Selma Lagerlöf
Liljecronas Heimat
Selma Lagerlöf

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein Frühlingsabend

An einem schönen Frühlingsabend war die Pfarrerstochter mit der Kleinen im Freien. Sie war es von jeher gewohnt gewesen, sich am Abend eine Weile draußen zu ergehen, und die Stiefmutter hatte sich dem nicht widersetzt, sondern ihr nur befohlen, die Kleine mitzunehmen, weil es sich für ein siebzehnjähriges Mädchen nicht schicke, allein auf der Landstraße zu sein.

Wie immer ging sie auch jetzt in südlicher Richtung, denn da war der beste Weg. Sie wanderte langsam dahin, und die Kleine konnte sich diesem langsamen Tempo nur schwer anpassen. Bald lief sie voraus, bald blieb sie eine große Strecke zurück, nur um sich wieder außer Atem laufen zu können, bis sie die Pfarrerstochter einholte.

Der Weg führte den Waldhügel entlang, der die Grenze von Lövdala bildete, und während nun die Pfarrerstochter so dahinwanderte, kam es ihr ganz sonderbar vor, daß die Kleine auf der kurzen Wegstrecke, die sie Abend um Abend hin und her wandelten, so viel Vergnügliches finden konnte.

Da war zuerst das Echo. Die Kleine lief eiligst durch die Allee voraus, um es hervorzulocken. Sie wußte, wo es sich fand. Ein kleines Stück auf dem Weg draußen, gerade vor der Lövdaler Roggenscheune. Da blieb sie stehen, drehte sich der Scheunenwand zu und begann zu rufen.

»Echo, Echo, sag mir wahr!«

»Sag mir wahr!« das Echo klang.

»Heirat ich in diesem Jahr?«

»Diesem Jahr!« das Echo klang.

»Ist mein Schatz ein schöner Mann?«

»Schöner Mann!« das Echo klang.

»Kommt mit vielem Gold er an?«

»Gold er an!« das Echo klang.

»Sprichst du Wahrheit? Lüg nicht an!«

»Lüg nicht an!« das Echo klang.

Die Pfarrerstochter selbst hatte vor ein paar Monaten die Kleine diese Reime gelehrt; aber damals war eben alles ganz anders gewesen als heute. Jetzt hatte sie keine Kraft, mit dem Echo zu scherzen.

Die Kleine blieb ihr nun an der Seite, bis sie eine Kiesgrube erreichten, die links vom Wege dicht unter dem Bergabhang lag. Aber hier verließ die Kleine die Pfarrerstochter und sprang in die Grube hinunter, wo sie dann zwischen den heruntergefallenen Steinen eifrig nach Katzengold suchte. Erst als sie die Pfarrerstochter an der Wegbiegung aus den Augen verlor, jagte sie wieder hinter ihr her.

Dann gingen sie miteinander bis an den Bach. Der Kleinen war es ganz und gar unbegreiflich, daß Mamsell Maja Lisa an dem Bach vorübergehen konnte, ohne stehen zu bleiben, ja ohne auch nur einen Blick auf ihn zu werfen. Wildschäumend brauste er von der bewaldeten Höhe herab und bildete einen Wasserfall um den andern, den einen immer großartiger als den andern, bis er unten beim Wege angelangt war. Wenn er sich dann aber brausend und schäumend unter der Brücke durchgezwängt hatte, wollte er nicht mehr in dem alten Bett bleiben, sondern riß sich los und trat über seine Ufer. Aber das konnte die Kleine nicht leiden. Sie eilte an den Wegrand hin und begann zu graben und einzudämmen, um das Wasser in sein altes Bett zurückzuzwingen.

Sie wäre sehr dankbar gewesen, wenn die Pfarrerstochter angehalten hätte, um ihr zu helfen. Aber ach, die Pfarrerstochter konnte mit knapper Not auf dem ebenen Weg weiterkommen! Sie hatte das Gefühl, als schleppe sie sich nur noch dahin. In andern Jahren hatte sie auch beim Eindämmen des Baches mitgeholfen, aber da war sie ja noch ein Kind gewesen.

Plötzlich blieb sie stehen, denn auf einmal begriff sie, was ihr widerfahren war: Ach, alt war sie geworden, die Jugend und die Jugendlust waren von ihr genommen!

