jenaische Professor erschien in der Thür, eine vierschrötige, mittelgroße Gestalt in der schwarzen Kleidung eines lutherischen Geistlichen. Spath hinter ihm, der sich vergebens bemüht zu haben schien, den zürnenden Mann zurückzuhalten. Zürnend war der Ausdruck dieses gelben Gesichts, zürnend die zurückweisende Armbewegung gegen den Gärtner, zürnend das stechende braune Auge, welches die Anwesenden im Zimmer musterte. Sein kurzes, borstiges Haar stand wie eine Bürste auf dem großen Kopfe des Mannes, starr gesträubt vom Zorne. Er schritt mit langen Schritten dem Fenster zu, in dessen Nähe Frau Amalie saß. Marie trat ängstlich vor, gleichsam um die Mama zu decken. Hans desgleichen. – »Das ist?« fragte Hans leise gegen Dunstan hin. – Caucius nennt er sich; Kauz heißt der Kerl! erwiderte dieser laut und ging dem lutherischen Streiter entgegen zum Streit bereit, ihm zurufend: Was wollt Ihr hier? – »Mit Euch hab' ich nichts zu schaffen! Den Herrn von Starschädel suche ich!« – entgegnete der Professor und sein Kopf reckte sich empor, so daß der dicke Hals nackt hervortrat und die rothblauen Narben zeigte, welche geschnittene Drüsen da zurückgelassen hatten. Sie waren grell sichtbar, da der Mann keinen Bart trug, sondern glatt rasirt war. – Hier bin ich – sprach Hans – ich ersuche Euch, mir auf mein Zimmer zu folgen. – »Was ich zu sagen habe, kann und soll Jedermann hören. Es ist Gottes Wort.« – Was Ihr Gottes Wort nennt! rief Dunstan. – »Wer seid Ihr, der sich erdreistet, meine Vollmacht in Zweifel zu ziehen? Ein von seinem Glauben abgefallener Mönch. Abgefallen wohin? In das Chaos, in das Nichts. Auch Martin Luther fiel ab, aber er schritt aus der verpesteten Kirche in eine neue Kirche. Diese jetzt schon hundertjährige neue Kirche sendet mich daher, einem Unfug zu steuern, welcher zu den Wolken schreit.«

Dunstan schritt drohend auf ihn ein. Hans hielt ihn zurück, fragte aber streng und scharf: – Welchem Unfug, Herr?

»Dem Unfug der Heiden, welche sich gotteslästerlich Christen nennen, ohne einer Kirche Christi anzugehören!« – Was wißt denn Ihr von der Kirche Christi! – schrie Dunstan – wo steht denn geschrieben, daß Eure Kirche Christo angehöre? – »In der heiligen Schrift steht es geschrieben?« – Das ist nicht wahr! In der Bibel steht nur geschrieben, daß wir Gott anbeten sollen im Geist und in der Wahrheit. Es stehen aber keine Formeln vorgeschrieben, keine Symbole, die ausschließlich gelten sollten, keine Liturgie, welche zum Gesetz erhoben würde. Was Ihr Kirche nennt, ist Euer Machwerk, das Machwerk irrender Menschen, und wie zweifelhaft es aus dem Evangelium stamme, das bezeugen Eure eigenen Streitigkeiten und Schismen. Die Reformirten berufen sich wie Ihr auf die Schrift, und haben sich doch eine andere Kirche erbaut als Ihr, und werden von Euch als unevangelisch behandelt, ja als gotteslästerliche Frevler. Und unter Euch selbst giebt's wiederum Schismen, welche einander verurtheilen, ja verdammen. Oder habt Ihr nicht in Jena ein anderes Dogma als in Wittenberg? Nennt Ihr nicht die Nachfolger Melanchthon's Kryptocalvinisten? Wahrlich, ich sage Euch, Euer Fanatismus für geringe Unterscheidungen arbeitet eifriger für das Papstthum, als der Jesuitenorden für dasselbe arbeiten kann. Denn Euer Fanatismus läßt die von Rom Abgefallenen überlegen, ob die römische Tradition denn nicht am Ende Eurem armseligen Fanatismus vorzuziehen sei. Jene Tradition bringt wenigstens Kirchenformen, die aus den ersten Jahrhunderten des Christenthums stammen. Mögen sie auch überhäuft worden sein und überladen, sie haben wenigstens einen natürlichen und geschichtlichen Ursprung, und darin tieferen Sinn, als Euer trockener, phantasieloser Verstand zu geben vermag. – »Mönch!« stöhnte der Professor und konnte vor Ingrimm nicht gleich weitere Worte finden.

Dunstan aber fuhr in einem Athem fort: Das aber, was die herzhaften Gründer Eurer Reformation bezweckt haben, das verrathet Ihr, die evangelische Freiheit verrathet Ihr! Auf den Geist des Evangeliums beriefen sich jene herzhaften Männer, und gaben das menschliche Formelwerk Preis, welches die Jahrhunderte dem kirchlichen Wesen aufgebürdet hatten. Ihr aber kehrt das Wort Eurer Meister um, Ihr macht die Formel wieder zur Hauptsache, Ihr macht den Geist wieder unfrei und verlangt, daß er sich gerade so äußere, wie Ihr vorschreibt.

