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22. Kapitel

Der Instruktor von Bozen

Durch die engen Felsschluchten des Eisacktales brauste der von Wien kommende Schnellzug nach Süden und überholte die schäumenden Fluten des wild dahinstürmenden Baches. Der größere Teil der Fahrgäste drängte sich an den Fenstern, um das von der klaren Septembersonne vergoldete Naturschauspiel zu genießen. Einer jedoch, offenbar kein Fremder in dieser Gegend, kümmerte sich wenig darum. Er saß in eine Ecke gelehnt, mit geschlossenen Augen in seine Gedanken versunken, unter denen seine Stirn sich von Zeit zu Zeit zu sorgenvollen Falten zusammenzog. Dann blickte er nach seiner Uhr, als ob der Zug ihn nicht schnell genug seinem Ziel zuführe.

»Noch zehn Minuten«, murmelte er.

Aus der Brusttasche seiner Joppe zog er einige Papiere, ein Telegramm und eine Zeitung. Er hatte sie schon oft gelesen, dennoch blickte er wieder hinein, als könnten sie ihm noch etwas Neues sagen.

Das Telegramm war von einem seiner Freunde und enthielt nur die Worte: »Komme sofort zu Deiner Mutter, sie bedarf Deiner.«

Die Zeitung war, wie das Telegramm, schon einige Tage alt. Aber er hatte sie erst zu Gesicht bekommen, als er gestern von einer vierzehntägigen Studienreise in einsamen Gebirgsgegenden nach Lienz zurückgekehrt war. Sie enthielt die neuen Verordnungen, welche das Kultoramt in Berlin mit Ermächtigung der Residenten in Berlin, Wien und Bern und unter Bestätigung der Regierungen in der vorigen Woche erlassen hatte.

Die Schwierigkeiten, auf welche die Martier bei der deutschen Regierung in bezug auf das Gesetz zum Schutz der individuellen Freiheit gestoßen waren, hatten den Protektor der Erde darauf geführt, sie in künftigen Fällen auf eine sehr einfache Weise zu umgehen. Er hatte gefunden, daß Bestimmungen über Beziehungen der Menschen zu den Numen und Einrichtungen der Nume gar keiner Gesetzgebung durch die Erdstaaten bedürfen, sondern auf dem Verordnungsweg durch die Residenten erlassen werden können. Die Regierungen aber mußten, wie gern sie es auch abgelehnt hätten, sich der Macht beugen und ihr Ja dazu geben. Sie taten es immerhin lieber, als sich einem Beschluß der Opposition in den Parlamenten zu fügen.

Die Verordnung hatte im allgemeinen Mißstimmung hervorgerufen. Sie bestimmte nämlich, daß jeder Mensch, ohne Unterschied des Alters, sich einer von den Bezirksinstruktoren zu beaufsichtigenden Impfung unter Leitung martischer Ärzte zu unterziehen habe. Bis diese vollzogen sei, dürfe kein Ungeimpfter sich einem Numen bis zu einer gewissen Distanz nähern, keine von Numen bewohnte Räume betreten und die Luftschiffe und Fahrzeuge der Martier nicht benutzen. Zuwiderhandlungen waren mit strengen Strafen bedroht.

Die Bestimmungen waren lediglich in Rücksicht auf die Menschen getroffen, um sie vor den drohenden Verwüstungen der Gragra zu schützen. Aber man hatte sich gescheut, diesen Grund anzugeben, weil man fürchtete, dadurch eine größere Beunruhigung und Unzufriedenheit zu erregen als durch die Maßregel selbst; man hatte die Impfung nur durch einen allgemeinen Hinweis auf Besserung des Gesundheitszustandes begründet. Der Beschluß war von den europäischen Residenten gegen Ells Stimme gefaßt worden, der eindringlich vor einem derartigen despotischen Eingriff gewarnt hatte. Doch hatte sich bei den maßgebenden Numen auf der Erde mehr und mehr die Ansicht herausgebildet, daß man die Menschen nur durch Anwendung von Zwang zu ihrem Besten leiten könne. Ell fühlte sich durch den Beschluß sehr bedrückt, hatte sich aber der Majorität fügen müssen.

