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Die Furcht im Walde

Gerüchte schwirrten durch den Urwald, schreckliche Gerüchte.

Zuerst waren die Käfer gekommen, die bis an den Rand des Drachenmoors schweiften. Brimm summte herum und hatte viel zu tun, denn alle wollten etwas hören. Unruhig liefen und kletterten die Beutler umher, und Graukopf saß sorgenvoll in seinem Baumloch. Die Echsen zürnten, so hieß es, die Echsen hatten Rache geschworen allen Waldtieren. Sie wollten den Wald niederreißen und die Säuger vertilgen. Und das Schlimmste war, man sagte, die Zierschnäbel hätten es gebilligt.

Des Nachts wurden Versammlungen abgehalten und Rat gepflogen, aber niemand wußte, was zu tun sei. Die Jungen freilich meinten, wenn nur Homchen hier wäre, der würde uns schon sagen, wie wir uns der Echsen erwehren sollten. Aber in der Ratsversammlung wurden sie nicht gehört. Dort beriet man nur, wie man die Echsen um Gnade bitten könne.

Homchens Eltern, Knappo und Mea, ließen sich gar nicht mehr sehen. Niemand von den älteren Beutlern kam in die Nähe ihres Baumes, denn sie galten als mitschuldig am drohenden Verderben. Wurde doch alles Unheil auf Homchens Freveltat zurückgeführt, der den Hohlschwanz getötet hatte. Und die Hohlschwänze, hieß es, sollten Tag und Nacht auf der Halde lauern. Nur die Jungen besuchten Knappo und Mea und trösteten sie. Man hatte gehört, Homchen sei nach Süden gewandert, um die rote Schlange zu suchen. Vielleicht brachte er von dort Gnade und Rettung zurück. Und merkwürdigerweise waren auch der Igel und der Taguan verschwunden. Aber vom Taguan schwirrten die Insekten, er sei ebenfalls nach Süden geflogen, um Homchen aufzusuchen.

Als aber Tag auf Tag verging, ohne daß die Echsen etwas von sich hören ließen, da wurden die Beutler wieder ruhiger. Die Blätter der Buchen färbten sich und rauschten leise herab, kalt und naß war der Nebel. Man zog sich zurück und pflegte sein Winterpelzchen.

Es war ein grauer, unheimlicher Tag, die Sonne wollte gar nicht durch die Wolken dringen. Da konnten die Nachttiere nicht recht schlafen, denn es kam ihnen vor, als wäre noch immer Dämmerung. Und manche von ihnen schweiften weiter umher als gewöhnlich und kamen bis an den Fluß dort oben, wo er schmäler wird. Da sahen sie etwas sitzen, jenseits des Flusses, was sie noch nie gesehen hatten. War das ein Flugbeutler, wie der Taguan, war es eine Echse, war es ganz etwas anderes? Ein Zierschnabel? Nein, nur der Kopf sah so aus, sonst aber hatte es ein buntes, lichtes Gewand an und einen weichen, im Winde wehenden Schweif. Und das Tier sang mit lauter, heller Stimme:

»Gelobt sei Homchen, der die große Schlange getötet! Gelobt sei Homchen, der die Schlange fraß. Gepriesen sei Homchen, der Sieger.

Und das Warme wird kalt, und das Kalte wird warm. Und das Kleine wird groß und das Große wird klein! Gepriesen sei Homchen, der Sieger.«

»Was sagt es? Wer ist das?« riefen die Beutler ängstlich untereinander. Und das Tier hob wieder an:

»Die Muscheln sangen's im warmen Meer. Ich fliege umher, ich fliege umher! Ich bin der singende Flieger.

Das Große wird klein, der Berg stürzt ein. Das Kleine wird groß, das Meer bricht los. Gepriesen sei Homchen, der Sieger!

Der auf dem Haupte der Schlange saß, der die große, die mächtige Schlange fraß, gelobt sei Homchen, der Sieger!«

Dann breitete das Tier zwei glänzende Schwingen aus und flog davon. Und aus der Ferne hörten die Waldtiere noch den Gesang.

Nun stürzten sie zurück in den Wald, und alle riefen durcheinander, was sie von dem Wundertier gehört. Und der Ruf pflanzte sich fort und schwoll an durch den Wald und eilte den Tieren voraus durchs Moos des Bodens, durch die Nester der Stämme, durch die breiten Luftschaukeln der Äste. Dann ward er leiser und leiser und sank herab zu einem scheuen Flüstern von Ohr zu Ohr: Homchen hat die Schlange getötet! Die große Schlange, die rote Schlange! Die Berge stürzen, das Meer steigt auf, der Wald erfriert, die Welt geht unter! Wehe, wehe, was hat Homchen getan? Und durch den Wald schritt das Entsetzen.

