Selma Lagerlöf
Liljecronas Heimat
Selma Lagerlöf

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Der Pfarrer von Svartsjö

Der Silvesterabend war herangekommen, und am Vormittag steckte der Pfarrer den Kopf durch die Küchentüre herein und fragte:

»Was ist denn aus dem kleinen Sausewind geworden? Ich habe sie nicht auf der Schlittenbahn gesehen. Sie wird doch nicht mit euch andern Frauenzimmern vom Morgen bis Abend daheim sitzen sollen?«

Nach der Kleinen fragte er. Gleich am ersten Tage nach ihrer Ankunft auf Lövdala hatte er sie mit sich genommen und ihr in der Geschirrkammer einen Schlitten hervorgesucht, und seither kam er jeden Vormittag und ermahnte sie, doch hinauszugehen und Schlitten zu fahren.

Jetzt nahm er gleich auch die Gelegenheit wahr, die Haushälterin und die Mägde ein wenig zu necken, indem er sagte, sie wollten offenbar am liebsten den ganzen Tag in der Küche schmoren.

Da erhielt er zur Antwort, die Kleine wäre sicherlich wie gewöhnlich mit dem Schlitten draußen, wenn nicht heute ihre Mutter gekommen wäre, um zu sehen, wie es ihr gehe. Marit sei hinüber in den Stall zu den Kühen gegangen, und die Kleine habe sie begleitet.

Darauf zog sich der Pfarrer zurück und machte die Türe hinter sich zu. Er überlegte ein paar Augenblicke, dann schlug er den Weg nach dem Stalle ein.

Die in der Küche versammelten Mägde folgten ihm mit den Augen: seit seiner Krankheit im Herbst sah er alt und schwach aus; aber so viel war sicher, er mußte mit jedem Menschen, der auf den Hof kam, ein bißchen plaudern.

Es dauerte indes eine gute Weile, bis der Pfarrer Marit von Koltorp aufsuchen konnte. Denn zuerst kam der lange Bengt daher und rief ihm zu, es sei ein Mann mit einem kranken Pferd da, der den Herrn Pfarrer fragen wolle, ob er nicht helfen könne.

Und nachdem er sich mit dem kranken Pferd beschäftigt hatte, kamen zwei Bauern, die in Erbstreitigkeiten miteinander lagen und verlangten, der Herr Pfarrer solle ihnen sagen, wie viel jeder von ihnen von Rechts wegen bekomme, damit sie die Sache nicht vors Gericht bringen müßten.

Es verging dann wenigstens eine Stunde, bis er die beiden endlich so weit gebracht hatte, daß er sie zum Friedensbecher einladen konnte.

Indessen saß die Kleine drüben im Stalle in einem dunklen Winkel und schwatzte mit ihrer Mutter. Jedes hatte sich auf einen Melkschemel gesetzt, und Bubi saß auf dem Schoß seiner Schwester. Er war glückselig über das Wiedersehen und wollte sie keinen Augenblick loslassen.

Mutter und Bubi waren bis heute bei dem Oheim auf dem Nyhof gewesen. Jetzt gingen sie wieder heim, hatten aber den längeren Weg über Lövdala genommen, um zu sehen, wie es der Kleinen ginge.

Die Kleine war gewiß noch nie so froh gewesen, als da sie ihre Mutter in die Küche hereinkommen sah. Sie kam gerade recht, um ihr in ihrem großen Kummer beizustehen.

Als sie im Stall angekommen waren, hatte die Mutter ihr zuerst erklären müssen, wie es sich denn mit dem neuen Märchen vom Schneewittchen verhalte, das die Kleine in zwei Nächten hintereinander mitangehört hatte, und sie fragte, ob es denn möglich sei, daß die Pfarrerstochter von sich selbst gesprochen habe.

Nachdem sie dann alles, so gut sie konnte, erzählt hatte, schwieg die Mutter zuerst eine gute Weile, schließlich sagte sie: »Sie trauten dir wohl nicht so viel Verstand zu, daß du verstehen würdest, was sie sagten. Wenn du es nun aber doch begriffen hast, mußt du deinen Verstand auch dadurch beweisen, daß du darüber schweigst.«

Aber dies war nicht alles, was die Kleine auf dem Herzen hatte.

Gestern vormittag war die Pfarrfrau zu ihr hergekommen. Sie hatte gar sanft und freundlich ausgesehen und sie gefragt, wie es ihr hier gefalle, und ob sie kein Heimweh habe.

Jawohl, es gefalle ihr hier, und es gehe ihr gut, und die Hühner habe sie besonders gern.

»Ach so,« hatte die Pfarrfrau erwidert und ein wenig gelacht; »und ist sonst niemand auf dem Hofe, den du gern hast?«

»Doch,« hatte sie gesagt, »Mamsell Maja Lisa auch.«

Da hatte die Pfarrfrau wieder ein wenig gelacht und gefragt, warum sie denn gerade Mamsell Maja Lisa so gern habe.

Weil sie ihr so viel Schönes erzähle.

»Ei sieh,« hatte die Pfarrfrau gesagt, »und kannst du begreifen, woher sie das alles weiß, was sie dir erzählt?«

»Es wird wohl in den Büchern stehen, die sie bei Nacht liest,« hatte die Kleine geantwortet.

