Hermann Kurz
Gesammelte kleinere Erzählungen, 3. Teil
Hermann Kurz

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Wiederfinden.

»Was haben Sie denn da für einen wunderlichen Baugehilfen?« fragte der alte Volkmar den Amtsrat Thomas, zum Fenster hinausdeutend, welchem gegenüber soeben ein neues Haus aufgerichtet wurde. Zimmerleute und Maurer waren in der lebhaftesten Tätigkeit, und die dicken Seile schwankten mit ihren Lasten hin und her. Unter dem Gewühle der Arbeiter aber war dem Greis ein mit ganz zerrissenen und erbärmlich um den Körper schlotternden Lumpen bekleideter Mensch aufgefallen, dem die Haare wirr und struppig über das Angesicht hingen. Er schien von einem heftigen Arbeitseifer getrieben zu sein und schleppte, ohne eine Beihilfe zu gestatten, ganze Balken und große Steine herbei, wobei man nicht aufhören konnte, seine ungeheure Stärke zu bewundern. Freilich schien diese zwecklos in das allgemeine Tun einzugreifen, und es bedurfte nur eines Blickes, um den Zuschauer zu überzeugen, daß sie von keinem ordnenden Verstande gemeistert werde: doch fand man bei näherer Aufmerksamkeit verwundert, daß sie gleichwohl die anderen Kräfte keineswegs in ihrem Zusammenwirken störte. Ein Wink, ein Wort von seiten der Arbeitsleute war genug, um dem Unglücklichen seine Last, da wo es eben nötig war, niederlegen zu machen; dann rannte er eiligst wieder fort, um neue Dinge herbeizuschleppen, die er gleichfalls, ohne links noch rechts zu sehen, an dem gebotenen Platze ablieferte, und in dieser Arbeitswut, in diesem Gehorsam schien er eine innere Befriedigung zu finden.

Der alte Herr hatte dem Treiben eine Weile kopfschüttelnd zugesehen, worauf er sich mit der schon erwähnten Frage an den Amtsrat wendete.

»Sie nennen ihn den blödsinnigen Michel,« erwiderte dieser. »Der arme Mensch treibt sich seit Jahr und Tag in der Gegend umher, findet sich instinktmäßig bei schweren und harten Verrichtungen ein und ist wegen seiner Riesenkraft überall als Mitarbeiter willkommen, zumal da er bei seiner Simpelhaftigkeit sich höchst friedlich und verträglich aufführt, niemals Lohn begehrt und sich mit dem schlechtesten Essen, mit dem schimmlichsten Stückchen Brot abfinden läßt.«

»Man sollte doch etwas für den Unglücklichen tun; es ist nicht recht, ihn so gleichsam wild laufen zu lassen.«

»Bah,« sagte der Amtsrat gleichgültig, »da er keine Bedürfnisse hat, so geht es ihm gut genug. Wie mir der Bauführer sagt, so schläft er im Sommer ganz behaglich auf den Kirchenstaffeln oder draußen im Freien; im Winter aber lassen ihn die Bauern wegen seiner unschädlichen Gemütsart in ihren Scheunen unterkriechen. Wenn er einmal seine Glieder nicht mehr rühren kann, so steht ihm ja immer noch ein Spital oder sonst eine Versorgungsanstalt in Aussicht.«

»Es ist doch traurig, wenn man keine Eltern hat,« sagte der Greis, während er ans Fenster trat und heimlich mit der Hand über die Augen fuhr. Er selbst hatte ja das entgegengesetzte Unglück zu beklagen, und das zumal am heutigen Tage! Er hatte vor drei Jahren an diesem Tage auf dem Leipziger Schlachtfelde den einzigen Sohn verloren, einen hoffnungsvollen Jüngling von schönen Gaben und noch schönerem Herzen. Friedrich war seiner Begeisterung in den Krieg gefolgt, den sein Glaube einen heiligen hieß; der Vater wollte, die Mutter konnte ihn nicht zurückhalten, und Luise, seine Braut, segnete unter strömenden Tränen seinen frommen Entschluß. Er kehrte nicht wieder. Ein Kamerad sah ihn unter einem feindlichen Säbelhiebe zusammenstürzen; die Schlacht wogte mehrmals über die Stätte hin und wieder, und als sie gewonnen war, begrub man die unkenntlichen Leichen der Gebliebenen, Freund und Feind, in einem großen Brudergrabe. Damals blutete manches Herz, und manche zitternde Lippe sang: »Wo sind sie, die Lieben, die Braven all?« –

