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Wissenschaft und Menschentum.

Nichts braucht die Wissenschaft notwendiger, als Begeisterung und selbständiges Denken; und nichts vermeidet sie heutzutage sorgfältiger als diese zwei Dinge. Manche Gelehrte gehen wohl mit Begeisterung an ihre Arbeit; aber innerhalb ihrer Arbeit halten sie dieselbe für durchaus unzulässig; dieser Zwiespalt zwischen dem Menschen und dem Gelehrten ist die Erbsünde der heutigen Wissenschaft. Sie tritt überaus charakteristisch, und als Deutscher muß man sagen, fast beschämend, zutage in dem Verhalten zweier größter Spezialisten von heute: Ranke und Helmholtz, dort gegenüber dem Christentum, hier gegenüber Goethe. Wie Ranke in seiner Weltgeschichte zur Besprechung des Christentums kommt, sagt er: er werde von dessen eigentlich innerer Bedeutung absehen und nur von der »großen Kombination der welthistorischen Momente, in welchen es erschienen ist«, reden; also das religiöse Innenleben, einer der wichtigsten und entscheidendsten Faktoren aller Weltgeschichte, gehört nach ihm nicht in deren Bereich. Er will die Entwickelung des Menschheitslebens schildern, aber deren innersten Kern nur ganz äußerlicherweise berücksichtigen. Um höheren Anforderungen oder etwaigen Konflikten zu entgehen, zieht er sich in den Bereich seines Spezialistentums zurück. Das ist mehr vorsichtig als tief. Ähnlich Helmholtz; er sagt von Goethes Farbenlehre: sie sei »physikalisch genommen sinnlos«, und meint: Goethe habe »eine ganz andere Betrachtungsweise als die physikalische in der Naturforschung einführen wollen«; ob die erstere berechtigt oder gar notwendig sein könne, erörtert er nicht. Das ist mehr bequem als gründlich. Noch achtzig Jahre nach Kopernikus bestritt selbst ein Bacon aufs lebhafteste dessen Theorie; man darf sich daher nicht wundern, daß fünfzig Jahre nach Goethe selbst ein Helmholtz noch dessen farbenwissenschaftliche Entdeckungen bestreitet. Jedes Jahrhundert hat seine Fehler; es ist in einigen Punkten farbenblind; das jetzige soll nur ja nicht glauben, eine Ausnahme zu machen.

Helmholtz hat offenbar die Absicht, gegen Goethe gerecht zu sein; aber er urteilt als Spezialist und ein solcher als solcher kann nie gerecht sein; denn er vermag, auf geistigem Gebiet, nicht Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Auf die richtige Beobachtung des universellen Physikers: daß ein getrübtes Licht unter gewissen Verhältnissen den Charakter von »etwas Körperlichem, Schattigem« annehme, fragt der spezielle Physiker naiv genug: »Sollen sich etwa körperliche Teile dem Lichte zumischen und mit ihm davonfliegen?« Und doch liegt es auf der Hand, daß Goethe nur meint: die Farben machten in einem solchen Fall den Eindruck von etwas Körperlichem. Die Wissenschaft der Erscheinungen steht hier der Wissenschaft der Eindrücke verständnislos und wenn man will »sinnlos« gegenüber. Die Streitfrage ist in dem vorliegenden Falle einfach die: ob der ganze Mensch oder allein sein Verstand das berechtigte Forum ist, vor welchem die Natur zu erscheinen hat; wer selbst ein ganzer Mensch ist, wird sich für das erstere Forum entscheiden. Goethe hat es getan; seine Naturforschung ist zugleich Weltforschung; die heutige Naturforschung ist dies nur teilweise. Gerade auf den Unterschied zwischen Natur und Welt kommt es hier an.

Forschen und Denken.