Die Pfarrerstochter wanderte langsam immer weiter, und schließlich mußte die Kleine den Bach im Stich lassen und ihr folgen. Aber sie hielt sich nicht lange auf dem geraden Wege.

Jetzt kamen sie an ein Gatter, das auf einen eingefriedigten Weideplatz führte, wo man immer die ersten Anemonen fand. Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber jetzt war der Frühling so weit vorgeschritten, daß man sie jeden Tag erwarten konnte. Die Kleine machte das Gatter auf, um ein bißchen hineinzulugen. Sie hatte sich fest vorgenommen, die zu sein, die in diesem Jahre die erste Anemone nach Hause brachte.

Aber die Pfarrerstochter ging weiter wie eine alte, alte Frau und zeigte nicht die geringste Lust, Frühlingsblumen zu suchen.

Etwas weiter hin hatte die Kleine einen alten Freund, den sie nie zu begrüßen vergaß. Das war ein Käuzchen, das in der großen hohlen Birke, dem größten Baum auf ganz Lövdala, wohnte. Die Kleine nahm ein Hölzchen und steckte es in die Behausung des Käuzchens hinein; sogleich streckte der Vogel einen Fuß heraus und versuchte das Hölzchen hinauszuschieben. Noch nie hatte die Kleine mehr von dem Käuzchen zu sehen bekommen als diese großen Klauen. Das wußte die Pfarrerstochter wohl, denn sie war früher auch bei dem Käuzchen stehen geblieben, um es zu necken. Jetzt konnte sie nicht begreifen, daß ihr das je Vergnügen hatte machen können.

Sobald sie an der Birke mit dem Käuzchen vorbei waren, kam die Kleine eilig dahergelaufen, und nun, das wußte die Pfarrerstochter recht gut, würde ihr das Mädchen eine Weile nicht von der Seite weichen. Denn nun mußten sie an dem alten moosbewachsenen Feldmäuerchen vorüber, in dessen Nähe es nicht ganz geheuer war. Ach, die Pfarrerstochter sehnte sich in die Zeit zurück, wo auch sie sich vor dem schauerlichen Pfarrer ohne Kopf gefürchtet hatte, der einem gerade hier bei dem Feldmäuerchen begegnen konnte.

Es ging jetzt bergauf; und die Pfarrerstochter merkte, daß sie nicht nur wie eine Schnecke dahinschlich, nein, es war ihr, als könne sie den Gipfel des Hügels nie und nimmer erreichen.

Weiter als bis auf den Gipfel dieses Hügels pflegte sie nie zu gehen. Da droben lag dicht am Wegrand ein großer Felsblock, und auf diesen setzte sie sich dann eine Weile. Auf der Vorderseite des Felsens war ein kleiner Sitzplatz ausgehauen, gerade groß genug, daß sie und die Kleine zur Not darauf Platz hatten. Maja Lisa schloß die Augen und fühlte sich so müde, daß sie nichts sagen konnte, und die Kleine verhielt sich auch ganz still. Einmal öffnete die Pfarrerstochter die Augen und schaute sich um, weil sie geglaubt hatte, die Kleine sei aufs neue ausgeschwärmt. Aber sie saß noch neben ihr und strich sachte mit der Hand über einen Zipfel von Mamsell Maja Lisas Kleid, der zufällig auf ihrem Knie liegen geblieben war.

Ach, alles war so betrübt für die Pfarrerstochter, für sie, die Lövdala und das ganze Kirchspiel hätte erben sollen! Es kam ihr vor, als sei dieses Kind hier jetzt der einzige Mensch, der sie nicht verlassen hatte.

Ja, gerade deshalb fühlte sie sich alt und schwach, weil sie von allen verlassen worden war. Sie war ebenso einsam wie jemand, dem alle seine Freunde gestorben und ins Grab gesenkt worden sind.

Seit jenem Tage in Svansskog war sie mit niemand mehr zusammengetroffen, der ihr wohlwollte und sich ihrer annahm. Nachdem sie wieder daheim war, hatte sie zuerst jeden Tag erwartet, es werde jemand kommen, der sie von aller ihrer Not und Drangsal befreite. Sie wußte nicht, wer kommen sollte, und wußte auch nicht, wie er es anstellen sollte, ihr zu helfen; aber sie meinte, in jenen beiden Tagen habe sich so viel Merkwürdiges zugetragen, und wenn es so gut angefangen hatte, müßte es auch so weitergehen.