Saltner steckte das Blatt kopfschüttelnd wieder ein.

»Es muß da noch etwas im Hintergrund liegen, worüber sie nicht mit der Sprache herauswollen«, dachte er bei sich. »Aber eine sakrische Dummheit bleibt's doch, die ich dem Ell nicht zugetraut hätte. Oder vielleicht doch. Wie er sich damals aussprach«

Er dachte an jene Stunde bei La, in der er sich gegen Ells Pläne zur gewaltsamen Erziehung der Menschen aufgelehnt hatte. Und er sah die Geliebte wieder vor sich mit der feinen Stirn unter dem schimmernden Haar, er sah den tiefen Blick der dunklen Augen in zärtlicher Achtung auf sich gerichtet und fühlte die unvergeßlichen Küsse auf seinen Lippen. Wo mochte sie weilen? Ob sie seiner gedachte? Ob sie wußte von dem Leid, das über die Menschen gekommen war, ob sie es mit ihm fühlte? Verloren! Verloren!

Aus seinen Träumen weckte ihn der Pfiff der Maschine. Die Berge waren zurückgewichen, grüne Hügel, auf denen Trauben und Kastanien reiften, zogen sich zur Seite. Die Passagiere suchten ihr Handgepäck zusammen, und der Zug hielt auf dem Bahnhof in Bozen.

Saltner stieg aus und drängte sich eilig durch die Menge. Am Ausgang fiel ihm ein Plakat auf, das durch seine gelbrote Farbe schon weithin als eine amtliche Bekanntmachung des martischen Bezirksinstruktors kenntlich war. Er blieb stehen und las. Zuerst war die allgemeine Verordnung über die Impfung mitgeteilt, die er schon kannte. Daran aber schlossen sich spezielle Bestimmungen über den hiesigen Bezirk, Er traute seinen Augen nicht. Nach Angabe von Einzelheiten über die Ausführung der Impfung, die in den und den näher bezeichneten Lokalen stattfinde, stand da: Die als Bescheinigung der vollzogenen Impfung erteilte Marke ist sichtbar an der Kopfbedeckung zu tragen. Wer sich ohne dieselbe einem Numen auf mehr als sechs Schritt annähert, wird mit fünfhundert Gulden Geldbuße oder entsprechendem Aufenthalt im psychologischen Laboratorium bestraft. Unterredungen mit dem Instruktor finden nur noch telephonisch statt. Jeder Anordnung eines Numen gleichviel, worauf sie sich beziehe, ist ohne Widerspruch Folge zu leisten. Den Numen steht das Recht zu, Menschen, welche sich ihnen ohne Erlaubnis nähern, mit der Telelytwaffe zurückzuweisen. Das Halten von Haustieren in menschlichen Wohnungen wird nochmals aufs strengste untersagt.

Saltner ballte die Faust. Er wandte sich an einen neben ihm stehenden Herrn und sagte: »Der hiesige Instruktor ist wohl verrückt geworden?«

»Das ist schon recht«, antwortete der ernsthaft.

»Und das lassen Sie sich gefallen? Wie heißt denn der Kerl?«

»Der heißt Oß.«

»Der Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie sich denn noch nicht in Berlin beim deutschen Kultor beschwert?«

»Das wird geschehn. Aber es dauert halt eine Weile, und die Verordnung ist erst von gestern.«

»Aber wenn Sie telegraphieren oder telephonieren?«

»Das wird nicht zugelassen. Es ist schon einer nach Innsbruck gereist, aber sie haben's auch dort nicht zugelassen. Sie meinen, die Nume stecken halt alle unter einer Decke, und wenn es auch der Kultor erfährt, so wird es doch nichts nutzen.«

»Es wird nutzen, das können Sie mir glauben. So etwas hat sich keiner herauszunehmen und nimmt sich auch keiner woanders heraus. Das ist nur eine Verrücktheit von diesem Oß, und der wird sehr bald abgesetzt sein.«