»Ach so, sitzt sie bei Nacht auf und liest?« hatte die Pfarrfrau entgegnet. »Dann zündet sie sich wohl einen Kienspan an?«

»Nein, nein, sie liest bei einer Kerze, das weiß ich,« lautete die Antwort der Kleinen.

Als es nun Nacht wurde und die Pfarrerstochter und die Kleine wie gewöhnlich schlafen gegangen waren, war die Pfarrfrau, sobald sie in ihren Betten lagen, wie gewöhnlich hereingekommen und hatte das Licht mitsamt dem Leuchter weggenommen.

Aber als es still im Hause geworden war, stand die Pfarrerstochter wieder auf, holte ein Talglicht herbei, das sie unten in der großen Kastenuhr verborgen hatte, schlich damit in die Küche hinaus, blies eine Kohle auf dem Herd an, um ihr Licht anzuzünden, und begann zu lesen. Die Pfarrerstochter hatte einen Bruder in Uppsala, der ihr öfters Gedichte machte und sie ihr schickte, weil er wußte, daß sie so etwas über alle Maßen liebte. Und diese Gedichte lernte sie bei Nacht auswendig.

Es war wohl etwas sehr Schönes, was sie eben las, denn sie hörte nicht, daß die Saaltüre aufgemacht wurde, und schaute nicht auf, bis die Pfarrfrau vor ihr stand, eine Hand ausstreckte und das Licht aus dem Leuchter nahm.

»Du willst uns wohl alle miteinander an den Bettelstab bringen,« grollte die Pfarrfrau, »daß du hier aufbleibst und die ganze Nacht Licht brennst. Woher hast du das Licht?«

»Es sind nicht deine Lichter,« antwortete die Pfarrerstochter.

»Ob sie mein sind oder nicht, so werde ich doch acht geben, daß du nicht hier sitzst und uns alle an den Bettelstab bringst,« entgegnete die Stiefmutter, »Ich werde dich lehren, die Kerzen zu verschwenden, ja, das werde ich.«

Darauf ging die Pfarrfrau hinaus, kam aber gleich wieder mit einem Stück Leinwand zurück.

»Da du nun doch einmal bei Nacht aussitzen willst, so sollst du wenigstens etwas Nützliches tun,« sagte sie. »So, hier der Hohlsaum an diesem Leintuch muß bis morgen früh fertig sein.«

Dann ging sie, und Mamsell Maja Lisa mußte die ganze Nacht an ihrer Arbeit sitzen.

Wer aber kein Auge zutat, das war die Kleine. Ach, sie war tief unglücklich, weil sie es gewesen war, die verraten hatte, daß die Pfarrerstochter bei Nacht zu lesen pflegte.

Und deshalb war sie so froh, als ihre Mutter kam.

Ach, wenn nun die Pfarrerstochter erführe, was sie getan hatte! Etwas Schrecklicheres konnte sie sich gar nicht denken, und so flehte sie die Mutter an, sie doch mit nach Hause zu nehmen, sie wolle nicht im Pfarrhaus bleiben.

Die Mutter redete ihr zu, so gut sie konnte; aber die Kleine nahm keine Vernunft an und sagte nur immer wieder, es sei ihr einerlei, ob sie auch hungern und frieren müsse, wenn sie nur fortkomme, ehe die Pfarrerstochter böse auf sie geworden sei.

Aber die Mutter blieb fest dabei, sie müsse bleiben, wo sie sei. »Und ich sage dir, die Raclitza wird es auch nicht mehr lange so weitertreiben. Ich selbst werde mit dem Pfarrer reden, denn mich kennt er ja aus alter Zeit, und mir wird er wohl glauben.«

In diesem Augenblick deutete Bubi nach der Stalltüre. »Dort drüben steht jemand,« sagte er.

Mutter und die Kleine drehten sich zugleich um. Ja, dort im tiefen Schatten stand der Pfarrer, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt. Er lehnte sich an die Wand und rührte sich nicht.

Beide erschraken über die Maßen, und keines wagte aufzustehen, ihn zu begrüßen. Wann mochte er gekommen sein, und wie viel mochte er gehört haben?

»Marit, bring mir deinen Melkschemel her,« sagte er mit schwacher Stimme.

Rasch eilte Marit mit dem niederen Stühlchen zu ihm hin, und er sank schwer darauf nieder.

»Ruf niemand herbei,« sagte er. »Es ist nur ein Schwindel. Du weißt, ich habe von jeher daran gelitten.«

Marit und die Kleine standen ratlos vor ihm, und Marit verwunderte sich sehr, wie alt er geworden war. Bei dem Weihnachtsessen auf dem Nyhof hatte sie es nicht so gemerkt; aber jetzt fiel es ihr auf, wie mager und zusammengefallen er war.

»Nein, es ist nichts Gefährliches, aber es überfällt mich jetzt recht oft,« sagte er. »Es ist aus mit mir, Marit, verstehst du?«

Doch schon nach einem ganz kleinen Weilchen stand er wieder auf.

»Sag drüben nichts davon,« gebot er; und dann ging er langsam und gebückt zum Stalle hinaus.

 


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