Manfred Kyber
Märchen
Manfred Kyber

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Mummelchen

Es war einmal eine schöne kleine Nixe, die hieß Mummelchen und lebte im Mummelteich. Mummelchen fühlte sich immer so sehr einsam im Mummelteich, denn der Mummelteich war recht sumpfig und alle, die darin herumkrabbelten, waren sehr versumpft und scheuten sich beinahe schon vor dem klaren Wasser. Sonst waren ja auch ganz nette Leute darunter, zum Beispiel die Froschvettern, die abends so schön sangen und auch stets von ausgesuchter Höflichkeit waren. Die Unken waren dicke alte Tanten, die es gut meinten, aber immer, wenn sie Mummelchen sahen, so unkten sie sie an und rieten ihr, doch endlich auch einen richtigen anständigen Kraken zu heiraten und mit ihm ins Meer hinauszuschwimmen, so wie es ihre Schwestern getan hatten.

Das war so langweilig, denn wenn auch Mummelchens Schwestern alle so richtige und anständige Kraken geheiratet hatten – Mummelchen selbst hatte gar keine Lust dazu. Sie sehnte sich nach etwas ganz anderem, nur wusste sie selbst nicht recht, wonach sie sich eigentlich sehnte. Und niemand im ganzen Sumpf wusste es, weder die Froschvettern noch die Unkentanten und nicht einmal die Seerosen, die immer träumten und mit offenen Kelchen das silberne Mondlicht tranken.

Aber eines Nachts, als Mummelchen mitten unter den Seerosen saß, da schienen die Sterne am Himmel so klar und spiegelten sich im Mummelteich, so dass es aussah, als wäre die ganze gestirnte Nacht in den See versunken. Denn die Sterne scheinen in jeden Sumpf und es ist nicht ihre Schuld, wenn es die Unken nicht merken. Mummelchen aber hatte die Augen, die die Sterne sehen, und wie sie die vielen Sterne sah, da wusste sie mit einem Male, wonach sie sich immer gesehnt hatte: Sie wollte eine Seele haben, darin sich auch die ewigen Sterne spiegeln könnten. Was eine Seele war, wusste sie freilich noch nicht genau zu sagen, aber das hätte sie ja auch erst gekonnt, wenn sie eine gefunden hätte. Sie sagte sich auch, dass es gewiss sehr schwer sein würde, eine Seele zu finden, aber versuchen wollte sie es jedenfalls.

Wenn Sie nur jemand nach dem Weg zu einer Seele hätte fragen können – sie war ja eine so unerfahrene junge Nixe und wusste gar nicht Bescheid mit solchen Dingen. Aber die Froschvettern hätten ihr nur Höflichkeiten gesagt und die Unkentanten hätten ihr wieder geraten, endlich einen anständigen Kraken zu heiraten. Da beschloss Mummelchen, den alten Quabbelonkel zu fragen, denn er war die älteste und klügste Person im ganzen Sumpf – und wenn der es nicht wusste, dann konnte es gewiss niemand wissen.

So stieg denn Mummelchen in den tiefsten Sumpf hinab und da saß der Quabbelonkel und aß Miesmuscheln. Der Quabbelonkel war so eine Art Gallertkugel mit Froschbeinen und Krötenärmchen. Sein ganzer Körper war mit Miesmuscheln bedeckt, die auf ihm wuchsen und die er sich absuchte und verspeiste. So hatte er seine Nahrung immer bei sich, Er hatte ganz kleine geschickte Äuglein im Quabbelkopf, aber dafür war sein Mund so ungeheuer groß, dass er mit der Mitte seines Mundes sprechen, in der einen Ecke eine Miesmuschel hineinstecken und aus der anderen Ecke die Schalen wieder ausspucken konnte. Und das konnte er alles gleichzeitig.

»Onkel Quabbel«, sagte Mummelchen, »ich möchte dich gerne etwas fragen.« – »Ich weiß schon«, sagte der Quabbelonkel, »du hast schon wieder Sehnsucht und weißt nicht, wonach. Aber mir ist es nun eingefallen, wonach du dich immer sehnst. Du sehnst dich nach mir, mein liebes Mummelchen.« Und der Quabbelonkel lachte, dass sein ganzer Gallert ins Schwanken geriet und die Miesmuscheln an seinen Beinen klapperten. »Nein«, sagte Mummelchen, »nach dir sehne ich mich nicht. Dich habe ich ja auch immer da und brauche dazu nur in den tiefen Sumpf hinunterzusteigen. Aber ich weiß jetzt, wonach ich mich sehne.«