»Das mag schon sein, so lange halten wir's wohl aus. Aber die Hauptverordnung bleibt doch bestehen, und dagegen ist nichts zu machen. Ich mein' so, den Oß werden sie schon wegjagen, vielleicht gar bald, denn der Herr Bezirkshauptmann reist heute nach Wien und wenn nötig nach Berlin. Aber inzwischen müssen wir folgen. Denn wenn sich einer was gegen den Oß herausnähme und es ginge auch nachher dem Oß schlecht, so ginge es uns doch noch schlechter. Wir würden wegen Aufruhr nach Afrika oder sonstwohin geschickt. Also lassen wir's lieber. Habe die Ehre!«

Damit lüftete er den Hut und wollte sich entfernen. Gleich darauf wandte er sich jedoch zurück und sagte mit einem fragenden Blick: »Verzeihen Sie, ich irre mich doch wohl nicht, sind Sie nicht der Herr von Saltner?«

»Mein Name ist Saltner.«

»Dann nehmen Sie's nicht übel, wenn ich mir einen Rat erlaube Sie sind ja doch auf dem Mars gewesen, und da muß wohl irgend etwas passiert sein, nehmen Sie sich nur vor dem Oß in acht, ich weiß, daß der sich schon mehrfach erkundigt hat, ob Sie nicht hier sind der muß irgend etwas gegen Sie haben. Lassen Sie sich lieber nicht hier sehen, es kann ja nur ein paar Tage dauern, bis der Mann abgesetzt ist.« Und vertraulicher fuhr er fort: »Sie haben ja vollständig recht, ich weiß, daß diese Bekanntmachung zu Unrecht besteht und der Oß den Erdkoller hat ich bin nämlich der Doktor Schauthaler.«

»Ach, jawohl«, sagte Saltner, »ich erinnere mich jetzt sehr wohl, entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte.«

»Bitte sehr. Nun also, solche Ausschreitung wird ja rektifiziert werden. Aber lassen wir uns dadurch zu irgendeiner eigenmächtigen Handlung hinreißen, so würde uns das trotzdem sehr schlecht bekommen. Deswegen versuch ich mein Möglichstes, unsre Mitbürger zu beruhigen. Wenn Sie indessen etwas tun wollen, so bringen Sie sich selbst in Sicherheit, bis der Mann hier keine Gewalt mehr hat; vorläufig hat er sie nun einmal, und Sie sind dagegen ohnmächtig. Sie sind ja doch mit dem Herrn Kultor befreundet, reisen Sie sofort zu ihm in zehn Minuten kommt der Blitzzug von Venedig, das Luftschiff dürfen Sie jetzt nicht benutzen aber auch so sind Sie morgen in Berlin«

»Ich danke Ihnen sehr für den Rat, Herr Doktor, nur kann ich ihn leider nicht sogleich befolgen. Ich habe hier zunächst unaufschiebbare Geschäfte. Aber ich werde dann«

»Dann, Herr von Saltner, dann? Sie wissen nicht, ob Sie dann noch ein freier Mann sind«

»Das wollen wir doch sehen! Da können Sie ganz unbesorgt sein!«

»Was nützt es Ihnen, wenn der Oß in ein paar Tagen vor das Disziplinargericht gestellt wird, und Sie sind inzwischen irgendwie verunglückt?«

»Ich verunglücke nicht so leicht. Aber was will denn der Mann von mir?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur privatim durch den Bezirkshauptmann, daß Sie gesucht werden, aber amtlich ist es nicht. Es muß irgend etwas sein, worüber der Oß vorläufig nicht reden will.«

Saltner runzelte die Stirn.

»Nun, wie gesagt, ich danke Ihnen und will mich vorsehen. Jetzt entschuldigen Sie mich, ich darf nicht länger zögern.«

Er schritt eilend durch die Straßen der Stadt, ohne auf die Umgebung zu achten. Was konnte dieser Oß von ihm wollen? Wo hatte er ihn gesehen? Oß war ja der Name des Kapitäns gewesen, auf dessen Raumschiff Meteor Saltner die Reise nach dem Mars gemacht hatte, und dann war er ihm manchmal in Frus Haus begegnet. Sollte es derselbe sein? Er hatte sich mit ihm ganz gut unterhalten, und der tüchtige, wenngleich etwas selbstbewußte Mann war mit La und Se immer sehr vertraut gewesen. Mit Se? Sein Gewissen schlug ihm. Das war das einzige, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, die Belauschung der Schießversuche und die Flucht aus dem als Ziel dienenden Schiff. Aber dann hätte ihn Se verraten müssen, das war unmöglich, ganz unmöglich.