Das Rad der Zeit läßt sich freilich nicht zurückdrehen; das Spezialistentum von heute kann nicht oder doch nicht ohne weiteres aufgegeben werden. Aber um so wichtiger ist es und um so mehr ist es zu betonen: daß jeder einzelne daneben auch seinem bessern Selbst, dem Menschentume gerecht werden soll. So machte es, in seinem Fach, ein Rembrandt. Er war nicht Landschaftsmaler, nicht Bildnismaler, nicht Historienmaler, nicht Architekturmaler; er war ein ganzer Maler und ein ganzer Mann. Den unendlichen Wert eines lebendigen Menschen kann man an und in dieser unscheinbaren und doch strahlenden, dunklen und doch hellen Gestalt kennen lernen. Dem demokratischen Spezialistentum von heute muß ein aristokratisches Menschentum von künftig sich zugesellen – in der Lebenssphäre jedes einzelnen Deutschen. Wie die physische, so besteht auch die geistige Verdauung aus Endosmose und Exosmose. Man könnte freilich fragen, wie sich eine solch wissenschaftlich-geistige Doppeltätigkeit praktisch gestalten solle; z. B. eben innerhalb der Medizin; wie hat sich der einzelne hier zu dem heutigen Spezialismus zu stellen? Darauf ist folgendes zu erwidern. Die Kunst des Nichtwissens und Nichtwissenwollens muß gelernt, geübt, geschätzt werden; doch nicht im Sinne jenes übelberufenen ignorabimus auf dem Gebiet des organischen, sondern gerade umgekehrt auf dem Gebiet des mechanischen Weltlebens. Man muß über die Forderung Goethes »das Unerforschliche ruhig zu verehren« noch hinausgehen; man muß auch manches und vieles Erforschliche unerforscht lassen; und es ist nicht schwer zu sagen, bis zu welchem Grade dies der Fall sein soll. Das mechanische wie organische, das spezialistische wie menschliche Geistesleben sollen im einzelnen wissenschaftlich tätigen Menschen sich völlig die Wage halten. Was oben von der Kunst gesagt wurde: »von Rechts wegen darf der Künstler nur soviel Naturstudium in sein Werk legen, als er ihm an Ideengehalt ausgleichend gegenüberzusetzen hat«, gilt ebensosehr von der Wissenschaft. Der einzelne Mensch hat kein Recht, weiter zu forschen als er denken kann. Die Grenze der ersteren Tätigkeit wird durch die der letzteren bestimmt, nicht umgekehrt. Die Wissenschaft der letzten Jahrzehnte, man vergleiche u. a. Darwin, hat schon weit mehr geforscht als sie denken konnte; es ist jetzt ein starkes plus von Forschung da; dieses muß nun zunächst durch ein starkes plus von Denken wettgemacht werden. Dem einzelnen Spezialisten kann man gegenwärtig nur raten, vorläufig dem Forschen zu entsagen und sich aufs Denken zu verlegen: bis in ihm, und der Wissenschaft überhaupt, sich wieder das notwendige Gleichgewicht zwischen beiden Geistesdisziplinen hergestellt hat. Ist letzteres geschehen, so wird die dringendste Sorge der Wissenschaft wie des einzelnen sein müssen: sich dies Palladium dauernd zu erhalten. Die falsche Wissenschaft strebt nach geistigem Fortschritt allein; die echte Wissenschaft strebt gleichzeitig nach geistigem Fortschritt und geistiger Abrundung: der Spezialist von heute hat sich dieser letzteren Richtung zuzuwenden, wenn er gesunden will. Freilich bedeutet das einen Bruch mit seiner gesamten Vergangenheit, sowie mit der gesamten sogenannten modernen und jetzt wahrscheinlich bald veralteten Geistesrichtung; ohne diesen Bruch ist aber eine Besserung unmöglich. Wer nicht – unter Umständen – zu brechen versteht, ist nicht nur kein Mensch, sondern auch kein Mann. Dies ist die unsittliche Seite des heutigen Spezialistentums. Es fehlt ihm an Ehrlichkeit; es kann nur ehrlicher werden zunächst durch Selbstvernichtung und dann durch Selbstbescheidung. Nur so wird aus einem Spezialisten ein Mensch. Der chemischen wie der künstlerischen Bildung geht Zersetzung voraus: der Marmorblock muß zersetzt werden, damit die Statue entstehen kann; so hat auch der Spezialismus sein Recht, zu sein und – zugrunde zu gehen.

Ausblick.

Es zeigt sich deutlich, daß nicht nur speziell, sondern auch prinzipiell die Bestrebungen der heutigen Wissenschaft noch in hohem Maße einer bedeutenden Erweiterung und Berichtigung fähig sind. Die heutige Wissenschaft, welche so gern rückwärts und erdwärts blickt, sollte endlich wieder anfangen, vorwärts und aufwärts zu blicken. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß es wirklich dazu kommt. Selbst gewisse Verirrungen im geistigen Leben der Gegenwart sind für dessen fernere Entwicklung eben nach der angegebenen Richtung hin, überaus bezeichnend; so der Spiritismus. Vielleicht dauert es gar nicht lange, bis unsere Zeit des Materialismus sich in eine solche zwar nicht des Spiritismus, aber doch des Spiritualismus verwandelt. Sie hat im ganzen eine auffallende Ähnlichkeit mit der römischen Kaiserzeit; auch auf diese Orgie des Materialismus und der Trivialität folgte einst ein spiritualistisches Erwachen: die Wendung zum Christentum. Auch damals trieb man Spiritismus; auch damals gingen die Geister dem Geiste voraus; vielleicht ist es in gleicher Weise auch unserer Epoche beschieden, noch einmal wieder aufzuatmen.

