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Es war einmal eine kleine Elfe, die tanzte mit ihren Elfenschwestern am Wiesenrain, wo der Holderbaum ( Holunderbeerenstrauch) steht, in den die Liebenden ihre Herzen und die Zweige ihre Runenzeichen schneiden. Die Elfen tanzen gerne am Holderbaum, aber es ist bar nicht so ungefährlich da zu tanzen, denn schon manche Elfe hat dabei ihren Schleier verloren.
Der Mond schien dazu und auch die Irrlichter leuchteten, obwohl das gar nicht nötig war, denn wenn der Mond scheint, ist es für einen Elfentanz gerade hell genug. Aber die Irrlichter leuchteten trotzdem mit, sie taten das teils aus Höflichkeit, teils aus Neugier – und dann leuchten sie überhaupt gerne, wenn die Elfen tanzen, obwohl das gar nicht ungefährlich ist. Denn dabei hat schon manche Elfe ihren Schleier verloren.
Als nun der Elfenreigen zu Ende war und die Elfenschwestern ihre Schleier aufnahmen, um nach Hause zu gehen, da sah die kleine Elfe, dass sie ihren Schleier verloren hatte und nun nicht mehr mit den Schwestern gehen konnte. Sie suchte und suchte, aber sie fand ihn nicht mehr. Es war auch dunkel geworden, denn der Mond, der offenbar erkältet war, hielt sich eine Wolke vors Gesicht und nieste und die Irrlichter hatten sich in den Sumpf empfohlen, wo sie eigentlich ja auch zu Hause sind.
Die Schwestern der kleinen Elfe hatten alle noch ihren Schleier. Die brauchten bloß einmal mit den feinen Füßen aufs Gras zu stampfen und die Schleierformel zu sprechen – dann tat der Hügel sich auf und nahm sie in seinen Schoß, als wären sie niemals da gewesen. Nun waren die Elfenschwestern verschwunden und die kleine Elfe war ganz allein im Dunkeln und sie weinte und fürchtete sich. Es ist auch sehr, sehr traurig für eine Elfe, ihren Schleier zu verlieren. Es gilt als eine Schande, sie kann auch nie mehr nach dem Elfenreich zurück und das ist äußerst bedauerlich, wie ein jeder weiß, der einmal im Elfenreich war.
Wie die kleine Elfe nun so da saß und weinte, kam ein Glühwürmchen angekrochen, das von sehr mitleidigem Gemüt war. »Liebe Elfe«, sagte er, »darf ich Ihnen behilflich sein? Der Mond scheint nicht mehr, aber ich kann ihn vielleicht ersetzen. Sie müssen mich ins Haar nehmen, dann werden Sie Ihren Weg schon finden. Ich bin zwar nicht ganz so hell wie der Mond, aber sehr ähnlich.« Die kleine Elfe dankte, setzte sich das Glühwürmchen ins Haar und ging ihren Schleier zu suchen. Aber ob sie auch rechts oder links ging und überallhin spähte, es war weit und breit nichts zu sehen und auch niemand, der ihr hätte Auskunft oder Rat geben können.
Endlich traf sie eine alte dicke Kröte, die am Wegrande saß und wollene Strümpfe strickte. Die Kröte war gar nicht schön, wenigstens nicht nach den Begriffen der Elfen, aber wenn sie lächelte, hatte sie etwas ganz Angenehmes, und so beschloss die kleine Elfe, die alte Kröte um Rat zu fragen. »Ach bitte«, sagte die kleine Elfe, »Sie kennen sich doch hier sicher gut aus. Haben Sie nicht vielleicht meinen Schleier gesehen? Ich habe ihn beim Tanz unter dem Holderbaum verloren.«
»Beim Tanz unter dem Holderbaum haben schon viele Elfen ihre Schleier verloren«, sagte die Kröte und lächelte – aber, wie gesagt, sie lächelte durchaus angenehm. »Leider bin ich da gar nicht sachverständig. Ich bin eine Kröte und stricke mir wollene Strümpfe, weil ich rheumatisch bin. Wollene Strümpfe aber sind kein Elfenschleier, liebes Kind.« – »Das meinte ich auch nicht«, sagte die kleine Elfe. »Ich wollte auch nicht um Ihre wollenen Strümpfe bitten für meinen Elfenschleier, aber ich dachte, Sie könnten mir vielleicht einen Rat geben, denn wenn man schon rheumatisch ist und sich wollene Strümpfe strickt, so muss man doch sicher viel Lebenserfahrung haben.«
»Der Rheumatismus allein macht es nicht«, sagte die Kröte und lächelte wieder – aber, wie gesagt, durchaus angenehm. Dabei kratzte sie sich mit der Stricknadel die Warzen auf dem Rücken. »Aber das ist schon wahr, das habe ich oft gesehen: Es hat schon manche Elfe ihren Schleier verloren und wenn sie ihn nicht wiederfand, so ist sie aus dem Märchenland in den Sumpf gegangen, wo immer Alltag ist, und hat Rheumatismus und wollene Strümpfe bekommen.« – »Ich will aber nicht in den Sumpf«, sagte die kleine Elfe weinerlich, »ich bin ein Märchenkind und will im Märchenlande bleiben.«
Sie erhob bittend die Hände zum Strickstrumpf der rheumatischen Kröte und das Glühwürmchen in ihrem Haar leuchtete geradezu überzeugend. Man konnte gar nicht anders, als derselben Meinung zu sein, man wurde einfach sozusagen überleuchtet.