»Was mich betrifft, so lass ich ihm nichts abgehen,« fuhr der Amtsrat fort, der die Bewegung des Alten nicht bemerkt hatte. »Auch ist mir so ein rüstiges Lasttier in diesem Augenblicke doppelt willkommen, da ich – Sie wissen wohl warum – mein Haus noch vor dem Winter unter Dach zu bringen wünsche.«

»Es steht mir nicht zu, mich fördernd oder hindernd in Ihre Absichten zu mischen,« sagte Herr Volkmar, und indem er sich vom Fenster gegen den Amtsrat kehrte, bemerkte dieser etwas betreten, daß ihm zwei dicke Tropfen in den Augen standen. Der ehrwürdige Alte ergriff ihn stillschweigend bei der Hand und führte ihn ins Nebenzimmer, wo seine Frau und Luise saßen.

Auch diese beiden zeigten Spuren heftigen Weinens, und die schöne Pflegetochter war heute ungewöhnlich bleich. Der Gast empfand keine geringe Bestürzung über ihren trüben, stummen Empfang; als ihm aber, wie oft plötzlich dem Blinden ein Licht aufgeht, die Ursache dieser Trauer einfiel, da erschrak er noch weit mehr über seine eigene Gedankenlosigkeit. Er wußte keine Silbe hervorzubringen, wie er sich auch den Kopf zerbrechen mochte, jedes Wort, das er zu sagen gedachte, kam ihm alsbald wieder zu dieser Stunde unpassend vor, und seine Verlegenheit wurde, eben durch den peinlichen Druck, den sie auf ihn ausübte, mit jedem Augenblicke größer.

Luise hob die Augen auf, sah ihn eine Weile durchdringend an und sagte hierauf: »Ich hatte gehofft, Sie würden Ihren Werkleuten heute einen Feiertag vergönnen.«

»Im Gegenteil,« versetzte der Alte dazwischentretend, »er hat mit diesem Tage keine Ausnahme machen wollen, und er hat es wohl gemeint. Durch das Werk, das er vor unseren Augen aufführen läßt, wollte er uns an die gründende, bauende, segnende Kraft des Friedens erinnern, aber über die andere Bedeutung dieses Tages, die unser Herz bluten macht, gedachte er uns unter dem Lärm der Arbeit stille hinüberzuführen.«

Dem Gaste ging bei diesen Worten ein Schwert durch die Seele; denn nichts straft uns tödlicher, als wenn ein anderer Mensch das, was wir mißlich tun oder getan haben, auf eine fromme Weise auslegt, und uns dadurch unsere Blöße recht vor Augen stellt. Der arme Amtsrat hatte ganz und gar keine bedeutsame Gedanken gehabt: er hoffte Luisen aufs Frühjahr heimzuführen, beabsichtigte deshalb das neue Haus, das er mit der Hochzeit einweihen wollte, noch vor Winter ›unter Dach zu bringen‹, und im Eifer seiner zeitlichen Entwürfe hatte er den heutigen achtzehnten Oktober rein vergessen. So saß er denn im Gefühle seiner Unzartheit recht auf dem Armensünderbänkchen und begann stockend und stammelnd: »Gewiß, niemand fühlt tiefer als ich die Bedeutung des heutigen Tages –«

»Reden Sie nicht aus!« rief Luise aufstehend. »Ich sehe es Ihnen an, ich höre es aus Ihren Worten: Sie sagen eine –« »Werde nicht bitter, Luise! es steht dir nicht gut,« sagte der Greis verwundert. Seine Stimme klang tief und dabei etwas zitternd, wie eine alte große Glocke; sie traf das Mädchen ins innerste Herz hinein, so daß sie wie in sich zusammenbebte.

Einen Augenblick besann sie sich, dann trat sie auf den Amtsrat zu, reichte ihm die Hand und sprach, in Tränen ausbrechend: »Vergeben Sie mir, ich hätte den Freund des Hauses nicht beleidigen sollen.«

Der Amtsrat nahm ihre Hand zwischen die seinigen und drückte sie zärtlich. »Nur den Freund des Hauses?« sagte er, aber sie unterbrach ihn.

