Selma Lagerlöf
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Der kleine Matrose

Es ist an einem schönen Sonntagnachmittag, und ich sitze allein auf einer Bank in dem alten Schloßgarten vor einem kleinen Städtchen an der Westküste. Er ist ein sehr friedlicher, ruhiger Ort, obgleich er jetzt dem Publikum überlassen ist. Hier und dort sind unter den Bäumen Tische und Stühle aufgestellt. Hier und dort sitzen einige stille Gäste, die leise, fast flüsternd miteinander sprechen. Eine einzige alte Kellnerin besorgt die Bedienung. Sie nimmt ruhig und freundlich die Bestellungen entgegen und führt sie sorgfältig, aber ohne die geringste Eile aus. Wenn sie dann mit einem vollbeladenen Kaffeetablett kommt und es vor einen Gast niederstellt, lächelt sie wohlwollend wie eine Hausfrau, die ihrem Besuch das Beste vorsetzt, was das Haus zu bieten vermag.

Ein Stückchen hinter mir haben drei Personen an einem Tisch Platz genommen. Sie sitzen so regungslos und stumm, daß es eine Weile dauert, bis ich merke, daß sie da sind. Nur in langen Zwischenräumen sagt eines von ihnen ein Wort.

Die kleine Gesellschaft besteht aus zwei alten Frauen in ernsten schwarzen Kleidern und einem jungen Manne von ungefähr zwanzig Jahren, etwa wie ein besserer Matrose gekleidet. Die beiden Alten sind so sehr davon ergriffen, hier draußen unter fremden, feingekleideten Menschen zu sitzen, daß sie absolut keinen Gesprächsstoff finden können, aber der junge Mann hält es offenbar für seine Pflicht, von Zeit zu Zeit etwas zu sagen.

»Mutter und Tante,« ruft er aus, »wie nett das ist, daß wir so schönes Wetter für diesen Ausflug haben!«

»Ja, sehr nett,« antworten die beiden Alten wie aus einem Munde, und dann senkt sich wieder Schweigen auf sie herab.

Ich rücke ein wenig auf der Bank, um besser sehen zu können. Der junge Matrose sitzt ein wenig achtlos zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen, und schaukelt sich auf seinem Stuhl hin und her. Er sieht gar nicht gelangweilt aus. Im Gegenteil, ein zufriedener Ausdruck ist in seinem knabenhaften Gesicht.

Die zwei alten Frauen, die neben ihm sitzen, sind ganz ungewöhnlich häßlich. Sie sehen nicht einmal freundlich aus, sondern sitzen herb und düster da, gezeichnet von mühseliger Arbeit und schwerer, freudloser Lebensauffassung. Aber jedesmal, wenn der junge Mann ihren Blicken begegnet, leuchtet er auf und lächelt. Es ist nicht nur der schöne Nachmittag, der sein Wohlbehagen verursacht, sondern vor allem die Gegenwart dieser alten Frauen.

»Wie nett das doch ist, Mutter und Tante, daß wir so schönes Wetter für diesen Ausflug haben!« ruft er noch einmal aus, und die Alten stimmen bei wie zuvor.

Ich denke bei mir selbst, daß es nicht so ganz ausgemacht ist, daß die zwei alten Frauen wirklich mit dem Ausflug zufrieden sind. Sie sind vermutlich so eingefleischte Stadtbewohner, daß sie sich am wohlsten in ihren eigenen kleinen Stuben fühlen, in ihrer eigenen wohlvertrauten Straße. Vermutlich ist es ihnen nicht sehr angenehm, sich in einem solchen Vergnügungslokal zu zeigen. Nun ja, es wird ja nur Kaffee und Tee serviert, aber sie fühlen sich doch unsicher. Sie wären viel zufriedener, wenn sie in der Kirche säßen und die Abendmette hörten.

Natürlich hat »der Junge« ihnen zugesetzt, doch einmal herauszukommen. Er wollte ihnen eine Freude machen, indem er sie einmal hier hinaus in das Grün und die Blumen brachte. Er glaubte, es würde sie unterhalten, die vielen feinen Herrschaften zu sehen, die gerne zu diesem friedevollen Platz hinauswanderten.

Als die alte Kellnerin mit einem schweren Tablett zu der Gruppe kommt, sieht sie ganz besonders vergnügt und wohlwollend drein. Das ist etwas nach ihrem Herzen: ein Sohn, der mit seiner Mutter und einer alten Verwandten da ist, um ihnen eine frohe Stunde zu bereiten.