Saltner hatte die Stadt durchschritten und betrat die Brücke, welche über die Talfer führt. Drüben, jenseits des Flusses, wohnte seine Mutter. Sie war diesmal schon früher als sonst von dem kleinen Häuschen, das sie oben in den Bergen besaß, in die Stadt herabgezogen, er selbst hatte noch den Umzug mit ihr besorgt und war dann auf eine Studienreise gegangen. Was war nun geschehen?

Es fiel ihm auf, wie leer die Brücke war, auf der sonst um diese Zeit, gegen Abend, ein reger Verkehr herrschte. Als er die Mitte überschritten hatte, blieb er stehen und wandte sich nach alter Gewohnheit rückwärts, um einen Blick auf das entzückende Panorama zu werfen. Freudig hing sein Auge, über die altertümlichen Giebel der Stadt wegschweifend, an den rötlich schimmernden Zacken und Zinnen der Dolomiten, die der Rosengarten kühn in die Luft streckte, und seine Seele schwebte über den freien Höhen. Aber er durfte nicht lange weilen. Die Sorge um die Mutter trieb ihn vorwärts.

Wenige Schritte hatte er zurückgelegt, als ihm einige Leute entgegenkamen, die eilend an ihm vorüber der Stadt zuschritten und ihn durch Winke zur Umkehr aufforderten. Er achtete nicht darauf, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf einen seltsamen Aufzug, der jetzt aus den Talfer-Anlagen herauskommend die Brücke betrat. Eine Anzahl Neugierige, halbwüchsige Jungen, liefen voran, hielten sich aber immer in respektvoller Entfernung. Dann folgte auf einem Akkumulator-Dreirad ein Martier mit seinem diabarischen Glockenhelm, ein riesiger Bed oder Wüstenbewohner, der hier ähnliche Dienste verrichtete wie die Kawassen der Konsuln in der Türkei. Er schwang ein langes Rohr mit einem Fähnchen in der Hand, womit er die Begegnenden bedeutete, schleunigst zur Seite zu weichen. Darauf folgte ein vierrädriger elektrischer Wagen, auf dessen Polster in bequemer Stellung der Instruktor und zur Zeit Tyrann von Bozen, der Nume Oß, ruhte, ebenfalls von dem Glockenhelm gegen die Erdschwere geschützt. Den Beschluß bildete wieder ein Bed auf seinem Dreirad.

Saltner erkannte auf den ersten Blick, daß er wirklich seinen alten Bekannten, den ehemaligen Kapitän des Raumschiffs Meteor, vor sich hatte. Er trat zur Seite in die halbkreisförmige Ausbuchtung eines Brückenpfeilers, um den Zug an sich vorüberzulassen. Dem voranfahrenden Bed erschien jedoch die Entfernung noch nicht genügend, er winkte mit seiner Fahne und rief sein eintöniges: »Entfernt euch!« Saltner blieb ruhig stehen. Er streckte den linken Arm gegen den Bed aus und wandte ihm die Handfläche mit gespreizten Fingern zu. Der Bed stutzte. Das war ein nur bei den Numen gebräuchliches Zeichen und bedeutete ungefähr soviel als: »Dein Auftrag geht mich nichts an, ich besitze eine weitergehende Vollmacht.« Dann rief er ihm auf martisch in entschiedenem Ton zu: »Fahr zu, ich bin ein alter Freund deines Herrn.«

Der Bed wußte nicht recht, was er davon denken sollte, ließ sich jedoch in der Meinung, es vielleicht mit einem Numen zu tun zu haben, einschüchtern und fuhr weiter. Saltner, den sein Stolz verhindert hatte, sich fortweisen zu lassen, wollte doch lieber die Begegnung mit Oß vermeiden und blickte über das Geländer der Brücke in die Landschaft, indem er dem Wagen den Rücken zukehrte. Oß dagegen hemmte den Wagen und herrschte Saltner an:

»Kann der Bat nicht grüßen!«

Saltner trat jetzt ohne weiteres auf den Wagen von Oß zu, grüßte höflich nach martischer Sitte und sagte, ebenfalls martisch sprechend, ganz unbefangen:

»Es freut mich sehr, einem alten Bekannten zu begegnen. Wie geht es Ihnen, Oß?«

Dabei sah er ihn, die Augen soweit wie möglich aufreißend, unverwandt an.

