Selma Lagerlöf
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Der Nebel

An einem Herbstmorgen des Jahres 1914, im ersten Jahre des großen Krieges, senkte sich ein recht starker Nebel über die kleine friedliche, von den Weltereignissen nahezu unberührte Gegend herab, wo der Friedfertige seine Behausung hatte. Der Nebel war jedoch nicht dichter, als daß er den ganzen Garten und alle Stallungen und Scheuern sehen konnte, aber weiter vermochte der Blick nicht zu dringen. Er sah keine Felder, keine Anhöhen, keinen Wald. Seine ganze gewohnte Umgebung war verschwunden. Er hätte sich einbilden können, daß er auf einer einsamen kleinen Insel weit draußen im Weltmeere wohnte.

Er war dieses engen Gesichtskreises ungewohnt, so ungewohnt, daß er einen quälenden Druck über den Augen verspürte. Es hatte etwas Verstimmendes, sich nicht frei nach allen Seiten umsehen zu können, und als er seinen gewohnten Morgenspaziergang durch den Garten machte, war ihm ängstlich und unruhig zumute wie vor einer drohenden Gefahr.

Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen und versuchte die Blicke zu schärfen, damit sie die Nebelmauer durchdringen könnten. Doch all das half nichts, er mußte sich damit begnügen, das Allernächste zu betrachten. Anfangs recht unwillig suchte er eine Zerstreuung darin, einige feuerrote Ahornblätter zu bewundern, denen die Feuchtigkeit den Glanz alter Kupfergefäße geliehen hatte. Gleich darauf wurde seine Aufmerksamkeit von den betauten Spinnweben angezogen, die über ein Erdbeerbeet voll welkender Pflanzen ausgespannt waren. Er sagte sich selbst, daß diese Spinnweben die Schönheitsschleier des Herbstes waren, und er fragte sich, ob nicht vielleicht einst von ihnen die alternden Frauen es gelernt hatten, ihren erlöschenden Reiz hinter perlbestreuten Schleiern zu bergen.

Dieser Gedanke machte ihm Spaß, seine Verstimmung schwand, und er sah sich mit neuem Interesse um. Vor sich hatte er einen alten Astrachanbaum, der von Früchten schwer beladen war, und er überraschte sich darauf, den Baum außerordentlich schön zu finden. Dieser Baum pflegte ihn sonst jedesmal, wenn er den Garten durchstreifte, durch seine Häßlichkeit aus der Stimmung zu bringen. Er war niedrig und breit, die Äste spreizten sich geradlinig und plump vom Stamm weg. Aber jetzt zur Zeit der Reife, wo die Äste von Früchten schwer waren, beugten sie sich in zierlichem Bogen. Sie zeigten, daß sie nicht nur Stärke, sondern auch Geschmeidigkeit hatten. Er begriff, daß ihre geradlinige Ungeschlachtheit notwendig war, sollten sie die Bürde tragen können, die nun auf ihnen lastete.

Er fühlte sich plötzlich mit dem Nebel ganz ausgesöhnt. Er war es, der den Gesichtskreis zusammendrängte und seine Aufmerksamkeit auf Kleinigkeiten lenkte, an denen sich zu erfreuen er bislang verabsäumt hatte. Um gut zu sehen, um zu verstehen, was man sieht, dachte er, ist es zu allen Zeiten notwendig gewesen, die Blicke auf das Nächstliegende zu heften.

Diese Erfahrung wurde noch beim nächsten Schritte verstärkt, als er ein paar vollreife, grüne Pflaumen entdeckte, die letzten des Jahres, die bis jetzt allen spähenden Blicken entgangen waren. Aber der Nebel schien ihm einen neuen Gesichtssinn geschenkt zu haben, und er setzte sich sofort in den Besitz der kleinen blinkenden Dinger. Im selben Augenblick hörte er zum ersten Male an diesem Morgen einen Laut aus der Außenwelt. Eine starke, grobe Stimme rief drinnen im Nebel.

Herr Gott, sei gnädig und hilf den Kriegführenden. Ja, ja, erbarme dich der Kriegführenden! – Er blieb stehen und horchte. Deutlich drangen die Worte aus dem Nebel, doch kein Mensch war zu sehen. »Herrgott, sei gnädig und hilf den Kriegführenden! Ja, ja, erbarme dich der Kriegführenden, denn sie haben es so schwer. Das Blut fließt in den Straßengräben wie Wasser. Ja, ja, ja, Herr, mein Gott!«

Der Friedliebende, der in friedliche und angenehme Gedanken versunken, einhergegangen war, machte eine ungeduldige Bewegung. Schon wieder der Krieg! Konnte man ihn denn nicht für einen Augenblick vergessen! Wenn man seine Aufmerksamkeit etwas anderem zuwandte, schien die Natur selbst Stimme zu bekommen, um einem das Schreckliche, das über die Menschheit hereingebrochen war, ins Bewußtsein zurückzurufen.

