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Die Einsiedler

Nicht weit abwärts von der Wohnung des Feuers rinnt ein Bächlein von den Hügeln. An seinen Ufern grünt eine Wiese, und hohe Buchen stehen um den stillen Platz und entfalten die jungen Blätter im Sonnenschein.

Heiß liegt der Mittag über den weichen Halmen.

Und dort, den langen Hals ausgestreckt, die riesigen Glieder den warmen Strahlen darbietend, ruht der Iguanodon.

Von den Hügeln herab, auf den breiten Ästen von Baum zu Baum springend, kommt Homchen. Die Sprünge sind nicht mehr so weit und schnell wie auf der Wanderung nach der heißen Wolke, und als es sich jetzt in die Sonne auf die Wiese setzt, dem Iguanodon gegenüber, spielt sein Pelzchen ins Graue. Die großen Augen leuchten freundlich und hell und manchmal ein wenig müde –

»Wie geht es dir heute, weiser Iguanodon?« fragte Homchen.

Der Iguanodon hob den Kopf und versuchte den Schweif zu bewegen.

»Ich will ihn nicht mehr heben«, antwortete er. »Aber merkwürdig, je weniger ich mich mit der Bewegung abgebe, um so besser geht es mit dem Denken. Ich habe nachgedacht.«

»Das tust du immer.«

»Es ist wahr. Aber weißt du, was ich gedacht habe? Ich habe gedacht, es war doch recht gut, daß ich dich nicht aufgespießt habe, wie ich eigentlich wollte, als ich die Großechse getötet hatte.«

»Ja, das war sehr gut, denn sonst hättest du gar nicht erfahren, daß die Großechse tot war.«

»Du hättest es mir nicht gesagt, wenn ich dich gespießt hätte?«

»Nein, dann hätte ich es dir nicht gesagt.«

»Dann hätte ich also selbst auf die Hügel steigen müssen, um die tote Großechse zu sehen.«

»Und das hättest du nicht gekonnt. Denn deine Wunden taten dir zu wehe.«

»Das ist richtig. Deshalb konnte ich dich auch nicht fangen, als du am Morgen auf die Wiese kamst.«

»Ja, und deshalb wolltest du mich auch nicht aufspießen. Aber warum hast du es später nicht getan?«

Der Iguanodon dachte nach. Dann sagte er:

»Später war es nicht mehr nötig. Denn erstens hast du dich wegen deiner früheren Frechheiten entschuldigt, und zweitens bist du doch aus dem Walde heraus auf die Wiese gekommen, wie ich es dir geboten habe.«

»Ja«, sagte Homchen, »ich mußte dir doch beim Denken helfen. Deswegen war es wohl gut, daß du mich nicht gespießt hast?«

»Bilde dir nichts ein, Homchen. Es war nur gut, weil sonst niemand dagewesen wäre, dem ich meine Gedanken mitteilen konnte.«

»Das wäre freilich sehr schade gewesen.«

»Ich habe das auch gedacht. Es hat mir etwas gefehlt, du warst in den letzten Tagen nicht hier. Wo warst du?«

»Ich war wieder einmal im Walde am Flusse, wo du früher wohntest.«

»Wo deine Verwandten wohnen – was tun sie?«

»Meine Eltern sind tot, das weißt du ja. Und die andern – sie tun, was sie immer getan haben – sie essen Nüsse und Emsen und springen auf den Bäumen –«

»Daß sie Emsen essen, kann ich nicht billigen. Warum verbietest du es ihnen nicht?«

»Du weißt, sie lassen sich nichts verbieten von mir. Sie wollen nichts von mir wissen. Sie fliehen vor mir und nennen mich den Holzsucher, den Schlangentöter, den Steppenbrenner, den Zauberer.«

»Ich habe auch darüber nachgedacht. Du hast mir erzählt, daß du die große Schlange gesucht hast, und daß sie dich beschützt, daß sie mit dir ist und daß du sie den Deinen bringen wolltest. Aber sie mögen nichts von ihr wissen. Du hast viele Gefahren bestanden und bist über das Wasser geschwommen. Du wolltest die Deinen glücklich machen. Sie aber haben dich verstoßen. Nun sage mir, Homchen wozu das alles? Was wolltest du eigentlich? Ich verstehe es nicht, also versteht es niemand.«

»Und wenn es auch niemand versteht, so mußte ich doch so denken und so handeln. Denn ich habe die Stimmen gehört der guten und klugen Tiere. Es wird eine Zeit kommen, da werden alle die Stimmen hören, und sie werden sie verstehen viel besser als ich, und noch viel mehr vernehmen. Aber die Zeit ist noch nicht da.«