Vor Meas Nest kamen Homchens Freunde und klagten. Da kroch sie hervor und blickte sie an aus großen starren Augen und sprach:

»Wer brachte die Kunde? Wie klang das Wort?«

Und einer der Jungen sagte: »Ich hab' es selbst gehört von dem Tiere, das sich den singenden Flieger nannte, wie es rief: Gelobt sei Homchen, der die Schlange fraß! Gepriesen sei Homchen, der Sieger!«

Da richtete Mea sich auf und sah verächtlich auf die Schar, die sich angesammelt hatte.

»Ihr Toren, ihr Narren!« rief sie. »Gelobt sei Homchen, gepriesen sei der Sieger! Wenn der Fremde so sang, wie könnt ihr meinen, daß Homchen etwas Böses getan habe? Wer sagt euch, daß es die rote Schlange war? Die rote Schlange kann niemand töten, wie könnt ihr solch sinnlosen Frevel reden? Eine falsche große Schlange, ein Feind der roten Schlange wird es gewesen sein; wie würde sonst der Fremde gerufen haben, daß Homchen gepriesen werde?«

Da zerstreuten sich die Jungen und wußten nicht, was sie denken sollten. Und weil sie nicht verstanden, was geschehen sei, so merkten sie sich nur, daß Homchen gepriesen werde. Homchen hatte etwas Großes, etwas Unerhörtes getan! Gelobt sei Homchen, der Sieger!

Die Alten aber hielten nochmals Ratsversammlung ab und wußten ebenso wenig. Nur die Furcht war aufs neue erweckt vor einem drohenden Unheil; ein dunkles Geheimnis lag in der Luft. Was sollte man tun?

Es kam wieder die Ansicht zum Siege, daß man die Echsen um Gnade anflehen müsse. Da machte der weise Graukopf einen Vorschlag, der allen wohlgefiel. Es solle eine Abordnung gesandt werden an den mächtigen, klugen Iguanodon, die sollte ihn bitten, den Frieden von den Echsen auszuwirken. Aber wer sollte sich hinaus wagen? Das war eine schlimme Sache. Es mußte am Tage sein, denn in der Nacht schlief der Gewaltige. Aber am Tage durften die Nachttiere nicht hinaus vor den Wald. Und so stritt man in der Versammlung bis zum Morgenlicht.

Inzwischen saßen Mea und Knappo in ihrem Neste.

»Der Junge bringt noch Elend über den ganzen Wald«, murmelte Knappo, »durch seinen Leichtsinn ward er zur Flucht gezwungen, und nun weiß niemand, was ihm Schreckliches begegnet ist. Aber ich hab' es ja immer gesagt.«

»Ich glaube es nicht, es kann nichts Schlimmes sein«, wiederholte Mea. »Wie würde sonst das Wundertier seinen Ruhm durch die Welt singen? Glaubst du nicht, daß er vielleicht zurückkehrt? Daß er in der Fremde bereut hat, wieviel Sorgen er uns machte? Daß er lernte, dem Gesetze der roten Schlange sich zu fügen?«

Knappo schwieg. Er fürchtete etwas ganz anderes. Wenn Homchen immer wieder in so fürchterliche Kämpfe sich einließ, mußte er da nicht endlich unterliegen? Und wie mochte es zugehen, daß er so gewaltige Echsen hatte besiegen können? Aber er wollte Mea nicht noch mehr ängstigen. Plötzlich zuckten sie beide zusammen. Draußen zwischen den Baumästen hörten sie etwas rauschen. Knappo lauschte hinaus. Da saß ein Tier vor der Höhlung, das sah sich nach allen Seiten um. Und nun erhob es seine Stimme:

»Hik! Hik! Ist hier die Wohnung von Homchen, der die Schlange tötete?«

»Was ist das?« fragte Mea leise.

»Ich glaube«, antwortete Knappo, »es ist der dumme Taguan. Soll ich ihn hereinlassen?«

»Er fliegt weit umher, vielleicht weiß er etwas von Homchen.

»Bist du der Taguan?« fragte Knappo nach außen.

»Ich bin's. Bist du Homchens Vater?«

»Ja, aber Homchen ist nicht hier. Wir wissen nicht, wo er ist.«

»So kommt heraus, drinnen kann ich mich nicht aufhängen, und ich bin müde. Ich bin weit umhergeflogen, ich war im Süden und ich habe den singenden Flieger gesprochen. Kommt heraus, ich habe euch etwas zu sagen.«

Knappo und Mea setzten sich auf den Ast vor ihrem Neste, der Taguan hatte sich schon an seinem Schwanze aufgehängt.