Aber seither war ein Tag um den andern vergangen, ohne daß sich irgend etwas ereignet hatte. Woche folgte auf Woche, und eine war der andern so ähnlich gewesen, daß Maja Lisa sie in ihrer Erinnerung nicht auseinanderhalten konnte.

Ja, unbegreiflich und sonderbar war es, daß alles so ruhig um sie her verblieb. Manchmal bildete sie sich ein, es müßten weit draußen in der Welt Dinge geschehen, die sie angingen. Bisweilen fühlte sie sich von Stimmen umgeben, die mit ihr sprachen, bisweilen auch überkam sie Angst, weil sich niemand nach ihr sehnte und ihr zu Hilfe kam. Aber der ganze Februar, der ganze März und fast der ganze April waren jetzt vergangen, und bis zum heutigen Tag war weder Botschaft noch Brief zu ihr gedrungen von denen, die frei waren, die sich bewegen konnten, wie sie wollten, und die nicht in einem eisernen Käfig eingesperrt waren.

Nun, wurde ihr allmählich klar: – niemand würde kommen. Sie mußte ihren Kampf allein auskämpfen, ohne irgendwelche Hilfe. Aber ach, es war so schwer, alle Hoffnung aufzugeben! Nun hatte sie gemeint, recht starke und gute Freunde gefunden zu haben, und sie konnte es noch nicht fassen, daß sie sich gar nicht um sie kümmerten.

Der alte Felsblock, auf dem sie saß, sollte schon zu der Zeit hier am Wegrand gelegen haben, als Lövdala nur eine Sennerei mitten im wilden Walde gewesen war, zu der die Sennerinnen jeden Sommer mit ihren Kühen und Geißen zogen. Da habe einmal ein junger Bursche einen Sitzplatz in den Felsen gehauen, damit sein Schatz ein Plätzchen zum Ausruhen hätte. Hier vom Gipfel des Berges, auf dem der Felsblock lag, konnte man bis zum Lövsee und zur Kirche hinsehen, und sicher hatte von denen, die die Herde hier weideten, gar oft ein Mädchen hier gesessen und nach jemand ausgeschaut, der sie abholen und aus der Einöde zu den Menschen zurückführen würde. Ja, Maja Lisa fühlte, wenn sie hier saß, ganz deutlich, daß an diesem Platz oft mit bitterem Heimweh gekämpft worden war.

Die Pfarrerstochter stützte den Kopf in die Hand und seufzte. Wer ihr helfen wollte, mußte bald kommen, denn lange konnte sie es jetzt nicht mehr aushalten. Sie litt zwar an keiner eigentlichen Krankheit, aber sie siechte vor Kummer und Verlassenheit dahin.

Und nicht ihr allein tat Hilfe und Rettung not, nein, ganz Lövdala war in Gefahr. Diese ihre Heimat, wo sie jeden Stein liebte, war dem Verderben geweiht.

Es war jetzt erst Ende April, und man fror beim Stillsitzen auf dem kalten Stein. Sie machte sich langsam auf den Heimweg. Dabei dachte sie aber nicht mehr an sich selbst, sondern nur noch an Lövdala.

Eines Sonntags, es war Ende März gewesen, war der Vater mit der Nachricht von der Kirche heimgekommen, Pastor Liljecrona habe bei dem König um die Erlaubnis nachgesucht, seine Bewerbung um die Propstei in Sjöfkoga zurückziehen zu dürfen.

Der Vater hatte beim Mittagessen davon gesprochen, und Maja Lisa war sehr rot und erregt geworden. Sie hatte den Vater sofort gefragt, warum Pastor Liljecrona denn die große Pfarrei nicht angenommen habe. Aber darauf hatte der Vater keine Antwort geben können. Er wußte nur, daß Pastor Liljecrona außerordentlich viel für seine Gemeindeglieder tue, und sagte dann, Liljecrona müsse ein besonders edler Mann sein, wenn er auf Wohlstand und eine hohe Stellung verzichten könne, um bei denen zu bleiben, die ihn brauchten.

Auch die Stiefmutter hatte sich ganz auffallend für Vaters Neuigkeit interessiert. Sie fragte, ob es denn auch wirklich wahr sei, daß Liljecrona Sjöskoga ganz aufgegeben habe? Und als Vater ihr dies bestimmt versicherte, war die Mutter in ihrer rücksichtslosen Weise vorgegangen und hatte gesagt, sie meine, nun sollte sich Vater darum melden.