»Das lügst Du, Mönch! Luther selbst hat die symbolischen Bücher eingesetzt und sie zur Richtschnur hingestellt für Gläubige und Ungläubige!« – Und wohin gerathen wir ohne positiven Anhaltspunkt – sprach der Geistliche von Gnadenfrei, Seifert, der unterdessen eingetreten war – wohin gerathen wir? Ich hab's erlebt. – »Wir haben's mit Dir erlebt, schwacher Mann!« – schrie Dunstan – »der Du neun Jahre lang unserer freien Kirche angehört hast und im zehnten Jahre den Drohungen erlegen bist, welche Dir von Jena zugingen! Bist Du besser denn Judas Ischarioth?!« – Ehrwürdiger Bruder im Herrn – rief der Professor in salbungsvollem Tone Seifert zu – antwortet dem unverbesserlichen Mönche nicht weiter. Vertheidigt nicht Eure Bekehrung, die Euch zur höchsten Ehre gereicht. Ein verirrtes Schaf, das zur Heerde zurückkehrt, verdient Hosiannah. Ihr erkanntet endlich, daß feste Normen vorhanden sein müssen auch für das Neue, wenn es sich nicht verirren soll in der Wildniß, Ihr botet endlich Eure Hand zur Schließung des Hauses dahier in Gnadenfrei, welches von verführten Menschen »freie Kirche« benannt wurde. Wir haben sie verschlossen kraft eines Gutachtens unserer hohen Facultät in Jena, kraft eines Erlasses von unserem hochwürdigen Consistorio, und hatten vor, dies unsauber gewordene Haus wieder sauber zu machen durch Geräthe und Anordnungen unserer evangelisch-lutherischen Kirche, alsdann aber am nächsten Sonntage einen Gottesdienst darin zu eröffnen, getränkt von den reinen Bächen unserer Kirchenlehre. Da hat sich jener Gärtnersmann vor einer Stunde unterwunden, unser Siegel abzureißen von der verschlossenen Pforte und die verschlossene Pforte gewaltsam aufzusprengen. Er hat sich dabei auf den Befehl seines weltlichen Herrn berufen, und deshalb bin ich daher gekommen, diesen weltlichen Herrn zu befragen, ob er wirklich für den frechen Diener einstehen und unsere Kirchengewalt auf so unerhörte Weise herausfordern wolle, wahrhaftig in Gott! zu seinem zeitlichen und ewigen Nachtheile, Denn es ist besser, das brandige Glied werde abgehauen, als daß es den ganzen Leib vergifte. Oder ob er sich der kirchlichen Autorität fügen und unseren Vorschriften unterwerfen wolle. Das frage ich hiermit Herrn Hans von Starschädel, welcher vor mir steht!

Hans litt unsäglich unter der ganzen Scene. Besonders darum, weil er die Wirkung derselben auf die schwer kranke Amalie angstvoll fürchtete. Er wagte es kaum, nach ihr umzuschauen, deren schnellere Athemzüge er zu hören glaubte. Deshalb antwortete er ausweichend: »Ich habe Euch schon gesagt, Herr, daß hier nicht der Ort ist für derlei Verhandlungen, und daß Ihr mir folgen sollt –« Kein Sandkorn soll verrinnen, bis der Frevel geschlichtet ist! rief der Professor. – »Sohn Zdenkos, Du wirst nicht zögern, dieser Knechtung unserer Seelen ein Ende zu machen!« rief Dunstan. – Sprich sogleich, Mann von verdächtiger Mischung, der soeben wieder heimkehrt von dem Umgange mit den Männern des Antichrist, und der ihnen in die Hände arbeitet durch Entstellung unserer Lehre, sprich sogleich, oder das letzte, entscheidende Wort enteilt meiner Lippe, auf welcher es ruht wie die Gewitterwolke, schwanger vom flammenden und zerstörenden Blitze, – schrie der Professor und hob die Hand drohend gegen Starschädel. – »Hinweg mit dieser drohenden Geberde« – sprach nun Hans mit arg entschlossener Stimme und schleuderte dem Professor die Hand nieder, der Mäßigung vergessend, die gar keinen Erfolg hoffen ließ – »hinweg mit dieser protestantischen Capuzinerscene von einem Orte, an den sie nicht gehört. Sie schickt sich nirgends hin, am wenigsten hierher. Sie schickt sich nirgend für einen Priester, welcher Liebe und Versöhnung im Herzen tragen soll. Hinaus!« – Nicht einen Fuß breit weiche ich, bis – »Nun dann erleidet, was ein Kriegsmann über Euch verhängt, auf dessen Grund und Boden Ihr den Unfrieden tragt. Ich herrsche hier, ich bin hier Gerichtsherr, und bin im Nothfalle auch Herr der Kirche, wie Dein Herzog sich zum Herrn Deiner Kirche aufwirft. Danke es meiner Fassung, wenn Du körperlich unbeschädigt von dannen kommst. Es bedarf dieser Fassung gar sehr! Denn ich verabscheue diesen kirchlichen Fanatismus und halte ihn für einen schweren Irrgang der Reform, ich halte Dich für einen Feind wahrer Religion – Mann –«! »Hinaus!« – und dabei winkte Hans dem Gärtner Spath, um welchen sich ein großer Theil der Gnadenfreier Gemeinde angesammelt hatte – »und weiche vor meinem Schritt, damit ich nicht genöthigt werde, Hand an Dich zu legen. Du hast hier keine officielle Aufgabe. Unsere Kirche hier in Gnadenfrei hat sich niemals Eurer Facultät, noch Eurem Consistorium angeschlossen, viel weniger unterworfen. Und Seifert, dem unser Glaube nicht mehr genügt, soll mit Dir von hinnen gehen. Er hat sich selber von uns losgesagt. Ihm werde, was er braucht – kein Wort! Sobald Du den Mund öffnest, erleidest Du Gewalt!«

