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Künstlerische Bildung

Eine Bildung kann objektiv, d.h. im wissenschaftlichen Sinne wertvoll sein, und doch subjektiv, d.h. im künstlerischen Sinne nichts taugen, weil ihr eben das Aroma des Individualismus fehlt. Dieser, je nachdem fehlende oder vorhandene Hauch kann überhaupt nur von individuell Empfindenden bemerkt werden; individuelle Bildungsempfindung aber ist im heutigen Deutschland äußerst selten; gerade so selten, wie spezialistischer Bildungsdünkel häufig ist. Blinder Eifer schadet nur. Man prüft heutzutage, und zwar höchst sorgfältig, die Bildung nach ihren chemischen Bestandteilen; aber leider nicht nach ihrem seelischen Aroma; und so versäumt man gerade das, was für geistige Neubelebung entscheidend ist. Die Folgen sind allgemein bekannt. Es kommt stets darauf an. daß die Bildung eines Volkes ein gewisses Gleichgewicht bewahre; in der gegenwärtigen Zeit, wo die Luft voll ist von teils abstrakten und rein verstandesmäßigen, teils materialistischen und mechanistischen Anschauungen, kann der einzelne – welcher einer einheitlichen, geistesklaren Weltanschauung ermangelt und doch sich jenes Gleichgewicht wahren will – nichts Besseres tun, als sich vorläufig entschieden auf die Seite des Gefühls, des Poetischen, des Künstlerischen zu stellen. Je mehr er es in Worten und Werken studiert, desto stärker wird er einem einseitigen Rationalismus gegenüber sein. Wer seiner Umgebung gewachsen sein will, muß sich ihr entgegenstemmen; und mit Besonnenheit. Alle Bildung ist etwas Organisches; Fälschungen organischer Stoffe aber lassen sich bei weitem nicht so leicht nachweisen wie diejenigen unorganischer Stoffe; um so schädlicher, gefährlicher, bekämpfenswerter sind sie. Reiner Wein und reine Bildung sind in Deutschland jetzt selten geworden. Erst wenn echte Philosophie die Wissenschaft wieder beseelt, erst wenn schlichte Vornehmheit und vornehme Schlichtheit im deutschen Geistesleben wieder herrschend ist, erst wenn man auch den Trägern einer künstlerischen Bildung als maßgebenden Volkserziehern sich wieder zuwendet; dann erst wird das deutsche Volk den Weg zu seinen verlorenen Idealen zurückfinden! Eine künstlerische Volksbildung wird stets auch zugleich eine aristokratische Volksbildung sein; denn sie braucht Ideale; sie braucht Helden; sie kann auf das Erbteil der Poesie nicht verzichten. Mythus ist die früheste Art von Kunst; und wie der Mensch, so ist auch die Kunst nur dann auf dem rechten Wege, falls sie ihren besten poetischen Traditionen getreu bleibt.

1. Das Klassische

Die Griechen hatten eine Kultur von Marmor, die Deutschen sollten eine solche von Granit haben. Der Granit ist ein nordischer und germanischer Stein; in dem ur- und reindeutschen Nordlande, Skandinavien, steht er in großen Felsmassen an; und über die ganze niederdeutsche Tiefebene ist er in erratischen Blöcken verbreitet. Er ist ein sehr gewöhnlicher Stein; aber seine Widerstandskraft übertrifft die der meisten andern; er eignet sich geradesogut zum Straßenpflaster wie zu unvergänglichen Bauten und Denkmälern: er ist ein volkstümlicher und zugleich, in geschliffenem Zustande, ein sehr aristokratischer Stein. Die ungezählten Massen der deutschen Heersoldaten konnte man wohl dem granitnen Pflaster der deutschen Großstädte vergleichen; jeder fest zum andern gefügt und alle insgesamt undurchdringlich; die Erzstandbilder, welche sich zwischen ihnen auf granitgeschliffenem Sockel erheben, gleichen der echten deutschen Kunst, welche sich auf volkstümlichen Elementen aufbaut – nachdem sie durch Bildung geschliffen und so zu aristokratischer Würde erhoben sind. Auch die Steine haben ihre Sprache; und auch sie predigen die Lehre, daß alle Bildung der Natur parallel gehen müsse. Stein und Scharnhorst, Bismarck und Moltke sind gewaltige erratische Blöcke, welche dem Deutschen Reiche zum politischen Fundamente dienten; auf ihm soll sich nunmehr der volkstümlich-künstlerische Unterbau von geschliffenem Granit erheben. Einer späteren Glanzzeit deutscher Bildung mag es dann vorbehalten sein, diesen mit neuen, schönen, ehernen Idealen zu bekrönen.