Jetzt, wo der Kaffee getrunken wird, ist es etwas lebhafter. Der Junge macht den Wirt, und die alten grämlichen Frauen müssen beinahe lachen, als sie sehen, wie resolut er aufsteht und nach der Kaffeekanne greift. Das ist ja die verkehrte Welt. Sie pflegen doch sonst ihm alles hinzustellen und ihn aufzufordern zuzugreifen. Nun müssen sie es geschehen lassen, daß er den Kaffee einschenkt, Zucker hineintut, Sahne eingießt, alles im Überfluß.

Er ist vielleicht nicht ganz sicher, wieviel die Kanne enthält, denn er wagt nicht, in seine eigene Tasse einzugießen. Trotz aller Proteste tut er es nicht. Er hat schon vorher so unglaublich viel Kaffee getrunken. Und er nimmt sich auch nichts von dem Backwerk. Aber seinen Gästen häuft er so viel Kuchen auf, daß er rings um den Teller liegt.

Dann setzt er sich nieder und betrachtet die beiden Alten mit strahlender Miene. Er bemüht sich gar nicht zu verbergen, wie stolz er darauf ist, sie bewirten zu können, wie sehr es ihn freut, daß es ihm gelungen ist, sie hier heraus zu bringen, sie aus ihrer engen Gasse zu locken.

Bisher waren sie diejenigen, die sich für ihn plagen und rackern mußten, aber diesmal ist er mit reichlicher Löhnung heimgekommen. Die Gehalte sind ja jetzt im Kriege um das Vielfache erhöht worden. Jetzt kann er sie freihalten.

Während er sich zurücklehnt, um in eine möglichst bequeme Stellung zu kommen, denkt er daran, daß Mutter und Tante vielleicht noch nie ein solches Vergnügen gekostet haben. Wenn er wieder aufs Meer hinauskommt, wird es ihm lieb sein, daß er ihnen eine solche Freudenstunde geschenkt hat.

Der kleine Matrose ist ein wenig zerstreut gewesen, während die Alten gegessen und getrunken haben. Aber im selben Augenblick, in dem sie die Tassen wegstellen, springt er auf, um ihnen nachzuschenken. Die Alten zieren sich ein bißchen, aber er gießt ihnen wieder volle Tassen ein.

»Ihr müßt schon vorlieb nehmen, Mutter und Tante, morgen gehe ich ja wieder auf Langfahrt.«

Aber zum dritten Nachguß sagen die Alten entschieden Nein. Das ist etwas, das sie nie vertragen konnten. Das muß er doch wissen.

Sobald er überzeugt ist, daß sie wirklich genug haben, schenkt er sich selbst ein und trinkt eine Tasse nach der andern. Er leert die Kanne bis auf das letzte Tröpfchen und befreit das Backwerkkörbchen von allem Kuchen. Das geht so rasch und leicht, daß die Alten ganz verdutzt sind.

»Ja, du bist mir der Rechte, du! Sagst, daß du heute keinen Kaffee mehr trinken magst!«

Er lacht und ist glücklich über seine kleine List, und die beiden Alten vergessen sich so weit, daß sie lächeln, sie auch.

Aber als das Kaffeetablett abgetragen wird, ist es mit der Lebhaftigkeit aus, und das Schweigen senkt sich wieder auf sie herab. Die beiden Alten sehen sich um, als befürchteten sie, jemand könnte bemerkt haben, daß sie sich amüsierten. Sie recken sich empor und setzen die strenge Kirchenmiene auf.

»Es ist aber doch wirklich nett, daß wir so schönes Wetter für diesen Ausflug haben,« sagt der Sohn. Er sagt es mit einer Miene, als wäre er es, der den Sonnenschein und die Ruhe und den Sommerzauber bestellt hätte und nun dafür gelobt sein wollte. Und sie verstehen es und loben ihn, aber damit lassen sie das Gesprächsthema fallen.

Doch der kleine Matrose ist nach dem Kaffee lebhaft geworden, und er will sie wirklich in ein Gespräch hineinlocken.

»Sieh doch, Mutter, die vielen Schwalben!« sagt er.

Die Mutter hebt den Kopf, blickt aber in die verkehrte Richtung. Ihre Augen sind grau vom Star, und sie sieht keine Schwalben, aber das macht nichts. »Nein, wirklich, wie schön sie fliegen!« antwortet sie. Ein Weilchen später ist die Rede davon, heimzugehen und von all dem Schönen Abschied zu nehmen. Die Alten haben den Vorschlag gemacht, aber der Junge bittet sie ganz eifrig, noch ein bißchen zu bleiben. Er hat es hier so gut.

Und er sitzt da und schaukelt sich und pfeift vor sich hin, nachdem alle Gesprächsthemen zu Boden gefallen sind. Er wünscht sich wahrhaftig nicht von hier fort.