»Ja, Sie sind ein guter, ein wirklich guter Mensch,« sagte sie »aber« – in demselben Augenblicke ließ sie seine Hände fahren, indem sie einen Schritt zurücktrat. Eine zuckende Bewegung verbreitete sich über ihren ganzen Körper, und die Worte, die sie vergebens zu unterdrücken strebte, drängten sich auf ihre Lippen. »Aber eines ist er nicht!« fuhr sie, gegen den Pflegevater gewendet, fort. »Er hat nicht um das eiserne Kreuz gekämpft, sonst hätte er diesen Tag nicht so bald vergessen können.«

»Dulce pro patria mori!« warf der Amtsrat rasch und spitzig hin. »Doch ist vielleicht die undankbare Kunst, für das Vaterland zu leben, die schwerere. Ich hege alle Achtung vor jenen edlen Freiwilligen, die sich in jugendlichem Eifer zwischen die Reihen der berufenen Krieger gedrängt haben, obgleich ich so ketzerisch bin, zu glauben, daß die Sache auch ohne sie wäre ausgemacht worden, aber« –

Er redete noch ein Langes von der Unreife jener Begeisterung, von dem minder schimmernden, aber gediegeneren Verdienst des nüchternen Arbeitens für das öffentliche Wohl, das eine unberufene Jugend nicht solle verkümmern dürfen, und dergleichen mehr. Dann brach er ab, denn er fühlte zwar die Genugtuung, sich Luft gemacht zu haben, aber er fühlte auch zugleich, daß es zur Unzeit geschehen war, ja es wurde ihm in diesem entscheidenden Augenblicke klar und deutlich, er habe das Herz, das er zu gewinnen strebte, von seinem Herzen abgewendet. Wie gerne hätte er seine Rede zurückgenommen, aber es war zu spät.

Luise setzte sich wieder. »So weit ist es also gekommen,« begann sie kalt, »daß ein Mädchen den Männern antworten kann, die das öffentliche Wohl unter ihren Händen haben? Ich will euren Verstand nicht verkleinern, eure Tauglichkeit, eure Notwendigkeit nicht in Zweifel ziehen. Aber was hätte eure Staatskunst, was hätten euere Heere gegen jenen furchtbaren Kriegsdämon, gegen jenen Mars in Person vermocht, wenn nicht die Wunderkraft der Volksbegeisterung die Schwerter eurer Krieger durchflammt und ihre Geschosse beflügelt hätte? Mit dem einen Namen Jena ist eure ganze Weisheit niedergelegt. Erst als sich der Geist des preußischen Volkes wider ihn erhub und die anderen nachzog, daß sie mit ihm brachen, erst da begann Gott seine Hand von ihm abzuziehen. Wie feierlich habt ihr das Friedensfest begangen, und nun, da ihr nicht mehr als um drei Winter älter und kälter geworden seid, nun beginnt ihr sie schon zu schmähen, die Treuen, die Tapfern, die Gläubigen, die auf jenen blutigen Feldern schlafen gingen. Mein Herr und mein Gott, daß du in jenen furchtbaren Tagen meine Seele zu dir genommen hättest! Sie ist doch nicht hier, sie ist dort, wo der grause Tanz die blutige Saat zerstampfte. O das arme, gute, große Herz!«

Sie sank auf ihren Sitz zurück, verhüllte das Angesicht und brach in ein lautes, wildes, unbändiges Schluchzen aus. Alles war bestürzt; nie hatte man das Mädchen so gesehen, nie solche Worte aus ihrem Munde vernommen.

Der Alte winkte seiner Frau und reichte dem Amtsrat mit einem schmerzlichen Blicke die Hand. Dieser war blaß geworden und zeigte in seinen Mienen eine aufrichtige Erschütterung. »Das ist eine trübe Stunde für mich,« sagte er, als er mit der mütterlichen Freundin das Zimmer verließ; »aber ich habe gesprochen, wie ich denke, und dieses Bewußtsein wird mir, wie diese, so auch künftige trübe Stunden ertragen helfen.«

Der wackere Alte war nun mit dem Mädchen, wie ein Beichtvater mit seinem geistlichen Kinde, allein. Er setzte sich neben sie, legte ihr Haupt an seine Brust und schwieg, bis ihr Busen den krampfhaften Schmerz ausgetobt hatte. Als sie ruhiger geworden war, hob er ihr das Köpfchen empor und sah ihr ernst und freundlich in die Augen. Sie machte sich los und stand mit gesenktem Haupte demütig vor ihm.

»Vater,« begann sie, »ich bin nicht wert, deine Pflegetochter zu heißen. Ich habe Dinge geredet, die mir nicht ziemten.«

»Wie ist dieser seltsame Geist über dich gekommen, Luise?« fragte er.