Wieder rief es aus dem Nebel: »Das Blut fließt wie Wasser in den Straßengräben. Die Leichenhaufen liegen so hoch wie Erntegarben auf den Feldern. Ja, ja, ja, hilf den Kriegführenden!«

Es war natürlich die geistesgestörte Frau, die immerzu betend und singend in der Gegend herumstrich, sie hatte es sich jetzt einfallen lassen, Gott für die kämpfenden Großmächte anzurufen. Sie ging wohl dort oben über den Weg, der den Waldessaum entlang lief und der jetzt durch den Nebel unsichtbar geworden war. Es war rührend, sie zu hören, aber dabei konnte er doch nicht umhin, darüber zu lächeln, daß dieses armselige Geschöpf durch seine Gebete den Weltkrieg eindämmen wollte.

»Hilf den Kriegführenden, auf daß Friede werde!« wiederholte die Geisteskranke. »Das Blut fließt in den Gräben wie Wasser.«

Er stand still und lauschte, so lange sie in Hörweite war. Dann seufzte er und setzte seine Wanderung fort.

Wahrlich, die Zeit war so, daß jeden Menschen die Lust anwandeln konnte, über Wege und Stege zu ziehen und die Angst hinauszuschreien, die man empfand.

Er stöhnte bei dem Gedanken an diesen Kampf, an dem nahezu die ganze Menschheit teilnahm und der die ganze Welt mit Zerstörung bedrohte. Wenn es doch wenigstens eine Sturmflut oder ein Vulkanausbruch wäre, mit dem man es zu tun hätte! Das Unglück wäre darum nicht geringer, aber man hätte doch nicht das erniedrigende Gefühl, daß es von Menschen verursacht, von Menschen anbefohlen wurde! Man brauchte dann auch nicht daran zu denken, daß, da es vernünftige Wesen waren, die vom Wahnsinn des Krieges ergriffen worden, es doch irgendein Wort oder vielleicht irgendeine Maßregel geben müsse, die der Raserei Einhalt tun könnte. Man brauchte dann nicht täglich und stündlich voll Schmerz und Angst nachzugrübeln, um das zu finden, das der Vernichtung einen Damm setzen konnte.

»Was kann ich tun?« fragte er sich selbst. – »Mein Wort hätte nicht größeres Gewicht als das der armen geisteskranken Wanderin. Aber doch . . .«

Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß etwas geschehen sollte, daß man nicht still sitzen konnte.

Auf seiner Wanderung war er nun in die entlegenste Ecke des Gartens gekommen. Und als er sich nun wandte, um zurückzugehen, hatte er ein lächelndes, anmutiges Bild vor sich.

Von hier hob sich der Boden in sanfter Steigung zum Wohnhaus. Der Friedfertige sah seinen ganzen alten Hof vor sich, mit seinen roten Häuschen und seinen Laubmassen in schillernden Herbstfarben. Es war vielleicht eigentlich nichts anderes, als was er alle Tage sah, aber es nahm sich anders als gewöhnlich aus, weil der Nebel es von der umgebenden Landschaft herausgeschält hatte.

Als der Hof sich ihm so vereinsamt zeigte, merkte er erst so recht, wie schön das rote Wohnhaus hoch oben auf dem Hügel sich mit den grünen und gelben Baumwipfeln ringsum zusammenfügte, mit den niedrigeren Flügelanbauten, mit dem lauschigen Buschwerk darunter und mit dem Kranz der frischgesetzten Obstbäume, die den Fuß des Hügels umgaben. Nie hatte all dies sich so harmonisch zusammengeschlossen wie heute, wo der Nebel es umrahmte und alle Lücken ausfüllte. Nichts konnte man fortnehmen, alles mußte da sein, alles lag an seinem rechten Platze. So von Nebel und Grün zusammengefügt, dünkte ihm sein Heim anziehender denn je. Es strahlte Geborgenheit und Traulichkeit aus. Er fühlte sich ruhig und glücklich, wenn er es nur ansah.

Plötzlich kam ihm ein absonderlicher Einfall. Er dachte sich ganz allein mit seinem alten Hof. Er dachte sich den Hof und sich selbst, ihr eignes stilles Leben lebend, indes der Nebel sie mit seinen Mauern umschloß und sie vor der Welt verbarg. Der sollte Tag für Tag Wache um sie halten, so dicht und undurchdringlich, daß nicht einmal die Vorüberfahrenden, die oben über den Weg am Waldessaum kutschierten, darum wissen sollten, daß sie hier dicht daneben waren.