Er ist ganz zufrieden mit seiner Welt.

Da kommt eine Schar von fünf, sechs jungen Leutchen durch den Garten gewandert. Sie sprechen lauter als die bisherigen Gäste, sie bringen eine ganz andere Stimmung mit, als die früher unter den himmelhohen Bäumen herrschte.

Sie wandern dicht an dem Tisch vorbei, an dem der kleine Matrose sitzt, sie nicken und winken, um von ihm bemerkt zu werden, aber sprechen ihn nicht an, sondern gehen weiter.

Aber eine von ihnen bleibt stehen, ein stattliches Mädchen, schön, zartwangig, mit großen, bittenden Augen.

»Grüß Gott, Kristensson!« sagt sie und nähert sich zögernd.

Der kleine Matrose nickt und lächelt, aber steht nicht auf und nimmt die Hände nicht aus den Hosentaschen.

»Grüß Gott, Anna!«

»Sie sind heut vormittag nicht mit zum Segeln gekommen, Kristensson?«

»Nein, Anna, ich wollt' doch auf den Kirchhof, sehen, wie sie den deutschen Matrosen begraben.«

»Aber heut abend kommen Sie doch zum Tanz, Kristensson?«

Sie spricht ganz verzagt und hoffnungslos, mit Tränen in der Stimme.

»Dank schön, Anna! Aber heut abend hab ich daheim noch soviel zu tun. Sie wissen ja, Anna, daß ich morgen fort muß.«

»Ja so. Ja, dann behüt' Gott, Kristensson!«

»Behüt' Gott, Anna!«

Er läßt sie gehen, schaukelt sich weiter und fängt wieder an zu pfeifen.

Die zwei Alten haben die kleine Szene mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt. Als das Mädchen geht, huscht der Schatten eines Lächelns über ihre Gesichter. Sie können doch nicht umhin, sich zu freuen, daß der Junge es vorzieht, bei ihnen zu bleiben, obgleich Jugend und Liebe locken.

Die beiden alten Frauen erheben sich entschlossen. Jetzt ist es aber genug. Sie müssen heim, des Abendbrots wegen. Sie danken ihm ganz zeremoniös für das Fest, aber mitten in die Reihe der feinen Worte hinein ruft die Mutter aus: »An den Abend werd' ich denken bis zu meiner letzten Stunde.«

Der kleine Matrose scheint nicht erfreut über den Aufbruch. Er bleibt bis zum letzten Moment sitzen; man sieht es seiner Miene an, daß er noch gerne weiß Gott wie lange geblieben wäre.

Während sie sich entfernen, folge ich ihnen mit den Blicken durch den Gartengang. Der kleine Matrose geht neben seiner Mutter. Sie haben eine Stelle zu passieren, wo der Weg über eine kahle Felsplatte führt. Da schlingt er den Arm um die Mutter und stützt sie.

Aber auch nachdem sie an der gefährlichen Stelle vorbei sind, geht er so weiter, den Arm um die Mutter gelegt.

Und es kommt mir jetzt vor, daß der Junge sie eigentlich gar nicht stützt, sondern sich eher an ihr festhält. Er umklammert sie, um Schutz zu finden.

»Er fürchtet sich,« denke ich. »Man sieht es an den zusammengezogenen Schultern, daß er sich fürchtet. Er ist ganz außer sich vor Grauen, und wie früher einmal, als er noch ein kleines Kind war, schmiegt er sich an seine Mutter, um Schutz zu finden. Aber wovor fürchtet er sich?«

Ich werfe einen beinahe entsetzten Blick auf die Stühle, auf denen die drei Menschen gesessen haben. Waren nicht eigentlich vier Gäste an dem kleinen Kaffeetisch gewesen? Saß nicht der bleiche Schatten des deutschen Matrosen, des Mannes vom Riff Horn, dessen windgetriebene Leiche man draußen zwischen den Schären gefunden und in die Stadt gebracht hatte, um sie zu begraben, mit im Kreise? Hatte der kleine Matrose ihn nicht die ganze Zeit da gesehen, drohend mit den Schrecknissen des Meeres? War nicht er es, der durch seine unheimliche Gegenwart den Jungen von Spiel und Lust gescheucht und das angstvolle Herz gezwungen hatte, in dem alten sichern Hafen Schutz zu suchen?

Er wollte, daß seine Mutter in dem sicheren Gefühl seiner ungeteilten Liebe für ihn bete. Er wollte jenen Schutz sein eigen nennen, den der Segen einer Mutter bringen kann, wenn er reich und vorbehaltlos gespendet wird.

 


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