»Laß dir's erzählen,« sprach sie. »Ich hatte schon gestern den ganzen Tag Angst vor dem heutigen, denn ich wußte, daß er mir ein schwerer Tag werden würde, und ich ging mit beklommenem Herzen zu Bette. Nachdem ich noch lange gewacht hatte, schlief ich endlich ein. Da träumte mir's, und von wem anders als von ihm, von deinem Friedrich!«

Sie legte das Gesicht in beide Hände, und ihre Tränen tropften wie ein milder Regen zwischen ihren Fingern herab.

Der Greis zog sie zu sich nieder auf den Sitz. Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, fuhr Luise fort: »Ich sah ihn, frischer und blühender als je; er kam mir entgegen, bei der Kirche, weißt du, wo wir nach der Predigt und dem Waffensegen Abschied von ihm genommen haben. Ich war ganz erstaunt, aber nur so, wie man sich im Traume über etwas Unmögliches ein klein wenig verwundert.«

»Ja, ja,« sagte der Alte freundlich nickend, »das ist ja eben die Wahrheit in den Träumen, daß sie das Unmögliche wirklich machen. Hätten die Menschen nie von besseren Tagen geträumt, so wären niemals bessere Tage gekommen.«

»Ich war also ganz erstaunt, als ich ihn sah. ›Guter Gott!‹ rief ich ihm entgegen: ›du bist's? wo kommst denn du her?‹ – ›Von Leipzig,‹ antwortete er mit dem schnellen, fröhlichen Tone, der mir immer so besonders zu Herzen ging. – ›Von Leipzig?‹ sagte ich und wunderte mich immer mehr; ›wie, und dazu hast du drei Jahre gebraucht?‹ – Da lächelte er geheimnisvoll, ganz so, wie er's gewohnt war, wenn er mich necken wollte, ›Ja,‹ sagte er, ›ich hab' aber auch einen weiten Weg gehabt.‹ – Bei diesen Worten war er auf einmal sehr ernsthaft geworden, und jetzt kam auch mir die Erscheinung sonderbar und unheimlich vor. Ich schlug die Hände zusammen und rief: ›Sag mir nur, lebst du denn? Wir glaubten ja alle, du seiest in der Schlacht gefallen?‹ – ›Ich lebe,‹ sprach er, und seine Stimme drang mir durch Mark und Bein: ›ich lebe. Ihr seid alle im Irrtum gewesen.‹ – Nun begann ich ihn zu verstehen. ›Ja, du lebst, im Licht und in einem schöneren Leben!‹ rief ich und fing bitterlich zu weinen an. Da verschwand das Gesicht, und wie ich nach und nach erwachte und zu mir selber kam, fand ich mein Kissen ganz in Tränen gebadet. Ich konnte nicht mehr einschlafen, immer und immer mußte ich dem Traume nachsinnen, und da geriet ich plötzlich–«

Sie brach schaudernd ab, als ob sie die angefangene Rede bereute. Der Greis drückte ihre Hand stark und zog die Augenbrauen zusammen, als ob er einem schlimmen Feind ins Angesicht schauen müßte. Dann sagte er mit fester Stimme: »Du gerietest auf schwere Gedanken, du meintest, er sei vielleicht nicht ganz getötet worden, dann haben sie ihn nach der Schlacht, wie das geschehen kann, mit den Toten zusammen eingescharrt, und er sei am Ende gar unter der Erde wieder zur Besinnung gekommen.«