Das Gebäude der Kriegsakademie zu Berlin ist von der eben erwähnten Art; es erhebt sich als ein anmutiger Backsteinbau auf durchweg granitnem Sockel; und es ist zugleich einer der künstlerisch vollendetsten Bauten, welche dort seit 1870 ausgeführt wurden; in ihm begegnen sich Krieg und Kunst. Der höchsten Tatleistung eines Volkes entspricht gleichzeitig seine höchste Bildleistung, immer in relativer und zuweilen auch in absoluter Weise. Möge jenes Gebäude, zumal gegenüber anderweitigen mißglückten architektonischen Leistungen der deutschen Reichshauptstadt aus neuerer wie älterer Zeit, für das Leben des deutschen Volkes von sinnbildlicher Vorbedeutung sein; möge dies Volk aus und nach blutigem Streite die Blume der höchsten Schönheit pflücken. Dann wird seine Bildung ebensosehr eine kriegerische wie künstlerische und ebendadurch – eine klassische sein. Der Ausdruck »klassisch« ist von fremdländischer Art und bezeichnet ursprünglich einerseits den Normalbürger, civis classicus; andererseits den Normal- oder Liniensoldaten, mile classicus. Wenn dieser Begriff auf die höchsten Kunsterzeugnisse angewendet zu werden pflegt, so liegt darin wiederum ein Fingerzeig für die oft bewährte innere Zusammengehörigkeit von Krieg und Kunst. Das Klassische ist sogar dem Preußischen und in gewissem Sinne, dem Parademäßigen verwandt. Die Parade zeigt den Truppenkörper in seiner rein symmetrischen Form und völlig frei von der rhythmischen Einwirkung des Gefechts; ebenso ist ein Kunstwerk vollendet, wenn es sein individuelles und darum rhythmisches Leben den allgemeingültigen und darum symmetrischen Lebensbedingungen der Gattung, aus welcher es entspringt, angepaßt hat. Es hat den Kreislauf von der Natur durch die Unnatur zur Natur zurück durchmessen; es hat Stil gewonnen; es ist klassisch. Der Liniensoldat hat seinen Namen von den großen und einheitlichen Linien, in welche sich die Truppen unter normalen Verhältnissen formieren; das klassische Kunstwert führt seinen Namen mit Recht, wenn es seinen individuellen Charakter zur großen und einheitlichen Linienführung in materieller wie geistiger Hinsicht erweitert; aber beide Arten von Linien erhalten erst einen wirklichen Wert, wenn sie in und für eine jeweilige besondere Situation angewandt werden. Der Oberst, welcher die »Richtung« seines Regiments, der Bauer, welcher die zu pflügende Furche, der Kapitän, welcher den Kurs seines Schiffes und der Architekt, welcher die Flucht eines Gebäudes visiert – sie alle wissen wohl, daß und inwiefern »Linien« etwa bedeuten. Aber sie wissen auch, daß diese immer nur Mittel zum Zweck sind; daß sie den regelnden, nicht den entscheidenden Faktor im praktischen Leben bilden. Die deutsche sogenannte klassische Literaturperiode hat jene großen Linien des geistigen Lebens aufzuweisen; aber sie verlor sich teilweise in leeren Spekulationen und fremdländischen Liebhabereien. Die gegenwärtige deutsche Bildungsepoche strebt, in allen ihren einzelnen Aufgaben, durchaus nach spezieller Betätigung und Anwendung der ihr eigenen Ergebnisse; aber sie verliert darüber den großen einheitlichen Aufbau, zu dem das geistige Leben sich gliedern sollte, ganz aus den Augen. Hier ist ein Ausgleich nötig. Der feste und der freie Zug sollen sich im Kunstwerk, im Soldaten, im Politiker, im Menschen stets die Wage halten. Diese zwei Erd- und Urkräfte müssen sich überkreuzen und gegenseitig steigern; dann erst entsteht das wahrhaft Große. Eine solche Art von Klassizität ist der deutschen Bildung zu wünschen. Die letztere mußte das Stadium einer deutschen Paradebildung durchmachen, wie die preußische Armee es durchmachen mußte; aber sie darf nicht bei dem metaphysischen Parademarsch und den spezialistischen Gewehrgriffen stehenbleiben; sie soll weiterschreiten. Sie soll zur Kriegs- eine Kunstbildung werden; dann wird sie echten Stil haben; dann wird sich das innere Leben des deutschen Volkes in den ihm selbst von Haus aus eigentümlichen geistigen Linien bewegen. Es sind, physisch wie geistig genommen, die festen und groß gezogenen Linien des deutschen Bauernkopfes.

Aber classis heißt auch die Flotte; was von Soldatenreihen gilt auch von Schiffsreihen; und vielleicht von diesen noch mehr als von jenen. Eine klassische Bildung ist ohne den freien Hauch der See kaum zu denken. Der alte Flottengeist der meergewohnten Niederländer, in seiner Selbständigkeit und Freiheitsliebe, gleicht der so überaus freien und selbständigen Malerei Rembrandts. In seinen kühn und bewegt gezeichneten, dunkel und purpurn gefärbten Bildern scheint jener Geist noch einmal kräftig aufzuleuchten; auch hier gatten sich Krieg und Kunst. Den behelmten Krieger und den Bauern in der Pelzmütze, die Vornehmen und das Volk, das Deutsche wie das Fremde hat der große niederdeutsche Meister gleich vortrefflich mit dem Pinsel dargestellt; er gibt in allen diesen Typen, gewissermaßen symbolisch, den Inhalt der deutschen Bildung, wie sie sich natürlich und geschichtlich aus vielen einzelnen Elementen zusammengesetzt hat; und wie sie sich, geistig und künstlerisch, zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließen sollte. Er konnte das, weil er dabei immer er selbst, weil er Holländer und Deutscher blieb. Er verlor sich nicht in den Dingen und diese verloren sich nicht in ihm; sondern beide zeugten miteinander eine neue, in ihrer Art klassische Welt. Die Kunst als etwas dem wirklichen Leben Fremdes anzusehen, ist stets ein Zeichen künstlerischer Schwäche; die Kunst soll das tägliche Leben vertiefen, sich nicht von ihm abwenden. Jenes Bestreben ist klassisch, und in diesem Sinne ist Rembrandts Kunstanschauung eine ausgewählt klassische; sie ist zweifellos bedeutend klassischer als diejenige Winckelmanns. Die schöne Zeit der »schönen Linien« ist nicht mehr; sie scheinen im Krieg wie in der Kunst ihre Rolle ausgespielt zu haben. In seiner eigenen Art und auf seine eigene Art klassisch zu sein, das ist das Beste, was das deutsche Volk von seinem künstlerisch-politischen Erzieher Rembrandt lernen kann. Das Klassische ist zugleich das rein Volkstümliche.

2. Winckelmann und Goethe

Erziehung soll lehren, Falsches und Wahres zu unterscheiden. Die Beurteilung Rembrandts als eines angeblich stillosen, unklassischen Künstlers ging vorzüglich von derjenigen Richtung der deutschen Bildung aus, welche man die ästhetische nennt; der Genius Rembrandts wird an den Deutschen eine edle Rache nehmen, wenn er ihnen hilft, diese geistige Krankheit, soweit sie noch vorhanden ist, zu überwinden. In Deutschland hält man es für sehr wichtig, »dem Kinde einen Namen zu geben«; oft für so wichtig, daß das Kind selbst darüber vergessen wird; so ist es auch mit dem Namen Stil gegangen: man hat so viel davon gesprochen und so lange danach gesucht, bis aller Stil gründlich ausgerottet worden ist. Es erscheint als ein schlechter Tausch, um das Linsengericht einer ausländischen Kunstform das ureigne Erbteil des nationalen Fühlens zu verkaufen. Unsere jetzige höhere Bildung steht noch unter dem Zeichen Winckelmanns; ihre Begründer, Lessing und Goethe, haben sich gewissermaßen unter jenen gestellt; die Kritik des einen sowie das Schaffen des anderen sind von ihm stark beeinflußt. Winckelmann selbst repräsentiert ihnen gegenüber das erste Wiederauftreten der eigentlich künstlerisch treibenden Kraft, der Empfindung in Deutschland. Aber der Mann empfindet anders und soll anders empfinden als der Jüngling; so soll denn das deutsche Volk, da es nun politisch reif ist oder doch wird, auch künstlerisch anders empfinden als früher. Der Jüngling schwärmt für Welt und Menschheit; der Mann hält etwas auf seine Ahnen und Stammesgenossen; und dem deutschen Mann von heute kann es nur zum Heile gereichen, wenn er dies auch auf künstlerischem Gebiet tut. Winckelmanns Kunstanschauungen sind, den heutigen Anforderungen gegenüber, vielfach tertiärer Natur. Sowie er praktisch und aktiv vorgehen will, gibt er sich unglaubliche Blößen. Deutsche Kunst war ihm unbekannt und gleichgültig; so richtig sein Empfinden für die griechische, so falsch war sein Urteil über die deutsche Kunst. Jenes wird unsterblich sein, dieses war von Anfang an tot geboren.