Oß hatte Saltner sofort erkannt. In seinen Augen blitzte es unheimlich, indem er seinen Blick auf Saltner richtete, als ob er ihn niederschmettern wolle. Aber Saltner kannte die Augen der Nume. Dieses unruhige Funkeln war nicht der reine Blick des Numen, aus dem der sittliche Wille sprach, er war getrübt von etwas Krankhaftem, Selbstischem und besaß nicht mehr die Kraft, den des Rechts sich bewußten Menschenwillen zu beugen. Er hielt den Blick aus, während Oß in hochmütigen Worten ihn anherrschte:

»Was fällt dem Bat ein? Wer sind Sie? Wissen Sie nicht, daß Sie sich sechs Schritt entfernt zu halten und überhaupt nicht mit mir zu reden haben? Entfernen Sie sich sofort, oder«

Er griff nach dem Telelytrevolver in seiner Tasche.

Saltner trat jede Bewegung von Oß genau im Auge behaltend, vorläufig einen Schritt zurück und sagte laut, jetzt auf deutsch, von dem er wußte, daß Oß, wie jeder Instruktor im deutschen Sprachgebiet, es verstand, so laut, daß es bis zu den Neugierigen vor und hinter dem Zug schallte:

»Sie scheinen mich nicht mehr kennen zu wollen. Gestatten Sie, daß ich Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Mein Name ist Josef Saltner, Ehrengast der Marsstaaten auf Beschluß des Zentralrats mit allen Rechten des Numen, und hier ist mein Paß, lautend auf zwei Marsjahre, unterzeichnet von Ill, zur Zeit Protektor der Erde. Bitte, mit dem gehörigen Respekt zu betrachten.«

Er zog aus seiner Tasche das nach Art der Marsbücher an einem Griff befindliche Täfelchen und ließ es aufklappen.

»Der Paß ist noch nicht abgelaufen«, sagte er darauf leiser, »ich denke, Sie lassen jetzt das Ding stecken. Erkennen Sie mich nun wieder?«

Dabei trat er unmittelbar an den Wagen heran. Er sah, welche Überwindung es Oß kostete, sich zu bezwingen, aber diesem Dokument gegenüber blieb ihm kein anderer Ausweg. Oß versuchte jetzt möglichst unbefangen zu lächeln und sagte:

»Ach, Sie sind Sal entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte. Das ist etwas anderes. Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Aber warum beehren Sie mich nicht in meinem Haus? Hier auf der Straße bin ich gezwungen, sehr vorsichtig zu sein, Sie werden ja wissen«

»Die Begegnung überraschte mich, entschuldigen Sie daher diese formlose Begrüßung auf der Straße. Ich konnte nicht annehmen, daß der Unterzeichner jener Verordnung identisch sei mit dem Oß, den ich«

»Herr, Sie sprechen in einem Ton, den ich zurückweise.«

»Das nützt Ihnen nichts. Sie wissen so gut wie ich, daß derartigen Befehlen niemand Folge zu leisten braucht.«

»Ich verbitte mir alle Einmischung in meine Angelegenheiten. Ich bin hier der alleinige Befehlshaber und werde Ihren Widerspruch bändigen. Wenn Sie auch durch Ihren Paß dagegen geschützt sind, von meiner bisherigen Verordnung getroffen zu werden, so hindert mich doch nichts, über Sie selbst einen speziellen Befehl auszusprechen, so lange Sie sich in dem mir unterstellten Bezirk befinden. Merken Sie sich das. Ich habe Sie im Verdacht, gegen amtliche Anordnungen aufzuwiegeln. Sie werden sich deshalb noch heute zu verantworten haben.«