Sie umschlang ihn und hielt sich zitternd an ihm fest. »Sieh, liebes Kind,« sagte er, »solche schwere, entsetzliche Gedanken muß man nicht bei sich behalten, man muß sie frischweg aussprechen, dann verlieren sie schon viel von ihrer Kraft.« – Er nickte ein paarmal langsam mit dem Haupte. »Freilich, freilich,« fuhr er fort, »wenn ich das glauben müßte, dann würden meine grauen Haare mit doppeltem Jammer in die Grube fahren. Aber meinst du, darum sei er dir im Traum erschienen, er, der Freundliche, um dir eine so nutzlose Schreckenskunde zu bringen? Nein doch, nein! wenn Friedrich zu dir kommt, so ist's immer ein guter Geist. Er wollte dir sicherlich nichts anderes sagen, als was du ihm im Traume selbst antwortetest. Aber wie auch sein Ende gewesen sein mag, halte nur das eine fest, daß jedes Leiden für ihn vorüber ist. Und dann denk' an so viele, die nicht schlechter als er, die jedenfalls Menschen waren: denk' an verstürmte Seefahrer, die auf offenem Meere oder an wüstem Strande verschmachteten, an verschüttete Bergleute in einem eingesunkenen Schacht; denk' an die grausame Strenge der alten Todesstrafen und der Folter – nicht um dich an der Unglücksgenossenschaft zu trösten, sondern um dir zu sagen, daß auch das ärgste, herbste Schicksal immer noch mit einem menschlichen Maß zu messen ist. Und dann denk' an jene Märtyrer, an jene Blutzeugen in allen Ländern und unter allen Bekenntnissen, die für das, was sie mit reinem Herzen ihr Heiligstes hießen, das Leben frei und freudig hingaben, obgleich sie oft viele Tage lang unter den unerhörtesten Peinigungen sich nach dem Tode sehnen mußten. Sieh, viele von ihnen haben ohne einen Schmerzenslaut gelitten, und waren doch Menschen, wie wir. Was sind wir gegen diese? Aber ihre Trübsal wurde ihnen leicht, weil sie zeitlich war, und in den Qualen stärkte eine Verheißung ihren Mut. Diese, kennst du sie nicht? in der Offenbarung steht sie und heißt: ›Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.‹«

Luise, die bis daher mit andächtigem Schweigen zugehört hatte, ergriff bei diesen Worten lebhaft seine Hand und rief: »Vater, da bringst du mich ja gerade auf das, was ich sagen wollte! Höre nur, ich bin noch nicht zu Ende. Als ich aufgestanden war, trieben mich meine Gedanken um und ließen mir keine Ruhe. Da beschloß ich endlich, die Ruhe in der Bibel zu suchen, wo ich sie schon so oft gefunden habe. Als ich aufs Geratewohl aufgeschlagen hatte, da war es die Offenbarung Johannis. Ach, warum doch diese? dachte ich, die wird mir eher Unruhe als Ruhe bringen, denn von diesen schauerlichen Geheimnissen kann ich nichts verstehen. Dennoch sah ich die Stelle an, auf welcher mein Finger lag, und, Vater, höre nur, sie hieß: ›Aber ich habe wider dich, daß du die erste Liebe verlässest.‹«

Fromm, wie er war, lächelte der Alte doch und wiegte sein graues Haupt. »Da sehe nun einer, wie es ausfällt, wenn die Weiber über die Apokalypse kommen!« sagte er. »Kind, nimm dich in acht. Gott hat uns nicht umsonst zu der Bibel auch noch unseren guten, treuen Verstand gegeben, ja, und treffliche Lehren, die aus diesem geflossen sind.«

»Das Grübeln ist sonst gewiß meine Sache nicht,« versetzte sie. »Aber sieh – für mich – und unter diesen Umständen –«

»Nun,« sagte er, du wärest nicht die erste Christenseele, die in der Bibel einen besonderen Sinn für ihre persönlichen Angelegenheiten suchte, aber auch da kommt es immer noch darauf an, was die ›erste Liebe‹ ist,« – Gesprächig setzte er ihr hierauf auseinander, daß dies die Liebe des Kindes zu den Eltern, und zwar vorwiegend des Knaben zur Mutter, des Mädchens zum Vater sei, daß diese ersten Herzenseindrücke später wunderbar nachwirken können, und daß der Jüngling am glücklichsten sei, wenn er ein Ebenbild seiner Mutter, die Jungfrau, wenn sie ein Ebenbild ihres Vaters finde. Auf diese Weise hatte er selbst, wie er erzählte, seine Gattin gewählt, und in diesem Sinne, meinte er, könne man allerdings einem Menschen zurufen, daß er seiner ersten Liebe treu bleiben solle.