Es ist nicht leicht, der berückenden Griechenkunst zu widerstehen; mancher vortreffliche Deutsche hat dies erfahren; edle Gebeine sind es, die da bleichen, wo diese Sirene singt. Man hat das Nützliche und Schädliche, das Erhebende und Verderbliche in der Wirkung, welche Winckelmanns Geist auf Deutschland gehabt hat, sorgsam zu sondern. Leider haben nur wenige sein richtiges Empfinden, aber sehr viele sein falsches Urteil geerbt; es gilt also jenen Geist durch einen größeren und mächtigeren Geist, den Rembrandts zu bannen. Bei ihm ist zu finden, was jene suchten. Winckelmann, Karstens, Schiller waren Sehnsuchtslaute, welche sich der durch den Schwall fremder Bildung beengten und bedrängten deutschen Brust entwanden – Sehnsuchtslaute nach einer großen, tiefen, einheimischen, deutschen Bildung. Schiller zumal hat dem deutschen Volke einige Ziele seiner inneren Bildung mit divinatorischer Sicherheit vorgezeichnet. Es ist daher nur natürlich, daß gerade er der Liebling des Volkes geworden ist; denn die Sehnsucht ist dem Menschen oft lieber als die Erfüllung. Die letztere wird in diesem Fall teilweise schon durch Goethe dargestellt; Schiller und Goethe stehen sich, fremd und zugleich befreundet, gegenüber wie Morgenstern und Morgenröte; jener verkündet den Tag, diese bringt ihn. Aber es heißt auch hier, nicht stehenzubleiben, sondern fortzuschreiten. »Winckelmann und sein Jahrhundert«, das einst von Goethe zusammengefaßte, ist jetzt zeitlich und geistig vorüber.

Und auch in der Persönlichkeit Goethes, wie sie nunmehr schon geschichtlich geworden ist, vollzieht sich mehr und mehr eine Scheidung des Bleibenden von dem Vorübergehenden. Die Zwiespältigkeit der bisherigen deutschen Bildung tritt gerade in ihm recht markant hervor. Goethe, als Dichter, plädiert für die Natur und das Einheimische; Goethe, als Kunstrichter, plädiert vorwiegend für das Fremde und vom deutschen Standpunkt aus Unnatürliche. Sein praktisches Urteil in Sachen der bildenden Kunst war nach dem Gutachten der besten heutigen Kenner ein einseitiges und beschränktes; die ungünstige Richtung zum Deklamatorischen, welche er der deutschen Bühne gegeben, deutet auf einen ähnlichen Mangel. Man muß also in seinem Wirken ebenfalls genau unterscheiden. Goethedienst kann auch Götzendienst sein. Da, wo Goethes Kunsttheorie in seine Kunstpraxis übergreift, wie in seiner Iphigenie, entstehen Zwischenbildungen, welche zwar ihren edlen Ursprung nicht verleugnen, aber doch für ein nationales Empfinden stets etwas Mißliches behalten. Gerade über Goethes Iphigenie hat ein neuerer Schriftsteller sehr treffend bemerkt, daß sie im Grunde nicht griechischer sei als die griechischen Reifrockdamen Racines; es ist eine Deutsche, die sich griechisch gebärdet; aber sie würde besser tun, sich deutsch zu gebärden. Dann würde sie wirklich von Stil – von deutschem Stil – durchdrungen sein, während sie es jetzt nur scheinbar ist; denn Stil ist eben die Einheit zwischen den inneren und äußeren Formen des Lebens; und diese fehlt hier. Goethe steht an einem Scheidewege. In seiner Jugend gravitierte er nach Shakespeare, in seinem Mannesalter nach der Antike; seine Jugendgedichte, wie Prometheus, Harzreise usw., geben uns die Goethesche Art am reinsten, trotz oder gerade wegen ihrer äußeren Formlosigkeit; er ist hier poetisch formlos wie Rembrandt malerisch formlos ist; wo die deutsche Volksseele ganz unbefangen auftritt, strebt sie mehr nach Rhythmus als nach Symmetrie. In Iphigenie und Tasso dagegen hat der Dichter sich den Mantel eines fremden Stiles übergeworfen; in den Erzeugnissen seiner vollendetsten poetischen Technik – in der urdeutschen Form der Ballade sowie in gewissen Teilen des Faust II endlich lehrt er zu einem eigenen, echten, durchgebildeten, deutschen Stil zurück. Falschen Auffassungen gegenüber muß es ganz besonders betont werden: hier, nicht in der Iphigenie ist der im wahren Sinne des Wortes stilvolle Goethe zu suchen und zu finden; hier hat die naiv unregelmäßige Form seiner Jugendgedichte sich zu einer kunstvoll unregelmäßigen Form verdichtet. Hier schafft er im Geiste, nicht in der äußeren Hülle der Griechen; hier wächst sein Stil von innen nach außen, nicht von außen nach innen; denn auch für einen solchen Geist wie Goethe ging der Weg zur Wahrheit durch den Irrtum. Und die Deutschen sollten ihm auf diesem Wege folgen; er selbst hat es unbefangen ausgesprochen: »Wir sind vielleicht zu antik gewesen, nun wollen wir es moderner lesen.« Goethe führt in diesem Fall zu Rembrandt hinüber; denn dieser ist deutscher, als jener. Rembrandt ist es, der auch hier das Evangelium des Gegebenen verkündet; der es praktisch demonstriert, daß nur im folgerichtigen Anschluß an angeborene und geistesverwandte, man möchte sagen geistesparallele Verhältnisse sich in Kunst wie Leben wahrhaft Bedeutendes leisten läßt; daß alles einseitige Konstruieren von außen und a priori in diesen Dingen entweder nutzlos oder gar schädlich ist.