Ohne Saltner Zeit zu einer Antwort zu lassen, hatte Oß bereits seinen Wagen in Gang gesetzt und fuhr davon. Saltner blickte ihm spöttisch nach und schritt dann eilig weiter. Wenige Minuten später stand er vor dem Haus seiner Mutter. Es war ein altes, nicht großes Haus. Im unteren Stockwerk wohnte Frau Saltner mit ihrer Bedienung, einer älteren Frau. Das obere wurde im Winter an Kurgäste vermietet, war aber jetzt noch unbesetzt. Saltner hatte den Hausflur schnell durchschritten und die Tür des Wohnzimmers geöffnet. Es war leer. Der Platz an dem nach dem Garten sich öffnenden Fenster, an dem seine Mutter den größten Teil des Tages zu sitzen pflegte, war unbesetzt. Saltner erschrak. Sollte sie krank sein und zu Bett liegen? Er schaute vorsichtig, um nicht zu stören, in das Schlafzimmer, aber auch hier war niemand. Besorgt durchsuchte er nun das ganze Haus, weder seine Mutter noch ihre alte Magd und Gehilfin, die Kathrin, waren zu finden. Aber auch der Karo, der Hund, war nicht da, der sonst jeden Kommenden durch sein Gebell anmeldete und ihm sicher zuerst entgegengesprungen wäre. Wären die Frauen beide ausgegangen, so hätten sie gewiß das Haus verschlossen. Doch vielleicht waren sie nur auf einen Augenblick in den Garten gegangen. Eben wollte sich Saltner Gewißheit holen, als sich die Hintertür des Hauses öffnete und die Kathrin hereintrat. Der Korb mit Obst, den sie trug, entfiel fast ihren Händen, so schnell setzte sie ihn zu Boden, als sie Saltner erblickte.

»Gelobt sei die heilige Jungfrau!« rief sie aus. »Da ist ja der Herr Josef.«

»Grüß Gott, Kathrin«, sagte Saltner. »Wo ist denn die Mutter? Es fehlt ihr doch nichts?«

Die Dienerin brach sogleich in einen Tränenstrom aus.

»Sie haben sie ja, sie haben sie ja!« rief sie unter Schluchzen.

»Was haben sie denn? So reden Sie doch schon! Kommen Sie hier herein, Kathrin, und reden Sie vernünftig.«

Die Frau trat in das Zimmer, aber aus ihrem von Weinen unterbrochenen Redeschwall konnte Saltner zunächst nichts verstehen als unzusammenhängende Worte, wie »mit dem Karo hat's angefangen«, »in den Arm wollen sie stechen«, »den Hund haben's genommen«, »mich wollen's auch impfen«, »sie haben sie«, »im Laboratorium« und »wenn sie der Herr Josef nicht schnell herausholt, so werden sie sie doch noch braten« und »fünfhundert Gulden sollt' sie zahlen«. Endlich beruhigte sie sich soweit, daß Saltner über den Zusammenhang allmählich klar wurde.

»Mit dem Karo hat's angefangen.« Die Hunde waren den Numen ein Greuel. War ihnen schon die Berührung mit Tieren überhaupt ein Zeichen der Barbarei, so waren ihnen die Hunde wegen ihres ekelhaften Treibens auf der Straße und ihres abscheulichen Gekläffs ganz besonders verhaßt. Sie machten ihnen den Aufenthalt auf der Erde um so unleidlicher, als sie auch ihrerseits gegen die Martier eine besondere Abneigung zu haben schienen und sie überall mit ihrem Gebell verfolgten. Es waren deswegen schon überall einschränkende Bestimmungen über das Herumtreiben der Hunde auf der Straße ergangen. Oß aber hatte kurzen Prozeß gemacht, nachdem er einmal von einem Hund angefallen worden war, und die Tötung aller Hunde befohlen. Dies war kurz nach Saltners Abreise geschehen, und das erste Zeichen der bei Oß im Ausbruch begriffenen nervösen Überreizung gewesen. Die Polizeimannschaften führten den Befehl möglichst langsam und absichtlich ungeschickt aus und wußten es so einzurichten, daß viele ihre Lieblinge rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Das Haus von Frau Saltner hatte sich aber Oß einmal zeigen lassen und dabei den Hund bemerkt, ja, er hatte dann gefragt, ob denn das Vieh noch nicht totgeschossen sei. So mußte der arme Karo als ein Opfer zur Zivilisation der Menschheit fallen. Das hatte nun die Frauen, die innigst an dem Hund hingen, in größte Aufregung versetzt. Frau Saltner war ganz melancholisch geworden und wurde von einer krankhaften Ängstlichkeit ergriffen, sobald jemand in das Haus trat.