Er wollte diesen Lieblingsgedanken, dem er gerne nachzuhängen schien, noch weiter ausspinnen, aber er fand sich auf einmal durch das leise Weinen des Mädchens unterbrochen und rief bestürzt: »Himmel, was ist das für ein Unglückstag! Jetzt muß auch ich, der ich alles recht machen wollte, noch aus dem Geleise fahren, und während ich dir da von meinen Grillen vorschwatze, vergesse ich ganz, daß du sie gar nicht auf dich anwenden kannst. Aber wenn du auch deine Eltern so frühe verlorst, daß du dich ihrer nicht mehr erinnerst –«

»So habe ich Eltern gefunden, denen ich so gut wie durch das Blut angehöre,« rief sie, sich an ihn anschmiegend, »Ach, und das war es ja, was mich immer so zu ihm hinzog, und was ich mir jetzt noch immer sagen muß, wenn ich an Friedrich denke, daß – daß –«

»Nun?«

»Daß du gewiß in deiner Jugend gerade so warst, wie er,« sagte sie, etwas verschämt durch ihre Tränen lächelnd, »oder daß er einst in seinen weißen Haaren ganz dir ähnlich werden würde.«

Der Greis lachte gar liebenswürdig. »Das tut meinem alten Herzen wohl,« rief er, »daß ich in meinen weißen Haaren noch so etwas wie eine Liebeserklärung zu hören bekomme. Übrigens laß uns noch ein ernsthaftes Wort reden. Du weißt, du bist unser Augapfel, und der Tag, der dich aus unserem Hause wegführt, macht in unsere Herzen einen großen Riß. Dennoch werde ich dir nie ein Hindernis in den Weg legen. Im Gegenteil, und wenn du dich irgend auch nur mit einem Gedanken dem Grabe verlobt glaubtest, so würde ich alles tun, um dir diesen Wahn zu benehmen. Es ist nun einmal so bei uns schwachen, sterblichen Menschen, daß die Toten einen Teil ihres Rechts an uns verloren haben. Der bessere, reinere Anteil bleibt ihnen unverkümmert, und du weißt, da, wo Friedrich wohnt, freien sie nicht und lassen sich nicht freien, da ist also auch keine Eifersucht. Folge du deinem Herzen, wenn es dich zu einem Manne hinzieht, der ihm ähnlich ist, und fürchte dadurch nicht, von deiner ersten Liebe abzufallen. Auch möchte ich nicht, daß du deiner Bestimmung untreu würdest. Die Bewerbung dieses unbescholtenen Mannes, wenn sie mir auch schmerzliche Erinnerungen weckte, hat mir doch um deinetwillen Freude gemacht, und ich kann dir nicht leugnen, liebes Kind, daß wir glaubten, du seiest ihm geneigt.«

»Weiß ich doch selbst kaum, wie das so gekommen ist,« versetzte sie errötend und stockend. »Er war Friedrichs Freund, seine Trauer um ihn, seine aufrichtige Teilnahme, wie hätte sie mich nicht gewinnen sollen? Dann sein Heimischwerden bei uns, sein tägliches Kommen und Gehen, eure Freundlichkeit gegen ihn, das alles machte mich zutraulich, aber – die Männer deuten auch alles gleich so sehr zu ihrem Vorteil.«

»Nun gut,« sagte der Alte, »es ist ja bis jetzt nichts gesagt oder verhandelt worden, wodurch du gebunden wärest. Tue also, was dein Herz dir eingibt. Ist es aber nur eine vorübergehende Verstimmung, so wird der Auftritt von vorhin wohl ungeschehen zu machen sein.«

Luise schüttelte den Kopf, ohne etwas zu erwidern, und der Vater ging, nachdem er ihr noch einige herzliche Worte gesagt hatte. Als Luise allein war, trat ihr die Vergangenheit lebendiger als je in diesen drei Jahren vor die Seele. Sie sah ihren Freund wieder, frisch, wie er ihr in der Nacht erschienen war; sie erfreute sich in Gedanken seiner Trefflichkeit, als ob er lebte und jeden Augenblick zur Türe hereintreten könnte. Zugleich aber trieb es sie, um die Lücke in der Gegenwart auszufüllen, nach einem Schubfache, das ihr Allerheiligstes verbarg. Da lagen Pfänder glücklicher Stunden, Briefe, ein Ring, eine Haarlocke und seine letzten Zeilen. Er hatte nie gedichtet, aber am Abend vor dem letzten Tage, als nach einem traulichen, beinahe fröhlichen Zusammensein auf einmal Wehmut und tiefe Rührung ihn beschlich, da hatte er, ohne sich zu besinnen, die wenigen kunstlosen Zeilen auf ein Blatt geworfen:

›Wenn mich der Gott der Schlachten
Im Wettersturme rafft,
Soll mich kein Schmerz umnachten
Um meine junge Kraft.