3. Shakespeare und Rembrandt

Die moderne Bildung soll sich ihrer Ahnen erinnern; und derjenigen am meisten, welche dem einseitigen heutigen Wissenschaftstum am direktesten entgegengesetzt sind; also welche die universalsten sind. Der südeuropäische Geist ist bisher zweimal, in Griechenland und im oberen Italien, zu einer hohen Blüte und universellen Fülle gelangt; in beiden Fällen folgte auf eine Zeit von überwiegend literarischen Interessen eine solche der grandios schöpferischen Kunstkraft; möge es künftig und diesseits der Alpen ebenso sein. An sich von Rembrandt sehr verschieden, aber an Vielseitigkeit ihm verwandt, ist ein großer Italiener: Leonardo. Dieser vereinigte in seiner Persönlichkeit gleichermaßen Kunst und Wissenschaft; gerade wie Homer, der älteste Stammherr antiker Bildung, in seinen Werken die beiden höchsten Seiten des späteren griechischen Geisteslebens, Plastik und Dramatik, vereinigte. Den Erdgeist in Goethes Faust möchte man sich etwa in der äußeren Gestalt dieses universalen Menschen denken; und zugleich entspricht dessen Bild dem herkömmlichen künstlerischen Typus des Gottvater. Seine Geistesrichtung ist eine im höchsten und besten Sinne philosophische; sie steht Dürer ebenso nahe wie Kepler; und ebendarum ist sie geeignet, die heutige spezialistische Denkweise günstig zu befruchten.

Was nun Phidias und Leonardo für die Kultur des südlichen, sind Shakespeare und Rembrandt für diejenige des nördlichen Europa: plastisch-malerisch entwickelt sich die eine, dichterisch-malerisch die andere. Shakespeare stellt den germanischen Geist in seiner ganzen Vielgestaltigkeit – Individualität – dar; er hat alle deutschen Götter in seinen Werken versammelt; er verkörpert in sich den höchsten germanischen und arischen Geist. Das schöne Schillersche Wort: »Speere werfen und die Götter ehren« lebt in ihm wie in den Deutschen, in den Ariern. Und mit den Worten: »Aus Shakespeare spricht der Weltgeist, ja er ist der Weltgeist,« hat Goethe die einzig dastehende Universalität seiner Kunstanschauung hyperbolisch kühn gekennzeichnet. In dem Namen des angelsächsischen Dichterheroen selbst feiert die Vereinigung von Krieg und Kunst ihren höchsten Triumph: Shakespeare heißt »Speerschüttler« und Namen haben immer einen Grund; einer der Vorfahren des Dichters muß demnach als Krieger sich hervorgetan haben. Das war in den kriegerischen Zeiten Altenglands; in friedlicheren Zeiten verwandelte sich die Handkraft in Seelenkraft, die Kriegskraft in Kunstkraft. So gut wie die Welt der Naturwissenschaft hat auch die durch Shakespeare ins Leben gerufene Welt ihre Gesetze; auch sie beruht auf dem Tatsächlichen und mancher Professor hat sich schon gewundert, ja Abhandlungen geschrieben über das Wissen Shakespeares auf dem Gebiete des Staats- und Rechtslebens, der Pferde- und Schiffahrtskunde. Als Künstler stellt Shakespeare die vollkommenste geistige Uneigennützigkeit dar; er sagt eigentlich nur, was er überkommen hat; sei es aus der Natur oder aus der Geschichte. Er ist nicht Person; er ist ein Organ; er spricht als Volk. Und dieser leuchtende Punkt steigt ganz unvermittelt aus der dunklen Masse auf. Es ist ein Akkord, der aus der Tiefe klingt. Die großartige Kindernatur des britischen Dichterfürsten, in ihrem tiefen Ernst und ihrer weltspiegelnden Klarheit, möchte man dem ruhigen, unergründlichen Blick des jugendlichen Heilandes auf dem Arm der Sixtinischen Madonna vergleichen. Aus Shakespeares Seele wie aus Rafaels Werk strahlt uns ein Bild der Welt, deutlich und doch gedämpft, wie aus einem dunklen Spiegel entgegen. Nur solche lebendige schwarze Perlen, wie diese Augen, können solche künstlerische »schwarze Perlen« wie den Hamlet hervorbringen.

Die eigentliche Aufgabe aller Erziehung ist es, den Menschen dasjenige mit vollem Bewußtsein und möglichster Überlegung tun zu lehren, wozu das Beste und Eigenste und Tiefste seiner Natur ihn ohnehin schon instinktiv treibt. Der Erzieher hat also einem dem advocatus diaboli entgegengesetzten Beruf; er ist der Anwalt der besseren Natur des Menschen. Dies gilt vom Volkserzieher so sehr und womöglich noch mehr wie vom Einzelerzieher. Shakespeare war einst für die Deutschen ein solcher Erzieher; und Rembrandt könnte es wieder sein. Auf die Vorherrschaft der redenden ist die der bildenden Kunst in Deutschland gefolgt; hat Shakespeares Kunst etwas Wortreiches, so hat diejenige Rembrandts etwas Wortkarges an sich; verhalf jener den Deutschen zu einer Bildungsepoche, in welcher der Gedanke und die Empfindung überwog, so könnte dieser ihnen zu einer solchen verhelfen, in welcher die schaffende Tat am meisten gilt. Nach der Shakespeareschen Fülle kann nunmehr Rembrandtsche Tiefe den festländischen und infolgedessen oft etwas zu fest gewordenen Geist wieder lockern und anregen. Wie die Aloe nur alle hundert Jahre, aber dann um so herrlicher blüht, so kann man zufrieden sein, wenn die deutsche Bildung nur alle hundert Jahre eine köstliche Frucht trägt; es scheint, daß jetzt bald wieder eine solche reift. Wenn die deutsche Dichtung des vorletzten Jahrhunderts wesentlich auf Shakespeare, die deutsche Wissenschaft des letzten Jahrhunderts wesentlich auf Bacon und die deutsche Politik ebendesselben wesentlich auf Bismarck beruht; so sollte die deutsche bildende Kunst des gegenwärtigen Jahrhunderts wesentlich auf Rembrandt beruhen. Alle vier sind Niederdeutsche und lassen dadurch vermuten, in welcher Hauptrichtung sich der deutsche Geist demnächst bewegen wird. Ist das kommende deutsche Kunstzeitalter mit niederdeutschem Geiste gesättigt, so wird es auch den Gefahren ausweichen, welche eine vorwiegend ästhetische Bildung sonst mit sich bringt. Der dem Niederdeutschen eigentümliche schlichte Hausverstand wird hoffentlich bessere Früchte tragen, als die hochfliegende Weisheit schwäbischer Philosophen aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts; nur diejenige künstlerische Phantasie ist den bedeutendsten Aufgaben gewachsen, welche des Ballastes einer gesunden Prosa nicht entbehrt. Shakespeare, der eine stark prosaische und Bacon, der eine stark poetische Ader aufweist, liefern hierfür den Beweis. Nirgends liegen Prosa und Poesie so dicht beisammen, wie in dem Niederdeutschen überhaupt und – in Rembrandt im besonderen; ebendarum ist er und sind sie als zuverlässige Führer im Reiche des Geistes anzusehen.