Nun war die Verordnung über das Impfen gekommen. Unglücklicherweise war ihr Straßenviertel das erste gewesen, in welchem die Impfung vollzogen wurde. Sie stellte sich dies als eine fürchterliche Operation vor und schickte zu einem Freund Saltners, um sich Rat zu holen, was sie tun solle. Alle seine Vorstellungen waren vergebens, sie ließ sich nicht bereden, ebensowenig wie Kathrin, zu dem Termin zu gehen, und der Freund wußte nichts Besseres zu tun, als an Saltner zu telegraphieren. Inzwischen war der Termin verfallen, und Frau Saltner wie ihre Dienerin wurden zu je fünfhundert Gulden Strafe verurteilt. Nun gab es erst recht ein großes Wehklagen, das Geld war, zumal in Saltners Abwesenheit, nicht zur Stelle zu schaffen, und die beiden Frauen sollten in das psychophysische Laboratorium zur Abbüßung der Strafe und zur Vollziehung der Impfung abgeholt werden.

Die Beamten, welche die Anordnungen des Instruktors nur widerwillig vollzogen, hätten es gern gesehen, wenn die Frauen sich auf irgendeine Weise unsichtbar gemacht hätten. Und als sie endlich in das Haus traten, hatte sich auch Kathrin versteckt und war nicht zu finden. Frau Saltner aber saß auf ihrem Platz und sagte nur: »Ich bin eine alte Frau und geh nicht eher hier fort, bis mein Sohn kommt. Ihr könnt machen, was ihr wollt.«

Da sie keine andre Antwort erhielten und gegen die alte Frau, noch dazu die Mutter eines in der ganzen Umgegend gekannten und beliebten Mannes, keine Gewalt brauchen wollten, entfernten sie sich wieder und brachten irgendeine Entschuldigung vor. Es war aber, als ob der Instruktor alles heraussuchte, womit er Saltner Kränkungen bereiten konnte, so daß er sich persönlich um die Einzelheiten kümmerte, wenn Saltner in Frage kam. Er schickte einen der Assistenten des Laboratoriums, einen jungen Nume, der hier seine Studien machte, mit seinen beiden Beds ab, und Frau Saltner wurde in einem Krankenstuhl in das Laboratorium geschafft.

»Sie haben es gewagt, diese Schufte?« rief Saltner wütend. »Eine fast siebzigjährige Frau! Und das nennt sich Nume! Und was hat denn die Mutter gesagt?«

»Gar nichts hat sie gesagt«, antwortete Kathrin unter neuem Schluchzen, »als nur immer, mein Josef, mein armer Josef, und, ich überleb's nimmer, und geweint hat sie, aber gesagt hat sie nichts mehr.«

Saltner stand stumm und überlegte, was zu tun sei. Die Tränen traten ihm in die Augen, wenn er an die Angst dachte, die seine Mutter ausstand. Er wußte ja, daß ihr tatsächlich nichts geschehe, daß man sie als eine Kranke behandeln würde und sie vielleicht sicherer aufgehoben sei als zu Hause. Denn wenn auch Oß unzurechnungsfähig war, der Leiter des Laboratoriums war ein Arzt, ein wohlwollender Mann, der seine Aufgabe ernst im Sinn von Ell nahm, und die Strafanstalt, als welche das Laboratorium diente, mit Rücksicht auf jeden individuellen Fall leitete. Aber die Angst, die Furcht, die Vorstellungen, die sich seine Mutter machen mochte, und die Kränkung! Das konnte wirklich ihr Tod sein. Nicht eine Stunde länger wollte er sie in dieser Besorgnis allein lassen, er mußte sie herausholen.