Unter dieser Rede Starschädel's war der Professor und Seifert bis an die Thür gewichen, da Hans ohne Innehalten gegen ihn einschritt und Spath mit den Gnadenfreiern wie eine wandelnde Mauer um Hans nachdrängte. Dennoch erreichte Hans seinen Zweck nicht. Denn kaum hatte er geschlossen mit dem Ausrufe »kein Wort!«, so benützte der Professor, dicht an der Thür, die eintretende Pause und schrie mit donnerähnlicher Stimme eine Bannformel, von welcher die Gnadenfreier und selbst Spath erschrocken oder wenigstens betäubt zurückwichen. Sie schloß mit den Worten: »Ihr sollt ausgestoßen sein wie Aussätzige, und am jüngsten Tage dastehen, wo heulend und zähneklappernd die Böcke stehen, welche in den Abgrund gestoßen werden!«

»Amen!« sagte halblaut Seifert, und die Thür schloß sich hinter den beiden Geistlichen.

Im Zimmer herrschte Schweigen und dumpfe Schwüle. Hans winkte Spath, mit den Gnadenfreiern das Zimmer zu verlassen. Er eilte zu Frau Amalie, um sie zu trösten. Marie kam ihm händeringend entgegen. Frau Amalie war bewußtlos geworden. Unter Mariens Bemühungen mit kaltem Wasser und stärkenden Essenzen kam sie nur langsam wieder zu sich. Ihr Athem arbeitete schwer. Das Auge, welches sie endlich wieder aufschlug, erschien gebrochen.

Hans und Marie sahen mit tiefstem Schmerze, daß die eben vorgefallene Scene die Katastrophe, das Verlöschen des Lebensfunkens in Frau von Jörger, herbeigeführt. Dunstan sah es mit Verzweiflung und schrie nach Spath, der sich zum Hausarzt herangebildet hatte.

Spath erklärte, daß sein Wissen nicht zureiche, um da eine Hilfe zu versuchen, daß er aber auch nicht behaupten möchte: der letzte Faden sei gerissen.

Wirklich erholte sich die Kranke, und das Auge wurde wieder sanft und linde. Sie streichelte sogar die Locken Mariens, welche vor ihr kniete, und fing leise an zu sprechen, indem sie Hans mit den Augenlidern winkte, sich ihr näher zuzuneigen.

»Wir Frauen« – flüsterte sie – »nehmen doch Alles zu persönlich. Dies schließt uns aus von den allgemeinen Dingen. – Der heftige Mann aus Jena griff an, wofür ich gelebt – daher meine Ohnmacht. – Hat er am Ende doch Recht, Hans?« – Nein, nein. Es giebt eben für Alles zweierlei Kraft, eine bejahende und eine verneinende. Der Kampf zwischen beiden gebiert die Schöpfung, welche allein möglich ist unter irdischen Bedingungen. – »Ja; und wir sind von der bejahenden Kraft –« So ist's. Wir halten aufrecht, daß die Freiheit des Glaubens nicht verloren gehen darf. – »Nicht verloren – richtig. Die Anderen sorgen für eine Ordnung, für – einen Abschluß. – Der kann zu früh kommen, kann – zu eng gerathen –« Und so ist's geschehen. – »Aber nöthig ist er auch. Die Mehrzahl der Menschen braucht zeitig – Grenzen, braucht Stichworte. Sonst verwildert sie. Man opfert – für die Mehrzahl. Nicht?« – Man opfert die Weitsichtigen für die Kurzsichtigen, und die große Mehrzahl ist kurzsichtig. – »Dann wären wir doch nicht im Fehl?« – Keineswegs. – »Dieser Gedanke traf mich – wie ein Stich. Ich erschrak so, daß der – Mann Recht haben könnte. Wir haben auch Recht, und –« Und ein höheres Recht. – »Du thust mir wohl, lieber Hans, wie immer. Und nun wird mir besser – leicht, recht leicht. – Geh', Marie, hol' das Liederbuch! Ich möchte ein Lied hören – Dunstan! seht doch nach, ob die Fremden fort sind.«