Rembrandt und Shakespeare gehören beide der Nordsee, wie der Straßburger und Kölner Dom beide dem Rhein an; gewaltig aufragend, und von unerschöpflichem, doch einheitlichem Formenreichtum, leuchten uns die beiden Künstler wie die beiden Kunstwerke entgegen. Jedes Paar ist unter sich verwandt und doch verschieden; der sein abgetönte und äußerlich unfertige Charakter der Rembrandtschen Malerei gleicht dem oberrheinischen, die unübersehbare und doch in sich ausgeglichene Harmonie Shakespearescher Dichtung dem unterrheinischen Baudenkmal. Der Rhein, mit seinen beiden Kirchen, ist vorwiegend oberdeutsch und katholisch; die Nordsee, mit ihren beiden Künstlern, ist niederdeutsch und vorwiegend protestantisch; aber deutsch sind wiederum alle vier. Sage und Geschichte verlegen hierher, in diese vier festen Punkte, die Achse deutschen Sinnens und Fühlens. Wie an Stelle des rechten das linke Elbufer, so sollte an Stelle der Oder der deutsche Rhein wieder die Lebensader der deutschen Bildung sein. Rembrandt – van Rhyn – ist der nördliche Pol, auf den die in freier und doch gebundener Bewegung befindliche Magnetnadel des deutschen Individualismus stetig hinweist: und weit über diesem Nordpol steht jener schöne Polarstern, der das gleiche bedeutet: Shakespeare. Denn wer ist der Beherrscher der neueren deutschen, künstlerischen Kultur, wenn es nicht Shakespeare ist? Und wer ist sein Thronfolger, wenn es nicht Rembrandt ist? Beide sind durch ihren hohen Grad von Individualität und Universalität hierfür bestimmt. Goethe, der auch aus dem Rheintal stammt, hat sich dem englischen Dichter oft und offen untergeordnet; er hat, in seiner frischesten und unbefangensten Jugendzeit, auch Rembrandt aus vollem Herzen gehuldigt; gerade er verdient es deshalb, als das schöne Mittelglied angesehen zu werden, welches diese zwei Perioden niederdeutscher Geistesherrschaft miteinander verbindet.

Sowenig wie Homer können Shakespeare oder Rembrandt nachgeahmt werden; aber beide können für das deutsche Leben befreiend und befruchtend wirken. Freilich hat sich um die Werke Rembrandts schon etwas von dem Leichengeruch verbreitet, welchen Kennerschaft nur allzu leicht jenen Kunst- wie Geisteswerken mitteilt, die sie ausschließlich für sich in Beschlag nimmt; aber sicherlich wird auch dieser große Deutsche, wie einst Shakespeare, von den Toten auferweckt werden: er wird wieder zum Volke zurückkehren, aus dem er emporstieg. Es ist wahr, seine Malerei gleicht mitunter einem umgestürzten Farbentopf; wenigstens für den, welcher deren tieferen Sinn nicht erkennt. Aber es wäre ganz gut, wenn die heutige deutsche Bildung, der man nachgerade die Rippen auf dem Leibe zählen kann, zunächst wieder etwas weniger Form und etwas mehr Farbe bekäme. Mit der Farbe könnte sie auch Seele bekommen; und man kann nicht oft genug sagen: Seele ist es, was sie braucht. Gespenster sind farblos und blutlos; das graue Gespenst – einer falschen Bildung – ist in dieser Hinsicht sogar echter als das in Deutschland schon hinlänglich bekannte rote Gespenst. Dem so gern realistisch schildernden Dante würde das hastige und hitzige Treiben unserer Gegenwart als ein treffliches Mittel zur Veranschaulichung infernaler Zustände gedient haben; verglich er doch einst das Treiben seiner Unterweltsgeister mit demjenigen der zahllosen Arbeitermassen im Arsenal von Venedig. Er beleuchtete dadurch die soziale Frage von heute – mit dem Lichte der Hölle. Aber wie Dante durch die dunklen und glühenden Tiefen des Jenseits nur mit Hilfe eines kundigen Führers, des eingeborenen Vertreters einer angeerbten Bildung, Virgils durchfand: so wird sich auch der heutige Deutsche durch den Schwall und Drang und Dampf einer falschen Bildung nur hindurcharbeiten können unter der Führung eines gleichfalls angestammten und angeerbten Bildungsträgers: Rembrandts. Graue Zeitgespenster können durch frische, lebensvolle Erscheinungen beschworen werden; Rembrandt ist, als Person wie als Typus genommen, eine solche. Darum ist gerade ein Mann, wie er, das passendste Ideal für das jetzige junge deutsche Geschlecht.