Der gute Vater war gewiß nicht oft in seinem Leben sprachlos gewesen, aber jetzt blieb er stumm und still sitzen und starrte die Mutter nur an. Er sah fast entsetzt aus, wie wenn er es geradezu für ein Unglück hielte, daß Mutter diesen Gedanken gefaßt hatte. Ach, er war wohl nicht mehr recht sicher, ob er die Kraft hatte, ihr eine abschlägige Antwort zu geben.

Auch Maja Lisa war ganz bestürzt. Fast hätte sie geglaubt, die Stiefmutter scherze; aber dazu war diese nicht angetan. Es war auch gar nicht so töricht gedacht – Maja Lisa hatte selbst oft gemeint, ihr Vater sollte von Rechts wegen mindestens Bischof werden –, aber seit er den Schlaganfall gehabt hatte, wäre es ja das größte Unrecht, wenn man ihn anspornen wollte, sich um ein großes, geschäftsvolles Amt zu bewerben. Der Vater war allerdings in der letzten Zeit viel frischer und jetzt wieder fast ganz wie früher, aber Mutter wußte doch recht gut, daß er nicht mehr bei seiner vollen Kraft war.

Maja Lisa hatte sich gezwungen, zu schweigen. Wenn sie sich mit ihren Einwendungen hervorgewagt hätte, wäre die Stiefmutter erst recht in Eifer geraten. Als die Mutter dann weder von dem einen noch von dem andern eine Antwort erhielt, hatte sie weiter über die Sache geredet.

»Wenn man zu lange auf einer Stelle sitzen bleibt,« sagte sie, »wird man vor der Zeit alt. Nichts trägt so sehr dazu bei, die Bequemlichkeit abzuschütteln, als in eine neue Arbeit hineinzukommen.«

Maja Lisa hatte gedacht, Vater sei schon zu weit in den Jahren fortgeschritten, als daß er durch vermehrte Arbeit wieder frisch gemacht werden könnte; aber immer noch gelang es ihr, zu schweigen. Darauf hatte die Stiefmutter weitergesprochen, als ob es schon beschlossene Sache sei, daß Vater auf ihren Vorschlag eingehe: Natürlich werde ja die ganze Wahl noch einmal vorgenommen, und jedenfalls müsse Vater morgen nach Karlstadt fahren, um sich danach zu erkundigen; ja, das beste wäre, er führe gleich nach Stockholm und meldete sich persönlich bei Seiner Majestät. Sie wisse, wie gelehrt Vater sei und wie leicht er gute Empfehlungen bekommen könne, weil er ja mehrere Jahre bei den hohen Herren, die jetzt an der Spitze standen, Hauslehrer gewesen sei.

Bis jetzt hatte sich Maja Lisa nur für den Vater geängstigt; aber nun fiel ihr noch etwas anderes ein, und da konnte sie sich nicht länger beherrschen, sondern sie unterbrach die Mutter und sagte:

»Wenn Vater nach Sjöskoga zieht, kann er ja Lövdala nicht behalten.«

Darauf hatte sich die Stiefmutter an Maja Lisa gewandt, und zugleich hatten sich ihre Finger so gekrümmt, daß sie wie Krallen aussahen, und mit ihrer rauhen Stimme, die durch den Haß und Widerwillen, den sie gegen Maja Lisa hegte, fast undeutlich klang, erwiderte sie:

»Dein Vater ist doch nicht verpflichtet, sein Leben lang hier zu sitzen und Lövdala für dich zu hüten. Lövdala könnte er leicht los werden, dann wäre er ein freier Mann und könnte eine Stellung einnehmen, die passend für ihn ist.«

Der Vater war nun fertig mit essen, und so stand er rasch vom Tische auf. Er war nur zu froh, diese Unterhaltung abbrechen zu können.

Aber jetzt wußte Maja Lisa, was die Stiefmutter damals gemeint hatte, als sie sagte, sie wolle Maja Lisa schon noch weinen lehren. Der Vater mußte sich um Sjöskoga bewerben, nur weil die Mutter wußte, daß Maja Lisa ihre Heimat über alle Maßen liebte und daß ihr nichts ein so unheilbares Herzeleid zufügen würde als der Verlust ihrer Kinderheimat.