»Du hast es falsch angefangen. Du brauchtest dir nicht so viel Mühe zu geben. Ich bin nicht zur heißen Wolke gewandert, ich habe auf meiner Wiese gesessen, und ich hätte doch die Tiere glücklich gemacht, wenn sie auf mich gehört hätten. Meine Zeit war allerdings auch noch nicht da, aber sie wäre gekommen, wenn – ja wenn – hierüber denke ich eben noch nach.«

»Weiser Iguanodon, diese Zeit wird nicht kommen. Es war eine Zeit, da waren die Echsen gewaltig, und diese ist vorüber. Nun kommt eine Zeit, da werden die Säuger gewaltig, das weiß ich gewiß. Die rote Schlange hat es mir gezeigt. Aber jetzt weiß ich, worin ich sie nicht richtig verstanden habe. Ich habe geglaubt, wenn einer die rote Schlange hört, wenn er das sieht, was einst alle verstehen werden, und das tut, was einst alle tun können, so werde er die Tiere gut und klug machen, so werde er das Neue, das Gewaltige in die Welt bringen, was die Macht gibt und die Freiheit. Und ich habe geglaubt, daß es dabei ankäme auf Wenige, auf Einen, und daß die anderen mitgerissen werden. Aber jetzt weiß ich, das ist falsch.

Der Schnellste mag die Tiere führen, die da laufen können; aber die Pflanzen des Waldes kann er nicht führen, die keine Beine haben, sondern Wurzeln. Meine Genossen werden noch viele, viele Geschlechter im Walde klettern, ehe sie lernen den Stein werfen und die Flamme tragen. Das Kleine wird groß, aber nur ganz langsam. Ich kann nicht die junge Eiche ausstrecken, daß sie groß wird; sie muß, aus sich herauswachsen durch Sommer und Winter. Das Kleine wird nicht groß dadurch, daß das Große hinzukommt; das Große muß aus dem Kleinen werden, durch das viele Kleine, auf dem es stehen kann. Wenn das Viele zu Einem wird, dann wird es groß. Meine Genossen müssen noch lange wachsen, ehe sie das Eine haben, was sie groß macht.«

Der Iguanodon hatte die Augen geschlossen und war ein wenig eingeschlafen. Jetzt, als Homchen schwieg, wachte er wieder auf und sagte:

»Schon gut, schon gut! Du weißt, ich bin kein Freund von langen Reden. Aber was hast du nun davon?«

»Ich habe gesehen, daß die Herrschaft der Echsen vertilgt ist. Ich weiß jetzt, daß ein Raum ist für die Welt, die mir die rote Schlange gezeigt hat. Ich weiß, daß das andere sein kann, was noch nicht ist. Vielleicht ist es nur darum so schön, weil es noch nicht ist. Dann habe ich doch das Schönste erlebt, weil es noch nicht ist. Und ich habe getan, was noch niemand getan hat, ich habe das Feuer getragen. Ich hab' es gehegt in meiner Höhle. Es wird vergehen. Aber einst wird es wiedererstehen, einst –- Dann wird es kluge Tiere geben, die das Feuer nicht fürchten, da wird ein neues Homchen kommen – das braucht vielleicht das Feuer nicht zu nähren in der Höhlung, das kann es vielleicht herauslocken aus dem Stein oder Holz –«

Der Iguanodon bewegte langsam den Kopf:

»Ich habe das Feuer noch nicht gesehen, kein Tier mag es sehen.«

»Die das Feuer nicht fürchten, werden keine Tiere mehr sein, wie wir kleinen Beutler. Ich habe ihre Stimme gehört –«

»Ist denn dein Feuer noch lebendig? Vielleicht bin ich doch das Tier, das kein Tier mehr ist. Ich gehe auf zwei Beinen, ich breche die Äste, ich denke nach. Ich habe nachgedacht. Ich will dein Feuer sehen.«

»Da müßtest du dich beeilen, denn es wird nicht mehr lange brennen. Ich bin nicht mehr kräftig genüg, um die Nahrung genügend herbeizutragen. Bräche der Sturm nicht die trocknen Äste in der Nähe, mein Feuer wäre schon längst verlöscht. Nun kann ich die schweren Äste nicht mehr schleppen. Das Feuer wird sterben. Und dann werde auch ich sterben.«

Homchen saß still und sah mit seinen großen Augen in die Weite. Der Iguanodon richtete sich auf. Er stöhnte, als er sich auf seinen Schwanz stützte. Homchen wußte nicht, was er wolle. Es sprang erschrocken beiseite.