Marie und Dunstan gingen. Sie schien mit Hans allein sein zu wollen. – Sie fing an, von Marien mit ihm zu sprechen. Wie sie ihm vorkomme? Und als Hans warm und herzlich sich äußerte, da lächelte sie wie eine Glückliche, und sprach: – Ihr wart immer meine Hoffnung! Du wirst mein Kind – das ist sie! – erkennen, führen, beglücken. Sie ist gut, wie Du. Sie ist ein Schatz. Bewahr' ihn Dir standhaft, wie Du bist. Ihr Beide seid mein Trost gewesen im Leben, seid mein Trost im –

»Nicht doch, liebe Mutter! – Da kommt Marie.«

Als sie daherschritt, siegte draußen am Himmel die Abendsonne. Wie mit einem Ruck flogen alle Nebel in die Höhe, und heller Sonnenglanz fiel auf den Inselberg, stieg auf die Ebene herab, erfüllte das Zimmer. Die blasse Kranke auf ihrem Lehnsessel war über und über eingehüllt in Sonnengold, und sie blickte lächelnd, wol glücklich lächelnd hinaus auf die weiße Ebene, welche silbern schimmerte, auf die Bergwand voller Bäume, auf die offene Fläche des Inselberges, welche wie ein weißer See im Sonnenschein leuchtete, in den Himmel darüber, welcher sich geöffnet hatte und hoch oben von farbigen Schleiern der Nebelwolken umsäumt war – hinauf, hinauf ins Unermeßliche schien ihr Auge dringen zu wollen. Langes Schweigen herrschte. Hans stand regungslos, und seine Seele sah fragend auf das verklärte Auge der edlen Freundin. Wird es sich schließen für immer? Oder wird es neue Lebenskraft gewinnen für diese Erde? Letzteres wünschte er so sehnlich, so schmerzlich, insbesondere für Marien.

Marie selbst aber war nahe am Lehnsessel mitten im Sonnenschein auf die Knie gesunken und hatte das geistliche Liederbuch geöffnet. Fragend sah sie auf Hans, und als Hans mit dem Haupte nickte, las sie mit zitternder, lieblicher Stimme:

»Sollt' ich meinem Gott nicht singen? Sollt' ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh' in allen Dingen,
Wie so gut er's mit mir meint.
Ist's doch nichts als lauter Lieben,
Was sein treues Herze regt,
Das ohn' Ende hebt und trägt,
Die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb' in Ewigkeit.

Seine Strafen, seine Schläge,
Ob mir's gleich oft bitter scheint,
Dennoch, wenn ich's recht erwäge,
Sind ein Zeichen, daß mein Freund,
Der mich liebet, mein gedenke
Und mich von der schnöden Welt,
Die mich hart gefangen hält,
Durch das Kreuze zu ihm lenke.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb' in Ewigkeit.«

Leise flüsterte jetzt die Kranke: Alles Ding – währt seine Zeit – Gottes Lieb' – in Ewigkeit – und ein tiefer Seufzer folgte.

Hans und Marie eilten zu ihr. Sorget nicht, Kinder – sprach sie ein wenig lauter – mir ist viel besser, leicht sogar, recht leicht. Der Schlaf wird mich ganz kräftigen, und er kommt schon – still und leise, ein Segen Gottes. Ich liege hier gut und bequem, breitet eine Decke über mich und überlaßt mich – dem Schlummer.

Marie that also und zog sich mit Hans in den fernsten Winkel des Zimmers zurück. Sie sprachen nicht, bis die Sonne hinter dem Waldgebirge untergegangen war und die Dunkelheit hereinbrach. – Da ging Hans vorsichtig hinaus, um Licht zu bestellen und die Wärterin.

Als er zurückkam und die Wärterin das Licht hinter einen Schirm gestellt, sah er, daß Marie bei der Kranken stand und ihm winkte. So leise als möglich ging er zu ihr. Sie ist ganz still – flüsterte Marie – so still, daß ich ihren Athem nicht mehr höre – ist das gut? Hans, der im Kriegsleben hundertfach gesehen, wie das Leben von den Menschen scheidet, beugte sich erschrocken näher, horchte an ihrem Munde, fühlte hastig an ihren Puls – es zuckte wie von einem elektrischen Schlage in ihm, er richtete sich starr auf und schwieg. – Nun, fragte Marie, ist es gut? – »Gut vielleicht, liebe Marie, aber traurig: unsere Mutter ist – todt.«

Marie stieß einen das Herz zerreißenden Schrei aus und sank an seine Brust.

*

Es folgten traurige Wintertage, doppelt traurig, weil hinter dem Unglück noch überall schwere Bedrohungen deutlich wurden.