Die Kröte zählte die Maschen an ihrem Strickstrumpf und überlegte. »Ich will Ihnen was sagen, liebes Kind«, meinte sie endlich. »Hier kann Ihnen nur einer helfen und das ist der weise Kater Ratzepetz. So weise ist keiner im ganzen Märchenland.« – »Aber wo wohnt der Kater Ratzepetz?«, fragte die kleine Elfe. »Der Kater Ratzepetz wohnt im Häuschen an der goldenen Brücke, auf der man ins Sonnenland geht, zusammen mit einem menschenähnlichen Wesen, das ihn sozusagen bedient. Sagen Sie ihm meine schlüpfrigsten Empfehlungen und ich würde ihm zu Weihnachten wollene Strümpfe stricken.«
Da bedankte sich die kleine Elfe tausendmal und die Kröte lächelte ihr angenehmstes Lächeln. Das Glühwürmchen aber empfahl sich mit vielen Segenswünschen, es war erschöpft und nun auch nicht mehr nötig. Denn wenn es auch ruhig mit dem Monde wetteifern konnte – die Brücke ins Sonnenland, an welcher der Kater Ratzepetz lebte, die leuchtete so strahlend in alles Dunkel hinein, dass es nicht schwer war, sie zu finden. Das ist die Brücke, auf der der liebe Gott ins Märchenland wandert, wenn er sich von der Schuld und den Tränen der Menschen erholen muss, und zu den Tieren und Kindern kommt und zu denen, die im Märchenland leben, weil sie die Brüder und Schwestern der Tiere und der Kinder sind.
Als die kleine Elfe an die goldene Brücke kam, da klopfte sie an die Tür des Hauses, in dem der Kater Ratzepetz lebte. Die Tür tat sich auf und ein menschenähnliches Wesen trat heraus. Es war ein Mann, der weiter nicht schön aussah, aber er hatte ein Leuchten in den Augen, weil er das Märchen liebte, die Tiere und die Kinder und weil er dem Kater Ratzepetz diente und sehr, sehr viel von ihm gelernt hatte. Er war wohl auch ein Mensch gewesen und kannte Schuld und Tränen – aber dann hatte er es so gemacht wie der liebe Gott und war ins Märchenland gegangen zum Kater Ratzepetz. Man muss es eben schon dem lieben Gott abgucken, wenn man ins Märchenland kommen will.
»Wer sind Sie?«, fragte das menschenähnliche Wesen die Elfe. »Ich bin eine kleine Elfe«, sagte sie. »Ich habe meinen Schleier verloren und ich will den weisen Kater Ratzepetz sprechen. Die alte Kröte am Wegrand, die Rheumatismus hat, hat mich hergeschickt.« Das menschenähnliche Wesen führte die kleine Elfe ins Haus und nun stand sie vor dem Kater Ratzepetz. Ihr Herz schlug hörbar, denn so gewaltig hatte sie sich den Kater Ratzepetz nicht vorgestellt, so viel sie auch von ihm gehört hatte. Es war eben Ratzepetz – und das Licht von der goldenen Brücke flutete über sein weiches Fell. Er saß vor einem großen Buch, in dem er krallenhaft geblättert hatte.
»Viele schlüpfrige Empfehlungen von der alten Kröte und sie wird Ihnen zu Weihnachten wollene Strümpfe stricken«, sagte die kleine Elfe. »Ich bin eine kleine Elfe und habe meinen Schleier verloren. Wenn ich meinen Schleier nicht wiederfinde, so muss ich in den Sumpf und kriege Rheumatismus und kann nie wieder zurück ins Elfenreich unter dem grünen Hügel. Es ist sehr traurig.«
Der Kater Ratzepetz dachte nach. Er war vor zweitausend Jahren im Katzentempel von Bubastis (altägypt. Stadt und Kultstätte) gewesen und kannte viele Geheimnisse. Das menschenähnliche Wesen hatte auch schon damals mit ihm gelebt und hatte ihn gepflegt und geliebt wie heute. Ägyptens Sonne war noch in beiden – im Kater Ratzepetz und im Mann aus Bubastis. Das war freilich vor zweitausend Jahren und im Tempel gewesen – aber es gibt so viele Geheimnisse – was sind auch zweitausend Jahre und ist nicht das ganze Märchenland auch ein heiliger Tempel?