Eine ganze Woche ungefähr mußte die Mutter den guten Vater bearbeiten, ehe sie ihn einigermaßen gefügig gemacht hatte. Dann hatte aber auch die Stiefmutter jeden Tag bitten und drohen und ihren ganzen Willen einsetzen müssen, daß Vater wenigstens nach Karlstadt fahren sollte, um sich nach der Lage der Dinge zu erkundigen. Aber bis zuletzt hatte es ausgesehen, als sollte es ihr nicht gelingen, und sie hätte den Versuch schließlich doch noch aufgeben müssen, wenn ihr nicht etwas anderes zu Hilfe gekommen wäre.

Der gute Vater war jetzt schon zwanzig Jahre Pfarrer in Svartsjö, und in dieser ganzen Zeit hatte er viele Sorgen und vielen schweren Kummer gehabt. Zuerst hatte die Kirche neu gebaut werden müssen. Die alte war nämlich abgebrannt, und da mußte er ja für die Wiederaufrichtung sorgen. Der Vater hatte nicht allein beim König um Unterstützung bitten, sondern auch die Hilfe vieler hoher Herren in Anspruch nehmen müssen, und er war überdies von Kirchspiel zu Kirchspiel gereist, um Beiträge zu sammeln.

Als die Kirche endlich fertig dastand, war sie auch in erster Linie Vaters Werk, und seine Gemeinde hatte ihm viel Dank und Ehre dafür zuteil werden lassen.

Aber in der letzten Zeit war es Vater sicher aufgefallen, daß sich seine Gemeindeglieder allmählich von ihm zurückzogen. Sie kamen nicht mehr wie früher, ihn in allen Angelegenheiten zu Rate zu ziehen. O, Maja Lisa wußte wohl, woher es kam! Die Leute glaubten, die Stiefmutter diktiere jetzt Vaters Ratschläge; aber das wußte der gute Vater nicht, er fühlte sich nur zurückgesetzt.

Und gerade wie mit der Gemeinde ging es mit dem eigenen Gesinde. Das Lövdaler Wohnhaus war ja zu Vaters Zeiten damals mit der Kirche abgebrannt, und er hatte schwere Sorgen und große Ausgaben gehabt, bis es wieder aufgebaut war. Alle Leute auf dem Hofe, die schon lange vor Vaters Zeiten da dienten, hatten sich von Herzen über alles gefreut, was Vater als Baumeister und Landwirt zustande gebracht hatte, und wohin er kam, begegnete er immer freundlichen Gesichtern. In der letzten Zeit jedoch war das anders geworden, Vater sah mürrische Gesichter, sowohl im Gesindehaus als in der Küche, und er wollte es durchaus nicht der zur Last legen, die allein schuld daran war, sondern fragte sich nur immer, warum sich denn die alten guten Dienstboten so undankbar und unfreundlich zeigten?

Dies alles half der Stiefmutter in hohem Grad, als sie Vater wegen der Meldung um Sjöskoga bearbeitete. Aber es wäre ihr sicher trotz allem nicht geglückt, wenn nicht auch noch die ärgerliche Geschichte mit dem Kätner Vetter dazugekommen wäre.

Die Pfarrerstochter fühlte sich so müde und matt, daß sie sich nicht recht erinnern konnte, wann das eigentlich gewesen war. Aber sie meinte, es sei wohl Mitte März gewesen, als die Stiefmutter sich vor Angst fast nicht mehr lassen konnte, – weil Vetter aus dem Gefängnis entlassen wieder heimkam.

Vetter wohnte in einer kleinen Kate, eine Strecke nördlich von Lövdala, und eigentlich hätten alle erschrecken müssen, als es ruchbar wurde, daß er wieder da sei, denn Vetter war ein Erzdieb. Aber nun war er schon seit vielen Jahren der Nachbar von Lövdala, und so dachte man nicht weiter darüber nach, ob er daheim war oder nicht, insbesondere nicht, weil man wußte, daß er klug genug war, bei seinen nächsten Nachbarn keinen Einbruch zu verüben.

So oft Vetter aus dem Gefängnis entlassen wurde, gelobte er sich, nun ordentlich daheim zu bleiben; aber er vermochte eben sein Gelübde doch nicht zu halten. Er hatte Freude an seinem Handwerk und war ebenso stolz auf seine Geschicklichkeit im Stehlen, wie die Stiefmutter auf ihre Kochkunst. Die Folge davon aber war, daß Vetter den größten Teil seines Lebens im Gefängnis saß. Als Vater und Mutter heirateten, saß er eben auch wieder hinter Schloß und Riegel, und die Stiefmutter hatte deshalb keine Ahnung davon gehabt, daß ihr nächster Nachbar ein berüchtigter Dieb war.

