Manfred Kyber
Märchen
Manfred Kyber

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Himmelsschlüssel

Es war einmal ein großer und gewaltiger König, der herrschte über viele Länder. Alle Schätze der Erde gehörten ihm und er trieb sein tägliches Spiel mit den Edelsteinen von Ophir (gemeint ist das sagenhafte Goldland König Salomons) und den Rosen von Damaskus. Abe eines fehlte ihm bei all seinem großen Reichtum: das waren die Schlüssel zu den Toren des Himmels.

Er hatte tausend Sendboten ausgesandt, die Schlüssel des Himmels zu suchen, aber keiner konnte sie ihm bringen. Er hatte viele weise Männer gefragt, die an seinen Hof kamen, wo die Schlüssel des Himmels zu finden wären, aber sie hatten keine Antwort gewusst. Nur einer, ein Mann aus Indien mit seltsamen Augen, der hatte die Edelsteine von Ophir und die Rosen von Damaskus, mit denen der König spielte, lächelnd bei Seite gelegt und ihm gesagt: alle Schätze der Erde könne man geschenkt erhalten, aber die Schlüssel des Himmels müsse ein jeder selber suchen.

Da beschloss der König, die Himmelsschlüssel zu finden, koste was es wolle. Nun war es in einer Zeit, zu der die Menschen noch sahen, wo der Himmel auf die Erde herab reichte und alle noch den hohen Berg kannten, auf dessen Gipfel die Tore des Himmels gebaut sind. Der König ließ sein Hofgesind zu Hause und stieg den steilen Berg hinauf, bis er an die Tore des Himmels gekommen war. Vor den Toren, um deren Zinnen das Sonnenlicht flutete, stand der Engel Gabriel, der Hüter von Gottes ewigem Garten.

»Glorwürdiger«, sagte der König, »ich habe alle Schätze der Erde, viele Länder sind mir untertan und ich spiele mit den Edelsteinen von Ophir und den Rosen von Damaskus. Aber ich habe keine Ruhe, ehe ich nicht auch die Schlüssel zum Himmel habe. Denn wie sollten sich sonst einmal seine goldenen Tore für mich öffnen?« – »Das ist richtig«, sagte der Engel Gabriel, »ohne die Himmelsschlüssel kannst du die Tore des Himmels nicht öffnen und wenn du auch alle Künste und Schätze der Erde hättest. Aber die Himmelsschlüssel sind ja so leicht zu finden. Sie blühen in lauter kleinen Blumen, wenn es Frühling ist, auf der Erde – und in den Seelen aller Geschöpfe.«

»Wie?«, fragte der König erstaunt, »Brauche ich weiter nichts zu tun, als jene kleine Blume zu pflücken? Die Wiesen und Wälder stehen ja voll davon und man tritt darauf auf all seinen Wegen.« – »Es ist wahr, dass die Menschen die vielen Himmelsschlüssel mit Füßen treten«, sagte der Engel, »aber so leicht wie du es dir denkst, ist es doch nicht gemeint. Es müssen drei Himmelsschlüssel sein, die dir die Toren des Himmels aufschließen. Und alle drei sind nur dann richtige Himmelsschlüssel, wenn sie zu deinen Füßen und für dich aufgeblüht sind. Die vielen tausend anderen Himmelsschlüssel, die auf der Erde stehen, sollen die Menschen nur daran erinnern, die richtigen Himmelsschlüssel zum Aufblühen zu bringen – und das sind die Blumen, die alle Menschen mit Füßen treten.«

In dem Augenblick kam ein Kind vor die Tore des Himmels, das hielt drei kleine Himmelsschlüssel in der Hand und die Blumen blühten und leuchteten in der Hand des Kindes. Als nun das Kind die Tore des Himmels mit den drei Himmelsschlüsseln berührte, da öffneten sich die Tore weit vor ihm und der Engel Gabriel führte es in den Himmel hinein. Die Tore aber schlossen sich wieder und der König blieb allein vor den geschlossenen Toren stehen. Da ging er nachdenklich den Berg hinunter auf die Erde zurück – und überall standen Wiesen und Wälder voll der schönsten Himmelsschlüssel. Der König hütete sich wohl sie zu treten, aber keine der Blumen blühte zu seinen Füßen auf.

»Sollte ich die richtigen Himmelsschlüssel nicht finden«, fragte sich der König, »wo ein Kind sie gefunden hat?« Abe er fand sie nicht und es vergingen viele Jahre.

Da ritt er eines Tages mit seinem Hofgesinde aus und ein schmutziges verwahrlostes Mädchen, das weder Vater noch Mutter hatte, bettelte ihn an, als er mit seinem glänzenden Gefolge an ihm vorüber kam. »Mag es weiter betteln!«, sagten die Höflinge und drängten das Kind bei Seite.

Der König aber hatte in all den Jahren, seit er von dem steilen Berg gekommen war, viel über die Himmelsschlüssel nachgedacht und trat sie nicht mehr mit Füßen. Er nahm das schmutzige Bettelkind, setzte es zu sich aufs Pferd und brachte es nach Hause. Dort ließ er es speisen und kleiden, er pflegte und schmückte es selbst und setzte ihm eine Krone auf den Kopf.

Da blühte zu seinen Füßen ein kleiner goldener Himmelsschlüssel auf. Der König aber ließ die Armen und die Kinder in seinem Reich als seine Brüder erklären.

Wieder vergingen Jahre und der König ritt in den Wald mit seinem Hofgesinde. Da erblickte er einen kranken Wolf, der litt und sich nicht regen und helfen konnte. »Lass ihn verenden!«, sagten die Höflinge und stellten sich zwischen ihn und das elende Tier.

Der König aber nahm den kranken Wolf und trug ihn auf seinen Armen in seinen Palast. Er pflegte ihn selbst gesund und der Wolf wich nie mehr von ihm. Da blühte ein zweiter goldener Himmelsschlüssel zu des Königs Füßen auf. Der König aber ließ von nun an alle Tiere in seinem Reich als seine Brüder erklären.

Wieder vergingen Jahre – aber nun schon nicht mehr eine so lange Zeit, wie sie vor dem ersten Himmelsschlüssel vergangen war – da ging der König in seinem Garten umher und freute sich an alle den seltenen Blumen, die, kunstverständig gehütet und gepflegt, seinen Garten zu einem der herrlichsten in allen Ländern machten.

Da erblickte der König eine kleine unschöne Pflanze am Wegrand, die am Verdursten war und die verstaubten Blätter in der sengenden Sonnenglut senkte. »Ich will ihr Wasser bringen«, sagte der König. Doch der Gärtner wehrte es ihm. »Es ist Unkraut«, sagte er, »und ich will es ausreißen und verbrennen. Es passt nicht in den königlichen Garten zu all den herrlichen Blumen.«

Der König aber nahm seinen goldenen Helm, füllte ihn mit Wasser und brachte es der Pflanze – und die Pflanze trank und begann wieder zu atmen und zu leben. Da blühte der dritte Himmelsschlüssel zu des Königs Füßen auf und das Bettelmädchen mit der Krone und der Wolf standen dabei. Der König aber sah auf dem steilen Berge die Tore des Himmels weit, weit geöffnet – und im Sonnenlicht, das um die Zinnen flutete, sah er den Engel Gabriel und jenes Kind, das damals schon den Weg zum Himmel gefunden hatte.

Die drei Himmelsschlüssel blühen heute noch und sie leuchten heute noch heller und schöner als alle Edelsteine von Ophir und alle Rosen von Damaskus.


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