Für Lieb' und Freiheit brennen,
Das jährt den Augenblick,
Drum darf ich's ewig nennen,
Mein schönes, kurzes Glück.‹

Sie las sie jetzt wieder und bewunderte die feste, männliche Handschrift. Ach, und dieselbe Hand, die diese weichen Worte schrieb, hatte sich der Eisenbraut verlobt und hatte den Tag darauf den letzten Druck, den letzten Gruß gespendet. Verloren! in dem Wort war alles enthalten. Die glücklichen Bilder wichen von ihr, und noch einmal gab sie sich dem grenzenlosen Gefühl ihres traurigen Schicksals hin, aber es war ein Schmerz ohne Mißklang, es waren erleichternde Tränen, in deren Flut sich die Seele still und ruhig badet.

Ein Menschenherz, das sich recht ausgeweint hat, gleicht einem Vogel, der sich in den Lüften wiegt, oder einem Kinde, das träumend in den blauen Himmel starrt. Nachdem Luise ihr Weh in aller seiner Tiefe und Reinheit durchgefühlt, war sie, wenn nicht so harmlos, doch fast so gedankenlos wie ein Kind, ans Fenster gekommen und sah dem Bauwesen zu, das erst so viele Bitterkeit in ihr aufgeregt hatte. Sie folgte den Quadern, den Balken, wie sie in die Höhe gezogen wurden, und staunte über das massenhafte Werden, das die vereinte Tätigkeit vieler Menschen hervorbringt. Während sie nun ihre Augen an dem aufsteigenden Hause hinuntergleiten ließ, traf sie ein seltsamer Blick, der starr auf sie gerichtet war.

Der unglückliche stumme Mensch, den die Bauleute mit ankommen ließen, hatte bisher ohne Unterbrechung seine Arbeit verrichtet, wie eine fest geordnete Wasserkraft, welche mit willenloser Stetigkeit ihre Räder in Bewegung hält. Niemand hätte sich träumen lassen, und am wenigsten er selbst, daß er noch Sinn für irgend etwas anderes haben könnte. Da klang ein Fenster, das geöffnet wurde, das unglückliche Geschöpf hatte eben eine Last niedergelegt und wandte unwillkürlich den Kopf nach dem Tone. Der Arme sah das Mädchen, das am Fenster stand; er erhob sich immer höher und trat endlich auf die Zehen, um näher und besser hinzuschauen. Jetzt fiel auch Luisens Blick auf ihn. Sie erschrak über sein auffallendes Benehmen: es graute ihr vor dem stumpfsinnigen, kläglichen Ausdruck dieser Augen, die sich wie auf eine verlorene Seele besinnen zu wollen schienen. Er strich die struppigen Haare, die ihn am Sehen hinderten, aus dem Gesicht. Aber in demselben Augenblicke geschah in den Lüften über ihm ein Ruck, ein verworrenes Getöse und Gepolter folgte, ein Geschrei vieler Stimmen – Luise beugte sich aus dem Fenster, als könnte sie das unglückliche Opfer von seiner Stelle wegreißen – aber es war schon zu spät.

Der Amtsrat war, nachdem er noch einige Worte mit der Mutter gewechselt, ins Freie hinaus geeilt, um auf einem hastigen, heftigen Gang seinen Unmut zur Ruhe zu bringen. Er hatte sich schon ziemlich weit entfernt, als ihm einfiel, daß das unselige Bauwesen noch immer fortdauere. Er rannte zurück, und da er des Werkführers nicht gleich ansichtig wurde, gebot er den einzelnen Arbeitern, wie sie ihm vor Augen kamen, augenblicklich einzuhalten. Diese gehorchten dem mit mißmutiger Strenge ausgesprochenen Befehl auf der Stelle; andere, die nichts davon gehört hatten, arbeiteten eifrig fort, und hierdurch geriet das Werk plötzlich in Verwirrung. Ein Stein, der eben hinaufgezogen wurde, machte sich los, schwebte einen Augenblick über dem Kopfe des Stumpfsinnigen, stieß aber zum Glück an einen Pfeiler, wodurch die Kraft des Falls gebrochen und die Richtung etwas verändert wurde. Doch war der Arme, während er noch immer zu dem Mädchen emporstaunte, hart an der Schulter gestreift und mit Gewalt gegen einen großen Quaderstein geworfen, so daß er mit blutendem Kopfe regungslos am Boden lag.