Kathrin begann aufs neue zu jammern.

»Ist es denn wahr, Herr Josef, im Laboratorium, daß die Leute da gebraten werden«

»Reden Sie nicht so dummes Zeug, Kathrin, gar nichts geschieht ihnen, als daß sie ein bißchen beobachtet werden, wie der Puls geht, wenn sie so oder so liegen, oder wenn sie kopfrechnen«

»Kopfrechnen, Jesus Maria, das könnt' ich nun schon gar nicht.«

»Jedenfalls seien Sie still, und hören Sie, was ich sage, aber passen Sie genau auf. Ich werde jetzt gleich die Mutter holen.«

»Ach Herr Josef, Sie werden sich doch nicht dahin wagen!«

Aber Saltner sprach nicht sogleich weiter. Er ging im Zimmer auf und ab, während Kathrin lamentierte, und dachte seinen Entschluß genau durch. Er dachte an die Warnung Schauthalers und an die Begegnung mit Oß und sagte sich, daß er selbst keinen Augenblick sicher sei. Aber die Mutter durfte er nicht ohne die größte Gefahr für ihre Gesundheit länger in ihrer Angst und Einsamkeit lassen. Er mußte sie und zugleich sich in Sicherheit bringen. Er war in Sicherheit, sobald er das Gebiet verlassen hatte, das Oß unterstellt war. Die Instruktoren der Nachbargebiete würden solchen ungesetzlichen Forderungen nicht nachgeben, außerdem konnte er sich auch einige Zeit im verborgenen halten. Er mußte sich nur hüten, etwas zu tun, was von der Oberbehörde der Nume aus verboten war, denn dadurch hätte er sich auf der ganzen Erde der Verfolgung ausgesetzt. Sonst aber kam es allein darauf an, den Bezirk von Oß zu vermeiden, bis dieser abgesetzt war. Dieser Bezirk erstreckte sich über das westliche Südtirol, fiel aber nicht mit der österreichischen Landesgrenze zusammen, sondern reichte nur bis an die Grenzen des deutschen Sprachgebiets. Diese lief in wenigen Stunden Entfernung im Westen, Süden und Osten über die Berge. Dahinter war italienisches Sprachgebiet, das einem Kultor in Rom unterstand. Über diese Grenze mußte er zunächst und auf der Stelle.

Saltner ging an die Haustür, die er verschloß, ebenso verschloß er, soweit dies Kathrin nicht schon getan hatte, die Fensterläden. Aus einer Kassette in seinem Schreibtisch nahm er Papiere, die er zu sich steckte. Dann ging er in den Garten und rief die Dienerin zu sich.

»Kathrin«, sagte er, »nun seien Sie ganz still und tun Sie genau, was ich sage. Ich werde die Mutter und Sie in Sicherheit bringen, aber wenn Sie nicht genau alles tun, kommen Sie doch noch ins Laboratorium. Schon gut! Jetzt gehen Sie aber hier hinten zum Garten hinaus zum Rieser und sagen ihm, er möchte sogleich einspannen und mit dem Wagen hinten am Tor, wo's nach der Meraner Straße geht, warten. In einer halben Stunde ist's dunkel, dann komme ich. Es wäre aber eine wichtige und geheime Sache, er wird sich's schon denken. Dann laufen Sie schnell ist der Palaoro zu Haus, der Sohn, mein ich?«

»Er wird schon zu Haus sein. Es gibt jetzt wenig Touren.«

»Er soll mit zwei zuverlässigen Leuten und zwei Maultieren mit Frauensätteln sogleich nach Andrian aufbrechen, und wenn ich noch nicht da bin, mich dort erwarten. Er soll auch den Schlüssel zur kleinen Hütte mitnehmen. Dann laufen Sie gleich wieder nach Hause, aber von hinten herein, und nehmen die Decken und etwas Zeug für die Mutter und für sich, aber nur ein kleines Bündel etwas zu essen soll der Rieser besorgen, und kommen wieder zum Rieser, wo der Wagen hält. Und das weitere wird sich finden. Haben Sie alles verstanden?«

»Ganz genau, Herr Josef, ich laufe bald.«


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