»So,« sagte der Quabbelonkel, »dann setze dich auf meinen Schoß und erzähle es mir.« – »Auf deinen Schoß kann ich mich nicht setzen, Onkel Quabbel«, sagte Mummelchen, »du hast ja gar keinen Schoß, weil dein Bauch so groß geworden ist.« – »Ja, das ist wahr«, sagte der Quabbelonkel und sah auf seinen Gallertbauch, »ich mache mir zu wenig Bewegung. Aber wenn ich mir Bewegung mache, dann wachsen mir die Miesmuscheln nicht mehr am Leibe und das ist so sehr bequem. Du könntest aber mal Kribbel-Krabbel auf meinem Bauch machen, das habe ich sehr gern und dann bekommen mir die Miesmuscheln auch besser.«

Mummelchen schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust dazu. Der Onkel war so scheußlich glitschig. »Nein, Onkel Quabbel«, sagte sie, »ich habe keine Zeit, Kribbel-Krabbel auf deinem Bauch zu machen, du kannst die Unkentanten darum bitten. Ich muss fort von hier, denn ich muss gehen, mir eine Seele suchen.« – »Liebes Kind«, sagte der Quabbelonkel, »bleibe lieber hier und iss Miesmuscheln. Ich will dir die fette Muschel schenken, die auf meinem linken großen Zeh sitzt.« – »Nein, ich danke dir«, sagte Mummelchen, »iss sie nur allein auf – und guten Appetit! Sage mir lieber, was ich tun muss, wenn ich eine Seele suchen will.«

»Ja Kindchen«, sagte der Quabbelonkel, »ich denke mir, wenn jemand was suchen will, wird er sich bewegen müssen. Du musst wandern. Aber ich täte es nicht, es wird dir nicht bekommen.« – »Ich will wandern gehen«, sagte Mummelchen, »denn ich sehne mich zu sehr nach einer Seele. Aber wohin muss ich wandern, um eine Seele zu suchen?« – »Ja Kindchen«, sagte der Quabbelonkel, »ich denke mir, du wirst wohl aus dem Sumpf heraus müssen. Wohin du dann gehst, weiß ich auch nicht. Ich bin noch nie aus meinem Sumpf herausgekommen.« – »Die Sterne riefen mich, ich will den Sternen nachgehen«, sagte Mummelchen und stieg langsam zum Spiegel des Mummelsees hinauf.

»Es kann dir nicht bekommen, Kindchen«, rief der Quabbelonkel und streckte beschwörend den linken großen Zeh mit der fetten Miesmuschel aus. Aber es war zu spät. Mummelchen war ans Ufer geschwommen und wanderte durch Ried und Heide den Sternen nach. Aber je weiter sie wanderte, um so ferner rückten die Sterne und es schien ihr, dass der Weg nach den Sternen ein sehr weiter und beschwerlicher Weg sein müsse. Und als sie müde wurde vom weiten Weg, da wurde die Nacht dunkel und die Sterne erloschen. Das geht einem jeden so, der den Sternen nachgeht.

Mummelchen war sehr erschrocken, als sie sah, dass die Sterne erloschen und es dunkel und weglos um sie herum wurde. »Aber, wenn die Sterne vom Himmel fort sind«, dachte sie, »so sind sie sicherlich auf die Erde heruntergefallen und spielen dort verstecken. Ich werde ins Dunkel hineingehen, bis irgendwo ein Lichtlein aufloht. Dem will ich denn nachwandern und das wird sicher ein Stern sein, denn es ist doch viel zu schwer für einen Stern, sich auf der Erde zu verstecken, dass man gar nichts mehr davon sieht.«

Mummelchen wusste eben nicht, dass nicht immer ein Stern vom Himmel fällt. Und sie wusste auch nicht, dass ein Stern sich gar nicht zu verstecken braucht, wenn er mal vom Himmel auf die Erde gefallen ist. Es sieht ihn auch so niemand und alle Leute gehen dran vorüber, selbst wenn es ein noch so leuchtender klarer Stern ist und wenn er auch mitten auf der Gasse liegt. Es sind die Alltagsgedanken der Menschen, die ihr graues Bahrtuch drüber decken, und darunter sind schon manche Sterne erloschen. Mummelchen hätte ja vielleicht den Stern bemerkt, weil sie kein Mensch war, aber es fiel nun mal keiner vom Himmel. Die Sterne fallen nur, wenn sie selbst wollen, und das kann ihnen niemand verdenken.