»Was weißt du von Homchen?« rief Mea ängstlich. »Ist er gesund?«

»Hört zu«, sagte der Taguan. »Wo Homchen jetzt ist, weiß ich nicht. Er ging noch weiter nach Süden, da hat ihn der singende Flieger gesehen, der eilig aus seinem Tale fliehen mußte. Denn die Erde zitterte, und roter, glühender Schlamm floß in das Tal, wo der Flieger wohnt. Homchen aber saß nahe an dem weißen Berge, über dem die heiße Wolke schwebt, und aus dem Berge kam Feuer und roter Schlamm. Der Flieger eilte vorbei und weiß nicht, was aus Homchen geworden.«

»Quih! Quih!« rief Mea. »Wenn du nichts Besseres weißt!«

»Doch, ich weiß Besseres. Fürchtet nicht für Homchen, denn die rote Schlange beschützt ihn. Der Flieger erzählte mir noch mehr. Da flog ich selbst bis zum warmen Meere, wo die Muscheln wohnen, da hörte ich den Sang des Meeres, da sah ich den Kopf der Schlange, die Homchen getötet hat. Und der Kopf allein war viel größer als das ganze Homchen. Wie konnte Homchen den großen Python töten, vor dem das weite Meer sich fürchtet, wenn ihn nicht die rote Schlange bestimmte, daß er das Wunderbare vermag? Und die Muscheln priesen Homchen und sangen, er sei zwar klein, aber er werde groß. Und es werde alles anders in der Welt. Da blickte ich hinüber zu dem Berge, wo die heiße Wolke wohnen sollte, und erschrak. Denn ganz schwarz schwebte es über dem Berge und Blitze zuckten und Donner rollte. Und noch während ich dort war, rauschte und brauste es furchtbar, und über die Meeresbucht kam ein dunkler Wall, das war Wasser, eine hohe Wand, und stürzte über das Riff und raste auf den Wald zu, und ich floh schnell zurück bis auf die Felswand hinter dem Walde. Von dort sah ich, wie das Meer alles überschwemmte, wo der große Wald war. Aber dort, wo das Riff gewesen, da streckte sich jetzt wüstes Feld von Trümmern und Gestein bis an die Felswand, und als man hinübersehen konnte zum weißen Berge, da war die Hälfte des Berges verschwunden. Und noch immer bebte die Erde. Da flog ich zurück, um euch zu erzählen, wie die Welt einstürzt.«

»Und Homchen«, rief Mea, »was ist da aus Homchen geworden, der am Berge war?«

»Homchen wird wohl nicht auf der Seite des Berges gewesen sein, die einstürzte. Ich sagte schon, sorge nicht um Homchen.«

»Was du auch sagst, ich muß doch sorgen.«

»Und von den Echsen, was hast du gehört?« fragte Knappo.

»Ich vermied das Moor, ich weiß nicht, was sie jetzt tun. Aber das weiß ich, daß sie beschlossen haben, den Wald zu brechen und die Säuger zu tilgen. Der Iguanodon soll ihr Anführer sein.«

»Die Unsern halten Rat draußen. Sie wollen zum Iguanodon; sie wollen um Gnade flehen.«

»Das wird nichts nutzen. Was ist Gnade? So etwas mögen Säuger üben, Echsen wissen nicht, was das ist. Echsen tun, was ihnen gefällt. Ich bin gekommen, um euch zu raten, ich will euch sagen, was ihr tun müßt. Verlaßt den Wald! Zieht alle zusammen hinaus nach Süden zu. Dort gibt es noch größere, schönere Wälder als hier. Da haben die Bäume bunte, duftende Büschel und süße Früchte, so viel ihr wollt. Da braucht ihr nicht mühsam harte Nüsse zu knacken, denn weiches, zartes Fleisch wächst, um die Kerne, und eure Zähne braucht ihr nicht zu wetzen. Und Ameisen wohnen in großen Häusern, das ganze Jahr reifen die Früchte. Denn kein kalter Nebel weht um die Äste, mild und lau ist die Luft; die Sonne scheint warm am Tage, aber unter den dichten Bäumen ist es dunkel und schattig. Dort sollt ihr hinziehen, wo keine Echsen hinkommen. Dort sollt ihr wohnen ohne Furcht und Kampf! Wandert fort von hier!«

»Fort von hier?« sagte Mea nachdenklich. Aber Knappo rief lebhaft:

»O Taguan, wer hätte gedacht, wie weise du raten kannst! Ja, laß uns in den warmen Wald mit den süßen Früchten wandern. Hier können wir doch nicht bleiben. Warum hat niemand daran gedacht?«

Der Taguan schmunzelte. »Sie wissen nichts von der Welt«, sagte er. »Sie sind nicht hinausgekommen über diese Eichen und Buchen und die harzigen Fichten.«

»Ich will zur Versammlung«, rief Knappo, »ich will ihnen sagen, was der Taguan rät.«

»Und ich will dich begleiten«, sagte der Taguan.

Sie brachen auf. Aber als sie an die gewohnte Stelle kamen, wo man die Versammlung abhielt, fanden sie niemand der Alten mehr da. Man hatte sich nicht einigen können, wer zum Iguanodon gehen sollte, und so ward beschlossen, daß die ganze Versammlung an den Waldrand ziehe. Beim Morgengrauen, wenn der Iguanodon zur Weide ginge, dann wollten sie ihn anreden, ob er sie höre. Dort saßen sie alle ängstlich auf den Baumästen und warteten, bis die Sonne und der Iguanodon sich zeigten.


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