Beim Begräbniß fürchtete man, die Consistorialmacht von Weimar werde plötzlich mit größerer Rüstung zurückkehren und den Cultus der freien Gemeinde auseinandersprengen. Professor Caucius war unter solcher Ankündigung von dannen gefahren und hatte Dunstan, welcher sich an seine Fersen geheftet bis an die Grenze der Gemarkung, mit dem Tode auf dem Scheiterhaufen gedroht.

Noch mehr! Die Gemeinde selbst war offenbar tief erschüttert worden durch die Bannsprüche des amtlichen Kirchen-Professors. Der Respect vor hergebrachter Autorität hatte seine Wirkung gethan. Und wo ist dieser größer als in Glaubensfragen, welche alle ins Bereich des Geheimnißvollen hinüberragen! Umsonst versuchte der Gärtner Spath seine Geringschätzung der herzoglichen Rechtgläubigkeit den Anderen mitzutheilen. Umsonst! Sein eigener Schwiegervater, der alte Golling schüttelte das Haupt und kam auf seine früheren Zweifel zurück: ob es dem Menschen erlaubt und zuträglich sei, in Glaubenssachen eigene Wege zu gehen, und Nandl, Spath's Frau, hörte mit stiller Aufmerksamkeit ihrem Vater andächtiger zu als ihrem Gatten. Man sah es ihr an: sie hielt den braven Gatten Spath in so wichtiger Sache für leichtfertig. Auch der stille Alte, Vater Hamm, der ein hinfälliger Greis geworden war, weinte wie ein Kind über das Ereigniß und gestand seiner Tochter, Conrads Frau, daß er solch einen Ausgang lange gefürchtet. Es sei nimmer gut, mit Gott und göttlichen Dingen ein eigensinnig Spiel zu treiben und von geweihten Bahnen abzulenken. Was Doctor Luther nach dem Evangelium eingesetzt, das müsse man achten und ehren, geradeso wie in der Hofburg die Breves der Päpste geachtet und geehrt würden. Sonst verliere man allen Halt.

Hans sah und hörte das Alles, und sah und hörte es mit Schrecken. Ja auch da, wo der Austausch von Gedanken Stütze finden konnte, entging ihm diese Stütze. Dunstan nämlich schlug ganz ins entgegengesetzte Extrem über: er zeigte eine Verachtung des menschlichen Geschlechts, er deutete auf Absichten und Pläne hin, welche dem besonnenen Starschädel schwere Besorgniß einflößten für den wild gewordenen Greis. Dunstan deutete an, daß er hinausziehen wolle in die weite Welt, um dieser zu verkündigen an allen Orten und Enden, daß sie kläglich und erbärmlich sei, ob sie sich katholisch nenne oder protestantisch. Vergebens rief ihm Hans zu, daß er damit nichts ausrichten und nur sich selbst verderben werde! – Mich selbst verderben? erwiderte Dunstan – was liegt daran, wo, wann und wie diese alten, morsch gewordenen Knochen zerschlagen werden! Ist doch die Seele, welche sie zusammenhält, längst niedergepeinigt bis zum Todesächzen. Das einzige Genüge, das sie noch finden kann, ist der Ausschrei ihrer Wahrheit. Das soll sie haben!

Nur Marie war ihm ein Trost. Ihre herzliche, thränenweiche Trauer sah zu ihm auf wie zu dem einzigen Tröster, Stützer und Helfer, der in der Welt für sie vorhanden. Wie gern wäre er ihr das geworden im heiligsten Sinne des Wortes! Ach, auch hier sah er sich gehindert, gefesselt und bedroht! Wie gern wäre er zu ihr getreten und hätte gesagt: Hier meine Hand fürs ganze Leben, liebe Marie! Willst du sie, so schlage ein! Vereint werden wir alle Schwierigkeiten des Lebens bestehen und uns eine glückliche Stille sichern. Willst du? Ich liebe dich.

Aber er meinte das nicht zu dürfen. Das arme, verlassene, noch unerfahrene Mädchen – sagte er – darf nicht so übereilt werden. Sie kennt Niemand als dich, sie kann nicht wählen. In ihrer jetzigen vereinsamten Lage würde und müßte sie zustimmen. Es wäre ein unverantwortlicher moralischer Zwang. Ueber kurz oder lang, wenn sie mehr von der Welt gesehen, könnte die Reue folgen, und du hättest sie unglücklich gemacht. Nein, nein, du mußt dir's versagen, wie schwer auch die Angst auf dir liegt, daß sie da draußen in Böhmen unter Leitung der Schwester dir entfremdet, ja entwendet werden kann! Zudem ist ja in deiner jetzigen Lage kaum eine Trauung möglich! Seifert, der Geistliche, ist fort, und einen orthodoxen lutherischen Pastor jetzt anzusprechen, da seine Kirche die deinige eben mit Bannsprüchen belegt, das wäre ein Todesstoß für die hiesige Gemeinde –

So wogten die Gedanken in ihm, als er eines Morgens allein mit ihr im großen Wohnzimmer war. Der Schnee fiel draußen dicht in großen Flocken, man sah nicht fünf Schritte weit aus dem Fenster, in dessen Nähe Marie still saß und mit gesenktem Haupte an einer leichten Handarbeit nähte. Ihr Antlitz hob sich gar lieblich ab in seiner rosigen Frische von dem schwarzen Trauerkleide, das geschlossen bis an den Hals reichte.