So wanderte Mummelchen weiter durchs sternenlose Dunkel und ihre Füße wurden so müde und wund, wie die Füße aller werden, die den Sternen nachgehen. Da endlich lohte ein Lichtlein auf einem hohen Berge auf und als Mummelchen näher kam, da sah sie, dass das Licht in einem großen Schlosse war, das Mauern und Türme und Erker hatte und in dem es eine Menge Prunkzimmer geben musste, denn es blitzte aus allen Fenstern heraus von Gold und Edelsteinen. »Das muss eine ganze Sternenversammlung sein«, dachte Mummelchen und ging gerade in das Schloss hinein.

Im Schloss waren ein König und eine Königin und eine ganze Menge Lakaien und Zofen, die nur für den König und die Königin da waren. Die Lakaien des Königs waren die Würdenträger des Reiches und die Zofen der Königin waren die Frauen der Lakaien und hießen Hofdamen. »Es ist mehr bunt als schön und eine Sternenversammlung ist es nicht, wie ich hoffte«, dachte Mummelchen, »aber eine Seele muss ich sicher hier finden, wo so viele vornehme Menschen sind. Ich werde warten, bis die Leute näher kommen, dann will ich sie nach einer Seele fragen.« Und Mummelchen setzte sich, da sie so müde geworden war, auf ein Ruhebett im Königssaal, um zu warten, bis die ganze Hofgesellschaft näher kommen würde.

Als die vielen Lakaien Mummelchen sahen, machten Sie sehr entsetzte Gesichter, aber sie sagten nichts, denn sie waren Lakaien und durften nur sprechen, wenn sie gefragt wurden. Die Königin aber, die keine Märchenkönigin, sondern eine Menschenkönigin war, ging auf Mummelchen zu und fragte sie, wer sie sei und ob sie am Ende Hofdame werden wolle. Denn die Königin war eine sehr praktische Frau und sie hatte gleich gesehen, dass Mummelchen sehr schön war.

»Bekomme ich dann eine Seele?«, fragte Mummelchen. »Nötig ist das nicht«, sagte die Königin und sie war sehr unangenehm berührt von einem so wenig hoffähigen Wunsche. »Dann möchte ich lieber keine Hofdame werden«, sagte Mummelchen, »denn ich bin eine Nixe und ich suche eine Seele.« – »Pfui, wie scheußlich!«, sagte die Königin, »Eine Nixe hat ja nasse Kleider und damit setzt sich die Person auf mein königliches Kanapee (Liege, Sofa)!« – »Scheußlich!«, riefen alle Lakaien und Hofdamen. Mummelchen aber ging traurig aus dem Schloss hinaus und sie wusste nun, dass hier eine Seele nicht zu finden war.

So wanderte Mummelchen weiter, bis sie wieder ein Licht schimmern sah aus einem großen Hause mit dicken Mauern und festen Gewölben. Das Licht war sonderbar gelb und fahl und sah nicht aus, als ob es ein Stern wäre. In dem Hause lebte ein reicher Mann und zählte seine Schätze. »Ich möchte gern eine Seele haben«, sagte Mummelchen. »Eine Seele?«, sagte der reiche Mann, »Ja, ich kann dir meine Seele geben, sie regt sich immer mal dazwischen, also wird sie wohl noch da sein. Nur sehr viel Geld musst du mir dafür geben.« – »Geld hat der Quabbelonkel im Mummelteich genug und übergenug«, sagte Mummelchen, »aber solch eine Seele wie du möchte ich nicht haben. Lieber habe ich gar keine. Eine Seele muss man auch nicht kaufen, man muss sie geschenkt bekommen.«

»Geschenkt wird bei mir nichts«, sagte der reiche Mann und warf die Türe hinter Mummelchen zu. Mummelchen aber wanderte weiter, bis sie wieder ein Haus sah, in dem ein Lichtlein brannte. Das Haus war klein und das Lichtchen war noch kleiner. Es war sehr unwahrscheinlich, dass es ein Stern wäre, der vom Himmel gefallen war. Aber Mummelchen war schon so müde und traurig und so wollte sie alles versuchen und trat in das Haus ein.

Im Hause waren bloß Bücher, ganz schrecklich viele Bücher, dicke und dünne, aber meistens sehr dicke – und unter all den dicken Büchern saß ein gelehrter Mann bei einer trüben Tranlampe und las. »Was willst du hier?«, fragte der gelehrte Mann und betrachtete Mummelchen im Licht seiner Tranlampe. »Ich bin eine Nixe und ich suche eine Seele«, sagte Mummelchen. »Es gibt weder Nixen noch Seelen«, sagte der gelehrte Mann. »Ich bin aber eine Nixe«, sagte Mummelchen und es zuckte trotzig um ihre Lippen, »ich komme gerade vom Mummelteich, wo die Froschvettern und Unkentanten leben und der Quabbelonkel.« Die Tranlampe begann zu flackern. »Es gibt keine Nixen«, sagte der gelehrte Mann, »also bist du gar nicht da.« Der gelehrte Mann las weiter, die Tranlampe brannte auch weiter und Mummelchen ging hinaus.