Jetzt aber wurde die Stiefmutter von einer übermäßigen Angst befallen, die ihr fast den Verstand raubte. Sie glaubte ohnedies, alle Menschen, Vater kaum ausgenommen, seien Diebe, und lebte in beständiger Angst um ihr Eigentum. Während der vielen Jahre, die sie als Haushälterin in vornehmen Häusern verbracht hatte, waren ihr eine Menge Silbersachen geschenkt worden, und sie verwahrte diese in einem Schrein, den sie jede Nacht unter ihr Bett stellte. Dieses Silber war ihr das liebste, was sie besaß, und jetzt, wo sich ein so berüchtigter Dieb in der Nähe aufhielt, war sie der festen Überzeugung, es zu verlieren.

Die Stiefmutter hatte zwar ihre Schränke und Truhen schon vorher so gut verschlossen und verriegelt wie nur immer möglich; aber seit Vetter zurück war, hatte sie kaum noch für etwas anderes Zeit, als die Schlüssel an ihrem Schlüsselbund zu zählen. Abends holte sie eine große Axt aus der Geschirrkammer und lehnte sie an ihr Bett, auch ließ sie Vater keine Ruhe, bis er eine geladene Flinte über seinem Bett aufhängte.

Vater versuchte sie zu beruhigen und sie zu überzeugen, daß Vetter bei seinen Nachbarn niemals etwas stehle; aber auch er konnte ihr die unvernünftige Angst nicht austreiben.

Nachdem Vetter indes ein paar Tage daheim war, machte er wie gewöhnlich einen Besuch auf Lövdala. Mutter stand eben in der Küche, sah ihn am Fenster vorbeigehen und fragte gleich, wer das sei.

»Das ist ja der Vetter,« sagte die Haushälterin, ohne eine Spur von Verwunderung. »Er kommt natürlich, um dem Herrn Pfarrer seine Rückkehr zu melden.«

Das hatte die Stiefmutter nicht erwartet, denn der Mann, der da in die Studierstube hineingegangen war, hatte ja ganz wie ein ehrbarer, biederer Bauersmann ausgesehen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst, und sie sank entsetzt auf einen Stuhl nieder.

So rasch sie es vermochte, raffte sie sich wieder auf, eilte ins Zimmer hinein, ergriff ihren Silberkasten, setzte sich damit auf das Kanapee im Saal und hielt ihn, solange Vetter beim Pfarrer drinnen war, fest umschlungen.

Aber Mutter durfte recht lange mit ihrem Silberkasten im Arm da sitzen bleiben, denn Vater hatte von jeher eine gewisse Schwäche für Vetter gehabt und ließ ihn nicht gehen, bis er ihm alle seine Streiche berichtet hatte. Und dann mußte ihn ja Vater auch noch ein wenig ermahnen, damit es nicht aussah, als habe er Vetter nur zu seinem Vergnügen schwatzen lassen.

Danach hatte sich Mutter wegen der Sachen, die sich im Wohnhaus befanden, doch etwas beruhigt. Um so größere Angst hatte sie aber um ihre Kisten in den Nebengebäuden und noch am allermeisten um das Vorratshaus. Dieses hatte nur ein altes, schlechtes Schloß; wer nur immer wollte, konnte es aufmachen. Wenn man den Schlüssel nicht bei sich hatte, ließ es sich ganz leicht mit einem Hölzchen öffnen.

In derselben Woche nun, wo so viel über Sjöskoga verhandelt wurde, ließ Mutter den Schmied Olaus kommen, der besonders geschickt in seinem Handwerk war, und bestellte ein neues Schloß bei ihm, das so kunstreich sein sollte, daß es jedem Dieb Widerstand leisten würde.

Und vier volle Tage hindurch stand Olaus in seiner Schmiede; aber dann hatte er auch ein so großes und hartes Schloß hergestellt, daß selbst Mutter den Schlüssel kaum umzudrehen vermochte.

Als dieses Schloß dann glücklich in der Tür des Vorratshauses saß, war die Mutter ganz glücklich. Sie schloß es am Abend selbst zu, nahm den Schlüssel mit in ihr Schlafzimmer und sagte, in dieser Nacht werde sie ruhiger schlafen als seit vielen Tagen.