»Fürchte dich nicht!« sagte der Iguanodon. »Du bist ein gutes Tier. Du sollst noch nicht sterben. Und ich will dein Feuer sehen. Ich bin noch stark genug. Ich werde bis an deine Höhle steigen. Sieh diese Arme. Sie sind gewaltig, sie brechen die große Buche am Waldrand. Ich will sie vor deine Höhle tragen, damit dein Feuer Nahrung hat. Zeige mir den Weg.«

Und der alte, steife Iguanodon begann zu schreiten. Langsam, vorsichtig. Zuweilen blieb er stehen. Dann trank er an dem klaren Bach. Homchen sprang voran. Allmählich gelangten sie bis an die Hügel. Homchen zeigte von fern auf die Höhle. Eine schwache Rauchsäule kräuselte sich über den Steinen.

Der Iguanodon sog die Luft ein. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Dann sagte er mit einer seltsamen Stimme:

»Dort wohnt die rote Schlange. Ich will sie sehen. Ich fürchte mich nicht.«

Er schritt auf die alte, vermorschte Buche zu. Er umklammerte den größten Ast. Ein gewaltiger Ruck, ein schweres Stöhnen. Und nun noch ein Ruck. Ein lauter Krach. Der morsche Stamm bricht auseinander, die Äste stürzen, mit ihnen der Iguanodon. Er hatte seine Kraft überschätzt. Er raffte sich auf. Der Schmerz machte ihn wütend. Er vergaß seinen Zustand und faßte den stärksten der Äste und, an nichts denkend als an sein Ziel, stieg er über die Halde gegen die Höhle.

Homchen war vorangesprungen, als es sah, daß der Iguanodon nicht zu halten war. Es wälzte einen Stein fort und warf den Rest seines Reisigvorrats auf das kümmerliche Feuer, daß es wieder hell auflohte. Noch hatte der Iguanodon, mit dem Aste beladen, die Flamme nicht gesehen. Nun war er dicht dabei. Homchen fürchtete, er werde ihm das Feuer zerwerfen, und rief:

»Lege das Holz hin! Du bist nahe am Feuer!«

Da blickte der Iguanodon auf. Die Flamme flackerte licht empor. Seine Augen fielen auf das Wunder – er stutzte einen Augenblick, dann brach er mit dem schweren Aste zusammen.

Sein Körper zuckte vor Schmerz, bald aber ward er ruhig. Den Hals weit vorgestreckt lag er auf dem Boden. Seine Augen richteten sich starr auf die Flamme.

»Ich sehe sie, ich sehe sie, die rote Schlange«, begann er. »Ich fürchte mich nicht. Ich bin das klügste Tier.«

Ein neuer Schauer ging durch seinen Riesenleib. Doch er erhob den Kopf.

»Es ist ein großer Zauber«, sagte er wieder. »Die ihn haben, werden sehr mächtig sein. Ich kann die rote Schlange sehen. Ich bin das Tier, das da kommen wird – ich bin das – glücklichste – Tier –«

Die Augen fielen ihm zu, der Kopf sank zwischen die brechenden Zweige. Der letzte Iguanodon war tot.

Lange saß Homchen vor der Höhle.

Das Feuer brannte langsam weiter, es ergriff den herangeschleppten Baum, es wurde größer und größer – und Homchen konnte nichts dazu tun. Der Iguanodon hatte sich selbst den Scheiterhaufen errichtet.

Das Feuer sollte lange, lange brennen: das hatte er durch seine Riesenkraft gewollt. Nun brannte es rasch und immer rascher. Homchen stieg hinauf auf die Hügel. Und als die Nacht hereinbrach, sah es unten die verglimmende Glut. –

Am Himmel gingen die leuchtenden Geister der Nacht ihren stillen Weg. Statt des Gekrächzes und Geschnarchs der Drachen hörte man das leise Rauschen des kalten Meeres. Aus der Dunkelheit winkte gespenstisch das gebleichte Gerippe der Großechse, ein Denkmal des Vergangenen.

Und die Sterne rückten weiter, und die Zeit ging hin, langsam – ganz langsam.

Homchen schloß die Augen und die geliebten Träume stiegen empor, und leise sprach es:

»Und das rollende Tier kommt doch!«


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