4. Faust und Hamlet

Auf die mittelalterliche Hegemonie der Schwaben: der Sueven, der Schweifenden ist die neuzeitliche Hegemonie der Sachsen: der Sassen, der Seßhaften in der deutschen Politik gefolgt. Auf eine Zeit der Ausstrahlung des nationalen Lebens wie Volksmaterials folgt eine solche der Einstrahlung. Und in dem deutschen Geistesleben vollzieht sich natürlicherweise ebenderselbe Wechsel. Die Masse der Gebildeten hat ihre Ideale und diese ändern sich mit den Zeiten. Hat die tausendjährige Vorherrschaft Oberdeutschlands in der deutschen Kultur in dem erhebenden Bilde des von Goethe verherrlichten Oberdeutschen Faust ihren Abschluß gefunden; so kann die voraussichtlich jetzt beginnende Vorherrschaft Niederdeutschlands in der deutschen Bildung von dem ergreifenden Bilde des von Shakespeare geschilderten Niederdeutschen Hamlet ihren Ausgang nehmen. Auf den forschbegierigen und etwas materiell angehauchten Professor folgt der kunstliebende und etwas philosophisch angehauchte Prinz. Faust hat etwas von geistigem Strebertum, Hamlet etwas von geistigem Adel an sich; jenen zieht es in die Höhen, diesen in die Tiefen der Welt. Der neuerwachte künstlerische Geist Deutschlands vollbrachte in Goethes Faust seine erste große Tat, indem er seinen Vorgänger, den wissenschaftlichen Geist Deutschlands – der den Dichter Goethe selbst noch um einige Zeit überleben sollte – in der Gestalt dieses Professors darstellte und sich gerade dadurch von diesem befreit hat. Goethe nimmt Faust den Professorentalar ab; Dubois-Reymond möchte ihm zwar denselben wieder aufhängen; aber das deutsche Volk wird jenem, nicht diesem folgen. Es wurde schon gesagt, daß große Geister stets als Janusköpfe erscheinen; sie blicken so gut rückwärts wie vorwärts; sie ziehen das Fazit der Vergangenheit und buchen es aufs Konto der Zukunft. Shakespeare, Goethe gegenüber der größere Genius, umspannt gleichfalls einen zwiefachen, aber dementsprechend weiteren Kreis; denn der bedeutendste von ihm geschaffene dichterische Typus umfaßt zugleich die früheste Grund- und Anlage wie die späteste Entwickelung des deutschen Charakters: Hamlet ist ebensosehr edelmännischen wie künstlerischen Neigungen und Interessen ergeben. Der Deutsche ist vermöge seines Individualismus ein geborener Aristokrat; und vermöge ebendesselben ist er zum Künstler bestimmt; diese beiden Hauptrichtungen seines Innern treffen nicht nur zufällig im Dänenprinzen zusammen. Auch die typische Idealgestalt des deutschen Volksmärchens ist von ausgesprochen aristokratischer Natur; es ist der »Prinz«. Volkspoesie und Kunstpoesie begegnen sich hier in ihren höchsten Anforderungen wie Leistungen. In neuerer Zeit sind es die »Prinzen aus Genieland« gewesen, welche das deutsche Volk zu seinen Helden erkor. Die Gestalt des deutschen Professors, in Poesie oder Leben, kann dagegen nicht aufkommen. Der Prinz ist dem Professor überlegen; der Horizont Hamlets reicht weiter und zugleich tiefer als der des Faust.

Wenn die deutsche Bildung sich von dem letzteren Typus zum ersteren wendet, so kann man mit einem solchen Wechsel der volksmäßigen Bestrebungen recht wohl zufrieden sein; es vollzieht sich damit eine Wendung zwar nicht vom Niedrigen, aber doch vom Niedrigeren zum Höheren. Und es ist auch ein Zug zum Mystizismus, der sich hier geltend macht. Das dunkle Samtkleid, in dem der Prinz gewöhnlich auf der Bühne erscheint, steht ihm gut; denn seine Seele ist ebenso dunkel. Was ist uns Mystizismus? Kindersinn, der sich aufs Weltganze richtet. Kunst und Wissenschaft sind die hellen Augen eines Volkes; in der Mystik schlägt sein Herz. Mit einem Dukaten kann man Roß und Reiter vergolden; mit einer Dosis echter Mystik kann man das Leben einer Nation vergolden. Wie die deutsche Bildung die Vertreter des inneren Schauens, so hat sie auch das innere Schauen selbst zu sehr vernachlässigt. Sie muß sich diesem wieder nähern. Nur derjenige hat allerdings das reiche Kapital der Mystik zu seiner Verfügung, welcher ihm ein gleich reiches Kapital von Realistik entgegenzusetzen weiß. Er schlägt dann sowohl den Mystiker, der die Wissenschaft, wie den Wissenschaftler, der die Mystik nicht kennt; in medio salus.

In dem zugleich hofmännischen und tiefsinnigen, weltklugen und nebelhaften Charakter des Dänenprinzen ist mehr als in irgendeinem anderen Charakter der Unterschied zwischen dem inneren Denken und der façon de parler ausgebildet; ja dieser Unterschied wird bei ihm oft zum Gegensatz; und gibt seinem Wesen die Beimischung eines vornehmen und weltverachtenden Sarkasmus. Die Welle der schönen Empfindung bricht sich an dem harten Felsen der Wirklichkeit und leuchtet auf in dem Farbenspiele einer heiteren und dennoch bitteren Ironie. Hell und Dunkel liegt in Hamlet dicht beieinander; und ebendadurch erscheint das Helle in ihm noch heller, das Dunkle in ihm noch dunkler. Hierauf beruht größtenteils die eigentümliche Anziehungskraft, welche der Hamletcharakter auf jedermann ausübt. Wie aber den Bildern Rembrandts, so ist auch allen jenen vornehmen und impulsiven Naturen von der Art Hamlets ein gewisser unklarer und unpraktischer Zug eigen. Dieser, der nie Schauspieler war, hält lange Reden über die Pflichten eines solchen; sein geschichtliches Gegenbild, Svedenborg, war nie verheiratet und schrieb ein dickes Buch über die eheliche Liebe; Rousseau, ein dritter Geistesverwandter jener beiden, schrieb über Kindererziehung und sandte seine eigenen Kinder ins Findelhaus; Rembrandt endlich verfiel in seinem bürgerlichen Dasein dem – Bankerott. Das Träumen und Philosophieren hat seine Schattenseiten; wer das zweite Gesicht hat, dem fehlt mitunter das erste. Ja dieser Gegensatz findet sich sogar innerhalb der praktischen Lebenstätigkeit selbst; Pitt und Beaconsfield waren geniale Finanzpolitiker und konnten ihre persönlichen Finanzen nicht in Ordnung halten. Die Sehstärke des inneren Auges variiert je nach der Weite des Gesichtsfeldes, das sie bestreicht; dem Engblickenden erscheint das dunkel, was dem Weitblickenden hell erscheint; und zuweilen auch umgekehrt. Darum machen gewisse Persönlichkeiten einen so verschiedenartigen und vieldeutigen Eindruck; der Reichtum ihres Gehalts besteht darin, daß sie sehr viele Gesichtswinkel zulassen; jeder Beschauer spiegelt in ihnen seinen Horizont, je nach dem Umfang und der Tiefe desselben wider; sie haben einen außerordentlich wechselnden Lichtkoeffizienten. So ist Hamlet. Spinozas Klarheit und Knipperdollings Trübheit, Svedenborgs Tiefsinn und Rembrandts Kunstsinn begegnen sich in ihm. Er ist der tragische Held der deutschen Gewissenhaftigkeit, der deutschen Wahrheitsliebe, der deutschen Ehrlichkeit. Ehrlichkeit aber ist edler als Wißbegierde, Schwermut edler als Genußsucht; und darum Hamlet edler als Faust. Trotzdem bezeichnet jener nicht das letzte Ziel der deutschen inneren Entwickelung. Die Deutschen sollten sich dem Shakespeareschen Prinzen an vornehmer Gesinnung gleich, an Willensstärke jedoch überlegen zeigen. Dann wird dessen verhängnisvolles Schicksal zwar noch für ihre politisch zerrissene Vergangenheit, nicht aber für ihre künstlerisch geeinigte Zukunft bedeutsam sein. Insofern Shakespeare von Haus aus, und vielleicht mehr als je ein Mensch war, Optimist ist; und insofern die geistige Tendenz der Tragödie Hamlet, mag man sie sonst auslegen wie man will, unzweifelhaft eine grundpessimistische ist: erscheint sie als ein Umschlag, eine Negation, ja gewissermaßen eine Selbstvernichtung des großen Dichters. Und es gibt auch eine Erklärung für diese. Man scheint sie nicht bemerkt oder doch nicht hinreichend gewürdigt zu haben, weil sie zu nahe liegt: Pessimismus ist stets Altersschwäche – bei Rassen, Völkern, einzelnen. Hamlet steht also dem Faust II sehr nahe; Altersschwäche, cum grano salis zu verstehen, schuf beide Werke. Sie äußert sich bei Shakespeare, seiner tieferen Natur gemäß, anders als bei Goethe; bei jenem berührte sie nur das Wesen, bei diesem auch die Form des betreffenden Kunstwerks. So schön und so nah sind Wachstum und Verfall, Leben und Vergänglichkeit auf geistigem Gebiet miteinander verbunden. Aber wie das Kind sich gern dem Greise befreundet, ohne doch darum mit ihm auf der Lebensbahn abwärts zu steigen, nein, vielmehr um dessen Dasein zu ergänzen und erhöht fortzusetzen; so wird auch der Deutsche sich von Hamlet und Faust II, diesen Erzeugnissen des feinsten geistigen Hautgouts, diesen schönen Verfallsprodukten, diesen edlen, aber marklosen Greisengestalten ab- und einem erneuerten, frischen, kindlichen Leben zuzuwenden haben. Man muß seine Ahnen ehren, aber über sie hinaus fortschreiten.