Am nächsten Morgen, als Mutter erwachte, lag der große Schlüssel unberührt unter ihrem Kopfkissen; aber das hatte nicht verhindert, daß im Vorratshaus etwas höchst Absonderliches vorgefallen war.

Dort war zwar die Tür ebenso fest verschlossen wie am vorhergehenden Abend, aber nichtsdestoweniger waren alle beweglichen Gegenstände, die darin gewesen waren – Fleischbottiche und Bretter voll gebackenem Brot, Schinken und Würste, Maße und Gewichte, Kübel und Säcke –, hinausgetragen und auf den Stufen des Vorratshauses in Reih' und Glied aufgestellt.

Wie gesagt, alles miteinander war herausgetragen, aber nichts gestohlen; und als man alles da vor der wohlverschlossenen Türe stehen sah, mußte man sich wohl verwundert fragen, wie denn das zugegangen war.

Die Mutter dachte natürlich sofort – und das dachten alle andern auch –, Vetter sei da am Werk gewesen. Aber als sie nachsah und nachzählte und fand, daß auch nicht ein einziges Stückchen Brot fehlte, konnte sie diesen Dieb einfach nicht begreifen.

Als Vater später seinen Morgenspaziergang machte, begegnete er indes dem Vetter, und da erhielt er die Erklärung.

»Vetter, Vetter!« sagte Vater. »Was hat Er da gemacht? Ist Er heute nacht in meinem Vorratshaus gewesen?«

Vetter sah ganz gekränkt aus, und er antwortete: »Der Herr Pfarrer kann die Frau Pfarrer von mir grüßen und sagen, ich stehle nie bei Herrschaften, Aber sie solle doch ja nicht meinen, weil sie so gute Schlösser habe, könnte ich mir das nicht holen, was ich haben möchte.«

Ach, ach! Wenn der gute Vater noch wie früher gewesen wäre, hätte er sich lange Zeit an diesem Ausspruch ergötzt; jetzt aber nahm er Ärgernis daran. Der Vater wußte wohl, daß diese Geschichte im ganzen Kirchspiel bekannt wurde, und daß seine Frau, ja vielleicht auch er selbst von jedermann darüber ausgelacht würde.

Vater hatte Vetter offenbar kein Wort erwidert. Ach, in seinem Herzen stieg wohl das Gefühl auf, er werde von allen hintergangen und habe keinen Freund mehr in seiner Gemeinde. Und da dachte er, es wäre gewiß am besten, wenn er von Svartsjö wegginge.

Als er auf den Hof zurückkam, sagte er zu Mutter, er wolle am nächsten Tag nach Karlstadt fahren, um sich wegen Sjöskoga zu erkundigen.

Er war dann auch dort gewesen und wieder zurückgekommen, und es hatte wirklich ausgesehen, als sollte die Stiefmutter recht behalten, denn bei seiner Rückkehr war er ganz aufgeräumt. Er war nicht allein in Karlstadt, sondern auch in Stockholm gewesen, wo man ihm alle Hoffnung gemacht hatte, und nun zweifelte er gar nicht daran, daß er von Svartsjö fortkommen werde.

Eine sonderbare Neuigkeit hatte Vater indes auf dieser Reise auch gehört; Pastor Liljecrona in Finnerud hatte sich im Frühling verheiratet. Es sollte eine ganz geringe Person sein, durchaus keine gute Partie. Vater hatte auch gehört, dies sei die Veranlassung gewesen, warum er in Finnerud geblieben war.

Maja Lisa hatte den Vater nicht genauer darüber auszufragen gewagt, weil der Mutter Augen die ganze Zeit durchdringend auf sie gerichtet waren. Aber nun hatte sie jedenfalls erfahren, warum ihre erhofften Nothelfer nichts von sich hören ließen. Und diese Nachricht war der hauptsächliche Grund, warum sie so mutlos geworden und alle Hoffnung verloren hatte. Pastor Liljecrona war ihr damals kampftüchtig und entschlossen vorgekommen; sie hatte sich auf ihn verlassen wie auf einen Bruder, und bis dahin hatte sie auch immer erwartet gehabt, er werde in seiner ganzen stürmischen Jugendkraft eines Tages angefahren kommen und alles für sie recht und gut machen.

 


 << zurück weiter >>