Hans wollte eben zu ihr treten, da kam der Gärtner Spath hastig ins Zimmer, hastiger als sonst seine Art war. »Was ist?« fragte Hans. – Pater Dunstan ängstigt mich, lieber Herr – mir scheint: er geht auf und davon und nimmt auch nicht einmal Abschied. – Hans und Marie schrien auf. – Ja, er hat sich einen Schnappsack nähen lassen von Sackleinen, und hat sich gerade jetzt frisches Brot geben lassen für den Schnappsack – »Da ist er!« unterbrach Hans den Gärtner. Dunstan trat ein. Er trug wieder seine dunkle Benedictinerkutte, welche er schon seit Jahren abgelegt in Gnadenfrei; an einem groben Leinenbande darüber den Schnappsack, in der Hand einen rohen, büchenen Stab.

Ohne ein Wort zu sprechen, schritt er auf Marien zu, nahm ihre beiden Hände, sah ihr eine Zeitlang in die Augen und drückte dann ihr Gesicht an seine Brust. Zwei große Thränen fielen auf ihr Haar.

»Gott gebe, daß es Dir wenigstens gut gehe« – sagte er endlich mit nur murmelnder Stimme – »Dir, unserem guten, lieben Kinde! – Komm her, Hans! Du wirst Sorge tragen dafür, und dafür, daß sie ein Engel bleibt auf dieser albernen Erde!« – Aber, lieber Dunstan –! – »Gebt Euch keine Mühe, mein Entschluß steht fest.« – Wohin denn?! – »Zunächst nach Weimar und nach Jena, daß diese Thoren die Wahrheit hören.« – Sie werden Dich gar nicht hören – rief Hans – denn der Pöbel wird über Deine Mönchskutte herfallen, schlimmer als damals in Prag. Dies Volk hier hat nie eine gesehen. Seit hundert Jahren ist hier kein Mönch erblickt worden. Sie werden Dich mißhandeln und tödten! – »Auch gut, wenn's schon auf der ersten Station geschieht. Dann nimmt der Bettel ein rasches Ende und das Gewissen wird zeitig erweckt. Ohne grobe Thatsache erkennt der gelehrte Dünkel nicht, daß er so roh und unchristlich ist wie sein Gegner. Dazu gerade bin ich nur noch gut, Lockspeise zu bilden für die menschlichen Raubthiere, vergiftete Lockspeise. An der Unverdaulichkeit meiner Reden oder meines Leibes sollen sie entdecken, was sie sind. Verlier' kein Wort weiter, Hans, nicht Gott, nicht Luther's Teufel bringt mich ab von meinem Vorhaben. Komm' eine Strecke mit, ich hab' Dir noch etwas zu sagen!«

So ging er. Marie schrie ihm nach in heftigem Schmerze: Vater Dunstan, verlass' uns nicht! Mutter Amalie hat mir gesagt, Du hättest ihr versprochen –

Dunstan kam noch einmal zurück, schloß sie noch einmal in seine Arme, küßte sie auf die Stirn, sah zum Himmel auf und sprach dann stockend: »Ich – halte – mein Versprechen!« Dies sagend nahm er Hans bei der Hand und führte ihn hinaus. Draußen im Schneewetter, durch den Park hinauf steigend nach der Landstraße, sprach er weiter zu Hans:

»Lass' mich gewähren, mein Sohn! Ich muß meiner Lebensbahn gerecht werden, so lange ich noch kriechen kann. Den Mißbrauch der Religion habe ich zeitlebens bekämpft; ich kann diesen Kampf nicht aufgeben. Zdenko that es immer mit Geduld, ich immer mit Thätigkeit. Jenes mag frömmer sein; ich muß mir treu bleiben, wenn ich nicht wie ein Thier krepiren soll. Genug davon. Jetzt zu dem, was ich Dir noch sagen will. Ueberzeugt es Dich, so kehr' ich noch für eine Stunde mit Dir zurück. Unterbrich mich nicht! – Du sollst Marie zu Deinem Weibe machen, und zwar sogleich. Unterbrich mich nicht. Es ist Dein Wunsch, das weiß ich, und es ist der ihrige, wenn sie auch noch nicht weiß, was sie wünscht. Thust Du's aber nicht sogleich, zögerst Du, wie es in Deiner Natur liegt, bringst Du sie gar nach Böhmen unter fremdes Weibsvolk und zu ihrer ränkevollen Schwester, dann steht Hundert gegen Eins: sie geht Dir verloren, geht sich verloren und dem Seelenleben, welches wir hier zu gründen getrachtet. Das dürfen wir uns, dürfen wir unserer verklärten Amalie nicht anthun. Ich hab' ihr versprochen, dem Kinde ein treuer Vater zu sein. Willst Du?« – Könnt' ich! – »Du kannst. Sobald Du Ja sagst, kehre ich mit Dir um und lege Eure Hände in einander vor unserem Altar und segne Euch ein zum Ehebunde, wie ich damals bei Stockerau den Spath und sein Mädchen eingesegnet und getraut habe. Bist Du entschlossen? – Du bleibst stehen? Du entschließest Dich? – So lass' uns umkehren.«