Der Postbote mit seiner schwarzen Tasche würde in dem irreführenden Nebel nicht in den Hof treffen. Keine Gäste, keine Fremden würden die Mündung der Allee finden können, die zum Wohnhaus hinaufführte. Nichts aus der Außenwelt würde in den Hof dringen können, und nichts aus dem Hofe in die Außenwelt.

Winter würde auf Herbst folgen, Sommer auf Frühling, in sachtem Wechsel. Schnee würde fallen und schmelzen, Erde und Bäume würden sich in Grün kleiden, und das Grün würde welken und schwinden. Kälte und Wärme würden wechselweise zu ihnen dringen, aber der wallende Nebel würde immer bleiben.

In einem Traumdasein würden sie dahinleben, er und der Hof. Arbeit würde auf Arbeit folgen. Die Ernte auf die Aussaat, das Backen aufs Brauen, in langsamem Wechsel. Kühe würden gemolken, Schafe geschoren, Garn gesponnen, Tücher aus glänzendem Drill aus den Webstühlen gezaubert werden. Von ihrer eigenen Arbeit würden sie leben müssen. Nichts würde hingetragen, nichts fortgebracht werden können. Die Sorge, die sie bedrückte, würde ihre eigene sein. Sie würden nur auf sich selbst angewiesen sein. Sie würden auf einer Insel im Weltenmeer wohnen, zu der kein Fahrzeug den Weg wußte.

Was den Friedliebenden am meisten lockte, war die Aussicht, auf diese Art dem Grauen des großen Krieges entrinnen zu können. Er streckte seine Arme aus und sprach zum Nebel.

»Verweile, Nebel, verweile! Furchtbare Zeiten stehen bevor. Erspare es mir, sie zu durchleben! Stehe Wache um mein Haus mit deinen weißen Mauern! Laß mich hier auf meiner Väter altem Hofe hausen, ohne zu wissen, was sich an Blutvergießen und Gewalttaten zuträgt! Laß mich und meine Leute hier still unserer Arbeit nachgehen, ohne uns von den Gerüchten des Unglücks fremder Menschen stören zu lassen!

Vögel werden manchmal den Weg zu uns finden, doch wir werden nicht forschen, ob sie wohl eine Botschaft unter dem Flügel tragen. Zuweilen, des Morgens, werden wir die arme Wahnsinnige unter lauten Gebeten vorbeigehen hören. Doch wir werden nicht aufhorchen, ob sie noch für die Kriegführenden betet.

Einmal, wenn alles vorüber ist, wenn die Menschen aufgehört haben zu kämpfen und sich gegenseitig zu vernichten, wirst du dich auflösen und verschwinden. Und wir, die wir nichts von dem Entsetzlichen wissen, das sich zugetragen, wir werden mit Wonne wieder in die Welt hinausgehen, um des Lebens ewiges Fest zu feiern. Unser Gemüt ist nicht durch die Berichte über Gewalttaten und Blutvergießen besudelt. Unsere Herzen sind nicht hoffnungslos geworden durch das Anhören des Unglücks, das wir nicht die Macht haben zu verhüten. Wir werden in dem Glauben in die Welt zurückkehren, daß die Menschen milden Sinnes sind und das friedliche Aufbauen lieben. Wir werden wie die frommen Siebenschläfer sein, die vor der Zeit der Gewalt gerettet wurden, um zu sehen, daß Glück und Friede wiederkehren können, daß Not und Elend nicht das einzige sind, was die Erde ihren armen Kindern beut.«

Als der Friedliebende diese Worte ausgesprochen hatte, hörte er zwei verschiedene Laute. Ein Windstoß fuhr durch den Nebel, schlangenhaft zischend. Das war der eine. Der andere war ein schwaches Echo des Gebets der armen Wanderin. – »Verhilf den Kriegführenden zum Frieden, Herr, du, mein Gott!« – ertönte es aus weiter Ferne. Es klang beinahe wie eine Warnung.

»Laß mich hier in meinem Garten wandeln, Nebel,« – rief er aus – »und immer neue kleine Schönheiten entdecken! Lehre mich den Blick auf das Naheliegende zu heften! Laß mich auf die Art wirken, die mir eigen ist, mich mit Dingen beschäftigen, die mir gemäß sind! Erspare es mir, gleich einem Geistesgestörten durchs Land zu streifen, um zu versuchen, das richtig zu stellen, dem ich nicht gewachsen bin.«

Als dies gesagt war, hörte man abermals ein Rauschen im Nebel. Er glaubte etwas zu vernehmen, das so klang wie »es geschehe dir, was du willst«.