Faust sowohl wie Hamlet sind beide keine Helden der Tat, sondern solche des Gedankens; und in diesem Zweierlei, was sie sind und nicht sind, spiegelt sich der Charakter des deutschen Volles von früher wider. Faust faßt die beiden höchsten Typen des klassizistischen Deutschlands in sich einheitlich zusammen; während seiner ersten, wissensdurstigen Periode ist er Lessing, während seiner späteren Richtung auf frohen Lebensgenuß und praktische Tätigkeit dagegen Goethe ähnlich. In dem ältesten deutschen Faustbuch, der Grundlage der Goetheschen Tragödie, wird Faust in ausdrücklichen Gegensatz zu Luther gebracht; während der grüblerische, selbstpeinigende, musikliebende Hamlet diesem schon näher steht. Faust, das Ideal der wissenschaftlichen Deutschen, hat seine Zeit gehabt; Hamlet und Luther aber sollen sich in dem Zukunftsdeutschen zu einem höheren Dritten vereinigen; in dem Helden der künstlerischen Tat, Rembrandt, ist dies schon bis zu gewissem Grade geschehen. Als ein künstlerischer »helt aus Niederlant« erscheint Rembrandt sonach dem ältesten deutschen Heldenideal, dem durch das Epos verherrlichten Siegfried verwandt. Auch dieser ist ein »Prinz« und eine Persönlichkeit von edelstem, sittlichem Aristokratismus; wie das früheste so ist er vielleicht auch das schönste und jedenfalls das reinste dichterische Idealbild des deutschen Wesens: er zeigt noch nichts von Gedankenblässe.

5. Shakespeare und Wagner

Der musikalische Charakter der Deutschen schimmert überall durch; er spielt gelegentlich in die Baukunst wie in die Politik hinüber; man spricht nicht nur zufällig von einem europäischen Konzert. Die Meinung der alten Spartaner, daß musikalische Bildung das innere Staatsleben beeinflusse, war eine tief begründete: sowohl nach der günstigen wie nach der ungünstigen Seite hin; in den endlosen politischen Tagesstreitigkeiten des heutigen Deutschlands meint man das Geklimper der 20 000 Pianos zu vernehmen, welche es jährlich fabriziert. Demgegenüber muß die deutsche Bildung wieder eine echt musikalische und musische werden; dann würde sie auch wieder eine edle und freie genannt werden können.