Hans war in der That stehen geblieben. Der Kampf in seinem Innern, ob er Marien sich aneignen dürfe, war heftig erneut. Heftig, denn jetzt trat ihm von außen Ermunterung und Gewähr entgegen. Wie sehr war er geneigt, Ja zu sagen! – Aber die Gründe, welche ihn abgehalten, waren nicht widerlegt. Dunstan selbst hatte gesagt: Marie wisse vielleicht selbst noch nicht, was sie wünsche. Das war ja einer seiner Hauptgründe gewesen, welcher ihn abgehalten! – Und solche jähe Trauung! Solche Trauung! Außer dem Gnadenfreier Kreise würde sie Niemand für giltig und bindend erachten. Nicht von katholischer Seite, für welche Dunstan ein entweihter Abtrünnling, nicht von protestantischer, für welche Dunstan ein Kirchenfrevler. Und hier traf die üble Nachrede nicht bloß ihn, er hätte dazu die Achseln gezuckt, hier traf sie das unbescholtene Mädchen, traf Marien, die er bewahrt sehen wollte vor jedem Schatten eines unreinen Fleckens. Das unschuldige Kind sollte durch seine dreiste, vielleicht gewaltsam erscheinende Handlungsweise den Ruf eines Kebsweibes – o nein! nein! Nimmermehr!

Diesen Gedankengang sprach er nun vor Dunstan aus und war bis zu dem übeln Worte »Ruf eines Kebsweibes« gekommen, da hielt unerwartet ein Reitersmann zwischen ihm und Dunstan. Der dichte Schneefall hatte ihn eingehüllt bis zu solcher Nähe.

Es war ein Reitknecht, welcher fragte, ob dies auch der richtige Weg nach Gnadenfrei wäre. Bei näherer Zufrage ergab sich, daß er aus Prag komme und ein Schreiben bringe an das Freifräulein Marie von Loß.

»Wer sendet Dich?« fragte Dunstan. – Lady Ludmilla von Seymour! – »Da kommt schon, was ich verkündet!« rief Dunstan – »entschließe Dich, Hans!« – Ist die Lady in Prag? Ist Prag genommen? fragte Hans. – »Prag ist in den Händen der Sachsen!« lautete die Antwort. – Entschließe Dich, Hans! wiederholte in gesteigertem Tone Dunstan. – »Ich kann nicht, mein lieber Vater!« erwiderte dieser fest. – Ade denn! Ich passe auch nicht mehr zu Euch, wie's scheint – Gott wird mich Störenfried, hoff' ich, bald wo anders hin befördern!

Unter diesen Worten, denen man einen gebrochenen Ton anhörte, verschwand Dunstan im dichten Schneefalle.

Hans sah ihm schmerzlich nach. Was konnte er thun? Auf diesen eisernen Charakter gab es keine Einwirkung mehr.

Er führte den Reitknecht hinab und wollte ihm das Schreiben abnehmen, als sie vor der Hausthür angekommen waren. Der Reitknecht aber verweigerte es. Er sei befehligt, es nur in die eigenen Hände des Freifräuleins zu übergeben.

Hans wies ihn hinauf und folgte ihm erst nach einer Viertelstunde. Seine Gewissenhaftigkeit bewog ihn, den Eindruck des Schreibens ungestört auf Maria wirken zu lassen.

Als er endlich ins Wohnzimmer trat, saß Marie in einem Winkel und starrte unverwandt in das weiße Schneewetter hinaus. Der Brief lag auf ihrem Schooße; ihr Antlitz war schmerzlich gespannt, das Auge aber jetzt trocken. Zum ersten Male forderte das Leben eine selbstständige Entscheidung von dem jungen Mädchen, und das junge Mädchen schien dadurch auch plötzlich verändert zu sein. Sie sprang auf und reichte Hans den Brief, ohne ein Wort zu sagen. Wollte sie aus seiner Entscheidung einen Schluß ziehen? Es schien so. – Hans las:

– »Du könntest längst da sein, liebes Kind, und Du bist heute noch nicht da. Was heißt das? Ich muß annehmen, daß bei Frau von Jörger eine Katastrophe nahe getreten oder eingetreten ist, und daß dadurch Deine Abreise verzögert worden ist. Wäre Frau von Jörger wirklich gestorben, wie zu befürchten stand, dann ist Deine sofortige Abreise doppelt nöthig. Denn es ist nicht einen Tag länger schicklich, daß Du ohne weibliche Aufsicht und Stütze unter Männern verbleibst. Ich bin jetzt Deine natürliche Aufsicht und Stütze und verlange also, daß Du sogleich zu mir kommst. Außerdem ruft Dich die Pietät für unsern Vater hierher. Es ist endlich gelungen, wornach ich seit zehn Jahren gestrebt: am Tage nach dem Einzuge der Sachsen hier in Prag hat Graf Thurn die Häupter der unglücklichen Märtyrer herunternehmen lassen vom Brückenthurme und hat mir das Haupt unseres guten Vaters eingehändigt. Ich habe einen zierlichen Schrein für dasselbe anfertigen lassen, und es steht in meinem Zimmer, des Sarges wartend, welcher den Leib in sich schließt. Dieser ist nämlich auf dem Wege hierher, und wir wollen, sobald Du hier bist, Sarg und Schrein auf mein Gut überführen und dort beisetzen. In Komorau, das in fremder Leute Besitz, mochte ich des Vaters Leiche nicht lassen, und da die Herrschaft der Sachsen sich schon über die ganze nördliche Hälfte Böhmens ausdehnt, so war es leicht erreichbar, den Transport von Komorau her zu veranstalten. Auch für Deinen ferneren Aufenthalt ist durch die Herrschaft der Sachsen bestens gesorgt. Der Czaslauer Kreis ist von ihnen besetzt, und ich kann Dich also ungefährdet nach Schloß Zleb zur alten Gräfin Tertschka bringen, welche Dich erwartet. Brächte auch der Kriegswechsel diese Gegend wieder in die Macht der Kaiserlichen – was bis ins Frühjahr hinein durchaus unwahrscheinlich – so beträfe die eintretende Unsicherheit nur mich. Du bist ja nicht compromittirt. Und wenn ich Dich alsdann verlassen müßte, so bliebest Du in guten Händen und in weiblicher Umgebung. Auch an sonstiger weiblicher Gesellschaft fehlt es nicht: die jüngere Tertschka ist dort und die Tochter Sparr's, ein Mädchen von Deinem Alter. Zögere also keinen Augenblick länger mit der Abreise. Haupt und Leiche Deines Vaters erwarten Dich, und diejenige, welche Dir zunächst steht in der Welt, ruft Dich –

Deine für Dich verantwortliche Schwester
Ludmilla

Hans fühlte sich sehr unangenehm berührt von diesem Briefe. Er fand ihn herb gegen Marien, und fand die Absicht deutlich genug ausgedrückt, daß Marie ihm gänzlich entrückt und entzogen werden sollte. Seiner selbst war mit keiner Silbe erwähnt.

Traurig reichte er den Brief zurück an Marien und sprach mit matter Stimme: »Was sagst Du dazu, Marie?« – Ich wollte erst hören, was Du sagst, lieber Vetter! – »Ich habe kein Recht, drein zu reden. Die Entscheidung ruht lediglich bei Dir.«

Marie schien schwer betroffen von dieser Antwort. Sie hatte wol eine wärmere erwartet. Wenn Vetter Hans, ihr Herr und Ideal, sie so trocken aufgab, dann stürzte das ganze Gebäude ihrer jugendlichen Phantasien prasselnd zusammen. Mädchenhafte Schüchternheit gestattete ihr nicht, weiter zu fragen. Sie brachte nach einer Pause kaum die Worte hervor: Dann muß ich – wol scheiden.

Hans seinerseits fand in diesen entscheidenden Worten die Andeutung, daß sie ihn gar leicht und rasch aufgäbe, und daß sie auch nicht einmal seine Begleitung suchte. Sie hatte ja »scheiden« gesagt.

Er erklärte also nur noch, daß er sofort Alles rüsten werde zu ihrer Abreise, und ging. Sie konnte nicht ahnen, daß ihm das Herz zerspringen wollte.

Das ihrige stand gleichsam still. So unglücklich war sie nie gewesen, selbst nicht beim Tode der geliebten Mutter Amalie. Ein unaufhaltsamer Thränenstrom nur verschaffte ihr einige Erleichterung, als die Thür hinter ihr zufiel.

Draußen hatte plötzlich das Schneien aufgehört. Der Himmel wurde allmälig hell, und nach einer Stunde leuchtete die karge Wintersonne. Auch das Wetter also that keinen Einspruch gegen die schnelle Abreise, und – sie fand statt. Denselben Nachmittag fand sie statt. – Hans hob sein Liebstes aufs Pferd. Noch einmal begegneten sich ihre Augen und verließen sich, um die quellenden Thränen zu verbergen. Ihm wie ihr waren die Lippen geschlossen durch die leidigen Gedanken bloßer Schicklichkeit.

Sie ritt hinweg aus ihrer Heimat, in welcher Alles zurückblieb, was ihr junges Herz liebte und verehrte.

Er blieb zurück wie auf einem Leichenfelde. Alles war todt – die mütterliche Freundin, der väterliche Freund, die Gemeinde und Kirche seiner Seele; und die Geliebte seines Herzens, aufgewachsen an seinem Herde, an seinem Herzen, sie verließ ihn stumm und lautlos.

Die einfarbige weiße Schneedecke, welche Haus und Hof und Baum und Feld und Gebirg zudeckte, entsprach völlig seiner Stimmung.


 << zurück weiter >>