Aber das war natürlich nur ein Selbstbetrug. Beinahe im selben Augenblick kam ein frischer Wind herangeweht. Der riß den Nebel in Fetzen, die er nach allen Seiten wegschleuderte. Alles nahm wieder seine gewöhnliche Gestalt an, und er lächelte über die Gedanken, die der Nebel in ihm geweckt hatte und die sich nie verwirklichen würden. Doch solche Wünsche auszusprechen wie die seinen ist ein gefährlich Ding. Die Naturmächte finden zuweilen ein boshaftes Vergnügen daran, unseren törichtesten Einfällen entgegenzukommen.

Von diesem Tage an merkte der Friedliebende, daß die Nachrichten vom Kriege, trotzdem sie an Grausigkeit zunahmen, sein Empfinden nicht mehr so aufwühlten wie früher. Alles, was geschah, dünkte ihn fremd und ferne und schien ihn nichts anzugehen. Er tat seine gewohnte Arbeit, ohne von der Angst angefochten zu werden, daß die Welt sich selbst zugrunde richtete.

Der Mann, der nicht begriff, daß es der Nebel war, der sein Gebet gehört und sich abstumpfend auf seine Seele gelegt hatte, gab sich dem Glauben hin, daß er an Gleichgewicht und Weisheit zugenommen habe.

Er pries seine Klugheit und seine Vorsicht. Aller Drang, ein Mittel zu finden, das die Sintflut, die über die Welt hereingebrochen war, aufhalten könnte, ertrank ebenfalls in dem Nebel, der, ohne daß er es merkte, seinen Verstand einhüllte. Alle Lust zu handeln fiel in Ratlosigkeit zu Boden, aber er war so stumpf geworden, daß er sich glücklich pries, weil er Weisheit genug hatte, sich still zu verhalten und sich nicht durch hoffnungslose Bestrebungen aufzureiben.

Er sah, daß andere, die nicht mehr waren als er, hervortraten, um ihr Wort zu sagen, aber er merkte nicht, daß sie durch ihre Reden irgend etwas erreichten. Er verglich sie dem Weibe, das er an jenem nebligen Herbstmorgen zu Gott rufen gehört hatte. Er sagte sich, daß ihre Seelen verwirrt sein mußten, da sie etwas unternahmen, wozu sie weder Macht noch Befugnis hatten.

Aber im innersten Innern der Tiefe seiner Seele hatte er doch ihr Tun mit brennender Angst verfolgt. In schönen, sternklaren Nächten verlor der Nebel die Gewalt über seine Seele, und da dachte er in Verzweiflung der Stunde, wo er das Irdische verlassen und vor seinen Richter hintreten mußte. Und er wußte, in dieser Stunde würde die Frau, die rufend über den Weg ging, neben ihm vor Gottes Thron stehen. Und zu ihm würde Gott Vater mit strenger Stimme sagen: »Ich entfesselte zu deiner Zeit einen Sturm auf Erden. Wie kam der Gedanke in dein Herz, daß du dich vor diesem Sturm verbergen könntest?« Da würde der Friedliebende sich verteidigen und sagen: »Es war übermenschlich, das, was du von mir verlangtest. Ich schwieg stille, weil ich keinen Ausweg sah. Es war nicht meines Amtes, deinen Sturm zu dämpfen. Ich fürchtete, daß ich mehr Schaden als Nutzen stiften würde.«

Da würde der höchste Richter sagen: »Ich weiß, daß ich dir nicht Verstand genug gegeben hatte, den Sturm zu dämpfen. Aber ich hatte dir Kräfte genug gegeben, Mitleid zu zeigen und Barmherzigkeit zu üben.«

Da würde der Friedliebende auf die Frau weisen, die neben ihm vor Gottes Thron stand. »Diese Frau hat ohne Unterlaß gesprochen und gesprochen,« würde er sagen, »und was hat es gefruchtet?«

»Freilich konnte ihr Ruf das Herz der irdischen Machthaber nicht bewegen,« würde dann Er sprechen, der über Himmel und Erde gebietet.

»Aber meine Arme hat er ihr aufgetan, und den Weg zu meiner Herrlichkeit.«

Da würde der Friedliebende wissen, daß für ihn keine Hoffnung ist, und in seiner Verzweiflung würde er von Gottes Thron hinuntersinken, immer tiefer und tiefer, in jene Räume, wo alles Kälte und Dunkel und Schweigen ist und Versteinerung und lähmender Nebel.

 


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