Immer weiter wanderte sie und war nun schon sehr müde und traurig geworden. Da erblickte Mummelchen etwas Wunderbares. Sie sah eine große Kirche mit herrlichen Spitzbogen und Türmen und das Kerzenlicht vom Altar flutete durch die bunten Fenster in die Nacht hinaus. »Das ist der Stern, den ich suche«, dachte Mummelchen, und sie wollte in jubelnder Erwartung in die Kirche eintreten, denn nun musste sie ja sicher eine Seele finden! An der Schwelle aber stand ein Mann in einem schwarzen Gewand und fragte sie nach ihrem Begehren. »Ich bin eine Nixe und suche eine Seele«, sagte Mummelchen und in ihren Augen leuchtete schon der Widerschein der Kerzen am Altar. »Die Kirche ist nicht für Nixen«, sagte der Mann im schwarzen Gewand und schloss die Tore, dass sie dröhnend zuschlugen.

Es war ganz finster und die Glocken läuteten. Da sank Mummelchen in die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Sie war so müde und traurig und hatte keine Hoffnung mehr, eine Seele zu finden, die sie so brennend suchte. Wenn in diesem Hause mit den heiligen Kerzen nicht Gottes Sterne waren und keine Seele zu finden war, dann gab es sicher keine Seele auf der Erde und keinen Stern, der vom Himmel gefallen war. Die Glocken läuteten und Mummelchen hörte deutlich, dass sie weinten. Aber die Glocken weinten nicht um Mummelchen, sondern um den Pfarrer in der Kirche und das tun sie schon lange.

Dann hörten auch die Glocken auf zu weinen, der Himmel und die Erde waren dunkel und es war eine Finsternis, wie sie Mummelchen noch nicht erlebt hatte. Es war die Finsternis, die alle kennen, die den Sternen nachgegangen sind. Wie Mummelchen aber die Hände von den Augen nahm und so hoffnungslos hinaussah in die große Finsternis, da sah sie ganz nahe ein kleines Engelchen stehen. Die kleinen Engelchen sind nämlich viel näher als man denkt, man übersieht sie bloß so leicht, weil sie eben sehr klein sind. Das kleine Engelchen hielt ein Laternchen und leuchtete damit einem Dichter, der auf der roten Heide saß und Märchen schrieb. Das ist immer so, denn ein Dichter kann nur dann Märchen schreiben, wenn ein kleines Engelchen mit seiner Laterne dazu leuchtet.

»Das Laternchen ist kein Stern«, dachte Mummelchen, »dazu ist es zu klein. Aber es ist doch vielleicht das Kind von einem Stern, weil ein Engelchen es in der Hand hat.« Da ging Mummelchen auf den Dichter und das Engelchen zu, richtete die großen traurigen Augen auf sie und sagte: »Ich bin eine Nixe und ich möchte gerne eine Seele haben.« – »Weiter nichts?«, fragte der Dichter, fasste Mummelchen um den schlanken Leib und küsste sie auf beide Augen. Das Engelchen aber löschte sein Laternchen aus, denn dazu brauchte es nicht zu leuchten, das wusste es schon – denn das, was geschah, war auch so ein wirkliches Märchen. Von Gottes Himmel aber fiel ein Stern und setzte sich Mummelchen ins Haar.

»Weißt du nun, dass du eine Seele hast?«, fragte sie der Dichter und winkte dem Engelchen, dass es nicht so zugucken solle. »Ja«, sagte Mummelchen, »jetzt habe ich eine Seele und seit du mir die Augen geküsst hast, sehe ich, dass etwas von meiner Seele in allem ist, was auf der Welt ist.« – »Dann hast du eine wirkliche Seele, denn nur wer eine wirkliche Seele hat, der sieht die Seele in allem.«

Es gibt viele Wege, sich eine Seele zu suchen. Einer der hübschesten ist sicherlich der, sich von einem Dichter die Augen küssen zu lassen. Es muss aber schon ein Märchendichter sein. Sonst hilft es nichts. Nur sind die Dichter darin ein bisschen einseitig. Sie küssen nämlich nur solche, die so sind wie Mummelchen und nicht wie der Quabbelonkel. Denn die Seelen küsst man nur wach in denen, die sie suchen.

Das Engelchen aber hat in dieser Nacht sein Laternchen nicht wieder angezündet ...


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