In Richard Wagner hat das deutsche Volk neuerdings einen Anlauf zu einer cäsaristisch-künstlerischen Erscheinung genommen; er war eine stark betonte und sich stark betonende Persönlichkeit; aber ihm fehlte jener Zug des Schlichten, Unscheinbaren, Bescheidenen, der einen Shakespeare so liebenswürdig und zugleich so groß machte. Nach einem und vielleicht dem schönsten Spruch des Alten Testaments zeigte sich Gott dem Propheten nicht im Sturm, und nicht im Erdbeben, sondern im stillen, sanften Säuseln; dieses war sein tiefstes Wesen. Bach hat das letztere Stadium in der Musik erreicht; Wagner hat sich ihm stellenweise genähert, ist aber im ganzen doch künstlerisch wie menschlich bei den ersteren beiden stehengeblieben. Er hat alles, nur keine Ruhe; er weiß viele Leidenschaften darzustellen; aber das schöne Maß, welches Shakespeare und die Griechen aufweisen, ist ihm versagt. Seine Gefühle sind ekstatisch oder sie zerschmelzen; auf ebener, mäßiger Höhe, da wo das eigentlich Gesunde wohnt, halten sie sich nicht; sie sind raffiniert. Shakespeare ist Kaiser, Wagner ist empereur; allerdings ist er es nicht im Sinne des dritten, sondern des ersten Napoleon. Er erobert; er will dominieren und er dominiert; aber auf wie lange? Shakespeare war im Leben ein munterer Geselle, Wagner war der »Meister«. Das ruhige und verständige Wesen des einen, der hastige und ostensible Geist des andern ist für sie beiderseits höchst bezeichnend. »Einfalt und stille Größe« bietet Wagner nicht; und doch ist diese das innerste Zentrum wie alles Künstlertums so auch alles Volkstums. Das manum de tabula, war ihm wie einem anderen größeren Künstler, Leonardo, versagt; gerade dadurch unterscheidet Wagner sich von dem echten »Meister« Shakespeare; dieser ist stets rund und klar und fertig; jener häuft Wirkung auf Wirkung, ohne sich selbst oder einem rein empfindenden Hörer genug zu tun. Er ist nervös und macht nervös. Die beiden Wagner, Fausts Famulus und der große Musiker, haben etwas Gemeinsames; sie gehören als Supplemente zueinander: der geistigen Dürre des einen entspricht die geistige Überschwenglichkeit des andern. Auch mit seinem großen kritisierenden Landsmann berührt sich der reformatorische Musiker indirekt: der etwas frostigen Skala Lessingscher Deduktionen steht die etwas überhitzte Skala Wagnerscher Produktionen ergänzend gegenüber. Wagner fühlte sich persönlich mehr zu Schopenhauer als zu Shakespeare hingezogen; und es gibt vielleicht nichts, was ihn mehr charakterisiert als eben dies; der durch und durch un-, ja antikünstlerische Denker gewährte seinem exaltierten Wesen eine gewisse Beruhigung; der durch und durch gesund empfindende Dichter sagte seinem überreizten Gaumen nicht zu. Er bewundert ihn wohl – wer sollte nicht Shakespeare bewundern? – aber er steht ihm nicht nahe, fühlt sich ihm nicht verwandt, ist nicht von seiner Art. Die Sonnenblume versteht die Moosrose nicht!

Das Wort, welches man Wagner so sehr verübelt hat: »Wenn Sie selbst wollen, haben wir jetzt eine deutsche Kunst,« ist streng genommen allerdings richtig. Denn als »Kunst« ist schließlich doch nur eine lebendig produktive Kunst zu rechnen, wenn sie zugleich großen, monumentalen Stil zeigt; und in dieser Hinsicht hat das neue Deutschland nur Wagner aufzuweisen. Zur Zeit können dafür überhaupt nur Musik und Malerei in Frage kommen; in jener verleugnet selbst Brahms den Epigonen nicht ganz; in dieser ist eine wirklich monumentale Kunstrichtung überhaupt nicht vorhanden. Man muß unterscheiden zwischen den Stufen der Entwickelung oder des Verfalls und gewissen Höhepunkten einer Kunst; letztere kann man als Progonentum bezeichnen; und in solchem Sinn ist Wagner ein Progone. Wagner ist sicher bedeutend, aber er bezeichnet eben nur ein Vorstadium in der künstlerischen Entwickelung des Deutschen; er ist ein Romantiker, kein Klassiker; schon darum ist er zweiten Ranges. Er archaisiert; und zwar weil er modernisiert; nämlich das deutsche Altertum. Er wollte deutsch sein; aber seine Art von Leidenschaft ist dies nicht immer; der laute Liebeswahnsinn seiner Isolde dürfte eher keltisch sein. In letzterem Fall wird der von dem Künstler geschilderte Liebeswahnsinn zwar durch die Sage gerechtfertigt, anderswo aber nicht; wie Wolfram von Eschenbachs so enthält auch Wagners Parsifal äußerlich und innerlich viel Keltoromanisches. Dieser Parsifal ist so deutsch und – so undeutsch wie Goethes Iphigenie. Jenes betäubende und berauschende Element, welches die Wagnersche Kunst so sehr charakterisiert, ist besonders undeutsch. Kein echt deutscher Künstler hat es in seinen Werken. Stille, tiefe verschwiegene Leidenschaft, wie sie in der Kriemhild des Nibelungenliedes lebt – die ist deutsch. In diesem Epos, welches in Deutschland entstand, findet man den rein deutschen Charakter; die nordische Mythologie dagegen enthält nach den neuesten Forschungen sehr viel fremde Geisteselemente. Wagner hat die richtigen mit den falschen Nibelungen verwechselt; er hat aus einer arg getrübten Quelle geschöpft; und vielleicht nur, weil der trübe, unruhige krasse und übertrieben sinnliche Charakter der nordischen Mythologie seinem eigenen innersten Wesen entsprach. Das Nibelungenlied ist klassisch; denn es ist eine Ausgeburt des reinen, ungemischten Volksgeistes; ohne irgendwie griechisch zu sein, ist es dem Homer aufs nächste verwandt. Andererseits kann Wagner, trotz seines Abscheus vor dem Judentum, einen gewissen Zusammenhang gerade mit Meyerbeer nicht verleugnen. Er hat dessen effektvolle Mache auf nationale Stoffe angewandt; und mit weit überlegener Fähigkeit; aber diese Mache selbst ist nicht national. Er hat Meyerbeer übermeyerbeert. Man spricht wohl von einer Stille vor dem Sturm; aber Wagner stellt den Sturm vor der Stille dar; seine Exaltation kann nicht mehr überboten werden. Nach ihm wird die Musik, wenn sie überhaupt fortschreiten will, zur höchsten Intimität zurückkehren müssen. Im vorletzten Jahrhundert begeisterten sich die Deutschen für »reine Vernunft« und im letzten für »reine Torheit«: hoffentlich werden sie sich im jetzigen Jahrhundert für reine Menschlichkeit begeistern. Nach der Ekstase kommt die Enstase – um kurz zu sprechen. Das Wort »Enstase« könnte man wohl zu deutsch mit Innigkeit übersetzen. Es ist diejenige Eigenschaft, welche dem Volkslied, der Bachschen, Gluckschen, Mozartschen, Beethovenschen Musik in ihren besten und ausgewähltesten Leistungen zukommt; es ist die musikalische Eigenschaft und Eigenheit des Deutschen. Vor ihr wird auch die geistvollste und glänzendste Äußerlichkeit, die kunstvollste oder empfundenste Leidenschaftlichkeit zurücktreten müssen; Wagner wird vor dem Ausspruch zurücktreten müssen, den er selbst einst getan hat: daß das Adagio »die Grundlage aller musikalischen Zeitbestimmung« sei. Seine Musik ist nicht adagio. Es ist zu erwarten, daß auf den mit allen seinen Schönheiten maßlosen Wagner eine in allen ihren Schönheiten maßvolle größere Künstlernatur folgen werde.


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