»Dein Schleier ist gar nicht verloren«, sagte der Kater Ratzepetz, »die klatschhafte Elster hat ihn dir gestohlen, als du mit deinen Elfenschwestern getanzt hast unter dem Holderbaum. Die Elstern stehlen so gern die Elfenschleier und dann laden sie andere Elstern zum Kaffee ein. Sie zeigen die gestohlenen Schleier und sagen, die Elfen hätten sie verloren. Es gibt freilich sehr viele Elstern, aber ich will schon versuchen, die richtige zu finden. Dann bringe ich dir den Schleier wieder.« – »Ich danke Ihnen tausendmal«, sagte die kleine Elfe, »und ich will auch jeden Tag kommen, um Sie am Halse zu krabbeln.« Der Kater schnurrte, denn er liebte es überaus, so gekrabbelt zu werden. Das war eine Schwäche von ihm und auch große Leute haben ihre Schwächen.
»Ich gehe jetzt zur Elster«, sagte der Kater Ratzepetz zu dem menschenähnlichen Wesen, »setze die kleine Elfe unterdessen unter eine Käseglocke, damit ihr nichts passiert.« Der Kater Ratzepetz ging und das menschenähnliche Wesen setzte die kleine Elfe unter eine Käseglocke. Es war nicht schön drin zu sitzen, aber dazwischen hob das menschenähnliche Wesen die Käseglocke ein bisschen auf und ließ die Elfe hinausgucken und dann erzählte es ihr von den Denkwürdigkeiten des weisen Katers Ratzepetz. Das war so sein Lebensberuf. Der Beruf ist sehr selten.
Der Kater Ratzepetz hatte unterdessen fleißig umhergeschnüffelt und auch bald das richtige Elsternest herausgefunden. Es war hoch auf einem Baum am Rande des Märchenlandes. Denn im eigentlichen Märchenland selbst leben die klatschhaften Elstern nicht. Es wäre ihnen da zu poetisch, sagten sie, und davon bekämen sie Migräne. Es war doch viel netter, in einem warmen Nest zu sitzen, die Elfenschleier aus dem Märchenlande zu stehlen und dann darüber zu klatschen. Das war so ihr Lebensberuf und der Beruf ist sehr häufig.
»Sie haben einen Elfenschleier gestohlen!«, fauchte der Kater Ratzepetz zum Elsternnest hinauf. »Geben Sie ihn sofort zurück!« – »Wie?!«, schnatterte die Elster empört, »Ich bin eine ehrbare Frau und stehle niemals. Ich habe höchstens ein Fundbüro und das auch nur aus Gutmütigkeit, weil es mir leid tut, wenn die Leute leichtsinnig sind und was verlieren.« – »Und was befindet sich eben in Ihrem Fundbüro?« – »Ich will ehrlich sein wie immer und es Ihnen sagen. Ich fand die Gummischuhe eines Frosches, den Regenschirm eines Pilzes, die durchbrochenen Strümpfe einer Bärin und das Klavier einer Eidechse. Weiter kann ich Ihnen nicht dienen und ich habe auch keine Zeit, denn ich gebe heute einen Nestkaffee.«
»Meine Gnädige«, sagte der Kater Ratzepetz, »wenn ich jetzt nach oben komme und selbst nachsehe, dann können Sie ihren Nestkaffee nackt geben, denn ich lasse Ihnen keine Feder am Leibe.« Seine Krallen setzten sich fest in den Baumstamm und rupften beängstigend an der Rinde. Da flog ein Elfenschleier zu Pfoten des Katers Ratzepetz. Die Elster aber sagte den anderen Elstern die kamen, sie habe Migräne und ihr Nestkaffee könne heute nicht stattfinden.
So kam die kleine Elfe wieder zu ihrem Schleier. Und dafür krabbelte sie den Kater Ratzepetz jeden Tag am Halse, so dass er laut und vernehmlich schnurrte. Jeder würde gewiss gerne schnurren, wenn ihn eine Elfe am Hals krabbelte – aber das erlegt nicht ein jeder. Dazu muss man schon so weise werden, wie der weise Kater Ratzepetz.