Alsbald war eine große Menschenmenge um ihn versammelt. Der Amtsrat rief seinem alten Freunde, der auf das Geschrei ans Fenster gekommen war, zu, erzählte ihm das Ereignis, und dieser hieß den Ohnmächtigen sogleich in sein Haus bringen. Man trug ihn in ein leeres Zimmer im Erdgeschoß. Hier stand eine Bettstelle mit einem Strohsack, worauf man ihn niederlegte. Das Blut strömte ihm aus Stirne, Mund und Nase; kaum aber war er eine Weile so gelegen, als er sich rasch aufrichtete und mit hellen Augen um sich sah. »Wo bin ich?« rief er.

Der verwaiste Vater, der mit ins Zimmer getreten war, hörte den Klang dieser Worte, er fuhr mit einem heftigen Schauer zusammen und hielt sich an einem der Umstehenden fest, um Kraft zu sammeln. Er waffnete sich mit besonnener Ruhe, Dann trat er an das Lager des Erwachten, den er an der Stimme und an den Augen sogleich erkannt hatte; denn der tiefe Schmutz, der sein Gesicht überzog, und die verworren hereinhängenden blutigen Haare hatten ihn völlig entstellt. Die Ungewißheit seines Zustandes machte es nötig, jede Bewegung der Freude und Angst zu unterdrücken. »Du bist zu Hause, Friedrich,« sagte der Vater mit sanfter Stimme, und die Umstehenden traten mit Entsetzen zurück, nicht wissend, ob sich hier ein Auferstehungswunder zutrage, oder ob zwei Wahnsinnige zusammengetroffen seien.

»Wo komme ich denn aber her? Wo war ich denn?« fragte der Kranke. »Was ist mir denn geschehen?«

»Du kommst vom Schlachtfelde,« sagte der Vater so ruhig, als er vermochte, und mit einem leisen Wink gegen die Umgebung. »Du bist verwundet, ich hoffe, nicht gefährlich, aber die Wunde ist am Kopfe, deshalb mußt du ganz ruhig sein und dich stille wieder hinlegen.«

»Vater, ist die Schlacht gewonnen?« rief er, sich noch höher aufrichtend.

Der Alte nickte ein Ja und kämpfte mit übermenschlicher Anstrengung seine Tränen zurück. »Es ist Friede,« sagte er endlich, »halte du jetzt auch Frieden.« – Und Friedrich legte sich mit freundlichem Gehorsam, die Augen schließend, auf sein Lager zurück.

Wir unterlassen es, die Auftritte zu schildern, welche auf diesen erfolgen mußten. Wer schon beim Schall der Morgenglocke aus einem schweren Traum erwachte und seinem todbangen Herzen zurief: ›Nein, die Sonne scheint wieder, deine Lieben leben noch, noch atmen wir im goldenen Lichte!‹ – der hat eine schwache Vorstellung von den Gefühlen, welche die so wunderbar wiedervereinigte Familie bestürmten.

Der Arzt hatte wenig nachzuhelfen: die Heilung war durch jenen glücklichen Unfall bereits vollbracht worden. Wie aber Friedrich aus der Schlacht entkommen, und was seitdem aus ihm geworden war, das wurde niemals aufgehellt, denn er wußte kaum mehr zu sagen, als was sein Vater im ersten Augenblicke des Wiedersehens erraten hatte. Er erinnerte sich, daß er nicht weit von einem Gebüsch an der Seite eines treuen Freundes focht, als er jenen Säbelhieb erhielt; ob er nun bewußtlos lebend unter den Leichen hervorgekrochen, oder ob er von dem Freund in das Gebüsch getragen worden war, das wußte er nicht. Am liebsten nahm er das letztere an und nannte sich dem ›guten Kameraden im ewigen Lebens‹, der das Rätsel hienieden nicht mehr aufklären konnte, über das Grab hinüber verpflichtet. Wie dem sein mochte, der feindliche Säbel hatte ihn nicht zum Tode getroffen, aber ein trauriges Leben hatte er ihm gelassen, einen Rest ohne Seele und Erinnerung, einen dreijährigen Schlaf, dessen Geschichte zu erforschen er für völlig fruchtlos hielt. Um so inniger aber bewegte ihn und alle Teilnehmenden der wunderbare Zug der Heimat und des Herzens, der ihn im bewußtlosen Todestraume durch unbekannte Strecken, durch weite Zeiträume zurückgeleitet hatte, um an der Seite seiner auflebenden Eltern wieder zu erblühen und aus den Händen seiner seligen Braut ein längeres Glück, als er in jenen Zeilen zu prophezeien gewagt hatte, in Empfang zu nehmen.


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