Man hat gemeint, daß Zahl und Maß die Welt regieren, oder daß Geld die Welt regiert; aber beides ist nicht wahr; denn der Geist regiert die Welt. Vor diesem wirklichen Regenten müssen die Pseudoregenten weichen. Daß und wie Statistik irreführen kann, wird jetzt allgemein zugegeben; Zahlen beweisen – nichts, wenn es sich um Individualität handelt; sie bieten in diesem Fall Voraussetzungen, nicht Ergebnisse. Der Aberglaube wechselt: früher hatte er sich mehr das Gemüt zum Spielplatz erkoren; jetzt treibt er im Verstand sein Wesen. Und der Aberglaube an Zahlen ist keiner der geringsten. Man »hat« freilich den Schmetterling, wenn er gespießt und den Menschen, wenn er gekreuzigt ist; aber sein Leben hat man nicht. Dieser Unterschied kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden; der Gelehrte wie der Laie sollte ihn nie vergessen. Den wissenschaftlichen Autoritäten darf demnach nicht zu viel vertraut werden; ihr Ruhm ist oft groß; aber er hält nicht immer dauernd stand; oft nicht einmal vor dem Urteil der eigenen Nachfolger. Als die erste deutsche Eisenbahn gebaut werden sollte, gab die medizinische Fakultät zu Erlangen ein offizielles Gutachten dahin ab. daß die eventuellen Passagiere einer solchen Eisenbahn infolge der schnellen Fortbewegung sämtlich unheilbaren Gehirnkrankheiten verfallen würden. Mit dem Hypnotismus findet man sich heutzutage nicht viel besser ab. Wenige rühmliche Ausnahmen abgerechnet, gehen die jetzigen Professoren seinen Tatsachen aus dem Wege; sie ignorieren sie, weil sie sie nicht zu erklären vermögen; das ist unwissenschaftlich und unsittlich. Der wissenschaftliche Philister ähnelt hierin dem Philister überhaupt. Der Entdecker in großem Stile, welcher sie zu Achsenverschiebungen in ihrem Denken nötigt, ist ihnen ein Friedensstörer: sie hassen und bekämpfen ihn; und er wird oft gut daran tun, sie seinerseits zu bekämpfen. »Wer hat über Reformatoren mehr geschrien als der Haufe der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reiche des Wissens mehr auf als sie?« fragte Schiller. Eindruckswissenschaft und Hypnotismus, Tektonik der Natur und Geographie könnten die heutige dürre Wissenschaft befruchten; um so bezeichnender ist das Verhalten der Fachwissenschaft diesen Geistesfaktoren gegenüber. Jene selbst aber wechselt und wandelt. Der Apoll von Belvedere, auf den man vor hundert Jahren schwor, wird von den einschlägigen Fachgelehrten nunmehr über die Achsel angesehen; er ist für sie eine Mode von gestern. Der Holbeinschen Madonna, auf die man jetzt schwört, wird es nach hundert Jahren gerade so gehen; und doch sind beide vortreffliche Kunstwerke. Sie sind nicht von gestern noch von heute, sondern von ewigem Schönheitswert. Vergänglich sind nur die wissenschaftlichen Moden.

Ein tektonischer Aufbau der Naturwissenschaft, eine ethische Auffassung der Geschichtschreibung, eine nationale Handhabung der Kritik, eine subjektive Ausgestaltung des Wissens vom Menschen und eine philosophische Verwertung des Wissens von der Welt – alle diese Faktoren müssen zusammenwirken, um der deutschen Wissenschaft ein neues Gesicht zu geben; um sie mehr zu individualisieren. Dann wird sie sich der Kunst nähern, ohne irgend etwas von ihrem bisherigen Werte einzubüßen. Das dadurch gewonnene und gegen früher bedeutend bereicherte Weltbild hat alsdann jeder Philosophierende, nach seiner besonderen Persönlichkeit, weiterhin auszugestalten und zu vertiefen. Die Folge einer Befruchtung der Wissenschaft durch einen solchen im höchsten Sinne subjektiven – und wenn man auch hier an ein bestimmtes Subjekt anknüpfen will, Rembrandtschen – Geist wird sein, daß sie dem Kerzen der Welt einerseits und dem Kerzen des eigenen Volkes andererseits näher rückt als bisher. Und damit ist viel erreicht; damit ist das tote Wissen zu lebendigem Schauen geworden: die Wissenschaft hat wieder einen Halt gewonnen, indem sie zur Philosophie zurückgekehrt ist.


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