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V. Deutsche Menschheit

Menschentum und Kunst

So hoch man die Kunst auch stellen mag, man darf nie vergessen, daß sie nur Mittel, nicht Zweck ist; Zweck bleibt das, im besten Sinne, menschliche Dasein selbst. »Ich will nicht wegen meiner Schriften, sondern um meiner selbst willen geschätzt sein,« sagte Montaigne. Hier ist der Punkt, wo die der Praxis des Lebens scheinbar fernstehenden, künstlerischen Interessen sich aufs direkteste mit ihr berühren. Rafael und Mozart würden Menschen ersten Ranges sein, wenn auch jener nie einen Pinsel berührt und dieser nie eine Note geschrieben hätte: denn die Gesinnung macht den Menschen; und der Mensch macht den Künstler. Nicht weniger wie die Vorzüge beruhen hierauf die Fehler des Künstlers, des politischen sowohl wie des bildenden, des handelnden sowohl wie des anschauenden. Es ist so bekannt wie bezeichnend, daß Bismarck in der Politik von jeher rein persönlichen Einflüssen das allergrößte Gewicht beigelegt hat; der erfahrenste Praktiker begegnet sich darin mit dem edelsten Theoretiker, die deutsche Politik mit der deutschen Dichtung. Schiller weiß von der griechischen Kunst nichts besseres zu sagen, als: »Der Hauptwert der griechischen Kunstwerke besteht darin, daß sie uns lehren, es habe einmal Menschen gegeben, die solche Dinge schaffen konnten.« Die ganze Pracht des griechischen Olymp, der ja auch nur ein Erzeugnis poetischer und kunsttätiger Volkskraft ist, erscheint untergeordnet, ja fast dekorativ gegenüber dieser konstruktiven Volkskraft selbst! Die Terrakotten von Tanagra, welche nicht mehr bezwecken und erreichen als einfache Wiedergabe des altgriechischen Lebens – man könnte sie als antike und plastische Photographien bezeichnen – übertreffen in einer Hinsicht sogar die Werke des Phidias: weil sie die ganze Zartheit, Schärfe und Tiefe des griechischen Volkscharakters uns getreu wie ein Spiegel vor Augen bringen; weil sie von und im Volksgeiste geschaffen und eben darum keine Photographien von moderner Art sind; weil sie aus erster Hand schöpfen da, wo selbst der größte Künstler aus zweiter Hand schöpft; weil sie uns ohne alle individuelle Zutat nichts geben, als den griechischen Menschen. Man kann diese Kunstwerke den Volksliedern vergleichen: Dialektdichtung, wo sie wahr und tief auftritt, ist in gewisser Hinsicht der Kunstdichtung immer überlegen; denn sie steht dem Herzen des Volkes um eine Stufe näher als diese. Für prosaische Schriftwerke gilt sogar das gleiche. Ein persönlich unbedeutender Schriftsteller, wie Plutarch, überliefert Züge des griechischen Charakters, welche an Größe und greifbarer Anschaulichkeit selbst von den Schilderungen eines Homer nicht erreicht werden. Ebenso verhält es sich im jetzigen deutschen Norden. Das neueröffnete Reichsmuseum zu Amsterdam z. B. birgt, neben den höchsten Meisterwerten Rembrandts, eine Menge von einzelnen wie Gruppenporträts aus älterer holländischer Zeit, welche einer jeden höheren künstlerischen Bedeutung entbehren; aber welche soviel echtes Volkstum und echte Männlichkeit atmen, daß sie nicht nur zeitlich, sondern auch geistig, nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich als die notwendigen und nach einer gewissen Seite hin selbst überlegenen Vorgänger oder Ergänzungen jener späteren Hochblüte gelten müssen. Diese Bilder führen, wie eine geologische Karte, früh vergangene Schichten des deutschen Volks- wie Geisteslebens vor Augen; und es ist viel goldhaltiges Gestein darunter. Sie geben die holländischen Menschen, ausschließlich wie sie waren, noch nicht durch das Medium einer großen Künstlerseele gesehen; und es sind Leute wie von Eichenholz.

In Griechenland wie in Holland ist es der Volksboden, die Volkskunst, aus der die höhere Kunst emporwächst. Volkskunst aber kann nur dort gedeihen, wo das Volksleben durch und durch gesund ist; wo es sich echt menschlich entwickelt. Daher wird es erst wieder eine deutsche Kunst geben, wenn es wieder deutsche Menschen geben wird – im griechischen und holländischen Sinne. Wie selten ein wirklich menschliches Dasein nach höheren Anforderungen gemessen im jetzigen Deutschland ist, weiß jedermann. »Vergönne man doch auch einmal einem Deutschen, daß er lebe, was heutzutage so selten der Fall ist«, schrieb einst Knebel von sich; und in diesem Sinne »leben« gegenwärtig doch wohl weit weniger Deutsche als vor hundert Jahren. Es handelt sich demnach darum, die Bedingungen zu solchem »Leben« für die Deutschen nach Möglichkeit wiederherzustellen.


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